DUNKLE FRONTEN

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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©) 2004 by Thorsten Oberbossel

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Vorige Story

P R O L O G

Am 24. Juni 1995 endete das trimagische Turnier zu Hogwarts mit dem Tod des Teilnehmers Cedric Diggory. Dem Jungen Harry Potter, der überlebt hat, glaubt in England fast keiner, daß der böse Magier Voldemort Diggory getötet hat und nun wieder da ist. Doch dieser Tag ist nicht nur der Neubeginn der Macht Voldemorts, sondern auch der Tag der Rückkehr der Hexenmeisterin Anthelia, deren Seele in einem dunklen Medaillon aus alter Zeit den körperlichen Tod überdauert hat. Der für Voldemort tätige Bartemius Crouch Junior, der in Hogwarts enttarnt und von einem Dementor seiner Seele beraubt wird, verleiht Anthelia einen neuen lebendigen Körper, der zunächst vom Mann zur Frau verwandelt und dann mit Anthelias geborgener Seele wiederbelebt wird.

Anthelia gründet den Orden der schwarzen Spinne, dem ausschließlich Hexen angehören, die weder mit Voldemorts Machtanspruch noch mit den gültigen Zaubereigesetzen einverstanden sind. Ihr Orden spannt "Das Netz der Spinne" über die ganze Welt und durch alle Bereiche der Zauberergesellschaft.

Der nichtmagische Teenager Benny Calder belauscht das Wiedererweckungsritual für Anthelia, wird von dieser gefangengenommen und durch Flüche zu einem Kundschafter in der Welt der sogenannten Muggel. Calder muß später miterleben, wie seine kleine Heimatstadt Dropout von brutalen Großbanden niedergebrannt wird, die sich einander bekriegen und zieht mit seiner Mutter nach Seattle um, wo er bald zwischen die Fronten der Bandenkämpfe an seiner Schule gerät und von dort fliehen muß. Als des Mordes beschuldigter Junge versucht er, zu seiner Freundin Donna nach Texas zu gelangen. Doch dort gerät er ins Fadenkreuz einer Gangsterorganisation, die ihn töten will. Die Spinnenschwester Patricia Straton holt ihn auf Anthelias Befehl hin dort heraus und bringt ihn ins Hauptquartier des Hexenordens, wo Anthelia beschließt, daß er als neuer Mensch ein neues Leben beginnen soll und als Benny Calder für immer verschwunden bleiben soll.

Die ersten Reiberein mit den Todessern Voldemorts finden im Kampf um das Erbe der Dunkelhexe Sarah Redwood statt. Anthelia lockt Chuck Redwood, einen direkten Nachfahren dieser Hexe zu deren altem Haus, das von mächtigen Flüchen vor allen geschützt ist, die nicht die Erben Sarahs sind. Ihm gelingt es, die in einem magischen Überdauerungsschlaf liegende Sarah aufzuwecken, die ihn zunächst auf ihre Seite ziehen will, ihn dann jedoch in ihren Überdauerungssarkophag zwingt, wweil er ihr nicht folgen will. Kurz darauf kommt es zu einem Duell zwischen Anthelia und Sarah, bei dem Sarah stirbt und ihr Geist in das dunkle Seelenmedaillon gezogen wird, wo er Anthelia mit ihrem Wissen und können unterworfen ist.

Anthelia beschließt, gegen die Todesser und ihre heimlichen Anhänger zu kämpfen und beginnt, die amerikanischen Dunkelmagier zu jagen. Dabei gerät die FBI-Agentin Maria Montes in den Bann zweier Dementoren und droht, von diesen entseelt zu werden. Jedoch ein magisches Artefakt, welches sie von ihrer Großmutter bekommen hat, rettet sie vor diesem grausamen Schicksal. Weil sie Dementoren mit allen Sinnen wahrnehmen kann und ihr Zauberartefakt rechtzeitig auslösen konnte, wird sie von ihrem Kollegen aus New Orleans, der Mitglied der Zaubererwelt ist, Jane Porter vom Laveau-Institut vorgestellt, die ihr erzählt, daß sie eine Magosensorikerin ist, eine Fensterguckerin, die magische Kreaturen und Vorgänge wahrnehmen kann, ohne selbst zaubern zu können. Jane Porter erfährt dabei von der Existenz einer neuen Hexensororität und sucht nach deren Mitgliedern. Doch Anthelia erfährt von diesen Untersuchungen und wehrt sie ohne Gewaltanwendung ab.

Die wiedererstandene Hexenmeisterin erfährt auch, daß Voldemorts Todesser nicht die einzige Gefahr für ihre Sache sind. Denn da gibt es noch wen, die aufgewacht ist und nun in dieser Welt herumläuft.

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Die Spätnovembernacht hatte den einsamen Talkessel mit ihrer Decke aus eiskalter Dunkelheit überzogen. Hier kam niemand mehr her, wenn die Herbstsonne mit letztem fahlroten Gruß unter den Horizont gesunken war. Einzelne Käuzchenschreie klangen durch die Nacht. Sonst lag Stille über diesem Ort.

Die Mitternachtsstunde kam und ging ohne Beachtung durch irgendwas oder irgendwen. Der fahle Mond und die silbernen Sterne blickten stumm aus dem tintenschwarzen Himmel herab auf einen Ort, wo die Einsamkeit der Natur regierte, wo nichts und niemand sich zu dieser kalten dunklen Stunde hinverirrte. Doch genau zu dieser Zeit krachte es laut und die Stille zerfetzend. Wie Pistolenschüsse in weiter Ferne hallten Knälle von den Felsen wider. Fackeln flammten auf, erst zwei dann vier dann acht und tauchten den Ort in ein gespenstisches orangerotes Flackerlicht.

Zehn in dunkle Umhänge gehüllte Männer traten in das Licht der Fackeln, hieltn unterschiedlich lange Holzstäbe in den Händen, an deren Spitzen ein schmaler heller Lichtstrahl glomm. Einer der zehn, ein hochgewachsener Mann mit kurzem wohl blondem Haar, schritt in die Mitte des Talkessels und hob seinen Stab senkrecht zum Himmel. Andere Männer deuteten mit ihren Stäben so darauf, daß sie die Stützen eines nicht vorhandenen Zeltes bilden mochten. Dann flogen goldene und weiße Funken hinüber zu dem Mann, dessen Stab senkrecht nach oben zeigte. Dort, über dem Stab, ballten sich die Funken zusammen und bildeten eine gleißende Kugel, die wie eine neue Sonne wirkte, die aufstieg und nun größer und heller ihr Licht über diesen Platz ergoss. Als der ganze Talkessel nun unter hellem weißgelbem Licht lag, senkten die neun anderen Männer ihre Holzstäbe wieder, während der in der Mitte stehende Mann noch etwas nach oben rief, worauf aus seinem Stab ein goldener Lichtblitz schoss, sich mit der künstlichen Sonnenkugel vereinigte und diese noch etwas höher und heller erstrahlen ließ.

"Das Licht ist klar!" Rief der in der Mitte, der nun, wo es taghell geworden war, als atraktiver Mann Mitte dreißig mit hellblondem Haar und dunkelblauen Augen in einem schmalen rosigem Gesicht zu erkennen war, der einen mitternachtsblauen Samtumhang trug. Von den übrigen neun trugen zwei weitere die gleichen Umhänge und besaßen denselben Haarton und dieselbe augenfarbe. Sie wirkten in ihrer Größe irgendwie erhaben wie Würdenträger oder hohe Beamte. Die restlichen sieben Männer waren eher schmächtig und klein, trugen grüne Umhänge und spitze schwarze Hüte. Sie sahen in unterwürfiger Körperhaltung zu, wie die drei großen Männer sich in der Mitte trafen und sich begrüßten. Dann sprach der, der sich als erster von ihnen in die Mitte gestellt hatte mit einer merkwürdig verstärkten Stimme:

"Nun, Brüder des Aufbruchs, es ist schön, euch wieder hier zu treffen, nachdem uns Poles Agenten lange gejagt und zur Untätigkeit gezwungen haben. Ich freue mich, euch mitzuteilen, daß unser großer englischer Freund sich endlich bei uns gemeldet hat, nachdem wir lange nicht wußten, ob an den Gerüchten, er sei wiedergekommen, wirklich mehr dran war als nur irrsinniges Gefasel dieses Halbblüters Harry Potter. Ich habe hier seinen ersten Brief und werde ihn euch jetzt vorlesen." Er zog aus seinem Umhang ein großes Stück Pergament, tippte es mit seinem Zauberstab an, wartete eine Sekunde und las dann, was darauf stand:

"Hallo, alter Freund Seth, ich hoffe, dir und deinen vielversprechenden Brüdern Hagen und Belial geht es gut, und ihr haltet in der neuen Welt die Stellung. Ich weiß, daß ihr in den letzten Jahren wenig tun konntet, um unsere gemeinsame Sache voranzubringen, weil viele Dummköpfe meinten, sich mit diesen Weichlingen und Muggelfreunden zusammentun zu müssen. Ich hörte auch, daß du und Asrael euch um die Vorherrschaft in Nordamerika gestritten habt. Das muß aufhören. Denn wenn wir alle zusammen das zu Ende bringen wollen, was wir damals angefangen haben, dann habt ihr gefälligst zusammenzuhalten. Machtspielchen im kleinen Rahmen gehören der Vergangenheit an. Denn wenn ich hier alle meine treuen Anhänger wiedervereint und endlich die Kontrolle über die Schwächlinge hier zurückbekommen habe, möchte ich den alten Traum weiterführen, alle die, die Brüder des selben Geistes sind, weltweit zu vereinen, um die Zaubererwelt endlich vom Schlammblut eingekreuzter Unwürdiger zu reinigen und die Muggel in die Rolle zu zwingen, die ihnen von der Natur aus zugedacht ist, unsere Sklaven und Gebrauchsmenschen zu sein. All zu lange hat es gedauert, bis ich endlich wiederkommen konnte. Ich hätte gar nicht erst niederfallen dürfen. Doch nun bin ich wieder da und werde mich grausam an allen rächen, die mich geschwächt und verlacht haben, meinten, ich käme niemals mehr zurück. Dich fordere ich auf, mit deiner Bruderschaft nicht mehr gegen Leute wie Asrael Smothers zu kämpfen und dich darauf zu besinnen, welches Ziel wir alle verfolgen. Ich weiß, du wirst meine Bitte erfüllen, und ich weiß auch, daß du weißt, daß es sich nicht auszahlt, sie nicht zu erfüllen. So gehe nun los und sichere dir und uns die Verwaltung der amerikanischen Zaubererwelt! Denn bald werde ich selbst zu dir kommen und mir ansehen, wie weit du bist.

Die besten Wünsche Lord Voldemorts seien mit dir und deinen Getreuen."

Die meisten Anwesenden lachten laut, als der Brief zu Ende gelesen war. Sie hatten schon damals nicht geglaubt, daß dieser Voldemort, wie mächtig er auch sein mochte, die ganze Welt beherrschen würde. Als er dann durch einen merkwürdigen Umstand, den sie alle nicht verstehen konnten, niedergeworfen wurde, als er Harry Potter töten wollte, hatten nicht wenige von ihnen gemeint, er sei zu größenwahnsinnig geworden und würde eh nicht wiederkehren. England war weit. Selbst mächtige Zauberer apparierten ungern zwischen den Kontinenten. Warum sollte sich dieser Lord Voldemort anmaßen, in ihr Territorium einzudringen und alle Fäden in die Hand zu nehmen. Sie waren alle Amerikaner und verlachten die Europäer, die immer noch meinten, die Herren der Welt zu sein, obwohl sie es schon längst nicht mehr waren.

Seth Schwarzberg, der älteste der drei gefürchteten Brüder Schwarzberg, gebot Schweigen. Er sagte:

"Mitbrüder, es ist zwar richtig, daß unser Freund aus England hier nichts ausrichten kann, wenn wir ihn nicht lassen, aber vergesst bloß nicht, daß er mehr Macht hat als wir alle zusammen. Nur wenn wir zusammen sind, können wir uns gleichwertig neben ihm erheben und unser Land alleine regieren. Ich habe versucht, mit diesem alten Schlagetot Asrael Smothers zu reden. Doch er ist tot. Man fand ihn vor Halloween im Hudson-Fluß in New York. Der Todesfluch hat ihn wohl erledigt. Muggel haben ihn gefunden und untersucht. Wir waren das nicht, die ihn umgebracht haben. Also kann es nur er gewesen sein, und Asrael hat in der selbstüberschätzenden Art, die er nun mal hatte, alles abgelehnt, was unser Freund ihm angeboten hat. Tja, er ist eben sehr schnell mit den Unverzeihlichen bei der Hand, wenn er nicht kriegt, was er will, dieser Lord Voldemort." Alle schwiegen betroffen. Asrael Smothers war tot? Dann hatte sich dieser wiedergekehrte Magier wohl schon Helfer hier besorgt oder war persönlich herübergekommen.

"Dann sollen wir diesem Engländer wirklich die Tür aufmachen, daß er hier bei uns seinen Laden aufziehen kann?" Fragte einer der zehn, die nicht in blauen Umhängen herumliefen.

"Nicht unbedingt so, wie er das gerne hat, Tyr. Aber wir sollten ihn auch nicht abweisen, wenn er zeigt, daß er in England wirklich wieder Fuß fassen kann. Ich denke, wir werden unser eigenes Reich hier aufbauen, und wenn er dann herkommt, mag er unser Verbündeter werden oder gleich wieder nach Hause gehen. Sicher ist nur, daß wir jetzt, wo er wieder da ist, nicht mehr länger herumsitzen dürfen und warten, bis er oder die von Pole uns endgültig fertig machen. Wir müssen jetzt handeln. Wir müssen jetzt zeigen, daß wir die mächtigste magische Bruderschaft sind. Wir müssen uns nun erheben und unsere alte Stärke wiederfinden und noch stärker werden, bevor er uns alle einzeln ausschalten kann. So lasst uns beraten, was wir machen und dann den vergnüglichen Teil folgen lassen!" Sprach Seth Schwarzberg.

Weit außerhalb des erleuchteten Talkessels hockten fünf Gestalten unter Tarnumhängen hinter den Felsen. Sie hatten vor sich einen gemeinschaftlichen Schild gegen Entdeckungszauber errichtet, der selbst unsichtbar war. Eine dieser unsichtbaren Personen hielt sich eine Art Muschel ans rechte Ohr und lauschte angestrengt. Sie hörte alles mit, was Seth Schwarzberg seinen Leuten sagte. Er unterbreitete ihnen den Plan, in einem halben Jahr durch die Tötung von gefährlichen Konkurrenten und die Versklavung von Muggeln in wichtigen Ämtern und Anstellungen die nordamerikanische Westküste zu erobern. Bis zum nächsten Halloween sollte dann das ganze Gebiet der vereinigten Staaten unter der Kontrolle der Bruderschaft sein.

"Sehr interessanter Plan", meinte die mit der Muschel am Ohr, als Seth seine Anhänger appplaudieren ließ. "Könnten wir auch machen. Aber wie wollen zehn Leute das anstellen? Ich denke, wir lassen sie erst gar nicht in diese Schwierigkeit kommen, ihren Plan auszuführen."

"Sollen wir sie töten, höchste Schwester?" Fragte eine unter dem Tarnumhang hockende Frau mit tiefer Stimme.

"Nicht alle. Einige von denen würden liebendgern aussteigen, wenn die drei Schwarzbergs entmachtet sind. Das ist wie mit einem Bienenstock, Schwestern. Ist die Königin tot und keine Jungkönigin bereit, zerstreut sich der Schwarm", antwortete jene, die die Unterhaltung belauscht hatte.

"Heute nacht, höchste Schwester?" Fragte eine andere unsichtbare Frau.

"Wenn wir sie schon alle hier haben, und wo sie sich so sicher wähnen, werden wir zugreifen."

"Wie du befiehlst, höchste Schwester", sagte eine dritte unsichtbare Frau.

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Richard Andrews atmete schwer. Sein ganzer Körper war heiß und im eigenen Schweiß gebadet. Langsam beruhigte sich sein Herz wieder, nach dem er sich in einer lange vermissten, unerwarteten aber ungleich wohltuenden Erschöpfung verloren hatte und seinen Geist vom Rausch der leidenschaft und Lust benebelt alle Bedenken und Zurückhaltungen vergessen hatte. Vom Liebesspiel total ausgelaugt trieb er zwischen Wach- und Schlafzustand dahin, freute sich mehr als er sich etwas vorwarf, daß er endlich wieder einmal mehr als nur ein guter Wissenschaftler hatte sein dürfen. Neben ihm lag sie, die ihn nach langer Entbehrung in den feurigen Strudel der Leidenschaft hinübergezogen hatte, sich mit ihm so richtig auslebte und nun schwer atmend und noch heiß von der gemeinsamen Anstrengung ihren Körper an seinen schmiegte und ihn mit ihren zarten Händen streichelte, sich von seinen schweißnassen Händen über ihren Leib streicheln ließ. Langsam fanden ihre Körper wieder zur gewohnten Ruhe. Langsam tauchten Gedanken und Erinnerungen wieder aus der Flut der Leidenschaft auf.

Wie konnte das passieren, daß er und diese kultivierte Frau da neben ihm sich so heftig übereinander hergemacht hatten? Eigentlich wollte er doch nur ihre neue Wohnung besuchen, die sie sich besorgt hatte. Nun, das hatte er ja auch. Er hatte mit ihr und zehn unauffällig wirkenden Leuten, zwei Frauen und acht Männern, einen langen Abend mit belangloser Plauderei vom Wetter über die Landespolitik bis zur Baseballoberliga verbracht. Mit einem Mann, einem Dr. Woodworth aus Chicago, hatte er sich über die Britisch-amerikanische Allianz unterhalten und die Lage auf dem Balkan diskutiert. Er selbst wußte gerade genug von Politik, um zu wissen, wann warum wo ein Krieg oder ein Bündnis begonnen wurde und wer in Großbritannien das sagen hatte. Aber über Feinheiten der Parteien in England wußte er nichts. Er war Naturwissenschaftler und interessierte sich mehr für Artikel in einschlägigen Fachzeitschriften als für die Wiederwahl Bill Clintons oder ob die konservative Regierung in London noch genug Rückhalt besaß. Die Gastgeberin hatte sich jedoch sehr lange über den Unterschied im Gesellschaftsleben der US-Amerikaner und Briten unterhalten. Sie sprachen über klassische Musik und Kunst. Richard mußte zugeben, davon nicht soviel Ahnung zu haben. Dafür verstand er mehr von Weinen und konnte sein Wissen beim aufgefahrenen Buffet unter Beweis stellen. Irgendwie, so fiel ihm auf, bekam er nicht mit, wie ein Gast nach dem Anderen ging. Die hervorragenden Weine, die er gekostet hatte, wirkten zusammen gegen seinen klaren Verstand. Loretta fragte ihn, ob er so mit seinem Mietwagen nach Hause zurückfahren konnte. Er sah ihr in die großen, braunen Augen und schwankte. Da begriff er, daß er in diesem Zustand kaum fahren konnte. Sie schlug ihm vor, ihm auf der Couch im geräumigen Wohnzimmer ein Lager einzurichten, und er nahm an. Sie sagte sogar mit ihrer warmen tiefen Stimme:

"So bekomme ich doch die Möglichkeit, mich für Ihre Gastfreundschaft zu revanchieren, Richard." Er lachte erheitert und nickte ihr zu, während sie eine weiche Daunendecke über der breiten Couch ausbreitete und zwei weiße Federkissen zurechtlegte. Doch als sie mehr als eine halbe Stunde völlig alleine zusammengesessen hatten, kam eine merkwürdig angenehm prickelnde Stimmung auf. Richard wußte nicht, ob es der Alkohol war, der das bei ihm bewirkte oder die Art, wie Loretta ihn immer wieder ansah, seinen Blick einfing und für Sekunden festhielt. Während sie einer exotischen Musik lauschten, die aus einem tragbaren CD-Spieler klang, rückten sie langsam immer näher zueinander hin, bis sie sich erst zaghaft mit den Fingerspitzen berührten, um dann ihre Hände ineinanderzulegen. Dann schien es Richard immer heißer zu werden. Er hatte das Gefühl, eine lange vermisste Wohligkeit würde ihn durchströmen. Eine Mischung aus leichtem Rausch und Erregung benebelte seinen Verstand mehr und mehr. Und immer wenn die Gastgeberin ihn ansah, meinte er, es würde noch heißer. Er dachte sich nichts dabei, als er sie langsam mit seinen Blicken von oben bis unten begutachtete und in ihm Vorstellungen aufstiegen, wie diese Frau unter ihrem dunkelroten Cocktailkleid wohl beschaffen war. Ihr Körperbau faszinierte ihn mehr als er sich früher zugestanden hätte. Ihr langes rotes Haar umspielte Kopf und Schultern wie von einer sanften Brise bewegt, wenn sie sich ihm zuwandte. Dann, irgendwann, lag sein rechter Arm um ihre Taille, während sie ihren Arm um seinen Bauch legte, ihn dabei sanft aber eindeutig an sich heranzog. Wollte er das? Wollte er diese Frau so nah an sich heranlassen?

"Loretta, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist", sagte er unsicher. Sie fragte ihn leise und mit tief in ihn einströmender Betonung:

"Was für eine Idee, Richard?"

"Öhm, das wir uns hier so zusammenkuscheln, Loretta. Ich glaube, dafür ist es doch viel zu früh und ..."

"Wer sagt das, wann es rechtzeitig ist?" schnurrte Loretta. Er fühlte jedes Wort in ihrem und seinem Körper vibrieren, während sie sich noch enger ankuschelte, ihn dabei langsam und bedächtig streichelte. Er wußte nicht, was er tun sollte. Diese Stimmung war zu schön, um jetzt über Richtig und Falsch nachzudenken. Irgendwie fühlte er, wie er sich aus allen anerzogenen Anstandszwängen löste, wie er nur hier sitzen und sich mit dieser Frau neben ihm eng aneinanderkuscheln wollte. Und wenn sie ihn ansah, meinte er, sie wollte sogar mehr. Jeder Blick ihrer Augen schmolz die ihm aufgezwungenen Hemmungen wie die Frühlingsonne das Eis der letzten Winternacht. Er fühlte, wie er immer mehr erregt wurde, wohlig und begierig die Berührungen der neuen Bekannten hinnahm und versuchte, ihr gleichschöne Berührungen zurückzugeben. Er vergaß alles, was er über Anstand und Vorsicht, über Sitte und Sorgfalt, über den Unterschied zwischen einem abenteuerlustigen Teenager und einem verantwortungsbewußten Mann gelernt hatte. Hier war er kein wohlerzogener Wissenschaftler in hoher Anstellung. Hier war er nur ein Mann, der fühlte, daß es ihn zu einer Frau hinzog, die ihrerseits immer deutlicher zeigte, daß sie ihn haben wollte. Ja, er wollte diese Frau hier und jetzt auch haben!

So war es passiert, daß sie beide sich langsam immer weiter ausgezogen und dann auf Lorettas Bett niedergelegt hatten, wo sie sich noch lange streichelten und küssten, bis sie schließlich im Liebesrausch zusammenfanden. Immer und immer wieder, bis Richard sich in der Glut dieses Liebesspiels verlor. Er wußte nicht, wielange er mit Loretta zusammengewesen war. Er wußte nur, daß er dieses Erlebnis mit allen Fasern seines Körpers und Bewußtseins genossen hatte und froh war, wenn er in vollendeter Vereinigung mit Loretta Hamilton verbunden war. Was kümmerte ihn, daß er für diesen Fall nicht vorbereitet gewesen war? Was scherte ihn die Frage, ob er das hätte zurückweisen und sich doch lieber hätte davonmachen sollen? Er hatte es getan und dabei alle verschütteten Freuden wiedergefunden, die er seit langer Zeit nicht mehr erlebt hatte.

"Das hast du sehr genossen, Richard", fragte Loretta noch leicht außer Atem und suchte mit ihrer Hand seinen Körper. Er ließ sie in eine Halbe Umarmung gleiten und hielt sie an sich gedrückt, sog den erregenden Duft ihrer Haut und ihrer Haare ein. Er fühlte, daß er langsam wieder in diese wohlige Stimmung hinüberglitt. Doch war er dazu noch fähig?

Als er dann nach langer Zeit neben ihr aufwachte, total erschöpft und matt, saß Loretta neben ihm und sang ihm ein langsames Lied vor, wie ein Wiegenlied, aber eher merkwürdig fremdländisch klingend, tief in ihn eindringend aber doch so kompliziert, daß er die Melodie nicht in seinem Bewußtsein halten konnte. Er fühlte, wie langsam seine Glieder zu schmerzen begannen. Da wußte er, daß er wirklich alles aus seinem Körper herausgeholt hatte, was er über Jahre darin verschlossen gehalten hatte.

"Mmm, Loretta, ich fürchte, wir waren wohl sehr unartig gewesen", sagte er eine Minute nach dem Ende von Lorettas schönem, fremdartigen Gesang.

"Du warst nicht unartig, Rich. Du warst sehr brav zu mir", säuselte Loretta. Dann tätschelte sie sacht seine schmerzenden Arme und Beine und streichelte über seinen Körper. Er fühlte, wie die Schmerzen nachließen, bis sie ganz verschwunden waren. Er wunderte sich zwar darüber, konnte jedoch nicht so recht darüber nachdenken. Als sie sich umdrehte und ihn mit ihren braunen Augen ansah, während sie ihr rotes Haar mit zwei schlanken Fingern ordnete, fühlte er, daß sie recht hatte. Und er dachte daran, daß er jederzeit wieder zu ihr kommen wollte, wenn sie es mochte. Sie gab ihm einen leidenschaftlichen Kuß, der in ihm das Gefühl in ihm hin- und herfließender Wärme erzeugte. Dann breitete sie sanft ihre breite Decke über sich und ihn aus und legte sich neben ihn. Leise sang sie dieses faszinierende, fremdartig klingende Lied ins Ohr, das ihn weit forttrug und hinüberhob in einen wohligen Schlaf.

Am Nächsten Morgen fühlte sich Richard sichtlich erschöpft, aber nichts tat ihm weh. Er frühstückte mit seiner neuen Bekannten reichlich und trank dabei einen aromatischen Früchtetee, der mit asiatischen Kräutern angereichert worden war. Dieser Trunk tat ihm wohl und er vergaß das aufkommende Schuldbewußtsein oder die Sorgen, etwas unüberlegtes angestellt zu haben. Nach dem Frühstück verabschiedete sich Loretta mit einer Umarmung wie unter frisch Verheirateten und lud ihn ein, am nächsten Wochenende wiederzukommen.

Merkwürdig geistesabwesend fuhr er durch die Stadt New York zu seiner Mietwohnung, wo er sich für den restlichen Sonntag nur mit Musik und Fernsehen die Zeit vertrieb.

So kam es, daß er die Wochenendarbeit, die er zur Vorbereitung der nächsten Versuchsreihe erledigen sollte, zwischen Aufstehen und Fortgehen erledigen und auf sein Montagsmorgenfrühstück verzichten mußte. Er wußte, daß er längst nicht alles ordentlich ausgefüllt hatte, doch irgendwie war ihm das vollkommen gleichgültig.

Weil er seine Projektvorarbeiten nicht vollständig ausgeführt hatte, kam es im Laufe des Tages zu einer Unterlassungspanne bei einem Versuch, den er auswendig durchzuführen gemeint hatte. Dabei wurde ein giftiges Chlorwasserstoffgemisch frei, das zu einem Sicherheitsalarm im Labor führte und das alle laufenden Versuche bis zwei Stunden verzögerte. Richard Andrews fuhr seine Mitarbeiter an, daß sie selbst doch hätten merken müssen, daß sie eine Halogen-Aminoverbindung falsch dosiert in den Reaktor eingefüllt hatten. Dr. Elvira Walker, die Biochemieexpertin, sah ihn verbittert an und meinte:

"Sie sind doch der Halogenkohlenwasserstoffexperte hier. Ich habe Ihnen vorhin gesagt, daß wir mit dem Katalysator vorsichtig umgehen sollten, weil die Suspension zu nucleophob reagieren könnte. Aber Sie sagten ja, daß Sie das in England schon einmal gemacht hätten. Also haben Sie das verbockt, Herr Doktor."

"Über die Kompetenzen hier werden wir uns zu gegebener Zeit noch mal unterhalten", schnaubte Richard entrüstet. "Jetzt müssen wir das noch mal von vorne ansetzen."

"Ich hoffe, diesmal funktioniert es", warf Dr. Vierbein ein, an und für sich ein Experte für Metalle und Metallverbindungen, zu dieser Gruppe eingeteilt, um Metall-Kunststoffverbindungen zu entwickeln, die härter als Stahl und leichter als Aluminium, aber mit allen Eigenschaften von Metall, abgesehen von der Rostbildung, versehen war.

"Sie haben's ja gesehen, Vierbein. Wenn's knallt und stinkt, es nicht gelingt", versetzte Richard Andrews trotzig und gab die Daten für den Mixprozess in den Computer ein.

Am Ende des Tages glaubte Richard, gegen einen mächtigen Strom angeschwommen zu sein. Die Panne am Morgen hatte sein Ansehen geschwächt. Die Mitarbeiter hatten sich offen über seine Fehlleistung muckiert. Das durfte er nicht auf sich sitzen lassen. Er dachte daran, daß gerade Elvira Walker es zu gerne sehen würde, wenn er als Projektleiter versagte und abberufen wurde, damit sie die Leitung übernehmen konnte.

In der laufenden Woche passierten keine weiteren Pannen mehr. Dennoch meinte er, seine Mitarbeiter hätten nun, wo sie eine Schwäche bei ihm gefunden hatten, beschlossen, ihn abzuservieren. Das merkte er vor allem am Dienstag, wo er sich häufig über Zwischenbemerkungen seiner Mitarbeiter Vierbein und Walker ärgerte, ob die Dosierung nun stimme. Er meinte, daß ihre Unterwürfigkeit wohl eher geheuchelt war und überlegte schon, ob sie seine Panne beim Zweigstellenleiter gemeldet hatten. Sicher, der Sicherheitsalarm und das Abpumpen der entstandenen Giftgase hatte wohl zu einem Eintrag im Institutslogbuch geführt. Aber bislang hatte niemand ihn deshalb offen gemaßregelt. Aber nun stand er unter Druck. Er fühlte sich belauert von den Mitarbeitern und den Apparaturen und Substanzen im Labor. Wieso fühlte er sich so bedroht?

Am Freitag, der Tag war ohne Panne vergangen, zitierte ihn sein derzeitiger Vorgesetzter zu sich. Er fragte ihn, ob es ihm hier nicht gut gehe, oder ob er sich durch den Unfall am Montag aus dem Tritt gekommen fühlte. Er sagte nur:

"Ich weiß nicht, ob das am Montag überhaupt meine Schuld war. Ich habe diesen Versuch schon mehrmals durchgeführt und seit meiner Promotion keinen Fehler mehr dabei gemacht. Ich vermute, es hat in einer der Substanzen eine Verunreinigung gegeben, die die Reaktion außer Kontrolle geraten ließ. Ich hatte erst gedacht, daß ich mich vielleicht vertan hätte, aber im Nachhinein konnte ich keinen Fehler finden."

"Ich hoffe, dieses Reizklima in Ihrem Labor legt sich in der nächsten Woche wieder. Es wäre bedauerlich, wenn das Projekt an Mißstimmungen scheitern würde, wo wir gerade darauf wert gelegt haben, die kompetentesten Leute für diese Arbeit zusammenzustecken."

"An mir wird es nicht liegen, wenn wir dieses Projekt nicht zur besten Erwartung vollenden können, Sir. Die Chemie ist zwar eine gründliche Wissenschaft, hängt aber auch von vielen Unsicherheitsfaktoren ab."

"Natürlich tut sie das, Dr. Andrews. Wir sind ja schließlich keine Zauberer", erwiderte Dr. Michelsen, der Zweigstellenleiter und grinste amüsiert über diesen Scherz. Richard Andrews schien jedoch eher erzürnt zu sein. Er mußte sich stark zusammennehmen, nicht offen in Wut zu geraten und konnte noch ein "Das fehlte auch noch", ruhig klingend herausbringen. Michelsen nickte ihm beruhigend zu und bekräftigte, daß er sich freute, ihn wie die anderen Wissenschaftler in seiner Projektgruppe zu haben.

"Mit den vier Wochen, die Sie hier bei uns sind", sagte Michelsen noch, "werden wir wohl nicht das Ei des Columbus oder den Stein der Weisen finden, Dr. Andrews. Aber ich gehe davon aus, daß wir zumindest den entscheidenden Ansatz zu einem brauchbaren Produktionsverfahren finden, an dessen Ende wir die erhoffte Metall-Plastik-Verbindung bekommen werden. Schönes Wochenende dann, Dr. Andrews."

Ihnen auch, Dr. Michelsen", wünschte Richard Andrews und verließ das Büro des Forschungslaborleiters.

Als er in seiner Mietwohnung war, arbeitete er alle Versuchsprotokolle und Ergebnistabellen bis zum frühen Morgen durch, legte sich dann erst schlafen und wachte erst um fünf Uhr Nachmittags wieder auf, als es an seiner Tür klingelte. Er stand auf, warf sich einen Morgenrock über, ging an die Tür und fragte, wer da sei.

"Telegramm, Sir, Antwort erbeten steht drauf!" Meldete sich eine junge Männerstimme.

Richard Andrews rieb sich den Rest von Schlaf aus den Augen und öffnete die Tür. Ein Mann in der Uniform der Ostküstenpost stand davor und hielt ihm einen Umschlag entgegen. Er nahm den Umschlag, bat den Boten, vor der Tür zu warten und schloss die Wohnungstür vor dessen Nase. Schnell ging er ins Wohnzimmer, öffnete den Umschlag und las:

"Weil kein Telefon
Frage nach Treffen bei mir heute Abend?
Loretta"

Richard Andrews wußte, daß Loretta kein eigenes Telefon und schon gar kein Internet oder E-Mail hatte. Er nahm einen leeren Zettel und schrieb schnell:

"Bin einverstanden.
Treffen heute abend sieben Uhr bei dir.
Freue mich! Richard"

Er fand es irgendwie lustig, ein solch antiquiertes Schnellpostverfahren noch eigenhändig zu nutzen. Doch wenn Loretta noch kein Internet oder Telefon hatte? - Er gab die Antwort an den wartenden Boten zurück, zahlte die für jedes Wort angesetzte Gebühr und verabschiedete sich.

Er nutzte die zwei Stunden, die ihm bis zum Rendezvous mit der faszinierenden Frau blieben mit gründlicher Körperpflege und Kleiderwahl. Er zog seinen besten Anzug an, den er eigentlich für Symposien oder wichtige Zusammenkünfte mitgenommen hatte, packte jedoch diesmal zwei Kondome in seine Jacketinnentasche und inspizierte sich noch mal im Spiegel. Als er mit dem, was er sah, zufrieden war, verließ er das große Mietshaus und fuhr mit dem Wagen fort.

Der Abend verlief herrlich. Sie aßen in einem vornehmen Restaurant, wobei ihm auffiel, daß seine Bekannte keinen Alkohol trank. Er gönnte sich ein Glas Wein, beließ es aber nur bei dem einen, weil Loretta ihn merkwürdig vorwurfsvoll ansah, wenn er fragte, ob sie auch etwas trinken wolle. Um halb zehn brachte Richard seine Verabredung in das kleine Trabantenstadthäuschen zurück, wo sie wohnte. Sie unterhielten sich über den verstrichenen Abend, denn über die vergangene Woche hatten sie lange und ausgiebig gesprochen. Irgendwann wollte Richard sich verabschieden, doch Loretta kam offenbar wieder in Stimmung und umgarnte ihn mindestens eine Stunde lang, bis er sich wie vor einer Woche hinreißen ließ, mit ihr zusammenzufinden. Diesmal ergingen sie sich noch länger und heftiger im Liebesspiel, sodaß Richard einmal besinnungslos wurde und total geschlaucht neben Loretta aufwachte, als die Morgensonne schon durch die Ritzen in der Jalousie blinzelte.

"Das können wir uns nicht jedesmal antun", sagte Richard zu Loretta, als sie ihm das Frühstück ans Bett brachte. "Das darf nicht alles sein, was uns ... Oh, ich habe die Dinger vergessen."

"Welche Dinger? Diese Verhüterli, Richard. Das ist nicht so tragisch. Im Moment bin ich vor ungewollten Kindern sicher. Oder denkst du, ich hätte es sonst so schön gefunden, mit dir zusammen zu sein?"

"Es geht ja nicht nur um ungewollte Kinder, Loretta", meinte Richard.

"Ich denke, du hast dich hübsch brav von allen bösen Frauen und Mädchen ferngehalten, die jede Nacht wen anderen haben und dabei dieses und jenes abkriegen. Ich hab's zumindest so gehalten."

"Ja, doch wir sollten ..."

"Schschsch, Richard! Zerstör die Stimmung nicht! Du wolltest mit mir und ich wollte mit dir. Oder willst du behaupten, das hätte dir nicht gefallen? Fragte sie mit verrucht tiefer Stimme und sah Richard erwartungsvoll an.

"Ich denke, ich wäre gar nicht zu dir gekommen, wenn ich das nicht gemocht hätte, was letzte Woche passiert ist, Loretta. Doch finde ich, daß wir unsere bisherige Beziehung zu schnell ins Bett verlagert haben und weder du noch ich das auf die Dauer so halten wollen."

"Ich denke, Richard", sagte sie und strich sich wie beiläufig durch ihr rotes Haar, "daß unsere Beziehung nicht darunter leidet, wenn wir uns auch ohne Anzug und Abendkleid gut verstehen. Mach dir keine Gedanken darüber, was gut oder böse ist! Die Natur hat uns so gemacht, daß wir uns darüber freuen. Dann ist das nicht böse." Sie sah ihm dabei sehr tief in die Augen. Er fühlte jedes Wort von ihr in seinem Verstand nachschwingen wie eine sachte Welle, die ein kleines Boot leicht schaukelt. Was sie sagte, breitete sich in seinem Bewußtsein aus, wie die Wellenkreise, die ein Stein beim Fall ins Wasser Schlug. Tatsächlich verstummten alle tadelnden und mahnenden Gedanken, verblaßte das aufgeflackerte Verantwortungsgefühl und verkümmerte das Schuldbewußtsein. Sie waren beide erwachsen und ungebunden. Seine Frau war weit weg, wahrscheinlich in Frankreich, weil sein Sohn nun dort lernte. Loretta war ungebunden. Zumindest hatte sie ihm gegenüber nie einen Freund, Ehemann oder eine Familie erwähnt, und er hatte bisher auch nie danach gefragt. So vergaß er alle Bedenken, die er vorhin noch hatte und genoss das Frühstück im Bett.

Den restlichen Sonntag brachte er sichtlich erleichtert und beschwingt mit der Vorbereitung der nächsten Woche zu. Doch er ertappte sich bei den selbstverordneten Pausen für Essen, Trinken oder andere Notwendigkeiten, wie er an diese Frau mit dem roten Haar und den braunen Augen denken mußte, wie sie ihn hielt, ihn so herrlich liebkoste und mit sich vereinigte, wie er es früher nur in seinen Jungenträumen erlebt hatte. Dabei meinte er für einen Moment, die neue Bekannte mit goldbraunen augen zu sehen und erinnerte sich für einen winzigen Moment an die merkwürdig leidenschaftlichen Träume von Roxana Halliti, die mit Loretta merkwürdig viel Ähnlichkeit hatte. Doch das mochte nur Zufall sein. Oder konnte er vorausträumen, was er wirklich mal erlebte? Hing ihm dieser magische Krempel auch an, weswegen sein Sohn diese Schule Hogwarts besucht hatte? Nein, das konnte nicht sein. Weil sonst hätte er doch erstens schon früher wichtige Ereignisse vorweggeträumt oder irgendwas angestellt, das nur durch Magie zu erklären war. Mochte es sein, daß Loretta nur das Idealbild seiner Geliebten war, von der er früher vielleicht öfter schon geträumt hatte, wo er sich vom Jungen zum Mann entwickelte und sich nicht immer erinnern konnte, von wem er da so alles geträumt hatte. Auf jeden Fall war er in sich nun sehr befreit und ausgeglichen, weil er diese Erfahrung hatte machen können, daß Wissenschaft nicht das einzige war, wofür er lebte. Sicher hatte er auch mit seiner Frau Martha einige herrliche Liebeserlebnisse geteilt. Doch gegen die beiden Nächte mit der Archäologin Loretta Irene Hamilton kamen diese bei weitem nicht heran. Er wußte tief in seinem Inneren, daß er beim nächsten Mal nicht so lange zögern würde, falls sie wieder nach ihm verlangte.

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Lohangio lächelte. Er hatte es endlich gefunden, jenes alte Buch, das von Pacidenyus Nitts, seinem Urururgroßvater vor zweihundertfünfzig Jahren von England mit herübergebracht worden war. Es hatte lange als verschollen gegolten und wurde nicht nur von den Nitts' begehrt, sondern auch von anderen Reinblütern, die die Vorherrschaft in der Zaubererwelt anstrebten. Doch Lohangio Nitts hatte allen anderen was voraus: Seine Abstammung vom Verfasser und das Familiengeheimnis, wie es zu finden und zu entschlüsseln war. Er hatte sich durch einem Bergwald Virginias zu einer alten Ulme vorgearbeitet und einen Schwarm Bowtruckels auf Abstand halten müssen, um unter der Eiche nach dem Höhlenversteck suchen zu können. Als er endlich den unmorschbaren Holzkasten fand, in dem das Buch lag, hatte er seinen Familienspruch gemurmelt:

"Wolken wandern, Sterne stehen,
Feuer lodern, Winde wehen.
Hat das Jahr so viele Tag',
bringt das Leben Leid und Plag',
Ist des reinen Blutes Kraft,
unverzagt und dauerhaft.
So fahr hin, gemeiner Fluch!
gib mir her das alte Buch!
Lass mich nicht verfehlend sterben,
mich, den einzig wahren Erben."

Er hatte sich bei den letzten Worten mit einem goldenen Dolch in die linke Hand geschnitten und Blut von sich auf den Holzkasten tropfen lassen, und zwar so, daß es einen Kreis auf den schwer erkennbaren Runen hinterließ, sich in den Gravuren sammelte. Dann hatte er mit seinem Zauberstab den Kasten angetippt und "Tu dich auf!" gerufen. Krachend schoss ein greller, blauer Kugelblitz aus der rechten Seitenwand und fauchte in den Wald davon. Als dann eine Sekunde später ein dumpfer Knall erklungen war, hatte es Lohangio gewußt, daß er nun den Kasten ohne Angst vor einem schmerzhaften Tod öffnen konnte. Er nahm das alte in der gegerbten Haut eines Gehängten gebundene Buch, das an sich schon mehrere eingearbeitete Flüche barg und marschierte hundert Schritte von der Ulme fort, bevor er disapparieren konnte. Denn der Holzkasten besaß eine Falle für Apparatoren, die in die Nähe des Verstecks kamen oder von dort fliehen wollten, wenn der alte Familienfluch sie erwischt hätte.

In seinem Stadthaus in New Jersey blätterte er vorsichtig das Buch durch. Er hatte die alte Brille seines Urahnen auf, die verhinderte, daß er dem Legidelirius-Fluch zum Opfer fiel, der jeden, der mit unbewaffneten Augen las, über wenige Zeilen in den Wahnsinn treiben konnte, der nicht entsprechende Gegenzauber kannte. Denn das Buch zu entfluchen wäre nicht nur mühsam gewesen, sondern hätte es womöglich auch unbrauchbar gemacht, da viele Notizen und Erkenntnisse mit den entsprechenden Flüchen gekoppelt waren.

"Der Dunkle Lord wird nicht lange diesen Titel beanspruchen können", grinste Lohangio. "Ich werde gleichberechtigt neben ihm stehen und die Sache des reinen Blutes verfechten."

Lohangios Lehrling Ornatus Pane trat in das Studierzimmer seines Meisters ein. Lohangio hatte mit Freuden den schmächtigen Jüngling aus England als Lehrling übernommen, als dessen Onkel und Tante wegen einer Dummheit seines Cousins in Askaban, dem von Dementoren bewachten Gefängnis, gelandet waren und die restliche Pane-Sippe sich schnell absetzen mußte. Mit den Nitts verband die Panes eine lange Ära familiärer Beziehungen. Lohangio, das jüngste von drei Kindern, hatte nach Thorntails beschlossen, die verweichlichte Zaubererwelt zu ändern. Doch er mußte lange und behutsam vorgehen.

"Meister, da ist 'ne Eule angekommen. Sicher ist sie von - ihm", sagte Ornatus Pane beklommen dreinschauend. Lohangio klappte das Buch zu, nahm die Brille gegen den Legidelirius-Fluch ab und sah seinen Lehrling aus seinen stahlblauen Augen heraus ruhig an. Er strich sich spielerisch über den rotblonden Backenbart und lächelte.

"Ja, wird wohl so sein, Natty. Es ist nicht schlecht, wenn du Angst vor ihm hast. Aber bald ist es auch nicht mehr nötig. Los, schaff mir den Brief bei!"

Ornatus, ein schmächtiger Junge von gerade dreizehn Jahren mit einer struweligen kastanienbraunen Mähne, lief eilfertig aus dem Studierzimmer und schnappte vom Sekretär im Flur einen Pergamentumschlag. Lohangio nahm den Umschlag entgegen, deutete mit einer Ornatus sehr vertrauten Geste an, daß er allein sein wollte und schloss die Tür zum Studierzimmer wieder. Er drehte den Bronzeschlüssel dreimal um, setzte sich hin und las:

Hallo, Nitts, du alter Fuchs,

Es ist äußerst schön, daß du mir so rasch geantwortet hast, als ich dir vor einem Monat eine Eule schickte. Ich freue mich, daß ich drüben bei euch doch noch nicht ganz vergessen bin, trotz dieser vermaledeiten Laveau-Bande und eurem offenbar wesentlich härter durchgreifenden Zaubereiminister. Ich hörte, er sei nun mit dem sechsten Muggel-Präsidenten bekannt und hätte seine Haltung nie aufgegeben. Ich wäre ja gerne vor vierzehn Jahren schon zu dir und den drei Schwarzbergs gekommen, um mit euch die Welt zu einen, aber du hast es ja auch gehört, daß dieser Potter-Bastard mir widerstanden hat und ich einstweilen verschwinden mußte. Aber jetzt, wo ich hier in England bald wieder Tritt gefasst habe, Dank sehr guter Kontakte mit Leuten, die mir eine Menge schulden, möchte ich sehr gerne sicher sein, daß meine amerikanischen Freunde mich noch in guter Erinnerung haben.

Ich habe hier noch einige Geschäfte zu erledigen und möchte mich vorerst nicht offen zeigen, da es im Moment sehr schön für mich läuft und ich es nicht nötig habe, jetzt schon hervorzutreten. Aber ich möchte dich bitten, schon einmal deine guten Kontakte zu streicheln, um zu sehen, ob sie was taugen. Wenn etwas los ist, was für mich wichtig sein dürfte, schreib mir das sofort oder schicke deinen fliegenden Boten zu mir. Er hat mich ja vor fünfzehn Jahren schon besucht, und ich hatte ja Dank dem Potter-Bastard keine Probleme mit dem Älterwerden. Er sollte mich also noch wiedererkennen.

Ich bleibe mit dir in Kontakt

Es fehlte eine Unterschrift. Doch als Lohangio den Namen des vermuteten Schreibers halblaut murmelte, erschien ein winziger grün glühender Totenschädel am unteren rechten Rand der Seite, aus dessen geöffnetem Mund eine züngelnde Schlange hervorlugte. Zwei Sekunden glomm das dunkle Mal, dann erlosch es restlos und ohne eine Spur zu hinterlassen. Das war für Lohangio der Beweis, daß der Brief wahrhaftig von Lord Voldemort stammte, der im Juni wieder zurückgekehrt war und über heimliche und auch langwierige Verbindungen seine alten Getreuen wissen ließ, daß er nun wieder da war.

"Du bleibst mit mir in Kontakt", grummelte Lohangio gehässig, warf den Brief in die Luft und ließ mit einer schnellen Bewegung seines Zauberstabs eine blaue Flamme darauf fallen. Giftgrün zerfiel das Pergament zu feinster schwarzer Asche. Falls Voldemort einen Fluch oder ähnliches darin verankert hatte, so war dieser wohl nun fort. Denn das Studierzimmer sog alle aus zerstörten Körpern ausbrechenden Dunkelzauber sofort auf, damit sie nicht doch noch ein Opfer fanden.

"Halt dich schön versteckt, du bleichgesichtiger Kinderschreck! Wenn du genug neue Kraft hast habe ich hier in den Staaten alles unter Kontrolle", lachte Lohangio Nitts.

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Gerry Johnson hatte Angst. Mitten in der Nacht hatte ein lauter Krach ihn und seine Frau Marian aus dem Schlaf gerissen, und wenige Sekunden später hatten vier total vermummte Männer in dunkelblauen Kapuzenumhängen und blutroten Masken in seinem gemütlichen Schlafzimmer gestanden.

"Aufstehen! Anziehen!" Hatte einer der Eindringlinge gebrüllt, während er laute Angstschreie aus dem Kinderzimmer nebenan hörte. Er wollte schon losspurten, um den beiden Söhnen Jack und Bert zu helfen, doch da zog einer der Eindringlinge einen merkwürdigen Stab aus seinem Umhang und richtete ihn auf Gerry. Eine unsichtbare Kraft packte ihn am Körper, riss ihn hoch und warf ihn zurück aufs Bett, während die Schreie der Kinder verstummten.

"Was soll das? Wer sind Sie?!" rief Gerry. Die Fremden kicherten nur höhnisch und blickten durch die Sehschlitze ihrer Masken seine Frau an, die in ihrem rosa Rüschennachthemd zitternd auf dem Bett saß, die Augen vor blankem Entsetzen weit aufgerissen.

"Noch mal, aufstehen und anziehen!" Wiederholte der größte der Überfalltruppe laut und unverkennbar gefährlich.

"Jack und Bert!" Schrie Marian.

"Die sind wohlauf", lachte ein hagerer Kerl gehässig. "Die werdet ihr gleich wiedersehen."

"Ich lasse mich von Ihnen nicht einschüchtern!" Knurrte Gerry und zog mit einer schnellen Handbewegung die obere Schublade seines Nachtschranks auf. Keine Zehntelsekunde später hielt er einen geladenen und entsicherten Revolver in der Hand, richtete ihn auf den Mann, der ihn vorher aufs Bett zurückgeworfen hatte und drückte ab, bevor die anderen sich darüber klar wurden, was passierte. Laut hallte der Schuss von den Wänden wider. Der Getroffene zuckte zusammen und fiel wie ein nasser Sack hinten über. Doch Gerry hielt sich nicht mit ihm auf. Er zielte auf den zweiten Mann und wollte gerade abdrücken, als ein scharlachroter Lichtblitz aus dem Stab des am weiten rechts stehenden fauchte und ihm die Waffe aus der Hand prällte, so stark, daß dabei fast sein Arm ausgeränkt wurde.

"Diese Muggel sind ja böse", lachte einer der noch unverletzten Eindringlinge und begutachtete seinen niedergeschossenen Kumpan, der keinen Ton mehr von sich gab. "Wau, ein volltreffer. Aber das wirst du büßen, Muggel. Crucio!"

Gerry sah noch den auf ihn deutenden Stab. Dann brach eine nie geahnte Hölle aus mörderischen Schmerzen über ihn herein. Er schrie und schlug um sich, während seine Haut von unsichtbaren Klingen zerschnitten, seine Eingeweide von brennenden Haken durchwühlt wurde und in seinem Kopf ein nie gekannter Schmerz bohrte und ziepte. Seine Augen tränten, sein Herz stach, und in seinen Lungen schien ein loderndes Feuer zu tosen. Eine halbe Minute lang war Gerry in dieser unsagbaren Qual gefangen, glaubte schon, sterben zu müssen, während seine Frau Marian von seinen unkontrollierten Schlägen ein blaues Auge und eine blutige Oberlippe abbekommen hatte. Dann endlich verflog die höllische Pein. Gerry wimmerte und zuckte immer noch unter den Nachwirkungen des Angriffs.

"Wenn der Meister nicht gesagt hätte, dich und deine Sippe lebend beizubringen, Muggel, hätte ich dich jetzt im eigenen Saft gebraten", zischte der Unheimliche, welcher Gerry derartig grausam gequält hatte.

"Und jetzt sollt ihr euch endlich anziehen. Wir haben nicht ewig Zeit!"

Gerry leistete keinen Widerstand mehr. Die Vorstellung, seine Frau und er könnten wieder unter dieser schrecklichen Folter leiden, ja ihre Kinder könnten noch brutaler gequält werden, hatte jeden Mut, selbst den Mut der Verzweiflung, aus seinem Herzen verscheucht. Er zog sich einen einfachen Ausgehanzug an, während seine Frau mit schamrotem Gesicht unter den auf sie gehefteten Blicken der Verbrecher einen schlichten Rock und eine Alltagsbluse anzog. Gerry sah sie weinen und wußte mit überdeutlicher Gewissheit, daß er ihr nicht helfen konnte. Er, der Familienvater, der an und für sich seine Lieben beschützen sollte, war wie ein eingepferchtes Lamm den eingedrungenen Wölfen ausgeliefert.

Als sie angekleidet waren, nahmen die noch stehenden Männer den Revolver und die Johnsons auf eine merkwürdige Reise mit. Sie packten sie bei den Händen und waren mit lautem Knall verschwunden. Den erschossenen Kumpan ließen sie zurück.

Die zeitlose Reise brachte die Johnsons in einen dunklen Talkessel, in dem ein Ring aus flackernden Fackeln einen gespenstischen orangen Lichtkreis auf den Boden malte. Über ihnen allen stand eine gleißende Lichtkugel, die wie die Sonne herabschien. Am Rande des Ringes saßen noch mal drei vermummte Leute und johlten, als die Familie Johnson ankam. In der Mitte des Kreises standen drei andere Männer und hielten die beiden Kinder zwischen sich, die angstvoll schrien und heulten.

"Willkommen im Zirkus Schwarzberg", lachte ein großgewachsener Mann in einem mitternachtsblauen Samtumhang. Alle anderen lachten laut und klatschten Beifall. "Heute gelangen zur Vorführung: Nonnen und Familien. Viel Vergnügen!"

Unter dem Blick der am Rande sitzenden Zuschauer wurden die Johnsons mit starken Seilen aus den Zauberstäben ihrer Entführer gefesselt und aus dem Fackelring geführt.

"Also, Hagen und Belial, zeigt mal, was ihr noch könnt!" Rief der Mann in der Mitte des Ringes im Stil eines Footballtrainers. Zwei Männer, die ihm sehr ähnelten, traten breit grinsend in den taghell erleuchteten Kreis und verneigten sich übertrieben vor ihren Zuschauern. Aus der Dunkelheit traten vier Ordensschwestern in ihrer vorgeschriebenen Tracht in den sonnenhell erstrahlten Bereich und gingen ohne weiteres Wort in den mit den Fackeln abgesteckten Ring. Die drei sich ähnelnden Männer zogen sich aus dem Ring zurück. Der, welcher die Johnsons begrüßt hatte, winkte mit einem Holzstab und ließ vier scharfe Dolche auf dem Boden erscheinen. Die vier Nonnen sahen die gefährlichen Waffen an, wußten offenbar nicht, was sie damit anstellen sollten.

"Imperio!" Hörte Gerry Johnson die beiden anderen blondhaarigen Männer ohne Masken rufen. Fünf Sekunden später hoben zwei der vier Ordensschwestern Dolche vom Boden. Dann ertönte wieder dieser merkwürdige Ruf "Imperio!" Keine zwei Sekunden später hatten auch die anderen beiden Nonnen sich Dolche vom Boden aufgelesen.

"Um Gottes Willen,das sind Satansjünger", erkannte Gerry Johnson mit seine bisherige Angst noch übersteigendem Schrecken. Er war in die Fänge schwarzer Magier geraten, die hier und jetzt ein menschenverachtendes Ritual vornehmen wollten, womöglich um einen Dämon oder den Höllenfürsten selbst zu beschwören. Aber warum dann die gleißende Lichtkugel am Himmel. Waren die Diener des Teufels nicht lichtscheu.

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Luftwaffengeneral Fedorov saß an seinem vollgepackten Schreibtisch im Hauptquartier in Moskau, als sein Adjutant Antonov hereinstürzte und mit zwei Bildern winkte, die er in den Händen hielt.

"Herr General, diese Leuchterscheinung ist wieder gesichtet worden, wieder Virginia, USA. Hier sind die neusten Stereobilder."

Fedorov zuckte mit den Achseln. Seit zehn Jahren betreute er die Satellitenaufklärung der Luftstreitkräfte. Wo er noch als "Genosse General" angesprochen werden mußte, hatte er schon diese merkwürdige Lichterscheinung auf den Bildern eines Spionagesatelliten entdecken können, der an und für sich die Basen der amerikanischen Luftwaffe auskundschaften sollte. Nach dem endgültigen Zerfall der Sowjetunion war er als einer der wenigen hohen Offiziere in Amt und Würden geblieben, während Kameraden von ihm, die sich zu sehr an die Vormacht der Partei gewöhnt hatten, entlassen worden waren. Die Lichterscheinung, die der russische Spionagesatellit seit 1987 alle paar Monate aufspürte, gehörte irgendwie nicht zum üblichen Militärtheater der amerikanischen Regierung. Als Fedorov mit den Bildern einmal zum Generalsekretär ging, um ihn zu fragen, was er in dieser Angelegenheit zu tun hatte, war ein würdiger Herr in einem samtbraunen Umhang mit Zobelkragen und Bärenfellmütze aufgetaucht und hatte ihm erklärt, daß dieses Licht wohl zu einer ganz geheimen Sache gehörte, die nicht im Zuständigkeitsbereich der Luftstreitkräfte liege. Er habe niemandem davon zu erzählen, daß es diese Bilder gebe und daß er sie sofort an die Geheimabteilung M abliefern solle, wenn sie eintrafen. Der Generalsekretär hatte zustimmend genickt, was den Befehl unmissverständlich und über alles andere erhoben machte. So hatte Fedorov jede neue Sichtung sofort der bezeichneten Geheimabteilung gemeldet und seinen Mitarbeitern, die das betreffende Gebiet überwachten instruiert, ihm persönlich neue Fotos zuzustellen und die Bänder mit den Daten nach der Ortung sofort zu löschen. Er hatte es damit erklärt, daß die Geheimabteilung ihren eigenen Aufklärungssatelliten im Umlauf besaß. Inzwischen hatte sich der gesamte Staat geändert. Was die Amerikaner so taten war zwar noch interessant aber nicht mehr so brisant. Sicher hatte er sich gefragt, wie diese kleine aber leistungsstarke Lichtquelle ohne Anmessung elektromagnetischer Felder zu deuten war. Doch er hatte das Gehorchen stärker gelernt als das Befehlen. Daß er heute noch einen hohen Rang innehatte verdankte der General der Loyalität dem Staat und dem Volk gegenüber und nicht den Günstlingen einer Partei, deren Idee von Männern in Torschlußpanik noch schneller in den Staub getreten worden waren.

"Sind die Bänder davon schon gelöscht?" Fragte Fedorov. Antonov schüttelte den Kopf und wollte schon umkehren, um die befohlene Löschung aller Bänder mit dieser Erscheinung drauf zu veranlassen. Doch der General hielt ihn mit einer knappen Geste zurück. "Schaffen Sie sie in den Computerraum für die Stereovergrößerungsauswertung! Ich sehe mir die Bilder erst einmal unter dem Binokular an."

Der Adjutant verließ das Zimmer seines obersten Vorgesetzten und eilte davon, während Fedorov ein Vergrößerungsgerät für 3-D-Bilder aus seinem Panzerschrank holte und die gerade hereingebrachten Bilder darunter betrachtete. Ihm fiel dieser Sonnenpunkt auf, wie eine freischwebende Lampe in großer höhe. Dann meinte er, winzige Punkte genauer erkennen zu können. Er glaubte von oben auf eine Gruppe von Menschen herabzusehen, die alle um einen abgesteckten Lichtkreis standen. Leider reichte die Vergrößerung nicht aus, um die Menschen zu erkennen. Doch dafür wollte er den Computer rattern lassen. Er fragte sich, was nach der großen Wende noch so streng geheimes an dieser Erscheinung war. Mochte es die freischwebende Lichtquelle sein, die wie eine künstliche Sonne einen Bereich wie mit Flutlicht ausleuchten konnte? Oder ging es dieser immer noch tätigen Geheimabteilung darum, diese Leute auf den Bildern zu beobachten, ja zu überwachen? Aber wieso dieses Geheimnis? Dann fragte er sich, warum diese Leute auf den Bildern da ein freischwebendes helles Licht über ihrem Treffpunkt verwendeten wo sie in Amerika doch damit rechnen mußten, daß jeder Quadratmeter von Kundschaftersatelliten aus der Sowjetzeit beobachtet wurde? Warum trafen sich diese Leute nicht in nach oben lichtdicht abgeschlossenen Räumen? Hinter den Aktivitäten, die der Spionagesatellit von Zeit zu Zeit mitbekam, mußte mehr stecken.

Fedorov wollte gerade in den Computerraum hinübergehen, um die Datenbänder einer noch genaueren Analyse zu unterziehen, als ihm jener merkwürdige Mann mit dem braunen Umhang und der Bärenfellmütze im Flur wie aus dem Nichts entgegentrat.

"General Fedorov! Wir hörten davon, daß Ihr Satellitenauge wieder dieses Sonnenlichtphänomen über Virginia eingefangen hat. Sie kennen die Anweisungen Ihres Präsidenten. Sie hätten die Bänder sofort vernichten lassen sollen. Warum haben Sie diesmal gegen den Befehl verstoßen?"

"Ich weiß zwar nicht, wie Sie hier hereingekommen sind, ohne daß die Wachen Sie registriert und gemeldet haben, Gosbodin Ragoschin. Aber die Zeiten, wo die Partei und das KGB mir vorzuschreiben pflegten, wie ich meine Arbeit mache, sind vorbei. Ich erwarte endlich eine Erklärung, welche Geheimniskrämerei mit diesem merkwürdigen Licht betrieben wird und warum man in den Staaten nicht unterirdische Treffen abhält, wo ein Satellit sie nicht beobachten kann. Ich sehe schon durch den zwölffachvergrößerer, daß unter dem Lichtpunkt Menschen zu einer Art Zusammenkunft versammelt sind. So geheim kann das also nicht sein. Also bitte, Gosbodin Ragoschin!" Erwiderte der Luftwaffengeneral sehr entschlossen, diesmal nicht den befehlshörigen Soldaten zu mimen.

"Es gibt Dinge, die überdauern alles, sogar Ihre frühere Staatsform oder den auf Wirtschaftsvormacht getrimmten Machtanspruch der USA. Diese Dinge gab es schon zur Zarenzeit und wird es wohl noch in Jahrhunderten geben, wo Leute wie Sie vernünftig genug waren, nicht Ihre verheerenden Massenmordmittel einzusetzen und unseren Planeten dauerhaft zu entvölkern", erwiderte Ragoschin. "Geben Sie mir die Stereobilder! Die Bänder haben meine Mitarbeiter bereits beschlagnahmt."

"Bitte was?! Sie beschlagnahmen hier einfach militärisches Datenmaterial?! Was soll das heißen?" Empörte sich der General und lief wutrot an, während er Ragoschin sehr durchdringend anblickte. Dieser zuckte nicht einmal mit einer Wimper. Er stand ruhig da und antwortete:

"Das alles, was mit dieser Lichterscheinung und denen, die dahinterstecken zu tun hat, nicht Ihrer Zuständigkeit unterliegt. Sie wissen bereits jetzt schon mehr als zuträglich ist. Also geben Sie mir die Bilder!"

"Das werde ich nicht tun", erwiderte der General entschlossen und zog schnell seine Dienstwaffe. Ragoschin schien mit einer derartigen Antwort nicht gerechnet zu haben. Kurz flackerte der Schreck in seinen Augen. Als der Lauf der Pistole dann auf seine Brust zeigte, wich er vorsichtig zurück bis zum Ende des Flurs. Dann krachte es laut, und Ragoschin war verschwunden. Fedorov feuerte mehr aus Reflex als aus eigenem Willen seine Waffe ab. So hörte er nicht, daß es keine zwei Meter hinter ihm erneut krachte. Während die Kugel aus der Pistole in die Betonwand einschlug traf den General etwas von hinten, das weder ein Schlag noch ein Stoß war. Es schien wie ein elektrischer Schauer durch ihn hindurchzufließen und ihm die Sinne zu rauben.

"Accio Bilder", sagte Ragoschin und deutete auf die schmucke Uniform des Luftwaffengenerals. Wie Korken aus einer Sektflasche sprangen die beiden Stereobilder der Satellitenaufnahme aus den Innentaschen des Offiziers und flatterten wie eilige Schmetterlinge zu Ragoschins linker Hand hinüber. In der rechten Hand hielt er einen etwa zehn Zentimeter langen Eichenholzstab. Leise murmelte er einige Formeln, während er den Stab auf Fedorovs Kopf gerichtet hielt. Aus der rechten Tür am Flurende trat ein rothaariger Mann in der Uniform eines Fliegerleutnants und sah zu, was Ragoschin machte. Es schien dem Offizier jedoch nicht ungewöhnlich oder erschreckend vorzukommen. Er stand ruhig da, wartete, bis Ragoschin alles erledigt hatte und den Stab wieder fortsteckte.

"Das wird langsam schwierig, Bartholomeus. Diese Kriegsleute sind nicht mehr so einfach einzuschüchtern", sagte der Leutnant zu Ragoschin. Dieser nickte verbittert dreinschauend.

"Diese mißtrauischen Muggel haben aber auch zu viele dieser Spionagemonde in die Umlaufbahn geschossen. Anja beschwert sich regelmäßig, daß sie ihre Sternbeobachtungen nicht mehr ungestört von diesen Dingern machen kann. Hast du die Aufnahmebänder davon sicher, Dimitri?"

"Ja, ich habe sie übernommen. Der Gehilfe des Generals wollte sie gerade in den großen Rechner einlegen. Ich habe sie sofort neutralisiert und sein Gedächtnis auch modifiziert, wie das der Satellitentechniker. Der Spionagemond wird erst in einer Stunde wieder über das Gebiet fliegen. Ich hoffe, dann sind die da drüben wieder fort", sagte der Fliegerleutnant.

"Danke, Dimitri. Ich hoffe nur, es ist eine harmlose Zusammenkunft ungestört sein wollender Zauberer. Was haben uns Poles Mitarbeiter letzten Monat zugeschickt? Sie würden sich der Sache annehmen."

"Wir sollten die Bilder schnell zu Arcadi bringen. Womöglich ist an den Gerüchten doch was dran. Ilona hat ja im Sommer was behauptet, dieser dunkle Magier sei wieder da, der uns alle bedroht hat", flüsterte Dimitri mit Blick auf alle Türen. Ragoschin nickte nur. "Grüße Sascha und Ilona von mir, wenn du wieder zu Hause bist, Dimitri. Danke noch mal für deine rasche Hilfe."

"Nichts zu danken, Bartholomeus. Grüße an Minister Arcadi", sagte der Fliegerleutnant und verbeugte sich vor dem Mann mit der Bärenfellmütze. Dieser lächelte ihn an und verschwand mit einem lauten Knall. Dimitri Andropov, der hier in dieser Zentrale als technischer Assistent arbeitete, lächelte, als General Fedorov wieder zu sich kam. Er salutierte sofort, als Fedorov sich aufrichtete und fragte dienstbeflissen:

"Ist Ihnen was passiert, General Fedorov?"

"Ich fürchte, ich bin gestolpert und habe mir den Kopf angeschlagen, Leutnant Andropov. Aber sonst ist nichts passiert. Ich gehe sofort zu Doktor Melechin und lasse mich untersuchen. Kehren Sie an Ihre Arbeit zurück!"

"Meinen Sie wirklich?" Fragte Dimitri Andropov.

"Das ist ein Befehl, Leutnant Andropov!" Unterstrich der General seine Anweisung. Andropov salutierte noch mal erwiderte "Zu Befehl" und kehrte zu seiner Arbeit zurück.

Niemand erinnerte sich an die verräterischen Satellitenfotos, die keine zwei Minuten nach Ragoschins Abreise auf dem Tisch von Eva Marcova lagen, der ersten Untersekretärin von Zaubereiminister Maximilian Arcadi. Sie holte einen Stereobetrachter aus ihrem Schrank, der durch reine Gedankenbefehle der Person, die ihn benutzte, sttufenlos bis zum einhundertfachen Wert vergrößern konnte. So sah es für die großmütterlich wirkende Hexe im Wollkleid nun aus, als flöge sie von oben her auf den vom Lichtfleck beschienenen Platz zu, bis sie die Gruppe der Leute erkannte. Insbesondere die drei hellblonden Schöpfe der größten Männer dort waren ihr bekannt. Sie holte einen Notizblock und eine scharlachrote flotte Schreibefeder hervor, nuckelte wie ein Kleinkind kurz an der Federspitze, setzte sie auf eine leere Seite des Notizblocks und diktierte:

"Notiz zu Aufzeichnungen des künstlichen Mondes "Himmelswächter II" von heute morgen acht Uhr und dreißig Minuten.

Aufgenommen wurde eine Artisolis-Lichtkugel über einem Berggebiet des nordamerikanischen Bundesstaates Virginia, unter deren Licht eine Zusammenkunft von zehn Zauberern und acht Muggeln zu beobachten ist. Drei Zauberer konnten eindeutig identifiziert werden. Es sind die Brüder Seth, Hagen und Belial Schwarzberg, die nach vorliegenden Kenntnissen ihre eigentliche Wirkungsstätte im Bundesstaat Kalifornien haben. Fünf weitere Zauberer konnten nicht erkannt werden, da durch Verkleidung und Maskierung unkenntlich. Bei den Muggeln handelt es sich um vier Frauen aus einem katholischen Orden, erkennbar an den schwarz-weißen Trachten, sowie einem zivilen Mann, einer Frau und zwei Jungen im Alter zwischen sieben und neun Jahren. Schlußfolgerungen über Art und Umfang der Zusammenkunft können noch nicht angestellt werden. Die nichtmagischen Techniker, welche die fraglichen Aufnahmen gemacht haben, wurden gemäß internationales Geheimhaltungsstatut sowie dem Gesetz zur Verheimlichung ausländischer Zaubertätigkeiten gedächtnismodifiziert.

Gezeichnet         Eva Michailewna Marcova, erste Untersek. Z.m."

Sie prüfte, was die Feder notiert hatte, daß diese sogar bei "heutiges Datum" den genauen Kalendertag mitgeschrieben hatte, fügte die beschlagnahmten Bilder bei und informierte ihren Chef.

Man kam nach einer kurzfristigen Konferenz der Ministerialbeamten Russlands darüber ein, daß die Schwarzbergs offenkundig wieder einer ihrer sadistischen Leidenschaften frönten und dies Sache der Amerikaner sei, sie zu stellen. Jedoch wollte man die Anhänger des dunklen Lords in Russland nun strenger überwachen. Wie die Muggel unterhielten auch die Zauberer dieses riesigen Reiches einen streng und allgegenwärtig strukturierten Geheimdienst, der jedoch schon älter war als die Geheimpolizei der Zarenzeit oder das KGB der Einparteienherrschaft. Außerhalb der russischen Zaubererwelt wußte niemand etwas von den Satellitenbeobachtungen. Wie schon so oft zuvor waren die Spuren dieser Aktivitäten verwischt worden, ohne das jemand Verdacht schöpfte.

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Gerry Johnson wußte, daß er wahnwitzigen Hexenmeistern in die Fänge geraten war. Er mußte nicht erst sehen, wie sich zwei der vier Ordensschwestern mit den Dolchen bedrohten, für eine grausame Zeitspanne von zehn Sekunden voreinander stehenblieben und dann wie die Furien aufeinander losgingen. Die zehn Zuschauer johlten wild, während die beiden Hexer, die mit ihren Zauberstäben die aufeinander einstechenden Nonnen dirigierten wie ein Ballett der Barbarei zufrieden dreinschauten, während die beiden frommen Frauen sich wie wahnsinnige Mörder einander attackierten. Es schien so zu sein, als würden die beiden Nonnen aus freien Stücken, vorangepeitscht von einem glühenden Wunsch nach dem Tod der jeweils anderen gegeneinander kämpfen. Doch Gerry erinnerte sich an Geschichten über böse Zauberer, die wehrlose Menschen versklavten und zu den schlimmsten Untaten zwingen konnten. Da erkannte er, daß er diesem Gemetzel hier nicht nur zuschauen sollte. Das blanke Entsetzen explodierte in alle Fasern seiner Seele und seines Körpers.

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Im gebührenden Abstand hockten Anthelia und ihre Hexenschwestern und beobachteten durch magische Ferngläser die brutale Szene unter der Sonnenlichtkugel. Die höchste Schwester des Spinnenordens verzog ein ums andere Mal das Gesicht zu einer wütenden Grimasse. Sie konnte ja nicht nur sehen, was vor ihnen ablief, sondern auch die immer wieder mit dem Unterwerfungsfluch Imperius niedergeschlagene Abscheu der Nonnen gegen den ihnen aufgezwungenen Kampf wahrnehmen. Sie sah die beiden Kinder, die wie ihre Eltern gefesselt außerhalb des Kampfplatzes hockten, erkannte in den an der Geistesoberfläche wirbelnden Gedanken des Vaters, daß dieser wußte, was ihm hier blühen würde und wandte sich einer Mitschwester zu, die wie sie in die aufsteigenden Gedanken anderer Menschen hineinhorchen konnte, ohne den Aufwand der Legilimentik betreiben zu müssen.

"Bereitet es dir auch kein Vergnügen, höchste Schwester, diesen beiden Frauen da beim Sterben zuzusehen?" Fragte Patricia Straton, die wieder mal angewidert von der johlenden Menge vor ihr zu ihren Mitschwestern hinüberblickte.

"Sie glauben wirklich, Macht sei dazu da, andere Menschen wie Spielzeug zu behandeln. Wie dekadent doch dieses Pack ist, wenn es sich dadurch nur Befriedigung verschaffen kann, Menschen wider ihren Willen zu Mördern zu machen. Diese Frauen dort sind durch ihren religiösen Lebenswandel dazu angetan, niemandem was anzutun. Doch die Schwarzbergs finden es wohl schön, sie gegeneinander kämpfen zu lassen. Die beiden anderen Ordensdienerinnen warten stumm und unfähig an der Seite, bis sie selbst an die Reihe kommen. Dann soll die Familie der Unfähigen sich gegenseitig umbringen. Es wird Zeit, diesen Leuten zu zeigen, daß Macht nicht nur die Herrschaft über Körper und Geist bedeutet, sondern vor allem an feste Ziele gebunden zu sein hat. Wir haben hier alle auf einem Haufen. Doch um meinen Plan zum Erfolg zu bringen, brauchen wir die drei Brüder lebend. Sollen sie kosten, wie leicht sich ihre eigene Machtgier gegen sie selbst wenden lässt! Den beiden Frauen dort vorne können wir nicht mehr helfen. Sie sind bereits zu tief im Bann des Imperius-Fluches. Wir holen die Familie dort weg und hinterlassen eine unverkennbare Botschaft für die Rädelsführer", sagte Anthelia. Dann besprach sie mit ihren Bundesschwestern, was sie vorhatte.

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Gerry Johnson sah nicht mehr hin. Er hörte jedoch noch die Anfeuerungsschreie der in brutaler Blutgier berauschten Zuschauer. Er hörte, daß die beiden Nonnen sich irgendwann so heftig zugerichtet hatten, daß sie nicht mehr gegeneinander kämpfen konnten. Die Zuschauer riefen:

"Macht nun Schluß! Macht nun Schluß!"

Gerry hörte ein lautes unheilvolles Sirren und konnte den schwachen Widerschein eines grünen Lichtes auf dem Boden sehen, den er die ganze Zeit über anstarrte. Dann klatschten die aufgepeitschten Zuschauer laut Beifall.

"Die nächsten beiden treten nun an. Mal sehen, ob deren anerzogener Friedenswille und dieses fünfte Gebot sie besser gegen uns stärken als die beiden ersten", lachte der in Mitternachtsblau gekleidete Zauberer. Gerry sah hin und erkannte, daß die beiden Ordensschwestern, welche zuerst gegeneinander gekämpft hatten, mit schweren Stich- und Schnittverletzungen auf dem Boden lagen. Sie waren wohl tot. Die beiden anderen traten in den Kreis, wesentlich schwerfälliger. Offenbar kämpften sie gegen das an, was man mit ihnen angestellt hatte. Einer der Zauberer im Kreis zog einer der getöteten Nonnen gerade eine Kette mit einem silbernen Kreuz über den Kopf und schwenkte das heilige Symbol.

"Tja, dabei behaupten die immer, gegen die Mächte der Magie geschützt zu sein", sagte der Hexenmeister und warf das silberne Kreuz hoch in die Luft. Mit einer schnellen Bewegung seines Zauberstabes ließ er es im Flug zerschmelzen.

"Auf dann, Brüder! Lasst sehen, wer der bessere von euch ist!" Trieb der dunkle Zeremonienmeister seine beiden Spießgesellen an, wohl eher seine leiblichen Brüder. Diese lachten, hoben die Zauberstäbe und riefen im selben Moment: "Imperio!"

Gerry Johnson wollte dem nicht zusehen. Er konnte es nicht verhindern, wollte es nicht sehen, was da passierte. Er wußte, wenn sie ihn dort in diesen Kreis stellten, würde er genauso gegen wen auch immer kämpfen, nur weil diese Mörderbande dies von ihm wollte. Ihm graute es davor, seine eigene Frau anzugreifen oder von dieser angegriffen zu werden. Panische Angst überkam ihn wenn er sich vorstellte, daß Jack und Bert ebenfalls gegeneinander kämpfen und sich umbringen sollten. Er dachte daran, welche Sünden er begangen hatte, daß er derartig bestraft wurde.

"Ja, Schwester, mach sie alle!" Rief einer der Zuschauer in widerwärtiger Verzückung. Gerry Johnson weinte nur noch. Er stand vor dem Tor zur Hölle und wußte, daß er dort hineingezogen würde, sobald die beiden frommen Frauen dort in aufgezwungener Blutgier so heftig aufeinander eingestochen hatten, daß sie beide sterben mußten.

Ein mächtiges Getöse kam auf, wie ein Sturm. Von hinten her schoss etwas großes, schwarzes heran wie eine Verschmelzung aus einem Greifvogel und einer Gewitterwolke. Es raste mit Urgewalt heran und durchstieß mit lautem Knall die sonnenhelle Lichtkugel über dem Kampfplatz. Wild funkensprühend zerbarst die magische Lichtkugel. Nun konnte man nur noch die Fackeln sehen, die den Kampfplatz umstellten. Gerry sah, wie die beiden Nonnen, die die Dolche in den Händen hatten, immer noch wie wild aufeinander einstachen, bis die linke von ihnen tödlich verwundet zu Boden stürzte. Doch die Zuschauer johlten nicht mehr. Das Auftauchen des merkwürdigen Ungetüms über ihnen hatte sie schlagartig aus ihrer Glücksstimmung gerissen und in eine wilde Angst gestürzt.

"Verdammt, was soll das?" Schimpfte einer der beiden Zauberer, welche die Nonnen gegeneinander aufgehetzt hatten und zielte mit seinem Zauberstab nach oben.

"Deletrius!" Rief er. Ein bläulich-silberner Blitz schwirrte hinauf in das wolkenartige Gebilde mit weiten Flügeln und einem merkwürdig dunkelviolett glühenden Schnabel. Der Lichtblitz zerfaserte laut krachend im Bauch der unheimlichen Erscheinung und schüttelte sie einmal hin und her. Doch dann regnete aus dem Schnabel glutroter Dunst herunter, fiel genau auf die noch brennenden Fackeln und ließ diese grell weiß auflodern. Für zwei Sekunden flackerte ein blendend heller Lichtkranz vor den Augen des Familienvaters, dann fiel der Flammenring mit lautem Zischen in sich zusammen. Schlagartige Dunkelheit legte sich über den Platz. Nicht einmal die Nachtgestirne konnten diese Finsternis durchdringen.

"Weg hier verdammt!" Rief einer der Zuschauer des vorherigen Kampfes und sprang in die Dunkelheit davon. Gerry Johnson sah schmale helle Lichtstrahlen durch die Nacht tanzen, als die Zuschauer wie aufgescheuchte Ameisen davonrannten.

"Wer ist das?" Brüllte die Stimme des Zeremonienmeisters mit ohrenbetäubender Stärke. Doch statt einer Antwort sirrte ein gleißender grüner Blitz durch die Dunkelheit und traf in der unmittelbaren Nähe eines vorüberhuschenden Lichtstrahls auf jemanden. Gerry hörte, wie einer der beiden Antreibezauberer "Avada Kedavra!" Rief. Wieder flog ein grüner Blitz laut sirrend wie ein heranrasendes Geschoss durch die Nacht. Postwendend kehrte ein silberner Lichtblitz zurück und traf ihn voll. Gerry konnte nur erkennen, wie menschenähnliche Schemen in der Dunkelheit auftauchten oder verschwanden. Einige Male krachte es laut wie Pistolenschüsse. Dann flutete ein merkwürdiges dunkelgrünes Flimmerlicht den ganzen Platz. Männerstimmen riefen für Gerry unverständliche Worte, sicher Zaubersprüche in die Nacht. Blitze oder Lichtstrahlen verschiedener Farben glühten auf, die mal von hinten heranflogen oder von vorne zurückgeschleudert wurden.

"Mist, die haben den Nebel der Beharrung gebracht!" Rief einer der noch am Ort befindlichen Männer. "die wollen uns alle einzeln ..."

Ein gelber Blitz überstrahlte für einen Sekundenbruchteil das grüne Flimmerlicht, das auf Gerry Johnson einen merkwürdigen Eindruck machte, wie eine immer schwerere Decke, die sich über seinen Körper legte. Ein silberner Lichtstrahl fegte so breit wie eine Dampfwalze über den Platz und schien vier Mann zugleich umzuwerfen. Noch mal kam dieses silberne Licht angefaucht und warf noch einen um, der gerade als Schattenriss vor Gerry auftauchte. Gerry selbst fühlte, wie die Wucht des magischen Lichts ihn traf und bewußtlos zu boden warf.

Als er wieder aufwachte, lag er in seinem Bett. Neben sich hörte er seine Frau Marian ruhig atmen. Er hatte seinen Schlafanzug an und war lediglich schweißgebadet. Hatte er das alles nur geträumt? Er sprang von seinem Bett auf und eilte hinüber ins Kinderzimmer. Jack und Bert lagen in ihren Betten. Sie wachten auf, als er zu ihnen hineinkam.

"Oh, Daddy, was ist denn?" Grummelte Jack Johnson schlaftrunken.

"Nichts, Jacky. Nichts ist", flüsterte Gerry Johnson, der nun ein befreiendes Gefühl von Erleichterung verspürte. Er ging in sein Schlafzimmer zurück, wo seine Frau immer noch friedlich schlummerte. Die Leuchtanzeige des Weckers verriet ihm, daß es jetzt genau vier Uhr, zwei Minuten und achtundzwanzig Sekunden war. Er setzte sich vorsichtig auf seine Seite des Ehebettes und dachte nach, was er geträumt hatte. Doch je länger er darüber nachdachte, desto mehr schien er sich nicht mehr an das zu erinnern, was er genau geträumt hatte. Das konnte ja auch nicht passen, ein Traum von einem Angriff böser Zauberer, die ihn und seine Familie entführt und zu einem grausamen Vergnügen mitgenommen hatten. Er erinnerte sich, daß er in diesem Traum jemanden erschossen hatte. Hier in seinem Schlafzimmer. Doch er konnte natürlich weder eine Leiche noch Blut auf dem Fußboden sehen. Er zog die Schublade auf, in der sein Revolver lag, den er aus Angst vor ungebetenen Gästen in der Nähe haben wollte. Die Waffe war noch da. Er schob die Schublade wieder zu und legte sich ins Bett zurück. Was für ein gräßlicher Alptraum das doch war, dachte er noch, bevor er weiterschlief.

__________

Mit vereinten Kräften beschworen Anthelia und ihre Hexenschwestern den Mitternachtsvogel, eine aus reiner lichtverschluckenden Magie bestehende Kreatur herauf, die zu den kontrastralen Avataren zählte, Geschöpfen aus dunkler Energie, die gegen Wesen und Barrieren aus astraler Energie wirkten. Wie Anthelia war auch Pandora Straton, die bei ihr war, eine Expertin in der Beschwörung dieser mächtigen Phantomwesen. Als die monströse Gestalt eines Adlers vor Anthelia Gestalt gewann und zur Größe zweier Jumbo-Jets anwuchs, rief Patricia Straton den Additivus-Zauber auf, der gemeinschaftliches Zauberwerk mit einem zusätzlichen Zauber verstärkte. In diesem Fall war es Accelerignis, der magische Brandbeschleuniger, der bewirkte, daß alle brennenden Feuer von der Kerzenflamme bis zum Großbrand hundertmal schneller und heftiger abbrannten, bis alles brennbare verschwunden war. Damit sollte der Mitternachtsvogel zuschlagen, wenn er die magische Sonnenlichtkugel zerstört hatte, um die Fackeln niederzubrennen. Lautlos erhob sich die Schattenkreatur in die Luft, gesteuert von seiner Beschwörerin Anthelia, die die ihr zugeflossenen Zauberkräfte der anderen in dieses Wesen übertragen hatte. Sie sah zu, wie das Geschöpf mit mächtigen Flügelschlägen auf die magische Lichtkugel zuraste, sie mit dem nichtstofflichen Schnabel voll aufspieste und dabei zersprühte. Ein Auslöschungszauber gegen alle nichtstofflichen Zauberdinge traf den mächtigen Leib des fliegenden Phantoms und rüttelte es kräftig durch. Doch da es aus mehreren magischen Quellen seine Kraft bezogen hatte, überstand es den Gegenschlag und blies den Brandbeschleunigungszauber wie eine dunkelrote Rauchfahne aus. Wie erwartet erstrahlten alle Fackeln um den Kampfplatz und brannten in wenigen Sekunden restlos herunter. Völlige Dunkelheit lag nun über dem Geschehen. Anthelia befahl flüsternd den Vormarsch.

"Ihr wißt, wir wollen die drei Brüder entkommen lassen. Wehrt euch nur gegen ihre Anhänger. Wenn ich euch mitteile, daß sie geflohen sind, legen wir den Zauber der Beharrung über den Platz. Los jetzt!"

Im Schutze der Dunkelheit apparierten die Hexenunter ihren Tarnumhängen in der Nähe des Kampfplatzes. Einer der Anhänger der Schwarzbergs feuerte blind einen Cruciatus-Fluch in die Dunkelheit. Dieser schlug dicht neben Pandora Straton in den Boden ein. Diese reagierte sofort und schickte den Todesfluch los, der Zielgenau den Schwarzberg-Getreuen traf. Von da an verlangte Anthelia nur noch untödliche Flüche und griff mit unsichtbaren Zauberflüchen in das Geschehen ein. Wie sie es erwartet hatte flohen die Schwarzberg-Brüder sehr rasch und überließen ihre Anhänger dem unsichtbaren Feind, der sie gerade überfiel. Leise sprechend stießen die Hexen ihre Zauberformeln aus und versuchten, ihre Ziele zu treffen. Als sich vier Mann gleichzeitig gegen die Front der Angreifer stellen wollten, mähte Anthelias heftiger Fluch sie alle nieder. Dann schickte sie noch einen solchen Zauber los, der die komplette Familie der Muggel außer Gefecht setzte.

"Verzögert das Wiedererwachen der Betäubten!" Rief Anthelia und eilte nun ohne Tarnumhang vorwärts.

Die Führerin des Spinnenordens besichtigte das Schlachtfeld, auf dem neun ohnmächtige und ein toter Zauberer herumlagen, die alle vom Handstreich der Hexen überrumpelt worden waren. Zwar waren die Schwarzbergs entkommen. Doch das wollte Anthelia ja so haben. Sie spekulierte darauf, daß die drei Magier ihren Erzfeinden die Schuld an diesem Angriff geben würden. Anthelias Plan trat also in eine entscheidende Phase. Sie suchte Tyr Cracklebone auf, einen mageren Zauberer, der sich vor zwei Jahren den Schwarzbergs angeschlossen hatte und vor zwei Monaten von einer Bundesschwester Anthelias gefunden und mit dem Imperius und einigen Gedächtniszaubern behandelt worden war. Er trug die Mithörmuschel bei sich, über die Anthelia alles gesagte verstanden hatte. Sie belegte Tyr mit einem Gedächtniszauber, der ihn glauben machte, er sei dem Angriff der fremden entkommen und habe Lohangio Nitts erkennen können, der mit drei Anhängern den Angriff geführt hatte. Die restlichen Zauberer der geheimen Bruderschaft wurden von den Hexen der Spinnenschwestern per Apparition fortgebracht. Anthelia hatte sich etwas sehr eindrucksvolles ausgedacht, um die Stimmung zwischen den dunklen Magiern zu verschlechtern und die Zaubereibehörden hochzuscheuchen, gegen diese Leute vorzugehen. Doch zunächst kümmerte sie sich persönlich um die vierköpfige Familie, die die Bruderschaft hierher entführt hatte. Sie wandte die ihr bekannten Gedächtniszauber an und bewirkte, daß die Kinder und die Mutter alles vergaßen, was hier passiert war. Als sie das Gedächtnis des Vaters zwecks Umänderung durchforschte fand sie eine Schwachstelle, die ihr Vorhaben zunichte machen konnte. Gerry Johnson hatte einen Revolver gezogen und einen der Bande erschossen. Die Waffe war ihm danach entrissen worden und hierher mitgebracht worden. Wo war diese Waffe? Anthelia bat Patricia Straton, sie per Aufrufezauber herbeizurufen. Tatsächlich kam ein Revolver angeflogen, als Patricia "Accio Handfeuerwaffe!" Rief.

"Diese Waffe ist einmal benutzt worden, höchste Schwester. Eine Patrone fehlt", stellte Patricia Straton fest, als sie den Smith-&-Wesson-Revolver untersuchte. Anthelia nahm eine Gedächtniskorrektur bei Gerry Johnson vor, daß er das alles nur geträumt hatte. Das war nötig, weil die Auswirkungen des Cruciatus-Fluches viele Erinnerungen der letzten Minuten zusammenhielt. Sie konnte ihn also nicht alles vergessen lassen, wie bei den anderen Familienmitgliedern. Dann nahm sie die Schußwaffe, nahm eine Patrone aus der Trommel, sagte "Multiplicus", wobei sie mit dem Zauberstab kurz an die Geschosshülse tippte und sah wie Patricia Straton, wie aus dem Zauberstab eine kleine Rauchwolke entstieg, die sich innerhalb eines Lidschlags zu einer haargenauen Kopie der entnommenen Patrone verfestigte. Anthelia lud diese Patrone und deren Vorlage in den Revolver zurück, klappte die Trommel wieder zu und reinigte den Revolver mit einem Säuberungszauber. Telekinetisch ließ sie die Waffe zu ihrem Besitzer zurückfliegen, sie sich ihm in die Hand legen und die Finger der Hand fest darum schließen.

"Ich lege diese Waffe gleich wieder an den Platz, den ihr dieser Unfähige zugedacht hat", erklärte Anthelia. Dann lud sie sich Gerry Johnson auf den Rücken. Patricia staunte, wie leicht ihre Ordensführerin das anstellte, den gewiss seine 80 Kilogramm wiegenden Mann zu bugsieren, daß sie mit ihm disapparieren konnte. Sie warteten mit den betäubten Familienmitgliedern, bis Anthelia zurückkehrte. dann brachten sie die Mutter und die beiden Kinder in ihr angestammtes Haus zurück.

"Hier lag einer von Schwarzbergs Lakeien in seinem Blut. Ich muß den Boden mit spezieller Lösung putzen, da Blut eines der hartnäckigsten Mittel ist und nicht so einfach hinfortgehext werden kann", erklärte Anthelia. Patricia Straton nickte ihr zu und disapparierte. Keine halbe Minute später war sie mit einer großen Flasche Zauberputzmittel zurück und beseitigte die schon zu trocknen beginnende Blutlache restlos. Die Leiche des erschossenen Zauberers hatte Anthelia ihrer Auskunft nach verschwinden lassen. Sie zogen die vier unschuldigen Muggel aus und zogen ihnen die immer noch auf den Betten liegenden Pyjamas über, legten sie sorgfältig in die Betten, wobei Pandora und Giovanna Corvi, eine rundliche Hexe italienischer Abstammung, die Kinder versorgten. Als in dem Haus alle Spuren beseitigt waren verschwanden sie.

"Wir hatten Glück, daß dieses Haus abgelegen von den Nachbarhäusern liegt. So hat wohl niemand den Schuß gehört oder als solchen erkannt", bemerkte Patricia Straton.

"Die Lakeien der Schwarzberg-Familie werden sich deshalb gerade dieses Haus ausgeguckt haben, Schwester Patricia. Ihnen stand wohl auch nicht der Sinn nach Entdeckung durch die Ordnungshüter der Unfähigen", bemerkte Anthelia dazu. "Außerdem scheint es gerade in diesem Land niemanden mehr sonderlich zu interessieren, was sein Nachbar treibt."

"Das ist wohl wahr", sagte Ardentia Truelane, die ebenfalls zu der Gruppe der Spinnenschwestern gehörte, welche die Schwarzberg-Brüder überwacht hatte.

"Nun denn, wir haben diesen unschuldigen ein unnötiges Martyrium erspart. Die religiösen Frauen konnten wir leider nicht rechtzeitig retten, ohne uns allzu auffällig zu verhalten. In einen Imperius hineinzufuhrwerken wird immer ruchbar", stellte Anthelia kühl fest. Keiner mochte sagen, ob ihr der Tod der Nonnen leid tat oder völlig egal war. Jedenfalls schien sie für die gerettete Familie mehr zu empfinden, glaubte Patricia Straton. Aber wer wußte schon, was Anthelia mit Mitgliedern kirchlicher Orden erlebt hatte?

Sie zogen sich zurück ins Hauptquartier, die alte Daggers-Villa, die fünf Meilen von einer niedergebrannten Stadt entfernt lag, in der gerade die letzten verkohlten Mauerreste beseitigt und die letzten Meter geschmolzenen Asphalts abgetragen worden waren. Niemand von den Arbeitern, die im Schichtdienst die Stadt für den Wiederaufbau herrichteten, wußte davon, daß nicht weit von ihnen eine neue Macht in der Zaubererwelt entstanden war, die langsam und bedacht um sich griff.

__________

Perdita Shadelake war eine gutaussehende Hexe in mittleren Jahren. Überall wo sie hinkam wurde sie gelobt und geachtet. Sicher lag das nicht zuletzt an dem Berg von Gold, der in dem meilentiefen Labyrinth von Gringotts lag, welches in der Sonnenstrahlstraße in Sydney lag. Zwar war Canberra die eigentliche Hauptstadt, auch für die australischen Zauberer, doch weil die ersten Siedler hier groß aufgebaut hatten, war alles nichtamtliche in dieser Stadt belassen worden. Perdita schlenderte gerne durch die breite Straße, vorbei an den Auslagen der Geschäfte. Jetzt, wo der australische Sommer wieder anrückte, falteten sich zur Mittagszeit große schattige Markisen über die Straße und verliehen ihr den Eindruck eines kilometerlangen Zeltes mit Kopfsteinpflasterboden. Die wohlhabende Hexe trat an ein großes Schaufenster, hinter dem bestes Koboldsilber angeboten wurde und sah ihr zufriedenes Spiegelbild zurückblicken, die seidenweiche schwarze Mähne, die rehbraunen Augen in einem rosigen langen Gesicht mit schlanker Nase und vollen Lippen.

"Hallo, Miss, hier finden Sie das beste Gold und Silber aus der Werkstatt von Crockerich, dem Großmeister der koboldischen Metallkunst", wisperte eine magische Stimme von der Scheibe her. "Heute sind die 5-Pinten-Pokale im Sonderangebot. Zehn Galleonen pro Stück! Nur zehn Galleonen."

"Ich habe bereits hundert davon", erwiderte Perdita Shadelake amüsiert grinsend und wandte sich wieder ab. Sie schlenderte weiter durch die Straße. Unterwegs traf sie eine brünette Hexe in grünen Kleidern, die mit vollen Einkaufstüten an beiden Armen dahinstapfte. Sie sah Perdita Shadelake an und ging weiter.

"Grüßen Sie keinen mehr, Mrs. Springs?" Fragte Perdita mit einer honigsüßen Betonung. Die brünette Hexe drehte sich kurz um und wirkte wie bei etwas wichtigem gestört.

"Ich ging davon aus, daß Sie in Ruhe gelassen werden wollten, Ms. Shadelake. Aber wie Sie meinen. Guten Tag, Ms. Shadelake! Grüße an Ihren Herrn Bruder!" Erwiderte die Hexe mit den Einkaufstüten und wartete eine Sekunde, bevor sie weiterging.

"Natürlich habe ich es nicht nötig, mich von dir grüßen zu lassen, Rootfoot-Träumerin. Ich wollte doch nur wissen, daß du mich noch erkennst", dachte Perdita überlegen lächelnd und ging einfach weiter. Ein junger Mann namens Buster Howbarc kam freudestrahlend auf sie zu und verbeugte sich vor ihr, wobei sein nagelneuer schwarzer Zaubererhut fast vom Kopf rutschte.

"Ich grüße Sie, Ms. Shadelake. Schön, Sie mal wieder zu treffen, nachdem Sie bei meinen Eltern ja diesen herrlichen Vortrag über die Rückkehr zum reinen Zaubererstaat gehalten haben. Müssen Sie heute noch einkaufen?"

"Ich habe was ich brauche, Buster. Sag deinem Vater, mein Bruder würde demnächst noch mal zu ihm kommen, wegen dieses englischen Rückkehrwunders. Ich selbst werde mich mit diesen dummen Gänsen von dem Museumsclub treffen, um zu sehen, ob ich die auf den richtigen Weg bringen kann. Bis dann, Buster", sagte Perdita überheblich dreinschauend und ging weiter. Die Howbarcs waren wie sie selbst in Redrock in dem Haus untergebracht gewesen, daß seit Gründerzeit den Namen ihrer Familie trug. Sie war dort wie eine Prinzessin verehrt worden. Doch ihr drei Jahre älterer Bruder Grendel war der ungekrönte König der Shadelakers gewesen und hatte damals schon alle Fäden in die Hände genommen. Sie wurde von vielen reinblütigen Jungzauberern umschwärmt, galt es doch, die edlen Shadelakes in die eigene Dynastie hinüberzuholen, wogegen sie an und für sich nichts hatte. Doch manche dieser Leute waren schon zu selbstverliebt und hatten sie eher als willkommenes Schmuckstück als als respektable Person gesehen. Außerdem gab es vielversprechende Zauberer ja nicht nur in Australien. Sie überlegte sich schon, ob sie nicht nach England ziehen und sich dort mit dem Spross einer alteingesessenen Zaubererfamilie zusammentun sollte. Denn ihr war klar, daß ihr Bruder selbst weder Weib noch Kind haben wollte. Er war zu sehr auf seine Forschungen versessen und darauf, das in Australien zu schaffen, was der dunkle Lord in England angefangen hatte. Doch nun, wo dieser wieder zurück war, galt es, sich genau zu positionieren, ihn vielleicht sehr gut auf sich einzustimmen. Allerdings würde das nicht heißen, daß sie mit diesem Kerl was anfangen würde. Er war, dies wußte sie, kein reinblütiger Zauberer, und das galt in der Shadelake-Sippe als unabwendbares Hindernis für eine Heirat. Sie überlegte sich, ob sie dem Ehepaar Malfoy nicht vorschlagen sollte, deren einzigen Sohn Draco zu heiraten, obwohl der ganze zwölf Jahre jünger als sie war. Es mochte herrlich sein, einen Jungen zu einem ihr genehmen Mann zu formen, der zu ihr aufblickte und begierig von ihr lernte. Doch soweit war sie noch nicht. Sie fühlte sich als alleinstehende Frau noch zu gut, um jetzt schon über eine Verlängerung der Ahnenlinie nachdenken zu müssen. Sie wußte halt nur, daß es an ihr sein würde, diese ehrbare Familie in die nächste Generation zu vergrößern.

Sie genoss es sichtlich, daß einige Hexen und Zauberer sie ansahen und im Kopf ausmalten, wie teuer ihr goldglitzernder Ausgehumhang mit dem Einhornfellbesatz am Kragen war. Andere starrten sie nur an, wohl darauf hoffend, nicht von ihr angesprochen zu werden. Viele von denen waren in Gemmeheart gewesen, jenem Haus, in dem die Möchtegernhelden und Moralhüter dieser Breiten ausgebrütet wurden. Mit denen konnte sie nicht, und die konnten mit ihr nicht. Manche von denen, wie Chrysochiros Penholder, schrieben für den Stern des Südens, die bekannteste Zaubererzeitung Australiens und ließen sich fast öfter als gesund für sie war über die sogenannten Machenschaften der Shadelake-Familie aus, daß sie nicht selten ihr Geld durch Betrug und Erpressung verdienten und dann mit vollen Händen wieder ausgaben. Penholder hatte dazu einmal eine Galleone mit übertrieben großen Blutstropfen drauf gezeichnet und geschrieben, daß man daran erkennen könne, daß die Shadelakes dieses Geld besessen hatten. Ihr Bruder hatte versucht, durch eine einprägsame Lektion an Penholder diesen Schmutz aus der Zeitung zu fegen, doch das war bedauerlicherweise nach hinten losgegangen, und die Rockridge, auch eine Gemmeheart-Besserwisserin, hatte eine ungerechtfertigte Strafaktion gegen die noble Familie Shadelake durchführen lassen, zwei Landgüter beschlagnahmen und die Bediensteten ihres Bruders in die Höhlen von Sanddy Valley verbringen lassen, wo gewöhnliche Kriminelle der Zaubererwelt nebendem Ministerium mißliebigen Hexen und Zauberern eingebunkert wurden. ein Gedankenbremsezauber machte dort alle sehr apathisch und willfährig.

Tja, aber ansonsten hatte Grendel alles retten können, was der Familie wichtig war. Anders hätte Perdita ihren hohen Lebensstil nicht beibehalten können, hätte womöglich sogar irgendwo arbeiten müssen, wo sie sich von anderen hätte sagen lassen müssen, was sie tun sollte. Das überließ sie dann doch lieber den Woodring-Handlangern, die das noch toll fanden, anderer Leute Arbeit zu machen.

Nachdem Perdita Shadelake ihre wöchentliche Bummelei durch die Sonnenscheinstraße beendet und allen ihren neuen Glitzergoldumhang mit Einhornfellbesatz an Kragen und Saum vorgeführt hatte, verließ sie im Gasthof zum Summenden Billywig per Flohpulver Sydney um "Shadelakes Residenz" anzusteuern. Mit dem Spezial-Flohpulver aus ihrem diebstahlsicheren Hornschwanzhaut-Handtäschchen konnte sie mühelos die Eindringlingsabwehr passieren, die ungeladene Flohpulver-Nutzer wirksam zurückschleuderte. Leicht verrußt landete sie im heimischen Marmorkamin, auf dessen Sims zehn Statuetten aus Platin laut "Willkommen zu Hause, Perdita!" Riefen. Sie stieg aus dem Kamin und wurde gleich von ihren zwei persönlichen Hauselfen Huggy und Wellcair begrüßt, die höchst unterwürfig ihre langen Schnauzen auf den sechshundert Jahre alten Perserteppich drückten und warteten, ob die Herrin sofort etwas von ihnen wollte.

"Gut das ihr da seid. Los, Umhang reinigen!" Kommandierte Perdita machtbewußt und wartete, bis die zwei Hauselfen ihren glänzenden Umhang wieder rußfrei gewischt hatten.

"Ist der Herr da?" Fragte die junge Miss Shadelake.

"Meister Grendel sitzt in seinem Studierzimmer und ist an ganz wichtigen Sachen dran, Meisterin Perdita", antwortete Huggy, die kleinere der beiden Hauselfen und sah mit wasserblauen Tennisballaugen zu ihrer Herrin auf.

"Deshalb hat er Pronto noch nicht zusammengestaucht, weil er den Teppich hier noch nicht geklopft hat", grummelte Perdita. "Muß man euch dummen Kreaturen denn wirklich alles zweimal sagen? Prrrronto!! Teppich klopfen!!" Ihre Stimme klang schrill und unmißverständlich gebieterisch durch das große Landhaus, das in der Nähe eines Ureinwohner-Heiligtums errichtet worden war, dem gewaltige magische Eigenschaften nachgesagt wurden. Der erste hier ansessige Shadelake hatte die urtümliche Zauberkraft, die von den primitiven Schamanen oder Medizinleuten oder wie sie sich hier nannten genutzt wurde, für seine eigenen Zwecke nutzbar gemacht und die Eingeborenen mit Gewalt von diesem Ort verjagt.

Ein abgemagert wirkender Hauself mit wässerigen braunen Augen erschien mit scharfem Knall vor Perdita und warf sich auf den Boden. Er zitterte schuldbewußt und erhielt auch die erwartete Strafe.

"Iovis!" Rief Perdita und hielt ihren Zauberstab auf den Hauselfen gerichtet. Krachend schoss ein Blitz heraus und traf genau zwischen die beiden fledermausartigen Ohren des Elfen. Laut aufschreiend und wild zuckend lag er für vier Sekunden auf dem Boden. Dann sprang er auf.

"Habe ich dir gesagt, daß du wieder aufstehen sollst?" Herrschte Perdita ihren Diener an.

"perdy, lass ihn jetzt! Ich brauche den gleich hier zum Zaubertrankumrühren. Da kann er den alten Perser mal rumliegen lassen. Lass deine eigenen Elfen den ausklopfen!" Dröhnte eine raumfüllende Baritonstimme aus einem Winkel des Kellers des Landhauses.

"Du hast noch mal Glück, Pronto, daß dein Meister dich dringender braucht", zischte Perdita Shadelake und ging stolz als Herrin des Hauses durch den geräumigen Salon hinaus in den mit Tropenholz vertäfelten Flur, vorbei an der imposanten Ahnengalerie der Shadelakes und ihrer Vorfahren, die, so wollte es eine Familienlegende wissen, der Blutlinie Slytherins entsprossen waren. Sie stieg die breite Marmortreppe mit dem Blattgoldbedeckten Holzgeländer hinunter zu den Kellerräumen, die nicht so majestätisch wirkten wie die restlichen Etagen des Landhauses. Doch hier unten war ja nicht der Ort zum repräsentieren oder beschließen, sondern zu weltbewegenden Forschungen und geheimen Arbeiten, die ihr Bruder alleine oder mit sehr genau ausgewählten Helfern oder Freunden anstellte. Sie hörte das Brodeln und Gluckern köchelnder oder sprudelnder Tränke und das Zischen schlagartig abkühlender Metallstücke unter kaltem Wasser. Wahrscheinlich hatte ihr Bruder bald den Schlüssel zum Stein der Weisen gefunden, von dem es mal ein Exemplar gegeben hatte, bis der Mischblüter Harry Potter ihn vor ihm, den englischen Dunkellord, verbergen konnte. Der alte Gerechtigkeitsfanatiker Dumbledore hatte den Stein zerstören lassen. Doch Grendel Shadelake hatte nur darüber gelacht.

"Wenn Flammel den herstellen konnte, Perdy, dann kann ich das auch", hatte er seiner Schwester amüsiert verkündet. Tja, und nun widmete er sich in der Freizeit der Erforschung der alten Geheimnisse, die vor über sechshundert Jahren Nicholas Flammel zu einem langen Leben verholfen hatten. Versuche mit teils ekelhaften Ergebnissen waren ins Land gegangen, und jedesmal hatte Grendel verkündet, nun einen wichtigen Schritt vorangekommen zu sein.

"Perdy, bleib besser vor der Tür. Ich habe hier gerade was angesetzt, das auf fremde Zauberquellen empfindlich reagieren kann", warnte Grendel. perdita grinste. Das sagte ihr Bruder immer, wenn er entweder was aussichtsloses oder streng geheimes begonnen hatte. Sie respektierte es jedoch, da Grendel als der Erstgeborene noch lebende Shadelake die Befehlsgewalt in der Familie besaß, nachdem ihre gemeinsamen Eltern und näheren Verwandten im Kampf gegen die Sippe der Fungroves ihr Leben gelassen hatten. Die Fungroves waren überwiegend Hexen und hielten mit der vermaledeiten Nachtfraktion der schweigsamen Schwestern. Ihre Matriarchin, Lady Nimoe, hatte damals einen großen Schlag gegen die ehrenwerte Familie gelandet. Undankbares Pack, wie Perdita fand. Denn Nimoe hatte ja auch das Haus Shadelake bewohnt, sich dann aber mit einem Gemmeheart gepaart und von dem fünf Töchter in Serie gekriegt, die wiederum je zwei Töchter ausgebrütet hatten als sie alt genug dazu waren. Jetzt hatten die Fungroves einen Stall voll herrschsüchtiger Frauenzimmer, die alle in dieser überholten Hexen-Clique drinsteckten. Sicher, man hatte Perdita auch gefragt, ob sie nicht beitreten wolle. Doch als sie hörte, daß dort auch Mischblüterinnen Mitglied waren und werden konnten, hatte sie sehr eindeutig abgelehnt. In einen solchen verdorbenen Club wollte sie bestimmt nicht eintreten.

"Perdy, woran denkst du wieder. Mein Mentometer zeigt, daß du dich wieder in unserer Vergangenheit aufhältst", bemerkte Grendel spöttisch.

"Ich denke nur daran, daß du bald den Stein der Weisen finden oder dir ein reinblütiges Weib suchen und unsere Linie verlängern solltest, bevor ich mir einen netten Stammhalter suche und dessen Linie mit unserem Blut veredele."

"Ach ja, die Familienpflicht", lachte Grendel und kam aus dem Labor. Er sah sehr attraktiv aus. Perdita hatte das schon so oft angemerkt. Sein dunkles Haar fiel in weichen Locken bis in den Nacken, und seine rehbraunen Augen wirkten entschlossen und über alles erhaben. Er besaß einen athletischen Körper ohne überflüssiges Körperfett, was er seiner Leidenschaft fürs Schwimmen, Quidditch und Diskuswerfen verdankte. Sicher hätte er an jedem Finger mindestens eine Verehrerin und davon mindestens zwei aussichtsreiche Heiratskandidatinnen. Doch er war außerhalb seiner Körperertüchtigungsstunden immer in diesem Labor und erfand und erforschte drauf los.

"Du nimmst die Sache nicht ernst genug, Grendel. Eines Tages wird unser Gründervater dich fragen, was du mit seinem Bluterbe angestellt hast. Wenn er meint, du hättest die Familie nicht fortführen wollen, wird er die geheime Formel sprechen, die uns aus diesem Haus verbannt. Du weißt genau, daß ..."

"Ich diese Geschichte schon zweihunderteinundachtzigmal von dir und anderen aus der ferneren Verwandtschaft gehört habe. Mein Phrasenzähler hat mir das gestern erst gezeigt, wie oft ich einen bestimmten Satz oder eine bestimmte Sache erzählt bekommen habe. Aber im Moment habe ich es nicht nötig, mit einer anderen Hexe ins Heiabettchen zu hüpfen, Perdita. Außerdem werde ich heute abend eine Zusammenkunft mit den Führern der Legion der Reinheit haben und abklären, wie wir diesem Voldemort helfen oder ob er uns hier am unteren Ende der Welt gestohlen bleiben kann. Immerhin ist der ja ein Mischblüter. Ist echt amüsant, daß der Leute wie die Malfoys oder Lestranges um sich versammeln konnte, die doch eine ausgeprägtere Schlammblut-Allergie haben als wir Shadelakes. Haben sich wohl eingebildet, ihn für sich brauchbar hinbiegen zu können, diese Idioten", tönte Grendel und sah dabei nicht ängstlich sondern im hohen Maße amüsiert drein. "Wir sollten lediglich klären, was wir für den tun wollen und was der eigentlich mal will, wenn er von der Insel runterfindet. Ich persönlich würde ihn gerne unterstützen und mit ihm das Commonwealth aufmischen. Vielleicht kriegen wir sogar Leute in den Staaten an die Kandarre. Aber vorerst sitzt der ja sicher in seinem Versteck und wartet darauf, daß ihm ein Zufall den großen Fang machen lässt, damit er ohne Probleme aus dem Versteck kriechen kann. Bis dahin haben wir dann den Laden hier bestens organisiert, und du darfst dir unter den alteingesessenen Familien einen netten Zauberer zum ERblinienverlängern ausgucken. Ich werde einstweilen meine Forschungen fortsetzen und sehen, daß ich an den Stein der Weisen komme. Dann kann ich unsere Familie über zwanzig Generationen selbst weitererhalten und dabei noch genug Gold zum zünftigen Leben kriegen. Also verschone dich und mich mit diesem Familienpflichtenkram! Wie war denn deine allwöchentliche Promenade?"

Perdita erzählte ihrem Bruder, was sie alles erlebt und wen sie getroffen hatte. Grendel kicherte, als er hörte, wie sie die Naturverliebte Heather Springs angehalten hatte, sie anständig zu grüßen.

"Du weißt doch, daß die mit Aurora Dawn zusammenhängt, dieser Muggelfreundin. Ihr Pech, daß der Maschinenknecht, den die sich ausgeguckt hat aus merkwürdigen Gründen nichts mehr von ihr wissen wollte. Na ja, sind uns von der Seite mischblütige Bälger erspart geblieben. Schade, daß du die Dawn nicht getroffen hast. Die hättest du doch mal fragen können, wie es ihr geht, wo doch jetzt außer dem Idioten Fudge alle wissen, daß er wieder da ist."

"Pah, die ist doch noch eingebildeter als die Springs, weil sie in Hogwarts war, bei Dumbledore. Wäre nicht schlecht, wenn du ihr mal unsere netten Freunde vorbeischicken würdest."

"Solange die mir nicht wie dieser Penholder blöd gekommen ist wäre das unnötige Verschwendung, Perdy. Soll sie doch meinen, sie sei was besseres als wir, solange wir dadurch nicht gestört werden", erwiderte Grendel herablassend dreinschauend. "Wenn wir sie jetzt zurechtzubiegen versuchen haben wir nicht nur die Rockridge am Hals, sondern eine ganze Menge internationaler Zaubererclubs, die uns dann schleunigst vom Markt räumen, wie die Fungroves es vorhatten. Bevor du mir jetzt mit "Feigling" oder "Schwächling" kommst, Schwesterherz, solltest du genau nachdenken, für wen und warum wir unser Dasein gefährden sollen. Ich für meinen Teil bin mit dem was ich habe sehr zufrieden und werde damit auch weiterhin gut klarkommen, daß diese Dawn hier ist. Vielleicht überlasse ich's auch Voldemort, sie entweder leinenführig zu machen oder auf die letzte Reise zu schicken. Wir haben Zeit, Perdy. Wir können gut warten und leise und ungestört unsere Stellung hier verbessern. Mach dir also keinen Kopf um Heather Springs oder Aurora Dawn! Die sind das nicht wert."

"Wenn du meinst, Grendel", murrte Perdita eher gezwungen als überzeugt klingend. Doch sie mußte es einsehen, daß Angriffe auf unbescholtene Hexen und Zauberer mehr Ärger als Anerkennung einbrachten. Deshalb verlor sie darüber auch kein Wort mehr.

Die Hauselfen schufteten sich halbtot, nur um ihren Meistern gefällig zu sein und putzten das ganze Haus, klopften die wertvollen teppiche aus und polierten die silbernen, goldenen und platinen Bestecke und Geschirrteile. Als der Abend hereinbrach, krachte es laut aus Grendels Labor. Perdita, die mit einsatzbereitem Zauberstab die Arbeit der drei Hauselfen beaufsichtigt hatte, stürmte schreckensbleich in den Keller hinunter, wo Grendel Shadelake gerade mit seinem Zauberstab ein wildes Chaos im Labor ordnete.

"Grendel, was ist passiert?" Fragte sie sehr aufgebracht.

"Ein unvorhergesehener Störfall, Perdy, nichts weiter. Es hat nur eine begrenzte Raumimplosion gegeben, die das ganze Labor durcheinandergebracht hat. Ich weiß jetzt auch, wie das passiert ist und kann darauf einen neuen Versuch aufbauen. Keine Sorge. Der Stein der Weisen ist in einem Monat fällig."

"Du hättest draufgehen können, du Spinner!" Keifte Perdita wütend vor Angst. Grendel sah sie streng an und erwiderte:

"Perdy, du bist nicht Mutter und hast gefälligst zu parieren, wenn ich was anordne oder für richtig halte, klar. Wenn du nicht meine Schwester wärst hätte ich dir für diese Unverschämtheit den Cruciatus-Fluch aufgebrannt, damit du's weißt. Ich habe hier alles im Griff, klar. Mach dich zurück zu den Hauselfen! Lass mich bloß in Ruhe!"

"Ach, der Herr spielt den autoritären Herren", feixte Perdita und zog ihren Zauberstab. "Könnte es sein, daß du lange nicht mehr draußen warst und meinst, alles und jeder würde nach deiner Pfeife tanzen? Ich habe keine Probleme damit, dir den ..."

"Expelliarmus!" Rief Grendel dazwischen. Aus seinem Zauberstab schoss ein roter Blitz und fegte Perditas schlanken Mahagonistab mit Einhornschweifkern aus der Hand seiner Besitzerin. Grendel sah jedoch nicht triumphierend drein, wie er es schon oft zuvor getan hatte, wenn er einen Tick schneller als seine Schwester gezaubert hatte. Er starrte verblüfft, ja irritiert auf die Treppe zum Keller. Perdita wirbelte herum, daß ihr seidenweiches Haar weit zurückflog und starrte auf das, was da auf der Treppe stand.

"Das darf nicht sein", meinte Grendel Shadelake. "Die Abwehr hätte das aufhalten müssen."

Auf der Treppe stand über zwei Meter hoch eine gigantische Spinne, jedoch nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus einem dunkelvioletten, fast schwarzem Licht geformt. Die mächtigen Scheren klackerten, als Grendel und Perdita das unheimliche Geschöpf ansahen. Hinter der Kreatur standen vier in weiß gekleidete Gestalten mit Kapuzen mit Sehschlitzen und kampfbereiten Zauberstäben.

"Deine Dunkelwesenabwehr hat versagt, Grendel", wimmerte Perdita, während das Spinnenwesen langsam auf sie zuschritt.

"Das kann es doch nicht geben. Selbst ich habe sowas bis heute nicht hingekriegt", bemerkte Grendel, zwischen Angst und Faszination gefangen. Tatsächlich hatte er zwar von den legendären Avataren gehört, Wesen wie der Patronus, nur stärker und langlebiger. Wenn es schon schwierig war, einen Patronus zu beschwören, einen Avatar konnte nur rufen, wer mindestens mehrere aufeinander abgestimmte Zauberformeln mit dazugehörigen Gedanken- oder Gefühlskomponenten sprach und ungestört von allen anderen blieb. Es kostete einen beträchtlichen Teil eigene Ausdauer, solch ein Wesen überhaupt aufzurufen. Es stabil und einsatzfähig zu machen und zu halten zehrte einen fast vollkommen aus. Zwar konnte solch ein Geschöpf in den Zauberstab zurückgerufen werden, wodurch seine Energie in den es aufrufenden Zauberer zurückfloss und danach in weniger als einer Minute wieder hervorgerufen werden, doch es war für die mächtigsten Zauberer schier unerreichbar. Doch da stand eine Spinne wie aus dunkelviolettem Licht, quasi aus dem Himmel über dem Horizont geschnittene Abenddämmerung. Grendel wußte auch, daß alle auf Licht basierenden Flüche diesen Wesen nichts anhaben konnten. Je nachdem, wieviel Eigenstärke sein Schöpfer ihm übertragen hatte, war es ein kaum schlagbarer Gegner.

"Es war nett, Grendel, daß deine haarsträubenden Versuche für eine Sekunde den Sperrdom um dein Haus geschwächt haben, sodaß wir eine dauerhafte Lücke hineinsprengen konnten, ohne daß du es merktest. Andererseits hätten wir auch bei intakter Abwehr nicht lange gebraucht, dein heiliges Anwesen zu betreten", sagte eine alte Frauenstimme sehr zufrieden unter einer der Kapuzen.

"Verflucht, die Fungroves", stieß Perdita aus und meinte nun den stattlichen Körper von Lady Nimoe Fungrove zu erkennen. Ja, der Ahornholzstab in der linken Hand der Gestalt, die gesprochen hatte, war die unverkennbare Visitenkarte der Fungroves-Matriarchin, welche auch die australische Gruppe der Nachtfraktion anführte. Denn Nimoe war Linkshänderin und hatte diesen Zauberstab mit dem Haar eines Centauren verstärken lassen, um damit geistige und elementare Zauber doppelt so gut zu wirken wie üblich.

"Ich freue mich, daß ihr incestösen Abkömmlinge einer zum Scheitern verdammten Sippe euch noch an mich erinnert", lachte die Hexe und klappte ihre Kapuze zurück, unter der ein straffes rosiges Gesicht mit hellgrauen Augen unter einem silbergrauem Haarschopf zum Vorschein kam.

"Avada Kedavra!" Rief Grendel mit auf die Lady deutendem Zauberstab. Doch bevor die letzte Silbe des unverzeihlichen Fluches widerhallte warf sich die dunkelviolette Spinne zwischen ihn und das ausgewählte Ziel. Sirrend schnellte der gleißendgrüne Blitz aus purer Todesenergie durch den Gang und traf den Kopf der Spinnenkreatur. Diese leuchtete für eine Sekunde giftgrün auf und schmolz grüne Funken sprühend zusammen, jedoch nur auf drei Viertel ihrer imposanten Ausgangsgröße. Lady Nimoe stand sicher hinter dem magischen Gebilde.

"Da stecken mehrere Leben drin, Grendelchen. Ich war nicht die einzige, die dieses possierliche Ungeheuerchen erschaffen hat. Oder hast du in deinem Studium der dunklen Künste etwa übersehen, daß solche Kreaturen nicht unbedingt von einem Zauberkundigen alleine beschworen werden müssen?" Die anderen weißgekleideten Gestalten lachten amüsiert. Perdita erkannte nur Frauenstimmen. Aber sicher waren das nur diese Nachtfraktionärinnen.

"Ihr vermaledeiten Weiber von der Fungrove-Sippe. Meine Getreuen werden euch gleich einheizen. Ich habe zwar keinen Avatar, aber meine Leibwache ist trotzdem gut genug, um euch verdrehtes Hexenpack wegzufegen!" Stieß Grendel hervor, während Perdita sich schnell nach ihrem Zauberstab bückte. Doch die immer noch mächtige Spinne trat mit dem vordersten rechten Bein darauf. Knisternd zerfiel der Zauberstab innerhalb einer Sekunde zu kohlschwarzer Asche. Perdita schlug die Hände vors Gesicht. Das durfte nicht sein. Sie war seit ihrer frühsten Jugend nie ohne ihren bewährten Zauberstab gewesen und hatte ihn mehr als einmal gegen gefährliche Feinde gebraucht.

"Mädchen, den Stab hättest du sowieso nicht mehr gebraucht", lachte eine wohl jüngere Hexe.

"Advoco Legionem!" Rief Grendel. Schlagartig wurden die Wände lebendig. In Stein eingeschlossene Geschöpfe, die wie übergroße Heuschrecken aussahen, flogen mit schwirrenden Flügeln aus der Mauer, die sich hinter ihnen wieder fest und unversehrt zeigte. Sie griffen sofort die erklärten Feinde der Shadelakes an.

"Dissolventur Artiviva!" Rief Lady Nimoe zusammen mit ihren Getreuen im Chor, bevor das erste Flügelbiest eine von ihnen erreichte. Ein weißer Blitz explodierte von den Hexen her und fegte die anfliegende Legion der Flügelmonster weg. Nichts blieb von ihnen übrig.

"Tja, interessant nur, daß ihr nun meine Falle ausgelöst habt, ihr blöden Hexen", sagte Grendel und triumphierte schon, als schlagartig alles Licht wie aufgesogen verschwand. Nur die beschworene Spinne stand noch da, die jedoch von Sekunde zu Sekunde einschrumpfte. Eiseskälte überdeckte den Gang zur Treppe. Grendel hatte die Magie, die er mit der Legion der Flügelmonster verbunden hatte, einer Urkraft entnommen, die "Schwarze Mittagssonne" hieß und nur bei vollständigen Sonnenfinsternissen aufgerufen und zielgerichtet verwendet werden konnte. Brach der von ihr getragene Zauber, brach für eine volle Stunde undurchdringliche Dunkelheit herein und fror alles zu Eis, was nicht innerhalb einer Minute aus dem Wirkungsbereich entkam. Grendel grinste, als er seine Schwester zu sich zog und sich und sie in einen Dom aus Elementarenergie einschloss, der andere Elementarzauber von ihnen fernhielt. Die Hexen standen nicht nahe beieinander, um sich ebenfalls einzuschließen. Grendel konnte auch nichts sehen, was geschah. Er war sich nur sicher, daß diese Hexen nicht mehr entkommen konnten. Denn disapparieren konnte niemand aus dem Haus und der Wirkungsbereich des Zaubers lag bei einer Quadratmeile Umkreis. Die Magie aus Ritualen bei fünf totalen Sonnenfinsternissen war hier in diesem Haus gestaut und für die Legion der geflügelten Monster benutzt worden. Nun fraß sie alle Wärme und Helligkeit auf.

"O wie beeindruckend", klang Lady Nimoes Stimme jedoch schon vor kälte bibbernd herüber. Dann hörte Grendel eine Zauberformel, von der er nur erkannte, daß es altägyptisch sein mochte. Dann bebte alles. Um sie herum tobte plötzlich ein goldener Flammenwirbel, der die magische Dunkelheit und Kälte vertrieb.

"Du hättest mehr über deine Falle lernen sollen, Grendelchen", lachte Lady Nimoe, die nun wie in einem gleißenden Mantel aus Sonnenlicht dastand. Dann verflogen die Flammen, und der Kellergang war wieder gut zu erkennen. "Die Gnade des Ra" sollte dir vielleicht mal in den Büchern über die Kraft der Sonne begegnet sein. Sie erlaubt alle Zauber, die aus dem Sonnenfeuer oder dessen Abwesenheit erwachsen zu neutralisieren. Ich dachte, du hättest die Ursprachen der magischen Menschheit erlernt. Oder habe ich dich da jahrelang überschätzt?"

"Aber deine nette Spinne ist jetzt weg, du Hexe. Avada ..."

"Perdita flog wie von der Faust eines unsichtbaren Riesen gepackt vor Grendels Zauberstab. Shadelake ließ den Stab erschrocken fallen. Zischend flogen grüne Funken heraus, wie aus einer Wunderkerze. Als die verpuffte Magie endlich überstanden war, tauchte Grendel nach dem Stab. Dabei prallte er mit seiner Schwester zusammen und blieb wie Eisen an einem Magneten an ihr hängen.

"Vereint bis in den Tod?" Fragte eine andere Hexe, die nicht zu der Fungrove-Sippe gehörte. Grendel Shadelake sah, wie eine weitere Hexe ihre Kapuze zurückwarf. Er erkannte eine blonde Löwenmähne und braune Augen in einem vergnügt lächelnden Gesicht. Er erkannte sie nun.

"Pokes. Delila Pokes. So zahlst du die Liebe meines Vetters an mich zurück? Seit wann gehörst du zu diesem Weiberclub?"

"Schon immer, du abgewirtschafteter Möchtegernkönig. Aber du wirst ja nun genug Zeit haben, dich mit allen früheren Dingen deines Lebens zu befassen. Lady Nimoe hat mit mir und anderen netten Damen beschlossen, daß jemand, der dem Emporkömmling unseren schönen Kontinent vor die Füße legen möchte, nicht mehr erwünscht ist. Hattest du wirklich geglaubt, daß du die australischen Hexen und Zauberer zu Leibeigenen des Emporkömmlings machen kannst?" Delila Pokes sah schadenfroh auf die magisch aneinander geklebten Geschwister Shadelake, die versuchten, sich freizumachen.

"Nimm diesen verdammten Viviconnectus-Fluch von uns!" Rief Grendel wütend und versuchte, sich von seiner Schwester zu lösen, prallte dabei mit der Schulter an ihre Schulter und hing nun richtig an ihr fest.

"Wieso, gefällt es dir nicht, Grendelchen. Eure liebe Mutter wollte doch immer haben, daß du auf die kleine Prinzessin achtgibst. Nun, ich respektiere den Wunsch einer großmächtigen Hexe, selbst wenn sie sich mit dem Erben eines verstaubten Geschlechts zusammentat. Ihr werdet fortan bis zum Ende der Zeiten zusammensein und euch den Tod als Befreier und Erlöser wünschen", sagte Lady Nimoe. Sie nickte Delila Pokes zu, sowie den anderen Hexen, die sich noch nicht zu erkennen gegeben hatten.

"Huggy, Wellcair, Pronto! Helft euren Meistern!" Rief Perdita. Doch keine Hauselfen kamen.

"Eure willigen Sklaven sind vorübergehend indisponiert. Unsere Schwestern haben sich ihrer angenommen, als wir dich und deine kleine Schwester stellten. Ich denke mal, sie haben deine Schwarze-Mittagssonnen-Falle gut überstanden", lachte Lady Nimoe Fungrove

Grendel war aber noch nicht am Ende. Er rief zwei altbabylonische Zauberwörter, um eine Magie zu wirken, die er vor Zeiten schon in dieses Haus eingelagert hatte und für die er seinen Zauberstab nicht brauchte. Die Wände wurden durchsichtig wie Glas, der Boden wirkte auf einmal wie ein schwarzer Abgrund, während durch die Decke der Himmel zu sehen war, allerdings nicht in seinen natürlichen Lichtverhältnissen, sondern genau umgekehrt, wie auf dem Negativ einer Fotografie. Die ersten Sterne, die nun am Himmel standen, waren pechschwarze Punkte auf einem grellroten Himmel. Der Mond war dunkel wie eine angekokelte Kokusnuß. Grendel und Perdita flogen förmlich auseinander, als wäre zwischen inen ein meterdicker Meißel geschlagen worden.

"Habt ihr hinterhältiges Hexenpack euch wirklich eingebildet, ich wäre so leicht zu packen?!" Rief Grendel Shadelake triumphierend.

"So, der babylonische Negatus-Zauber, der alles magische und sichtbare verkehrt ist dir also geläufig", sagte Delila Pokes, die nun nachtschwarzes Haar und merkwürdig türkisfarbene Augen besaß. Die Trachten der Hexen waren nun rabenschwarz, wie die Kapuzenumhänge der englischen Todesser.

"Ich finde, unser Aussehen passt nicht zu unserer Einstellung", meinte die dritte Hexe aus dem Trupp der Angreiferinnen.

"Ist dein Pech, du Schlampe!" Frohlockte Grendel und hob seinen Zauberstab wieder auf. Er wußte, daß der Zauber keinen Todesfluch als solchen durchlassen würde. Doch andersherum war es ja auch nicht schlecht.

"Avada Kedavra!" Rief der Shadelake-Erstgeborene. Ein dunkelgrüner Schatten schoss aus dem Stab und traf eine der vermummten Hexen, die laut aufschreiend zusammenschrumpfte, und dabei eine immer höhere Stimme bekam. Innerhalb einer Sekunde lag auf dem Treppenabsatz ein laut wimmerndes Baby mit blauer Haut. Der Todesfluch hatte sie mit verlorengegangenem Leben aufgeladen und unter Schmerzen auf ihr Geburtsalter zurückgeschrumpft.

"Eindrucksvoll", stellte Lady Nimoe fest und sprach ihrerseits eine Zauberformel: "Tarantallegra!" Grendel fühlte, wie ihm plötzlich die Beine schwer und taub wurden. Wie auf zwei Holzstümpfen stand er da und erkannte, daß seine Falle ihm selbst zum Verhängnis wurde, wenn die Hexe vor ihm noch weitere Flüche so nutzte, daß sie ins Gegenteil umschlugen.

"Enervate!" Rief Delila Pokes entzückt und deutete auf Perdita. Diese versuchte noch wegzuspringen, bekam aber die volle Wirkung ab. Schlagartig sackte sie zusammen. Der Entschocker hatte in dieser magischen Verkehrung nun wie ein Betäubungsfluch gewirkt.

"Verjüngungskur für vertrocknete Blumen", dachte Grendel und deutete auf Lady Nimoe. Diese ahnte jedoch, was ihr passieren sollte und rief "Bollidius!" An und für sich wurde damit ein großer Feuerball beschworen, der der Zauberstabausrichtung folgte und bis zu fünfzig Meter weit fliegen konnte. Doch nun schoss ein kopfgroßer weißer Eisball aus dem Zauberstab, zersprühte im Flug zu einem tiefgefrierkalten Nebel und legte sich unbarmherzig auf Grendels Hände und Gesicht. Er konnte den Fluch nicht ausrufen, weil seine Gesichtsmuskeln schlagartig unterkühlt waren und er beinahe nicht mehr atmen konnte.

"Das war wohl deine letzte Falle, Grendelchen", sagte die Fungrove-Matriarchin und hob den Zauberstab zusammen mit Delila Pokes. Sie nickten sich zu, daß Lady Nimoe anzählte: "Eins, zwei, drei!" Dann sangen sie gleichzeitig und auf derselben Tonhöhe eine magische Formel herunter, die dazu führte, daß zwischen den Zauberstäben erst ein undurchdringlicher schwarzer Schleier entstand, der wild vor und zurückwehte, um dann in einer flackernden Abwechslung von Licht und Dunkelheit wie Wellenkreise auf der Wasseroberfläche zu explodieren, alles und jeden durchschüttelte. Dann wackelte das ganze Haus bedrohlich, stand für zwei Sekunden in einem irritierenden grün-roten Flackerlichtgewitter. Doch schließlich war der Zauber vorbei. Die von Grendel aufgerufene Falle hatte sich an einer Umkehrung zerrieben, die nur solche Hexen und Zauberer kannten, die die Ursprünge der magischen Schlachtführung kannten. Lady Nimoe und Delila Pokes waren in dieser Hinsicht Expertinnen, wenngleich die Fungrove-Matriarchin doch noch mehr Macht besaß. Zwar war die Negatus-Magie nun aufgehoben, doch die in ihrem Wirkungsbereich gewirkten Flüche wirkten immer noch so, wie sie eigentlich nicht hätten wirken sollen. Grendel stand mit steifen, bewegungslosen Beinen da, perdita lag betäubt am Boden, und auf dem Treppenabsatz wimmerte immer noch das Baby, das aus der vom Todesfluch getroffenen Hexe geworden war, nur daß es jetzt eine rote Haut besaß, wie sie natürlich für Neugeborene war.

"Wir kümmern uns um Tessy, wenn wir unsere Aufgabe hier erfüllt haben", sagte Lady Nimoe zu einer Bundesschwester, die sich um die zurückverjüngte Kameradin sorgte.

"Expelliarmus!" Rief Delila Pokes mit auf Grendel gerichtetem Zauberstab. Krachend flog dem älteren der Shadelake-Geschwister sein Zauberstab fort. Weil er die Beine nicht bewegen konnte, kippte er einfach um und schlug hart mit dem Kopf auf die Granitfliesen vor dem Labor.

"Wieviel Zeit haben wir noch, bevor die anderen Getreuen von dem hier kommen?" Fragte eine noch verhüllte Bundesschwester Nimoes.

"Nicht mehr als eine Viertelstunde. Also los!" Erwiderte die Anführerin. Dann deutete sie mit ihrem Zauberstab auf die am Boden liegenden. "Wir müssen alle Flüche von ihnen nehmen, bevor wir das Ritual beginnen können", sagte sie leise. Dann trat sie vor. Grendel rührte sich gerade. Der Fall auf den Hinterkopf hatte ihm für einige Sekunden das Bewußtsein genommen. Doch nun sah er wie durch dicken Nebel die Angreiferinnen auf ihn zukommen. Er wollte schon aufstehen. Doch sein Kreislauf versagte den Dienst, und der fiel wieder hin.

"Bleib liegen, Grendelchen! Du und Perdy werdet bald genug Zeit haben, euch mit allem zu befassen, was euch dann noch wichtig ist", sagte Delila Pokes beruhigend klingend. Sie nahm Grendel bei den Armen und schob ihn zu seiner betäubten Schwester hinüber. Er versuchte zwar, sich zu wehren, doch die Kraft fehlte ihm noch. Dann lag er neben Perdita, über die eine andere Hexe sich beugte und "Enervate" murmelte. Da nun die Magieverkehrung erloschen war, wirkte dieser Zauber nun so wie er sollte. Perdita erwachte und erkannte, daß die Falle ihres Bruders mittlerweile entschärft war. dann hörte sie, wie neben ihr ein Gegenfluch zum Tanzwut-Fluch gewirkt wurde. Sie wollte schon aufspringen, doch da begannen die Hexen vor ihr einen bedrohlichen Singsang anzustimmen, der ihr schlagartig alle Kraft aus dem Körper zu saugen schien. Ja, sie fühlte, wie sie ohne Schmerzen zu leiden zerfloss, sich auflöste, Wort für Wort der Zauberformeln aus alter Zeit. Sie erinnerte sich, daß sie mal von einem vierten unverzeihlichen Fluch gelesen hatte, den man nur deshalb nicht auf die offizielle Liste gesetzt hatte, weil er von mindestens drei Zauberkundigen gleichzeitig und für mehr als eine volle Minute gleichförmig hergesungen gewirkt werden mußte. Sie erschauderte. Das mußte der Fluch sein, der Perfusionatus Totalus, ein grausamer Racheakt alter Magier, die einst ire Feinde zu einem ewigen Dasein ohne Hoffnung auf den erlösenden Tod verurteilt hatten. Sie fühlte, wie sie immer unförrmiger wurde, ja so zerfloss wie bei ihren UTZ-Verwandlungsklassen, wo es um Konsistenzveränderungszauber gegangen war. Dann fühlte sie, wie etwas in sie einfloss, körperlich und seelisch. Sie erkannte ihren Bruder Grendel, nahm Erinnerungen seines Lebens wahr, als würde sie sie im Traum sehen. Da wußte sie, daß sie von nun an verdammt war, zu einer halbstofflichen geistig zergliederten Daseinsform zu werden, eins mit ihrem Bruder zu sein, jedoch nicht eine Persönlichkeit oder zwei Persönlichkeiten in einem Körper, sondern etwas, was aus den zerlegten Teilen ihrer beider Selbst und ständig fließend bestand. Der letzte klare Gedanke, den sie fassen konnte war, daß niemand sie noch retten konnte. Denn dieser grausame Fluch würde nicht umzukehren sein, weil sie beide zusammen betroffen waren und nicht mehr getrennt werden könnten.

Zwei volle Minuten sangen die Hexenschwestern die gefürchteten Zeilen einer geächteten Zauberformel. perditas und Grendels körper lösten sich Ton für Ton in zwei große, gallertartige Pfützen aus einer dunkelroten Substanz auf, in deren Zentrum etwas weiß-graues zusammenfand und sich wie Sirup über das Gebilde verteilte. Als sie dann den Zauber beendeten, pulsierte das gruselig anzusehende Etwas, das weder männlich noch weiblich, nicht Alt und nicht jung war. Es hob sich und zerfloss wieder, immer und immer wieder.

"Hoffentlich haben sie in ihrem Leben genug schönes erlebt, um auch darin umherzutreiben", sagte Delila Pokes. Die anderen Hexen, die nun sahen, was sie angerichtet hatten, erschauerten vor dem, was ihr Werk war.

"Ihr wißt, Schwestern, daß diese beiden Vorbilder für die anderen sind. Wären sie nur getötet worden, hätten sich die anderen nur zu rächen versucht. So werden sie in ständiger Angst leben, was mit ihnen passiert", sagte Lady Nimoe zu den anderen Hexen. Delila Pokes nickte und fragte:

"Wollen wir die übrigen Nachläufer des Emporkömmlings hier erwarten oder dort übernehmen, wo sie wohnen?"

"Wenn sie herkommen knöpfen wir sie uns vor, wenn sie gesehen haben, was hier auf sie wartet. Mal sehen, ob wir nicht einige von denen von ihm abbringen können", sagte Lady Nimoe. Dann zogen sich die Hexen von dem zähflüssigen Gebilde zurück, das einmal ein weithin ge- und verachtetes Geschwisterpaar gewesen war und nun in ständig neu zusammenfließenden Gedanken und Erinnerungsstücken gefangen war, ohne die eigene Persönlichkeit wiederzufinden.

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Lieutenant Webster hatte sich selbst einen Tag gegönnt, an dem er auf Streife mitfahren wollte. Zusammen mit Sergeant Fuller klapperte er die Gegend um den Golden Gate Park in San Francisco ab. Er dachte an diesem trüben Morgen des 26. Novembers, daß er einen ruhigen Tag erleben würde. Das war immer so, wenn der Herbst kam und die ersten kälteren Nächte über dem Park lagen. Dann ließen Vorkommnisse im Freien etwas nach, und die hier patrouillierenden Streifen hatten wenig zu tun. Sicher passierte noch zuviel, um hier nicht auf der Hut zu bleiben. Doch Webster ging davon aus, daß der heutige Tag ruhig und friedlich verlaufen ...

"Hilfe, Polizei!!" Rief eine Frauenstimme in höchster Erregung. Webster sah Fuller an, der nickte und dann sofort mit Vollgas und heulender Sirene lospreschte, um zur Stelle zu eilen.

Über Funk meldete Webster den Hilferuf und die Vermutung, es mit einem Überfall zu tun zu bekommen. Als sie jedoch bei einer Frau Mitte dreißig mit dunkelblondem Haar ankamen, erwartete sie jedoch was völlig anderes.

"Ach, da sind Sie ja schon", keuchte die Frau, eine Joggerin, die die kühle Morgenluft nicht vom Training abhalten konnte. "Das ist schrecklich, was ich gefunden habe. Kommen Sie schnell mit, bitte!"

Fuller schloss den Wagen ab und folgte seinem ranghöheren Partner zu einem Busch, in dem es merkwürdig raschelte, als ob ein Tier darin herumsprang oder wühlte. Die Frau starrte mit einer Mischung von Angst und Ekel im Gesicht auf den Busch und deutete mit zitternder Hand auf eine Stelle weiter links.

"Das ist grauenhaft", wimmerte sie, während Webster sich die angezeigte Stelle besah. Zuerst fand er nichts. Doch als er die korrekt gestutzten Zweige beiseite schob, stutzte er merklich. Unter den Blättern lugte etwas großes fleischfarbenes hervor. Er sah eine Männerhand mit schlanken Fingern wie die eines Chirurgen oder Pianisten. Ihr folgte der muskulöse Arm eines Mannes mit feiner Behaarung. Der Arm lag vor ihm bis zu der Stelle, wo er eigentlich in die Schulter seines Besitzers übergehen mußte. Webster verstand, was die Frau so anekelte. Der Arm war zweifelsohne echt, keine Gummiattrappe oder aus Plastik. Leider hatte er selbst schon mehrere grausam zerstückelte Leichen besichtigen müssen und konnte echt von unecht ... Was war das?! Der Arm bewegte sich. Die Finger der Hand, der rechten Hand, bewegten sich wie suchend und ballten sich mal zur Faust, um sich dann wieder auszustrecken. Der Arm selbst bog sich nach hinten und oben, sodaß die Hand mit ausgestreckten Fingern genau auf Websters Gesicht deutete. Dann streckte sich der Arm wieder aus. Jetzt verstand Webster, was die Frau wirklich erschrocken und angeekelt hatte. Denn der Arm kroch nun zur Seite, nach rechts unter den Busch zurück, wobei seine Hand in die Blätter hineingriff und sie schüttelte.

"Das gibt es nicht", sagte der Polizeileutnant und warf Fuller einen hilfesuchenden Blick zu. "Das muß ein makaberer Scherz sein, den jemand zu Halloween veranstaltet hat."

"Wenn das ein Gruselscherz von Halloween war ist der genial", meinte Fuller, der jedoch sehr betreten, ja beklommen dreinschaute, als der nackte Arm sich wie ein selbständiges Lebewesen voranbewegte. Die Joggerin starrte entsetzt auf das Horrorspektakel, unfähig ein Wort zu sagen.

"Das ist nur ein besonders gemeiner Streich, den da wer gespielt hat", sagte Fuller schnell. In einem Anflug von Entschlossenheit warf er sich vor und griff nach der Hand unter dem Busch. Sie packte sofort zu, als er sie mit den eigenen Fingern ergriff und hielt sich an ihm fest. Fullers Entschlossenheit verschwand mit Lichtgeschwindigkeit. Blankes Entsetzen zeichnete die Züge des Polizisten. Wachsbleich und mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf das Ding, was wie ein abgetrennter Männerarm aussah.

"Lieutenant, das Ding ist echt! Das Teufelsding ist ein echter Arm!" Rief der Sergeant und versuchte, die immer noch seine Finger umklammernde Hand zu lösen. Doch das grauenhafte Ding hielt sich an ihm fest wie ein Ertrinkender an einem Strohhalm. Er zerrte und schleuderte den lebendig wirkenden Körperteil herum. Webster sah, wo der Arm mit einer Schulter verbunden sein sollte und erbleichte auch. Das konnte kein einfacher Scherz sein. Denn das unheimliche Ding besaß fein durchtrennte Adern, Muskln, Nerven und Knochen, wie er es beim Gerichtsmediziner einmal genau beobachtet hatte, als er einen Fortbildungslehrgang besucht hatte, um die Methoden der Pathologie kennenzulernen.

"Fuller, verdammt, tun Sie das Ding endlich einpacken!" Herrschte Webster völlig ohne seine übliche Selbstbeherrschung den Sergeanten an, der gerade noch so viel Disziplin aufbrachte, nicht in Panik zu flüchten oder hysterisch loszuschreien. Fuller wimmerte nur:

"Ich krieg die nicht auf. Ich kann den nicht wegwerfen."

"Ich mach das", sagte Webster und griff schnell nach der um Fullers Hand verkrampften Faust. Mit aller Gewalt bog er die schlanken Finger zur Seite und befreite seinen Partner aus dem grauenvollen Griff. Dann packte er den ganzen Arm so fest, daß der sich fast nicht bewegen konnte. Dabei fühlte er ihn warm und weich und keineswegs künstlich. Ja, er meinte sogar, den Pulsschlag eines Menschen in den Schlagadern zu fühlen. Doch er konnte keinen austretenden Blutstropfen sehen. Es schien, als sei das ein ganz gesunder Männerarm, der noch mit seinem Besitzer verbunden war.

"Möchten Sie, daß wir einen Arzt herrufen, um Ihnen was gegen den Schock zu geben?" Fragte Webster, der den monströsen Fund nun sicher und fest in beiden Händen hielt mit einem besorgten Blick zu der zitternden Joggerin. Diese schüttelte den Kopf. Fuller sah seinen Streifenführer und wartete bange auf irgendwas, was nun kommen sollte.

"Dann möchten Sie bitte mit uns kommen. So widerwärtig das jetzt klingt, Sie sind Augenzeugin und möchten uns den genauen Fund mit Zeit und Ort zu Protokoll geben", sagte er nun befehlsgewohnt. Die harmlose Läuferin nickte verhalten und blickte zu dem Streifenwagen hinüber, dessen Warnlicht noch eingeschaltet war. Fuller ging voran und öffnete den Kofferraum. Webster verstand diese Geste vollkommen und nickte ihm zu, als er an den Wagen herantrat und den in seinen Händen zappelnden und sich windenden Arm hineinwarf und schnell die Kofferraumklappe zuschnappen ließ. Es rumpelte nun darin und einmal pochte etwas gegen das heruntergeklappte Blech.

"Sie können hinten einsteigen", wies der Polizeileutnant die Joggerin an und wartete, bis die total verstörte Frau auf dem Rücksitz saß und mit zitternden Fingern den Sicherheitsgurt suchte. Er setzte sich auf den Beifahrersitz und schloss die Tür. Zehn Sekunden saßen sie nun zu dritt im Wagen und lauschten auf das Poltern und Klopfen im Kofferraum. Dann startete Fuller den Motor, schaltete das Martinshorn wieder ein und jagte den Wagen schneller als die Polizei anderen Fahrzeugen erlaubte aus dem Golden Gate Park.

Websters Bericht wurde zunächst mit einem verächtlichen Grinsen gewürdigt. Doch als sie den abgetrennten Arm auf einen freien Schreibtisch warfen, wurden selbst die hartgesottenen alten Hasen in der Wache kreidebleich. Captain Muriel McFurson, die Dienststellenleiterin, als Frau in einer fast von Männern bevölkerten Wache hart und unerschütterlich geworden, sah den abgetrennten Arm an, der versuchte, vom Tisch herunterzuspringen oder eine Schreibtischlampe aus ihrem Halter zu reißen.

"Das ist kein Roboter oder sowas?" Fragte sie und sah in Websters und Fullers Gesichtern, daß es kein technisches Teufelsding war, was jemand mit zu viel Zeit und Hang zum Gruseln gebaut hatte. Sie griff nach dem Arm, wohlweißlich nicht nach der wie ein wütender Hund um sich schnappenden Hand, fühlte ihn warm wie den eines lebenden Menschen und weich wie natürliche Haut und Fleisch. Dann sagte sie schnell, um jede mögliche Gefühlswoge im Ansatz zurückzudrängen:

"Schaffen Sie das Ding sofort zu Dr. Westermann! Er soll rauskriegen, wie es entstanden ist. Das kann kein echter Arm sein. Das wäre gegen alles in Biologie und Medizin."

"Klar, Captain", sagte Fuller und nahm schnell den Hörer vom nächsten Telefon. Keine fünf Minuten später lag der Schreckliche Fund auf einem Seziertisch. Dr. Rudolph Westermann, ein altgedienter Leichenkenner, besah sich das Fundstück, das er mit zwei Eisenringen am Tisch festgemacht hatte. Er nahm eine Lupe und begutachtete die feinen dunklen Härchen auf dem Arm.

"Wie immer das geht, das ist ein echter Arm eines männlichen Weißen Anfang Mitte vierzig. Faltenbildung schon erkennbar, Haare typisch und keinesfalls künstlich. So detailgenau kann die Gruselindustrie noch keine Haare nachahmen. Das sehe ich auch ohne Mikroskop. Pulsschlag vorhanden. Frequenz 80 pro Minute", diktierte Westermann in sein drahtlos mit dem Autopsieraumtonbandgerät verbundenes Mikrofon unter seinem weißen Kittel. Er nahm die Manschette eines elektronischen Blutdruckmessers, legte sie um den Oberarm und pumpte die Luft daraus. Er wartete, bis er das leise Piepen hörte, das anzeigte, das der freie Blutfluss unterbrochen war und ließ zischend die Luft in die Manschette zurückströmen. Er las die beiden Werte von der Anzeige und sprach sie ins Mikrofon.

"Das ist gegen alle medizinische Logik, das in dem Arm ein regelmäßiger Blutfluss herrscht, wo aus den freigelegten Adern kein Tropfen austritt oder von irgendwoher eintritt. Das ist total unmöglich", dachte der Pathologe und zwang sich weiterhin sachlich zu sprechen. Er schnitt ein winziges Stück Haut aus dem grausigen Fundstück, das schmerzgepeinigt zuckte und ruckte. Er sah Blut aus der Schnittwunde austreten und machte sofort einen Abstrich davon. Blutprobe und Haut untersuchte er unter dem Mikroskop und stellte fest, daß er hier wirklich einen lebendigen Arm eines Mannes auf dem Tisch hatte, ohne das dessen restlicher Körper vorhanden war. Er untersuchte die elektrischen Ströme der im Arm zuckenden Muskel- und Nervenstränge, hätte gemeint, einen ganz normalen Männerarm zu prüfen, den Werten nach. Er stellte die Gruppe des abgenommenen Blutes fest und vermaß das Fundstück in allen Details, Größe, Dicke, Gewicht. Schließlich holte er einen Kollegen und seinen Institutsleiter, Prof. Rodriguez, hinzu und diskutierte dieses Ding, das alle Schulmedizin mit einer einzigen Bewegung verhöhnte.

"Also, es gibt fälle, wo abgetrennte Gliedmaßen noch neurologische Aktivität zeigen. Aber einen stabilen Kreislauf ohne Zu- und Abfluss von Blut ist schlicht unmöglich, ebenso die Eigenwärme. Ich möchte den ungern präparieren, bevor ich das nicht von mehreren Fachkollegen bestätigt bekomme, daß wir hier eine medizinische Abstrusität vor uns haben", meinte der Institutsleiter, der nicht wußte, ob er sich über einen außergewöhnlichen Fund freuen oder in Angst erstarren sollte.

Als dann ein Krankenwagen zwei abgetrennte nackte Männerbeine anbrachte, die sich ebenfalls von selbst bewegten, sah Prof. Rodriguez betreten auf die drei völlig unmöglichen Funde, die von seinen Kollegen vermessen und untersucht wurden.

"Unser Chef möchte bis heute Mittag was über diese Dinger hören", sagte der Polizist, der die abgetrennten Beine hergebracht hatte. Rodriguez schüttelte sehr energisch den Kopf. Dann sagte er laut und unmißverständlich:

"Sie dürfen Ihrem Chef jetzt schon bestellen, daß ich mich sogleich mit dem Gesundheitsministerium und den Kollegen aus Stanfort unterhalten will. Vorerst sollte niemand außenstehendes was davon erfahren. Das wäre eine Katastrophe größten Ausmaßes, wenn davon was an die Öffentlichkeit geriete."

"In Ordnung, Prof", erwiderte der eine Streifenpolizist und hastete aus dem Institut, das nun wirklich ein Horrorkabinett war.

In den kalifornischen Niederlassungen der Bundespolizei FBI klingelten am Morgen häufig die Telefone. Über geheime aber schnelle Kanäle hatten die Bundesermittler erfahren, daß nicht nur in San Francisco, sondern auch in Sacramento, Barstow, Santa Barbara und Los Angeles in kleinen Waldstücken und Parks abgetrennte Körperteile mit einem monsterhaften Eigenleben aufgefunden worden waren. Marco Jennings, der Leiter des FBIs Los Angeles, unterhielt sich gerade mit einem Professor Rodriguez aus San Francisco, wo gleich drei Gliedmaßen eines einzigen Körpers gefunden worden waren. Er bestätigte, daß vorerst eine absolute Nachrichtensperre über diese Vorkommnisse verhängt werden mußte. Die Zeugen der Funde wurden auf Beschluss des Gouverneurs in Quarantäne genommen, angeblich weil sie sich wohl mit unbekannten Erregern infiziert hatten, aber ganz sicher deshalb, um sie sicher und unerreichbar zu verwahren.

"Hier hat jemand irgendeinen Dreh gefunden, Körper lebendig zu zerlegen, ohne daß die Amputate absterben. Sowas geht doch eigentlich nicht", sagte Jennings zu Mortimer Fauley, seinem Stellvertreter.

"Hier ist gerade eine E-Mail aus Arizona reingekommen. Das FBI in Phoenix hat auch abgetrennte Körperteile mit Eigenleben aufgefunden. Die Ortspolizeitruppen wurden zum absoluten Stillschweigen angehalten und -"

Gerade signalisierte der Bürocomputer, daß noch eine E-Mail eingegangen war, diesmal vom FBI in Denver, Colorado. Der allen Körperanhängen beraubte Rumpf eines Mannes war nackt auf einer Müllhalde gefunden worden. Doch das Herz schlug noch, und die Lungen funktionierten auch noch.

"Was wird das denn hier, ein Frankenstein-Puzzle?" Fragte Fauley gehässig, um seine nagende Furcht zu überspielen.

"Wäre eine geniale Schlagzeile für die Tribune", sagte Jennings verbittert. "Das haut alle Wissenschaften in Stücke. Aber wieso finden wir jetzt auf einen Schlag diese ganzen Dinger?"

"Vielleicht, weil jemand will, daß wir die finden?" Fragte Fauley, mit einem Ja rechnend. Jennings sah ihn erst verdutzt an, nickte dann aber merklich.

"Dann kommt die Frage, warum wir diese makaberen Puzzelteile finden sollen?"

"Vielleicht hat ein irrer Wissenschaftler das ausgelegt, um uns zu zeigen, daß er das nun kann. Sind die Einzelteile denn schon soweit identifiziert, daß sie zugeordnet werden können?" Wollte Fauley wissen. Jennings nickte heftig.

"DNA und Fingerspurvergleich ist schon lange angeleiert. Die Blutgruppenanalysen liegen auch schon vor. Sicher ist, daß die in San Francisco gefundenen Körperteile ..."

Das Telefon klingelte. Roddriguez schrak zusammen, holte einmal tief Luft und nahm dann den Hörer von der Gabel.

"Hier Spezialagent Zachary Marchand, FBI New Orleans. Spreche ich mit Dienststellenleiter Harald Jennings?"

"Moment", sagte Jennings, tippte eine Taste am Telefon an, sah auf der Anzeige, daß der Anruf über das FBI-eigene Netz tatsächlich aus New Orleans kam und sagte dann: "Ja, ich bin persönlich am Apparat. Was wünschen Sie?"

"Ich rufe im Auftrag meines Dienststellenleiters an, um mich zu erkundigen, ob Sie näheres über die mysteriösen Körperteilfunde erfahren haben. Hier ist zwar bislang nichts derartiges passiert, aber wir möchten auf dem Laufenden sein", sagte der Sprecher am anderen Ende der Telefonleitung.

"Da rufen Sie mich an. Die Zentrale in Washington ist für die gesammelten Daten zuständig. Ich habe hier genug damit zu tun, verwirrte Polizisten und Zeugen von der Öffentlichkeit fernzuhalten. Ich hatte immer geglaubt, die X-Akten wären eine Phantasterei für das Fernsehen. Jetzt haben wir genauso einen Fall hier."

"Dann grüßen Sie mir die Außerirdischen, wenn Sie sie sehen", lachte Marchand, verabschiedete sich und legte wieder auf.

"Marchand, den Namen habe ich doch schon einmal gehört", dachte Harald Jennings und setzte sich ruhiger auf seinen Stuhl. Zwischendurch plingte es in den Computerlautsprechern, wenn neue E-Mails durch das FBI-interne Netzwerk zu ihm kamen. Was ging da draußen vor?

__________

Maria Purificación Montes saß am Morgen des 26. Novembers mit ihrem Kollegen Moses Greenthal zusammen im Büro und besprach die Aktion gegen eine Gruppe Kokainhändler, die von den Südstaaten aus operierte, als ihr Telefon klingelte.

"Hier Stadtpolizei Jackson, Ma'am. Wir haben gerade etwas merkwürdiges gefunden und möchten Sie bitten, zum gerichtsmedizinischen Institut zu kommen", sagte ein sichtlich aufgeregter Mann. Maria ließ schnell prüfen, ob der Anruf wirklich von der Polizei in Jackson, Mississippi kam und erwiderte:

"Ich habe im Moment nichts dringendes zu tun. Mein Kollege und ich kommen sofort."

Unterwegs fragte Moses Greenthal, was das wohl sein mochte? Vielleicht handelte es sich wieder um ein Ritualmordopfer. Für solche Fälle waren sie beide nämlich mittlerweile heimliche Experten und wurden oft irgendwo hinbestellt, wo Jünger einer Teufelsanbetersekte mit Tieren oder Menschen blutige Opferriten betrieben oder Anhänger der bösartigen Sorte Voodoo schlimme Verbrechen begangen hatten. Maria dachte daran, wie lächerlich diese zugegebenermaßen grausamen Dinge auch waren, seitdem sie zwei Tage vor Halloween eine alptraumhafte Begegnung mit wahrhaftigen Kreaturen der Finsternis überstehen mußte und ihr ganzes Weltbild umgestoßen wurde, als sie erfuhr, daß neben ihrer gewohnten Welt eine heimliche Zivilisation bestand, in der Magie und Fabeltiere so alltäglich waren wie Fernseher oder Jumbo-Jets für sie selbst.

"Ich hoffe, es ist kein Opfer irgendwelcher irregeleiteten Fanatiker", sagte Maria Montes laut und fügte wortlos hinzu "oder schlimmeres." Wie aus Reflex berührte sie mit der linken Hand einen kleinen Metallgegenstand, der an einer Kette um ihren Hals hing und unter der adretten Bluse baumelte. Das Kruzifix von ihrer seligen Großmutter, das diese ihr aus Liebe gegeben hatte, und das sie vor den bösen Mächten schützen sollte. Sie hatte nie so recht an diese heiligen Kräfte eines Kreuzes geglaubt, bis sie an jenem welterschütternden Tag zwei Tage vor Halloween eines besseren belehrt wurde. Allerdings, so hatte sie später erfahren, war ihr geistliches Schmuckstück nicht deshalb wirklich wunderkräftig, weil es ein aus Silber geschmiedetes Kreuz war, sondern weil in diesen Gegenstand mehrere Magier mächtige Zauber gegen böse Wesen und zum Schutz vor bösem Zauber eingewirkt hatten. In ihren Träumen sah sie sich immer wieder in der ekelhaften Umarmung jener überlebensgroßen Kreatur im Umhang, hörte, sah, fühlte und roch das Feuer, in dem ihre Schwester Angelita verbrannt war, wo sie selbst gerade sechs Jahre alt war. Sie betete das, was ihre Großmutter sie gelehrt hatte, wenn die finsteren Mächte sie heimsuchten, und aus einem hellen Silberstrahl aus ihrem Kreuz war eine schöne, wie wundersame Erscheinung entstanden, die das Ungeheuer von ihr abgewehrt und die Geschöpfe der Dunkelheit durch bloße Berührung vertrieben hatte. Immer wieder hörte sie die Angstschreie ihrer kleinen Schwester, die in den Flammen eingeschlossen war. Doch sie mußte sich jedesmal zusammenreißen, um nicht ihr seelisches Gleichgewicht zu verlieren. Doch seit diesem Tag, an dem sie echten Dämonen und genauso echten Zauberern und Hexen begegnet war, erschien ihr selbst der abscheulichste Ritualmord wie ein albernes Kinderspiel. Denn sie wußte, daß dort draußen eine unheimliche Gefahr lauerte, die nicht wie im Fernsehen von den Sternen kam, sondern hier auf der Erde ihre Wurzeln hatte.

"Heh, Maria, du träumst mal wieder", rief Moses Greenthal seine Kollegin aus ihren nun all zu tiefen Gedanken zurück in die Gegenwart. "Das hast du seit Halloween. Ist was passiert, was ich oder noch jemand wissen sollte?"

"Mo, ich habe beim letzten Dia delos Muertos an meine Schwester Angelita denken müssen. Seitdem verfolgt mich ihr Tod durch manchen Traum. Ich komme damit aber zurecht", sagte Maria Montes und verriet dabei ein winziges Stückchen von der unheimlichen Wahrheit, die sie nun für alle Zeiten mit sich rumschleppen mußte.

"Hmm, vielleicht solltest du Dr. Barkley mal davon erzählen, Maria. Kindheitstraumata sind gefährliche Fallen, wenn du in gefühlsaufwallenden Situationen darin feststeckst und ..."

"Mo, ich hatte den erweiterten Psychologiekurs auch zu belegen. Bitte keine überflüssigen Vorlesungen!" Raunzte Maria Montes ihren Kollegen an. Dieser verzog das Gesicht und starrte stur auf die Fahrbahn. Doch eine Viertelminute später sagte er:

"Ich verstehe, daß du dich anderen Leuten nicht zu offen ausliefern möchtest. Wir haben ja in dem Kurs auch gelernt, daß zuviel Preisgabe an Gedanken und Gefühlen leicht gegen einen selbst benutzt werden kann. Ich wollte lediglich sicherstellen, daß ..."

Mit überhöhter Geschwindigkeit schoss ein Krankenwagen aus einer Seitenstraße heran, lediglich mit eingeschalteten Warnlichtern. Erschrocken trat Moses Greenthal auf die Bremse, sodaß sie beide voll in ihre Sicherheitsgurte geschleudert wurden. Gerade einen halben Meter vor der Motorhaube des neutralen Dienstwagens zischte der linke Außenspiegel der Ambulanz vorbei, bevor dem Fahrer einfiel, doch auch die Sirene einzuschalten und mit lautem Geheul auf die Fahrspur einzubiegen, auf der die FBI-Agenten gerade weiterfahren wollten.

"Welcher misschuggene Kerl hat diesen Wagen da zugeteilt bekommen?! Der hätte sich und uns fast umgebracht!" Schimpfte Moses Greenthal, dem der Schreck voll in die Knochen gefahren war. Erst eine halbe Minute nach dem Beinaheunfall wagte er es, weiterzufahren.

Im gerichtsmedizinischen Institut trafen sie den Chef eines Polizeireviers am nördlichen Stadtpark und zwei Mann in weißen Kitteln.

"Wir sollen diesen Torso abholen, von dem Sie berichtet haben, Sir. Befehl von oben!"

"Was für einen Torso?" fragte Moses Greenthal. Der Revierleiter deutete auf einen seiner mitgekommenen Beamten. Dieser sah zunächst die FBI-Ausweise genau nach und meinte dann:

"Wir fanden heute morgen im Stadtpark unter einer Bank den nackten Körper eines Mannes, ohne Arme, Beine oder Kopf. Die Genitalien waren jedoch noch dort, wo sie hingehörten. Aber das heftige daran ist, der Körper arbeitet noch. Die Lungen dehnen sich aus und ziehen sich zusammen. Das Herz schlägt, und der Körper hat sich in der Zeit, die wir ihn hierhaben auf 36,8 Grad Celsius erwärmt. Das ist unmöglich."

"Moment, Sie haben einen Torso Ohne fast alle Körperanhänge aufgefunden, der völlig lebendig ist?" Fragte Maria Montes mit leichtem Ekel im Gesicht.

"Der bewegt sich sogar noch. Er ruckelt herum, versucht sich zu drehen und gibt sogar Magen-Darm-Geräusche von sich, sagen die Ärzte", erwiderte der Polizist sichtlich außer der üblichen Fassung.

"Medizinisch ist dies völlig unzulässig, daß ein kopfloser Rumpf normal weiteratmet, ja sogar einen messbaren Blutkreislauf besitzt, ohne das Blut aus- oder eintritt", warf einer der Männer in weiß sehr entrüstet ein. Auf Anfrage stellte er sich als Professor Waterfort vor, Leiter dieses Institutes.

"Diesen Körper möchte ich mir ansehen", sagte Moses Greenthal und sprach Maria Montes aus tiefster Seele. Doch das Grauen, was sie schon jetzt gepackt hatte, überspielte sie mit einer betont gebieterischen Miene. Denn sie war sich sicher, daß wenn hier wirklich ein lebendiger Körper ohne Kopf und andere Gliedmaßen herumlag, dies keinesfalls mit den einzig für gültig gehaltenen Naturgesetzen zuging.

Als sie im Obduktionsraum waren sahen sie ihn schon auf dem Marmortisch mit den Ablaufrinnen liegen. Es war ein groteskes Bild, wie der Rumpf da ein- und ausatmete, ohne dabei Blut zu verlieren oder anderweitige Zerfallserscheinungen zu verraten.

"Verdammt, der Fluch des Baal", sagte Moses Greenthal erschüttert, als er mit eigenen Sinnen erkannte, daß da vor ihm auf dem Tisch ein lebendiger Mensch lag, eben nur ohne alle größeren Körperanhänge.

"Brujería! Otra vez brujería!" Murmelte maria Montes.

"Das ist ja wohl doch nicht wahr, daß wir hier mit echter Hexerei konfrontiert sein sollen", protestierte der Professor, der den spanischen Satz gut verstanden hatte. "Hier haben wir es weder mit einem Fluch noch mit sonstigem Hokuspokus zu schaffen."

"So, Professor, dann erläutern Sie uns rein wissenschaftlich, wie dieser Mensch da ohne Kopf atmen kann und warum sein Herz schlägt, ohne daß Blut aus den Durchtrennungswunden tritt!" Verlangte Moses Greenthal, dem jedoch die Erschütterung über das da vor ihm so heftig an die Nerven ging, daß er sich in der Lautstärke vertat und saalfüllend brüllte. Maria Montes sah nur den Torso an.

"Die Heere der Schlange und der Spinne erheben sich. Der auf dem dunklen Wege wandelnde Meister der Zerstörung und der finsteren Herrscherin Schwester Tochter, sie rüsten zur Eroberung der Welt", hörte Maria Montes die entrückte Stimme jener Frau im ihrer Erinnerung, die kurz vor dem Angriff der Dämonen in Madame Margos Schönheitssalon hineingestolpert war. Konnte es angehen? Stunden nach der Flucht vor den dunklen Wesen und einer Gruppe echter Zauberer hatte ihr eine wahrhaftige Hexe erklärt, daß es in der Welt der Magie eine dunkle Bedrohung gebe, einen schwarzmagischen Meister, der die Zerstörung der Welt anstreben sollte, und da waren noch diese Hexenschwestern, die sich nach der Flucht der düsteren Kreaturen im Schönheitssalon umgesehen hatten. Auch sie stellten wohl eine Bedrohung dar, wenn es sie wirklich gab.

"Mo, beherrsch dich", sagte Maria Montes kurz nach dem Ausruf ihres Kollegen.

"Mann, Maria, der Typ hier macht auf ungläubig oder stur, wo er genau wie du und die Herren hier sehen können, daß das nicht mit rechten Dingen zugehen kann, was hier auf dem Tisch liegt. Ich wette mit Ihnen, Herr Professor, daß Sie dem Torso da seelenruhig das Herz aus dem Leib schneiden können und das immer noch weiterschlägt!" Rief Moses Greenthal.

"Die Wette halte ich locker, Mo!" Rief jemand vom Eingang her. Maria zuckte zusammen, sah dann aber erleichtert drein, wobei sie jedoch sorgsam niemanden anblickte.

Ein hochgewachsener Mann in Jeans und Hawaiihemd eilte in den Obduktionsraum. Seine dunkelblonde Igelfrisur stand wie feine Stacheln von seinem flachen Kopf ab. Er musterte mit graublauen Augen das, was da auf dem Tisch lag.

"Verdammt noch mal, ich habe Ihnen doch die Anweisung erteilt, den Eingang zu bewachen!" Schimpfte der Polizeirevierleiter mit seinem Wachtmeister an der Tür.

"Der Herr ist Spezialagent Marchand vom FBI, Sir", sagte der Schutzmann abbittend.

"Ganz recht, Captain, ich komme extra aus New Orleans, um die hiesigen Fälle von anomalen Leichenfunden zu untersuchen! Befehl von oben!" Sagte der Neuankömmling lässig klingend. Dann blickte er auf den Torso auf dem Tisch und verzog für einen winzigen Augenblick das Gesicht. Dann trat er vor und betastete den gliederlosen Leib, der warm und atmend dalag.

<>"Was hattest du eben gesagt, Mo? Du könntest ihm das Herz rausschneiden, ohne daß es zu schlagen aufhört? Woher weißt du denn, was da auf dem Tisch passiert?" Fragte der FBI-Agent.

"Das ist ein böser alter Zauber aus dem phönizischen Reich, Zach. Ich weiß zwar nicht, was du hier genau machen sollst, aber womöglich haben das anderswo auch schon welche erkannt, was hier passiert. Das ist der Fluch der Zergliederung. Ich habe nie geglaubt, daß der wirklich funktionieren kann. Aber mir fällt keine andere logische Begründung für diesen Vorgang ein."

"Logisch?!" Rief der Leiter des gerichtsmedizinischen Institutes verächtlich dazwischen. "Sie reden hier von Hexerei, Flüchen, Teufelswerk und sowas. Das entbehrt jeder Logik."

"Hmm, dann haben Sie schon eine wissenschaftlich haltbare Deutung parat?" Fragte Zachary Marchand, der FBI-Agent aus New Orleans.

"Die wird sich finden lassen, wenn wir diesen Torso da obduzieren dürfen. Ich wollte gerade mit den Leuten hier in der Sonderambulanz zum Flughafen und dann in eine Spezialklinik für intensive Untersuchungen. Ich wollte Ihren Kollegen nur diese Anomalie vorführen. Aber niemand spricht hier von schwarzer Magie oder Höllenspuk oder dergleichen."

"Außer mir", sagte Moses Greenthal nun sehr entschlossen. "Ich habe gelernt, an das unsichtbare zu glauben, solange ich keinen gegenbeweis erhalte. Aber wenn ich etwas mit den eigenen Sinnen wahrnehmen kann, glaube ich nicht nur, sondern weiß es. Wir alle hier sehen und hören das Atmen dieses unglückseligen Geschöpfes, eines christlich erzogenen Mannes Mitte dreißig Anfang vierzig. Er hat aber keinen Kopf. Sein Herz schlägt, also müßte Blut aus allen Wunden strömen. Da dies aber nicht passiert, können alle bislang einzig haltbaren Erklärungen nicht gelten. Bleibt also nur der Rückgriff auf alte Sagen oder Berichte über Vorgänge jenseits der natürlichen Ordnung. Ich bin, dies könnte Ihnen mal zu Ohren gekommen sein, ein Experte für orientalische und vorchristliche Mythologien, kenne mich aber auch mit dem Glaubensbild diverser Sekten aus, die hier in unserem großen Land herumlaufen. Ich las und hörte von diesem Fluch, bei dem ein Opfer grausam gestraft ist, weil es bei lebendigem Leib in seine Einzelteile zergliedert und verstreut wird. Die einzelnen Körperteile führen ein Eigenleben, werden aber von ihrem Besitzer immer noch so verspürt wie es normalerweise ist. Sterben kann der Gepeinigte nur, wenn eine mit dem Gegenfluch bezauberte Klinge aus versilbertem Gold in den Kopf gestoßen wird. Solange jemand den Kopf besitzt, hat er es in der Hand, den zergliederten Körper am Leben zu halten."

"Unsinn!" Fauchte Professor Waterfort. Zachary Marchand nickte Moses jedoch anerkennend zu, wandte sich dann an Maria und sagte:

"Glaubst du, was dein Kollege sagt?"

"Zumindest fällt mir nichts vernünftiges ein", sagte Maria Montes, die genau wußte, daß Zachary wußte, daß sie davon überzeugt war, daß es wirklich dieser Zergliederungsfluch war.

"Nun, in jedem Fall darf dieser lebende Leichnam nicht so herumliegen", sagte der FBI-Agent aus New Orleans und fischte in seinen Wintermantel. Als er einen kurzen schlanken Stab hervorzog, sahen ihn alle verdutzt an. Dann hob Marchand ihn senkrecht hoch und rief: "Sensofugato!" Mit einem lauten Knall explodierte ein greller blauer Blitz in den Raum und warf alle um, die im Raum standen. Nur Maria Montes stand erschrocken aber unberührt da. Als der Blitz erstrahlte, glühte um ihren Körper für eine Winzigkeit länger als der Blitzstrahl selbst ein hauchzarttes silbernes Lichtgebilde. Während alle anderen umfielen, von Zachary Marchand abgesehen, blieb sie ruhig stehen. Unter ihrer Bluse zitterte das kleine Kreuz an seiner Kette. Eine Sekunde lang spürte sie es vibrieren, dann hing es wieder ruhig und scheinbar bedeutungslos unter Maria Montes' linker Brust.

"Jane hat mir gesagt, daß du den mit deinem Kreuz von dir abhalten würdest", meinte Zachary Marchand und richtete den Zauberstab auf die noch offene Tür. Ein Strahl aus violettem Licht flog hinaus in den Gang, weiter und weiter.

"Diese Zergliederungsopfer sind bereits an zu vielen Orten der nichtmagischen Welt gefunden worden, Maria. Die Kollegen von mir haben alle Hände voll zu tun, um die Muggel, also die Nichtmagier, vergessen zu lassen, was sie gesehen und rausbekommen haben. Ich wollte nur wissen, ob dein Kollege wirklich den Zergliederungsfluch kennt, bevor ich hier alle für eine Minute außer Gefecht setzen mußte. Meine Kollegen kommen jetzt rein und holen den Unglückseligen da weg. Hoffentlich finden wir bald alle Teile. In unserer Welt sind gestern schon vier Körperteile gefunden worden, alle an wichtigen Plätzen. Irgendwer will haben, daß wir wissen, daß er oder sie diesen Brutalen Fluch kann. Wenn das so weitergeht können wir alle uns warm anziehen", sagte Zachary Marchand.

Zehn Männer in Umhängen eilten in den Raum, sahen sich um und holten Zauberstäbe heraus. Marchand deutete auf Maria und schüttelte dabei den Kopf.

"Sie ist eine Eingeweihte. Minister Pole selbst hat sie als Wissensberechtigte anerkannt", sagte er noch, während die Zauberer die am Boden liegenden Polizisten, Ärzte und Sanitäter mit Gedächtnisveränderungszaubern belegten. Einer der Neuankömmlinge zauberte aus dem Nichts eine Trage herbei und bettete den Körper ohne Kopf und Glieder darauf. Dann verschwand er mit der Trage durch die Tür und eilte mit wehendem Umhang davon.

"Wer macht sowas, Zach?" Fragte Maria Montes.

"Jemand der mächtig und skrupellos genug ist, sowas zu lernen und anzuwenden", erwiderte Zachary Marchand.

"Tolle Antwort", fauchte Maria Montes wie eine gereizte Katze. "Ich dachte, ihr hättet da schon jemanden im Verdacht."

"In den letzten Tagen sind einige unliebsame Sachen passiert, Maria. Ihr habt davon nichts mitbekommen, aber bei uns war sprichwörtlich die Hölle los. Es hat den Anschein, daß sich die führenden Dunkelmagier unserer glorreichen Staaten um die Gunst eines mächtigen Verbündeten zanken und sich dabei gegenseitig aus dem Verkehr ziehen. Wir haben zwei zergliederte Körper identifiziert. Es waren ausnahmslos Leute im Dunstkreis dreier Hexerbrüder, die noch flüchtig sind. Ich bekam nur mit, daß die sich wohl auf ihre Feinde eingeschossen haben. mehr sollst du im Moment nicht wissen, Maria", erwiderte der FBI-Agent, der sich hier gerade als echter Zauberer entpuppt hatte. "Komm, wir müssen hier raus! Wenn die Gedächtniszauber wirken müssen die denken, alles sei noch in bester Ordnung und sie hätten lediglich die verstrichene Zeit mit üblichen Aufräumarbeiten verbracht. Wir bringen deinen Kollegen und dich zu einer Straße, von wo aus er zu eurem nächsten Einsatz fahren soll. Hoffentlich kommen heute nicht noch mehr solcher Sachen auf uns zu."

Zacharys Kollegen brachten Maria und Moses zu ihrem Auto zurück. Dann ließen sie den Wagen von unsichtbarer Kraft aufsteigen, ja der Wagen selbst wurde für eine volle Minute völlig unsichtbar. Maria, die nichts von sich oder vom Auto sehen konnte, fürchtete schon, aus der großen Höhe herabzustürzen. Die vier Zauberer, die diesen Vorgang steuerten saßen zusammengedrängt auf dem Rücksitz. Doch Maria konnte es nur hören. Sie schloss die Augen, um dieses unheimliche Gefühl zu verdrängen, Leute zu hören, die sie nicht sehen konnte. So konnte sie so tun, als ob es stockdunkel draußen sei und sie deshalb niemanden mit ihren eigenen Augen sehen könne. Dann irgendwann ruckelte der Wagen heftig und stand sicher auf der Erde. Maria wagte es, sich umzusehen und stellte erleichtert fest, daß alles und jeder wieder sichtbar war. Die drei Zauberer, die mit Zachary Marchand zusammen im Wagen gesessen hatten verschwanden mit einem lauten Knall. Zachary wandte sich an Maria:

"Moses Greenthal geht davon aus, ihr hättet hier in der Gegend einen Einsatz. Ich muß zurück zum Institut und die Aufzeichnungen vernichten, die von dem Fundstück gemacht wurden. Viel Glück noch, Maria! Verzeihung, daß ihr da mit reingezogen wurdet!"

"Ich hoffe nur, ihr habt euch geirrt, und das hier war nur ein übler Streich", antwortete Maria Montes.

"Ich fürchte, das war nur der Auftakt, Maria. Ich hoffe nur, daß ihr von der Hauptwucht des ganzen Schlamassels verschont bleibt. Aber das ist das einzige, was ich hoffen kann. Adios, Muchacha!"

"Hasta la vista, Gringo!" Erwiderte die FBI-Agentin. Mit lautem Knall verschwand dann auch Zachary Marchand. Sie saß auf dem Beifahrersitz und dachte darüber nach, was sie gerade erlebt hatte. Daß sie die einzige war, die sich nun an alles erinnern würde, empfand sie weder als Ehre noch als Grund zur Freude. Zach Marchand hatte ihr deutlich gezeigt, daß er nicht nur ein gewöhnlicher Kollege aus einer anderen Stadt war, sondern daß er eigentlich nur beim FBI arbeitete, um Sachen wie das gerade erlebte zu vertuschen, damit kein Unbefugter von der magischen Welt erfuhr und weiterhin brav glaubte, sie gebe es nur in Sagen und Märchen. "Wissensberechtigt" hatte Marchand sie vor seinen Kollegen, seinen wirklichen Arbeitskollegen, genannt. Sie durfte etwas über diese Leute und was sie taten und konnten wissen. Doch das war kein Privileg, sondern ein Fluch. Ja, sie mußte dieses Wissen alleine mit sich herumtragen, egal wieviel sie davon aufgeladen bekam.

"Eine werdende Mutter hat immer noch Freunde, die ihr helfen, wenn die Familie sie verstößt oder der Kindsvater sie abweist. Jesus Christus mußte sein Kreuz auch nicht die ganze Strecke allein tragen. Herr im Himmel, welche Sünde habe ich begangen, daß du mich derartig bestrafen mußt? Oder sage mir bitte irgendwie, welche Aufgabe du mir zugedacht hast, damit ich sie so gut es geht erfüllen mag! Dein Wille geschehe! Amen", betete die FBI-Agentin inbrünstig aber nur in Gedanken sprechend. Neben ihr wachte gerade Moses Greenthal auf. Er fühlte sich gut und hatte auch keine Gedächtnislücke oder dergleichen. Er wußte genau, wo sie waren und wo sie hinmußten. Natürlich fanden sie dort, wo sie dann hinfuhren keine interessante oder bedrohliche Sache vor.

"Falscher Alarm oder der Streich eines Wichtigtuers", schimpfte Moses Greenthal, als sie wieder zu ihrem Büro zurückfuhren. Maria Montes hoffte, daß es nur bei einem falschen Alarm bleiben würde. Die bedrückende Erkenntnis, Zeugin eines möglichen Zaubererkrieges geworden zu sein, von dem sie nicht wußte, was dabei noch alles passieren würde, verbunden mit der strickten Anweisung, niemandem was zu verraten, lastete auf ihrer Seele. Konnte es denn wirklich ein Zufall sein, daß sie magische Dinge und Wesen wahrnehmen konnte? War es reiner Zufall, daß sie von ihrer Großmutter dieses Kreuz bekommen hatte? Oder zog der Herr im Himmel an unsichtbaren Fäden, um sie auf etwas einzustimmen, daß sie ausführen mußte?

__________

Zwei waren dem Angriff der unbekannten Dunkelmagier entgangen. Seth Schwarzberg hatte Tyr Cracklebone und Saulus Rippley vor sich, die beide noch rechtzeitig hatten flüchten können. Seth war alles andere als begeistert, daß seine Leute sich derartig problemlos hatten überrumpeln lassen. Außer ihm, seinen Brüdern Hagen und Belial und diesen Beiden Jammergestalten da vor ihm war niemand seines kleinen Clubs großmachtsuchender Zauberer entkommen. Er hatte in Anlehnung des Verständigungssystems des dunklen Lords in England ein Brandmal am rechten Arm seiner Gefolgsleute angebracht, das den schwarzen Adler über einer Bergspitze darstellte, das Familienwappen der Schwarzbergs. Berührten er oder seine beiden Brüder ein silbernes Medaillon mit diesem Wappen, brannte das Erkennungszeichen auf ihren Armen wie loderndes Feuer. Kamen sie nicht innerhalb einer halben Minute zu ihrem Treffpunkt, breitete sich der Schmerz rasch über den ganzen Körper aus und konnte wie der Cruciatus-Fluch zu unerträglichen Qualen anwachsen. Abtrünnigkeit wurde damit so gut wie unmöglich, wußten die Schwarzbergs.

"Ich sah nur diesen riesigen Schattenvogel, Meister Seth. Ich wußte, daß ich nur durch die schnelle Flucht entrinnen würde, wie Sie es gemacht haben. Ich dachte, die anderen wären auch ...", wimmerte Saulus Rippley.

"Nein, du Memme, die anderen haben versucht, diesen Drachenmist zurückzuschlagen, der uns da die Party vermasselt hat. So erweist ihr uns also Loyalität. Da könnten wir ja gleich einen Stall voll Kaninchen gegen unsere Feinde losschicken", polterte Seth. Tyr dachte nur, daß ausgerechnet dieser Zauberer das sagen mußte. Immerhin waren er und seine Brüder doch sofort verschwunden, als der unheimliche Riesenvogel aufgetaucht war und sie in das magische Gefecht verwickelt wurden.

"Du möchtest mir sicher erzählen, Tyr, warum du dich so schnell verdrückt hast, während die anderen gekämpft haben?" Wandte sich Seth Schwarzberg an den mageren Zauberer vor ihm. Tyr nickte kurz, holte tief Luft und erwiderte:

"Ich ging davon aus, daß Ihr euch auf eine aussichtsreichere Position zurückziehen und von dort aus die Lage überblicken wolltet. Ich wollte euch dabei helfen. Doch ich fand euch nicht mehr. Als ich dann von zwei vermummten Gestalten ins Kreuzfeuer genommen wurde, blieb mir nur die schnelle Flucht durch Apparieren. Wo wart ihr?"

"Geht dich nichts an, du Wicht", knurrte Seth, dem die Antwort Tyrs den Wind aus den Segeln genommen hatte. Er konnte jetzt nicht mehr sagen, daß seine Brüder und er auf eine bessere Ausgangsposition appariert waren. Außerdem hätte Tyr dann ja sehen müssen, ob sie in den Kampf noch eingegriffen hätten.

"Was ist denn mit den anderen?" Fragte Saulus vorsichtig. "Wieso sind die nicht hier?"

"Die sind überwältigt worden, weil sie wohl durch Feiglinge wie euch in Unterzahl geraten sind. Wer immer das war, sie wußten genau, wann wir wo zu finden sind. Könnte es sein, daß jemand von uns ein Verräter ist?" Fragte Seth und blickte erst Tyr und dann Saulus tief in die Augen. Er spürte bei beiden den Drang, etwas zu verheimlichen. Triumphierend blickte er noch tiefer in Tyrs Augen. Dieser versuchte, seinem Blick auszuweichen. Seth war nun mehr denn je entschlossen, mehr von ihm zu erfahren. "Erzähl mir doch, was dich bedrückt, Tyr. Ich werde dann gnädig zu dir sein", sagte er.

Tyr Cracklebone bäumte sich innerlich auf. Seth konnte spüren, wie der Wille seines untergebenen an Stärke zunahm. Dann sagte Tyr:

"Ich bin kein Verräter, Meister Seth. Das war schon immer so und wird auch so bleiben."

"Ach ja?" Fragte Seth Schwarzberg belustigt. Dann konzentrierte er sich und dachte "Legillimens!" Er gehörte zu den wenigen Zauberern, die diese weithin unbekannte weil an vielen Schulen nicht erwähnte Magie erlernt hatten. Er konnte es sogar so gut, daß er dazu keinen Zauberstab brauchte. Doch als er versuchte, in die tieferen Schichten von Tyr Cracklebones Geist einzudringen, prallte er mit Urgewalt auf eine bunt schillernde Barriere. Er wußte, was das hieß. Jemand hatte Tyr einen starken Gedächtniszauber verpasst. Also mußte jemand ihn in die Finger bekommen haben, um ihn gegen die Schwarzberg-Brüder einzusetzen.

"Sieh an, Tyr, du magst kein freiwilliger Verräter sein. Aber ein Verräter bist du wohl", lachte Seth schwarzberg und versuchte, die Gedächtniszaubersperre zu durchbrechen, was für Tyr in zunehmenden rasenden Kopfschmerzen ausuferte. Doch der Zauber über Tyrs Gedächtnis war zu stark für Seht. Statt ihn zu durchbrechen verlor er sich in einem wilden Labyrinth aus Bildern und Geräuschen. Er sah düstere Kreaturen auftauchen, ihn mit gefletschten Zähnen anknurren und wieder verschwinden, raste durch feurige Tunnel und stürzte in einen lodernde Flammen schlagenden Abgrund hinab.

"Die Siegel der Hölle", dachte Seth. Er glaubte zwar nicht so recht an jene düstere Welt, in der die Seelen böser Menschen grausam für ihre Synden bestraft wurden. Aber er kannte Gedächtniszauber, die jedem Legilimentoren verwehrten, den von ihnen durchdrungenen Geist zu durchforschen, indem sie Angst erzeugende Bilder und Klänge vorgaukelten, die die nötige Konzentration störten.

"Jemand ganz mächtiges hat dich gegen uns geschickt. Könnte es sein, daß ihr beide nicht geflohen seid, sondern daß jemand euch für einen bestimmten Fall präpariert hat?" Fragte Seth und sah Saulus an. Dieser zog urplötzlich seinen Zauberstab und richtete ihn auf Seth.

"Avada Kedavra!" Rief er. Seth konnte noch zur Seite hechten, bevor ein gleißend grüner Blitz aus dem Zauberstab fuhr und in den gemütlichen Sessel einschlug, wo der älteste der Schwarzberg-Brüder gerade eben noch gesessen hatte. Das Sitzmöbel sprang förmlich nach hinten, schüttelte sich und zerfetzte sich dann in hundert kohlschwarze Einzelstückchen.

"Stupor!" Rief Tyr Cracklebone. Der Zauber traf Saulus Rippley voll und schockte ihn.

"Was wird das jetzt?" Keuchte Seth, der noch neben dem zerstörten Sessel hockte, den eigenen Zauberstab jetzt aber kampfbereit hielt.

"Er wollte dich umbringen, Meister", antwortete Tyr sogleich.

"Habe ich mitgekriegt. Aber den hätte ich auch alleine abwehren können. Ich weiß nicht, ob du nicht auch versuchst, mich umzubringen, wenn ich dich ließe. Imperio!"

Seths Zauberspruch traf Tyr wie ein Keulenschlag am Schädel. Er rutschte benommen aus seinem Sessel. Seth sah ihn verblüfft an. Dieser Zauber sollte den Willen unterwerfen aber nicht den ganzen Mann betäuben. Er hatte diesen Zauber schon hundertmal ausprobiert und nie sowas dabei hinbekommen wie jetzt.

"Was bei Durecores Großmutter", schnaubte der älteste Schwarzberg-Bruder und sah Tyr noch mal genau an. Ja, langsam kam er wieder zu sich. Also hatte der Fluch ihn nicht ernsthaft geschockt.

"Wenn du diesen Fluch wirkst, mein Sohn, kann es passieren, daß du gegen einen bereits wirksamen Imperius ankämpfst. Wenn das passiert, kann dein Ziel für einen Moment ohnmächtig werden, weil die beiden Flüche sich im Geist austoben. Außerdem können mächtige Gedächtniszauber jede Erinnerung, die durch Imperius hervorgeholt werden soll, schmerzhaft unterdrücken", hörte Seth die Stimme seines Vaters Iranus in seinem Verstand widerhallen. Vor dreißig Jahren hatte dieser ihm und seinen beiden anderen Söhnen die dunklen Künste beigebracht, die sie in Thorntails auch im Haus Durecore nicht hätten lernen können. Ja, das war es also, dachte Seth. Er hatte gegen mindestens einen gegnerischen Imperius angekämpft und Tyr dabei außer Gefecht gesetzt. Er versuchte es noch mal.

"Imperio!"

Tyr sah mit glasigem Blick zu seinem Herrn und Meister auf und krümmte sich unter starken Schmerzen. Doch er blieb diesmal bei Bewußtsein, sodaß Seth ihm den Befehl erteilen konnte, sich zu erinnern, was genau passiert war. Tyr Cracklebone verkrampfte sich, stöhnte und warf seinen Kopf hin und her. Seth fühlte den Zauberstab in seiner Hand leicht vibrieren. Die Kraft des unverzeihlichen Fluches rüttelte an der inneren Mauer, die wer auch immer hochgezogen hatte. Er mußte nun durchhalten, diese Mauer niederreißen, damit er endlich zum Ziel kam. Er wußte, daß er hier gegen einen mächtigen, sehr kundigen Gegner ankämpfte, der genau wußte, wie stark die Schwarzberg-Brüder waren. Der Zauberstab in seiner Hand wackelte nun wie ein Ast im Sturm. Seth fügte seinem Imperius noch einen Memorevelatus-Zauberspruch hinzu, der gezielt Erinnerungen ins Bewußtsein des Bezauberten zurückrief. Er befahl und beschwor, daß sich Tyr an alles erinnerte, was während des Kampfes passierte. Mit einem lauten Schrei, schrill und schmerzhaft, sprang Tyr zurück, von Krämpfen geschüttelt, die Augen bedrohlich aus dem Kopf quellend. Dann sackte er zu Boden, röchelte, stöhnte, wimmerte. Dann rief er nur ein Wort.

__________

Es war für die junge aber schon weit gediehene Heilerin Aurora Dawn ein Bild des Schreckens, als sie mit vier anderen australischen Heilmagiern im Haus der Shadelakes stand und vor sich eine mehrere Meter durchmessende glibberige, zähflüssige Pfütze aus einer rosigen Substanz ausgebreitet sah, in der von Zeit zu Zeit grau-weiße Stränge umherschwammen. Das Gebilde pulsierte wie ein langsam schlagendes Herz. Es schien, als würde die ganze grausige Brühe leicht eingesogen und dann wieder ausgestoßen. Doch nirgendwo war etwas oder jemand zu erkennen, der das bewirkte.

"Das ist ja grauenhaft", sagte einer der vier anderen Heiler und sprach damit allen aus der Seele. "Waren das lebende Menschen?"

Ein Scheinfüßchen stülpte sich aus der zähflüssigen Masse, streckte sich zwei Meter lang aus und schlug mit einem ekelhaften Schmatzgeräusch zurück in die pulsierende Pfütze.

"Von sowas habe ich in den Weltraumphantasien der Muggel was gelesen", sagte Aurora Dawn zu einer Kollegin mit grauem langem Struwelhaar. Maura Woodberry, diese Kollegin, sah Aurora Dawn an und fragte besorgt:

"Sind die Muggel wirklich solche Angstsüchtigen, die gefährliche Begebenheiten und grausame Handlungen zur Unterhaltung nutzen?"

"Teilweise schon, Maura", sagte Aurora Dawn. Sie dachte an ihre Schulfreunde aus Hogwarts, die sie nun seit einigen Jahren nicht mehr direkt gesehen hatte. Sie dachte an den Jungen Julius Andrews, den sie seit nun bald drei Jahren gut kannte und ihm gerne half, sich in der Zaubererwelt zurechtzufinden und der nun wegen schwerer Meinungsverschiedenheiten seiner Eltern in Beauxbatons lernte. Er hatte ihr mal erzählt, was Muggel so über andere Welten erzählten und wie sie sich über Zauberei und magische Vorgänge ausließen.

"Stimmt, sie hatten es mir mal erzählt, was Ihnen der junge Mr. Andrews erzählt hat. Aber ich fürchte, dieses Gebilde da vor uns dürfte selbst den abgestumpften Verstand eines Gewaltszenen verehrenden Muggels übersteigen. Ich hätte nie geglaubt, daß dieser mächtige Fluch jemals wieder gewirkt würde", sagte Maura Woodberry.

"Was ist mit den vier Leuten, die hier noch gefunden wurden?" Fragte Aurora Dawn.

"Die sind von mehreren sich verwirrenden Körperveränderungsflüchen getroffen worden. Ich denke, hier hat es einen Angriff auf die Shadelakes gegeben. Sie sind bereits in der Sana-Novodies-Klinik untergebracht. Sie kennen ja Bethesda Herbregis persönlich. Die wird schon alle auf Trab halten, die Flüche einzeln auseinanderzusortieren. Klar ist wohl nur, daß hier mehrere Angreifer gleichzeitig zugeschlagen haben."

Natürlich kannte Aurora Dawn Bethesda Herbregis. Sie war ihre Ausbilderin hier gewesen, als sie nach Hogwarts direkt übersiedelte und hier die magische Heilkunst mit allen Schikanen und Rafinessen erlernt hatte.

"Hmm, wer könnte sowas machen?" Fragte Aurora Dawn.

"Das möchte ich auch gerne wissen", antwortete eine Frauenstimme hinter Aurora Dawns Rücken. Sie drehte sich schnell um, daß ihr langes schwarzes Haar wild wogte. Sie sah direkt in ein smaragdgrünes Augenpaar, das jeder Zauberer und jede Hexe Australiens kannte. Vor ihr stand Latona Rockridge, die amtierende Zaubereiministerin. Hinter ihr hatten sich vier Zauberer in den dunkelroten Umhängen der australischen Auroren aufgebaut, die mit einsatzbereiten Zauberstäben in den Händen umherblickten.

"Oh, Frau Ministerin, Sie sind aber schnell hergekommen."

"Meine Leute mußten erst klären, ob hier eventuelle Fallen eingerichtet sind, Aurora. Sie wissen ja, daß die Shadelakes wußten, daß sie nicht nur beliebt waren", antwortete die Ministerin und zupfte sich am smaragdgrünen Umhang.

"Nachdem, was die Incantimeter-Prüfung ergeben hat, Frau Ministerin, haben hier wirklich einige stationäre Zauber gewirkt. Doch offenbar sind die alle ausgelöst und dann verdrängt worden", sagte einer der Heilmagier, der gleichzeitig Fluchabwehrexperte war und Zauberfallen und magische Bomben ebenso entschärfen konnte wie durch natürliche oder magische Vorgänge verletzte Menschen heilte. Ihm hatten es die Anwesenden auch zu verdanken, daß die Apparitionsmauer beseitigt worden war, die das Anwesen geschützt hatte.

"Dann ist es also wahr, daß jemand einen erfolgreichen Schlag gegen die Shadelakes geführt hat", stellte die Ministerin fest, und Aurora Dawn hörte weder Furcht noch Bedauern in der Stimme, sondern nur eine kalte Erkenntnis.

"Na ja, sie haben sich ja nicht um den Titel "Beliebteste Zaubererfamilie" gerissen", warf ein weiterer Heilmagier ein, den Aurora Dawn nur zweimal bei Konferenzen getroffen und nie sonderlich beachtet hatte.

Mit lautem Knall apparierte eine Hexe in himmelblauem Kittel mit einer gleichfarbigen Haube auf dem Kopf. Auf dem Bauchteil des Kittels prangte eine goldene Sonne über einem aufwärtsgerichteten pausbäckigen Gesicht. Die Hexe hatte silberblondes Haar bis zur Schulter, das hinter dem Nacken in einem eleganten Knoten verschlungen war. Sie trug eine silberne Brille mit kreisrunden Gläsern und hielt unter dem linken Arm eine große Ledertasche und in der rechten Hand einen Kiefernholzzauberstab.

"Bedauerlich, jetzt erst persönlich erscheinen zu können, Frau Ministerin, aber ich mußte die Behandlung der Fluchopfer deligieren, die hier noch gefunden wurden. Ich möchte von Ihnen wissen, wie wir mit den ireversibel geschädigten Leuten hier verfahren sollen", sagte sie und deutete auf die glibberige Pfütze, die unbeeindruckt von allem hier weiterpulsierte und zwischendurch ein willkürlich ausgreifendes Scheinfüßchen ausbildete, das jedoch nach einer Sekunde wieder in die ausgedehnte Masse zurückschwappte.

"Sie glauben also auch, Bethesda, daß die Opfer dieser Verfluchung unrettbar sind?" Fragte Ministerin Rockridge sehr ernst klingend, wohl darüber im Klaren, gleich eine Entscheidung über Leben oder Tod fällen zu müssen.

"Ministerin, ich bin nun seit fünfzig Jahren aprobierte Heilerin mit vier goldenen Krautbüschelauszeichnungen der internationalen Heilmagierzunft. Ich habe diesen Fluch bis heute nur einmal in Natura erlebt und ansonsten nur darüber gelesen, daß er je länger er vorhält noch unumkehrbarer wird, da hier eine ständige Durchdringung von Körpermasse und Geistessplittern vorliegt. Ich kann Ihnen die Entscheidung nicht abnehmen, Ministerin, aber ich muß Ihnen sagen, daß wir die beiden miteinander verschmolzenen aber dabei völlig aufgelösten Patienten nicht mehr retten können", sagte die altehrwürdige Hexe Bethesda Herbregis.

"Hmm, ich kann sie nicht einfach für tot erklären, weil dieser Fall bislang nicht im Gesetz erwähnt wurde. Allerdings ist das da vor uns wohl keine eigenständige Lebensform mehr. Das ist brutal, jemandem eine derartige Entscheidung aufzubürden", seufzte Mrs. Latona Rockridge. Dann sagte sie mit kraftvoller Stimme:

"Da sie weder tot noch lebendig sind, dem Gesetz nach also weder den Verordnungen zur Gewährung der Totenruhe unterliegen noch als schützenswerte Lebewesen zu behandeln sind verfüge ich, daß die magischen Heilinstitute dieses Landes die Genehmigung haben, dieses Gebilde dort zu erforschen und zu ergründen, wie es entstanden ist und für eventuelle Rückverwandlungsversuche zu benutzen. Ich weiß, diese Entscheidung ist ethisch sehr bestreitbar. Allerdings möchte ich sicherstellen, daß alles getan werden kann, um im Wiederholungsfall diese grausame Verunstaltung von Menschen zu beheben oder gar zu verhindern. Danke für Ihre Aufmerksamkeit!"

Ein Beamter der Ministerin hatte die Erklärung mitgeschrieben und würde sie in die Tagesprotokolle einsortieren.

"Im weiteren befehle ich Kraft meines Amtes zum Schutze der öffentlichen Ordnung jede Veröffentlichung dieses Vorfalls in allen bekannten Nachrichtenverbreitungsmedien der Zauberer- und der Muggelwelt. Das Verschwinden der Shadelakes wird mit einer Reise auf unbestimmte Zeit begründet. Dieser Befehl tritt rückwirkend zum Zeitpunkt des Fundes in Kraft und bleibt bis auf Widerruf durch mich oder meinen Amtsnachfolger in Kraft. Danke für Ihre Aufmerksamkeit!"

Ein leises Raunen hob an, in dem die Heilmagier die Chefin der Sana-Novodies-Klinik ansahen, die eiskalt und ohne erkennbares Gefühl befahl, die große zähflüssige Masse am Boden restlos und nach Möglichkeit ohne sie zu trennen aufzusammeln und in die Forschungslabore ihrer Klinik zu bringen. Bald war eine riesige Zinkwanne herbeigeschafft, in die das abscheuliche Gebilde, das früher mal ein hochnäsiges, geachtetes wie gefürchtetes Geschwisterpaar gewesen war, hineinbugsiert wurde. Per Apparieren wurde die gefüllte Wanne fortgebracht. Bethesda Herbregis wandte sich noch an Aurora Dawn.

"Das ist die Schattenseite unserer Arbeit, Kind. Wir stehen manchmal vor den schlimmsten Sachen und können nur zusehen, wie sie passieren, obwohl wir den Eid geschworen haben, jedem magischen Menschen beizustehen, ohne Ansehen von Herkunft, Alter oder Sympathie. Ich fürchte, Kind, daß die beiden Shadelakes eine Überdosis ihrer eigenen Medizin erhielten und die Nebenwirkungen nicht vertrugen. Falls dich die Untersuchungen an dem interessieren, was von ihnen geblieben ist, schicke mir ruhig diesen Lachtölpel zu, der meine Lernheilerinnen so amüsiert hat."

"Ich werde heute abend erst einmal Träum-gut-Tee trinken, Madame Herbregis", sagte Aurora Dawn dazu nur. Ihre Ausbilderin lächelte verständnisvoll und disapparierte, nachdem sie sich von der Zaubereiministerin verabschiedet hatte.

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Richard war die Arbeit langsam zu viel. Er sehnte sich nach seinen Leuten in London zurück, seinem Traumteam. Er wußte nach nun zwei Wochen in dieser Projektgruppe nicht einmal zu sagen, was ihn mehr störte, der ständige Selbstüberbietungswahn seiner Mitarbeiter, die gierig auf die Fehler der anderen lauerten und sich gerne in den Vordergrund zu spielen trachteten, daß ihn die Untergebenen gegeneinander auszuspielen versuchten und dann, wo sie merkten, daß er auf dieses Spielchen keine Lust hatte, geschlossen gegen ihn aufbegehrten, ihm nicht mehr unvoreingenommen folgten oder sogar offene Kritik an seiner Projektführung äußerten. Konnte es wirklich sein, fragte sich Richard immer wieder, daß er als Forschungsleiter bei Omniplast wie eine Made im Speck gelebt und die rauhe Welt der wissenschaftlichen Karriere seelenruhig vergessen hatte? Mochte es angehen, daß er nur weil er Engländer war hier in diesem Land nicht gut angeschrieben war, oder zielten die ausgesuchten Chemiker darauf ab, seinen Posten zu ergattern?

Für ihn stand fest, daß er lieber in einem einsamen Haus wohnen würde als in dieser hektischen, ja überdrehten Riesenstadt länger als nötig zu bleiben. Das einzige, was ihm Trost und neue Energie gab, waren die Wochenenden mit Loretta Hamilton, die er abwechselnd bei ihr und bei sich verbrachte. Als er jedoch in der vorletzten der angesetzten vier Wochen von seinem Kollegen Vierbein gefragt wurde, ob sein Elan unter dieser rothaarigen Frau litte, die sich ruhig und sachlich gab aber wohl viel Feuer unterm Kessel hatte, fragte Richard barsch zurück:

"Könnte es angehen, daß Sie mir nachspionieren und sich für Sachen interessieren, die Sie nichts angehen, Doktor Vierbein?"

"Oh, habe ich ein empfindliches Geheimnis berührt? Tut mir aber leid", heuchelte Vierbein Betroffenheit, konnte sich aber ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Er sagte dann: "Nun, ich lege es nicht darauf an, meine Vorgesetzten in irgendeiner Weise zu diskreditieren, Sir. Ich möchte lediglich davon überzeugt sein, daß mein Vertrauen auch berechtigt ist und ich nicht zu voreilig auf jemanden Eingehe."

"Will sagen, um zu testen, wem Sie vertrauen sollen, müssen Sie erst einmal alles über ihn oder sie rausfinden, nicht wahr. Ich dachte das wären Methoden aus dem Ostblock", erwiderte Richard Andrews und sah den Experten für metallische Verbindungen sehr ernst an. Dieser widersprach sogleich:

"Ich habe Ihnen nicht nachspioniert, Sir. Ich habe lediglich in der Gegend, in der diese Dame wohnt zu tun gehabt, auch privat. Ich wunderte mich nur, daß ich Sie eine woche Später im Restaurant mit jener Person flirten sah, Sir."

"Sie haben Familie?" Fragte Richard Andrews bedrohlich dreinschauend. Vierbein schüttelte den Kopf.

"Sehen Sie, ich seit dem Sommer auch nicht mehr. Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig, was ich mit wem in meiner freien Zeit unternehme, ebensowenig wie Sie, Doktor Vierbein. Es wäre also sehr kollegial, wenn wir uns gegenseitig mit privaten Dingen nicht behelligen würden. Ich bin in einer Woche wieder fort. Dann ist das Projekt abgeschlossen, und Sie werden wohl einen anderen Auftrag erhalten, wie ich auch. Machen wir uns das Leben nicht sonderlich schwer."

Vierbein grinste nun unverhohlen zufrieden. Konnte es sein, daß er den im wahrsten Sinne des Wortes Vorgesetzten an einer empfindlichen Stelle packen konnte. Wie würde Elvira Walker das hinnehmen, die in den vergangenen zwei Wochen versucht hatte, sich um diesen Engländer zu bemühen? Doch er schwieg. Im Grunde genommen sollte es ihm wirklich egal sein. Sein Honorar berechnete sich auch ohne diesen Büromenschen, der wohl lange in keinem Labor mehr als nötig herumgestanden hatte.

Richard beruhigte sich jedoch schnell wieder. Wenn Vierbein was ausplauderte würde er ganz nüchtern sagen, daß er eben seine Freizeit besser zu verleben wußte als dieser. Außerdem würde es ihn nicht gleich den Job kosten, nur weil er mit einer Landsmännin mehr als zärtliche Blicke austauschte. Als er abends mit Loretta telefonierte, lachte sie nur amüsiert und meinte:

"Es ist wohl blanker Neid, der deinen Gehilfen umtreibt. Dabei weiß er nicht einmal, was genau zwischen uns vorgeht, Richard. Ich würde mir um diesen Mann keine großen Gedanken machen."

"Das mache ich sowieso nicht, Loretta. In anderthalb Wochen geht's zurück nach England. Sicher werden die mich da fragen, ob es nicht besser hätte laufen können, aber ich werde auf jeden Fall was vorweisen können. Gut, daß ich die Projektunterlagen sicher untergebracht habe."

"Du hast Angst, jemand könnte sie fortschaffen, um dich schlecht dastehen zu lassen?" Fragte seine neue Bekannte.

"Ich unterschätze nicht die eigenen Ansprüche von Leuten, die einen Doktor im Namen führen. Ich wollte nur sagen, daß ich besser schlafen kann, weil ich weiß, daß die Unterlagen da sind, wenn ich sie brauche."

"Du sagtest, in anderthalb Wochen kehrst du nach England zurück?" Fragte Loretta.

"Ja, genau, Loretta. Dann kann ich wieder in London weiterarbeiten, wo ich weiß, wer wie zu mir steht und auch das tut, was ich ihm oder ihr sage."

"Ich weiß ja nicht, was ich hier noch tun soll. Amerika gibt bald nichts archäologisch wertvolles mehr her. Präkolumbianische Kultstätten und Artefakte sind ja schon zu großen Teilen erforscht. Sehen wir uns denn noch vorher?"

"Bestimmt", sagte Richard und dachte noch "Hoffentlich" hinterher.

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Bachus Vineyard war ein kleiner, kugelrunder Zauberer mit einem ziegelroten Haarkranz und freundlichen aber wachen grauen Augen. Er trug immer eine hellgrüne Schürze, wenn er in seinem Gasthaus, dem Betrunkenen Drachen, von morgens fünf bis nachts um eins werkelte und bediente. Gäste aus allen Teilen der amerikanischen Zaubererwelt kamen zu ihm, wenn sie hier in den Südstaaten der USA länger zu tun hatten. Er war jedoch auch die zentrale Nachrichtenbörse und Seelenmülldeponie der englischsprachigen Zaubererschaft dieses Kontinents. Bei ihm kehrten alle ein, die nichts anrüchiges suchten oder die einfach mal wieder unter Leute gehen wollten. Seit den dreißig Jahren, die er diesen Gasthof schon von seinem Großvater übernommen hatte, waren einige Stammgäste von ihm durch Thorntails oder Dragonbreath gegangen und hatten danach Karriere in der Zaubererwelt gemacht. Er freute sich, daß sie trotzdem immer wieder Zeit und Lust hatten, ihn und seine Frau Philomena zu besuchen. Auch war er stolz, in erlesener Nachbarschaft zu wohnen. So hatte seine ehemalige Verwandlungslehrerin Maya Unittamo hier ihr "drittes Wohnzimmer", wie sie oft mit großmütterlichem Lächeln bemerkte. Ebenso kam die nette Jane Porter oft vorbei, um mit einigen Hexen aus anderen Gegenden zu schwatzen oder Schach oder Karten zu spielen.

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Im Moment war Jane Porter zusammen mit einer jungen Hexe namens Beryl Corner da, einer rank und schlank gewachsenen Zwanzigjährigen, die wohl in der Ausbildung für einen Job beim Laveau-Institut zur Erforschung und Abwehr dunkler Zauber aller Kulturkreise steckte. Sie hatte hellblondes Haar und dunkelgrüne Augen und trug einen mit bunten Herbstmotiven bestickten Umhang aus weißer Warmwolle über einem meergrünen Kleid. Sie trank wie Jane Porter, ihre "Wegführerin", wie das bei den Laveau-Leuten hieß, eine große Tasse Kaffee mit Kandiszucker. Jane Porter war dafür bekannt, neue Mitarbeiter wie eigene Kinder zu behandeln, sie zu führen und zu behüten. Deshalb sah die untersetzte Hexe mit den graublonden Locken und dem geblümten Kleid sehr mahnend einen jungen Burschen an, der Beryl schelmische Blicke zuwarf.

"Hi, Jane. Was sind Sie heute, nette Dame, Anstandshexe oder Ausbilderin?" Fragte Bachus mit jungenhaftem Lächeln auf dem rosigen Mondgesicht. Jane Porter nickte dreimal. Offenbar sollte das heißen, daß sie alles zusammen war.

"Beryl hatte gestern einen anstrengenden Tag, und wir wollten es ruhiger angehen lassen. Im Moment ist es mir zu ruhig auf dem Kontinent. Ich bin mir sicher, wir kriegen demnächst einen mächtigen Sturm, der nichts mit dem Wetter zu tun hat."

"Madame Porter meint, daß die Verehrer der dunklen Künste warten, ob sie von irgendwoher einen Auftrag kriegen", warf Beryl mit glockenheller Stimme ein. Bachus zuckte die Achseln und fragte:

"Wie meint die junge Dame das, Jane. glauben Sie wirklich an die Rückkehr von Sie-wissen-schon-wen?"

"Glauben heißt, nicht wissen, Bachus. Ich glaube es nicht, daß er wieder da ist", sagte Jane Porter sehr ernst klingend. Bachus kannte die Liebe zu Wortspielen bei Mrs. Porter. Er sah sie verstört an, lachte dann laut und künstlich und meinte:

"Wie Sie meinen, Jane. Außerdem steht ja nicht fest, daß der, wenn er sich wieder berappeln sollte, zu uns rüberkommt, bevor er nicht in seiner Heimat alles kurz und klein gehauen hat. Nicht wahr?"

"Oh, das möchte ich so nicht bestätigen, Bachus. - Setzen Sie sich doch eine Weile zu uns, wenn Ihre Zeit es erlaubt!" Erwiderte Jane Porter.

"Geht leider im Moment nicht, weil ich nachher noch eine Gruppe Bugbear-Fans erwarte, die hier zwischenhalten wollen, bevor sie in die Sümpfe zum Stadion wollen. Die Bayoo Bugbears spielen ja heute noch gegen die Sacramento Slingshots", sagte Bachus. Den letzten Teil konnte ein bärtiger Haudegen von Zauberer mithören, der mit drei Freunden oder Kollegen einen ausgiebigen Morgenumtrunk veranstaltete. Er wandte sich um und rief:

"Glaubst du, daß die Bugbears die Slingshots im Sumpf versenken oder selbst baden gehen, Bachus?"

"Wenn die McDuffy bei den Slingshots wieder den Vorblocker spielt könnten unsere Jungs sehr nass werden und nachher mit leeren Töpfen nach Hause fliegen. Aber ich denke Boris Rockwell kann sie gut neutralisieren!" Rief der Wirt zurück.

"Patty McDuffy ist noch bei den Slingshots? Ui, das könnte interessant werden, wie die jetzt drauf ist", meinte Beryl Corner.

"Wenn die einen heißen Quod in der Hand hat ist die nur im Spiel, Beryl", flüsterte Mrs. Porter zurück. "Ich gehe sogar davon aus, daß die unsere Ermittlung schnell wieder vergessen hat." Laut rief sie dann: "Wenn Sie schon lange Ohren machen, Freddy, dann können Sie mir doch zumindest sagen, warum das Flohpulver wieder so teuer geworden ist? Ich ging davon aus, daß die Qualität den bisherigen Preis wert ist."

"Jane, ich fürchte, das hat eine andere Sektion im Floh-Regulierungsrat verzapft. Ich muß ja auch die zwei Sickel pro Pfund mehr hinlegen, wenn ich zu meiner Lieblingsschwiegermutter will!" Rief der bärtige Zauberer zurück. Seine Zechbrüder lachten laut. Einer fragte, welche von den zehn die er schon hatte er denn meine. Darauf sagte er nur laut: "Die die mich noch sehen will, Jack."

"Ja, stimmt, da gibt's im Moment ja nur eine", bemerkte der zweite Zechbruder Freddys. Dann lachten sie alle.

"Hätte ja sein können, daß Sie das wissen, Freddy", meinte Jane Porter noch und mußte grinsen.

Die Tür flog auf und ein kleiner Junge rannte herein.

"Eh, hallo, draußen liegt was ganz gruseliges rum. Kann jemandmal rauskommen?!" Rief der wohl fünf Jahre alte Junge.

"Ein Haufen Drachenscheiße?" Fragte Freddy und mußte mit seinen Zechbrüdern lachen. Jane Porter räusperte sich sehr laut, stand zusammen mit Beryl auf und blickte den Jungen an.

"Ich komm mit dir raus und seh mir das mal an, Gideon. Was ist es denn?"

"'n nackter Mann ohne alles!" Rief der Junge und schüttelte sich vor Ekel.

"Bitte?" Fragte Freddy. Jane Porter sah ihn sehr streng an und bedeutete ihm und allen anderen Gästen, erst einmal sitzenzubleiben. Dabei wirkte sie so gebieterisch, daß selbst die trinklustigen Zauberer um den Floh-Regulierungs-Angestellten kuschten.

Gideon führte die beiden Laveau-Hexen auf die Straße. Er deutete nach rechts und sah ängstlich die breite Kopfsteinstraße entlang. Tatsächlich lag da etwas großes, fleischfarbenes. Jane ging vor, während Beryl sich in der Nähe des Jungen hielt, der mit jedem Meter vorwärts langsamer wurde, als würde er blei in den Füßen haben.

Jane Porter sah sehr verwundert auf das Objekt. Es sah tatsächlich wie ein nackter Männerkörper aus, allerdings ohne Kopf und Gliedmaßen. Sie trat näher und begutachtete den Fund. Sie starrte auf den sanft pulsierenden Körper vor sich auf dem Kopfsteinpflaster, sah sich genau um und zog dann ihren Zauberstab. Beryl trat schüchtern auf ihre Wegführerin zu und sah genau, was sie machte.

Bei einer von innen nach außen geführten Spiralbewegung des Zauberstabes murmelte Jane "Revelo Umbroriginis!". Zwischen dem Stab und dem am boden liegenden Etwas knüpfte sich ein goldener Lichtfaden, der sich schnell zu einem lebensgroßen, rotgoldenen Schattengebilde auswuchs, das einen erwachsenen Mann mit Kopf, Armen und Beinen zeigte. Jane sah genau hin, ob sie das leicht verschwommene Gesicht erkennen konnte, bevor das Gebilde nach nur drei Sekunden in fünf einzelne Teile zerfiel und sich in roten Rauch auflöste. Jane schüttelte mißbilligend den Kopf.

"Offenbar ein sehr heftiger Körperveränderungsfluch, der jede Originalbestimmung schnell zerstreut", sagte sie Beryl zugewandt. "Aber ich bin mir sicher, wen erkannt zu haben."

"Wen denn?" Fragte Beryl.

"Später im Zentralbüro", zischte Jane Porter und sah sich um. Da kamen bereits zwei Zauberer in den Umhängen der Strafverfolgungstruppe Südstaaten und betrachteten den sanft pulsierenden Torso. Einer von ihnen zog seinen Zauberstab und vollführte denselben Zauber wie Jane Porter. Auch für ihn entstand der rotgoldene Schatten eines vollständigen Mannes, der jedoch nur zwei Sekunden vorhielt und dann erst in seine Einzelteile zerfiel und dann verrauchte.

"Das ist ja heftig. So eine Reaktion ist mir nicht bekannt", sagte der Zauberer verdutzt dreinschauend. Jane Porter nickte ihm zu und nahm ihn bei Seite.

"Ich vermute, es handelt sich um einen Fluch, nicht im eigentlichen um eine Verwandlung. Weil offenbar die restlichen Körperteile fehlen, ohne daß dieser Mann hier richtig tot ist, zerstreut sich der Urformschatten so schnell wieder."

"Was für ein Fluch soll das sein?" Fragte der Zauberer sichtlich verlegen, weil er offenbar was wichtiges nicht mitbekommen hatte.

"Könnte ein Zergliederungsfluch aus dem phönizischen Reich sein. Er ist in alten Büchern der magischen Martern beschrieben. Offenbar geht's jetzt doch los, Rob."

"Fürchte, Sie haben recht, Jane", erwiderte der Zauberer betreten und winkte seinem Kollegen, den kopf- und Gliederlosen Körper fortzuschaffen. Jane Porter sah zu Beryl Corner hinüber und flüsterte:

"Wir müssen sofort ins Zentralbüro, Beryl. Begib dich schon mal dorthin! Ich bezahle unsere Zeche bei Bachus."

Beryl nickte bestätigend und disapparierte mit lautem Knall. Jane Porter sah sich noch mal um. Ein kleines Mädchen starrte auf die Strafverfolgungszauberer. Für einen winzigen Moment glaubte sie, den Schatten eines Mannes zu sehen. Doch das war wohl nur eine Täuschung. Sie ging zurück zum betrunkenen Drachen, zahlte das Frühstück und verließ den Schankraum zu Fuß, um vor der Tür auch zu disapparieren.

"Ich dachte, in den Laden von Jane könne man nicht reinapparieren", meinte Freddy. Sein Zechbruder Jack sagte nur:

"Freddy, die wird nicht gleich dahin apparieren. Die muß wohl vorher anderswo hin, um dann loszufliegen. Natürlich kann man bei den Laveaus nicht reinapparieren oder rausdisapparieren. Ist wie bei Thorntails auch. Die haben keine Fleximauer hochgezogen wie die im Ministerium, sondern 'ne richtig dicke Dauermauer."

"Klar, wegen der bösen Onkels, gegen die sie kämpfen", sagte Jack.

"Und Tanten", fügte Jack hinzu.

Tatsächlich apparierte Jane Porter nicht gleich im Zentralbüro, das durch einen Tarnzauber verhüllt im Sumpfland von Bayoo lag. Sie kam in einer Art Garage an, in der hunderte von Besen mit silberner Lackierung und silbrigen Schweifen in je drei Halteringen an den Wänden hingen. Beryl war schon hier und löste gerade die drei massiven Halterungen des Besens links von Jane. Sie zog ihn hervor und grüßte ihre ältere Berufskollegin.

"Nehmen wir den?" Fragte die junge Hexe und deutete auf den Besen. Jane Porter nickte. Sie ging zu ihrer jüngeren Mitarbeiterin und saß vor ihr auf dem schlanken Besen auf. Beryl legte ihre Arme um die üppige Taille der älteren Hexe und stieß sich mit ihr zusammen ab. Von ganz allein klappte blitzartig eine Flügeltür in fünf Metern Höhe auf, ließ sie hinausfliegen und klappte dann wieder zu. Der Besen und seine zwei Reiterinnen waren unsichtbar. Denn die Silberlackierung und der Schweif, in dem Demiguisenhaare eingeflochten waren, legte ein Unsichtbarkeitsfeld um Besen und Flieger. In hohem Tempo raste das Tandem aus Jane Porter und Beryl Corner von jenem grünen Hügel fort, unter dem der Besenhangar des Laveau-Institutes lag, und der nur für Mitarbeiter dieser berühmten Einrichtung betretbar war. Wäre jemand unbefugtes unbegleitet dort eingedrungen, wäre er oder sie auf der Stelle in einen Erstarrungsbann geschlagen worden, bis jemand vom Institut ihn gefunden hätte. Selbst die schwärzesten Magier hätten nicht so schnell was dagegen machen oder sich davor schützen können, denn außer diesem stationären Fluch wurde jeder andere Zauber außer Apparitionen geschluckt.

Über die Sümpfe südlich der Jazz-Metropole New orleans ging es zu einem unauffälligen Punkt, den nur die Berufenen fanden. Im Steilflug brachte Jane Porter den Besen hinunter, bis sich vor ihr ein Tor aus silbernem Licht auftat und sie durchließ. Dann landete sie auf einem Gelände mit vier Häusern und einem großen Park mit Zierteich und Springbrunnen, welcher jedoch im Moment nicht in Betrieb war. Im großen roten Backsteinbau war die Zentrale des Institutes. Alle führenden Mitarbeiter hatten hier ihre Einzelbüros. Daneben gab es Gasträume, großzügige Badezimmer und Speisesäle, sowie einen Panoramakonferenzraum, in dem Wände und Decke so bezaubert waren, daß der Eindruck entstand, unter freiem Himmel um einen Tisch zu sitzen. Jane brachte Beryl in ihr kleines Büro, in dem viele Blumenvasen vor einem Fenster aufgereiht waren und vier Bilder mit lebendigen Motiven an den Wänden hingen. Auf dem Schreibtisch standen drei Fotos in kunstvollen Silberrahmen. Eines zeigte eine Familie mit zwei Töchtern, eines zeigte ein Ehepaar mit einer blondgelockten, graugrünäugigen Tochter, während das dritte Jane Porter und einen Zauberer zeigte, der erfreut aus dem Bild winkte, als die natürliche Jane hereinkam. Um sie beide herum tollten ein Junge und ein Mädchen mit hellblondem Haar.

"So, ich kontaktfeuere sofort Davidson, damit wir uns über den Fall unterhalten können. Du gehst bitte in die Bücherei und holst mir "Magische Martern und finstere Flüche" von Bonifatius Skyland, sowie "Verheerende Verhexungen" von Nirvana Purplecloud! Wir müssen uns ja für altes und neues gleichermaßen offenhalten."

"Geht in Ordnung, Madame Porter", sagte Beryl diensteifrig und eilte davon.

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"Lohangio", quälte sich Tyr Cracklebone das einzige Wort ab, das er unter der Wirkung mehrerer Flüche klar und vernehmlich aussprechen konnte.

"Lohangio? Du meinst Lohangio Nitts, diesen Eigenbrödler von der Ostküste?" Fragte Seth Schwarzberg. Tyr schrie vor Schmerz auf, als würde ihm allein der Gedanke an etwas höllische Qualen bereiten. Doch Seth ließ nicht locker. Er rief noch mal den Imperius-Fluch und den Memorevelatus-Zauber auf, um die magisch unterdrückte Erinnerung mit Gewalt hervorzuzerren. Tyr Cracklebone bebte heftig. Sein ganzer Körper war in Aufruhr, zeigte deutlich, wie mörderisch der Kampf in seinem Geist tobte. Dann rief er wild schreiend: "Lohangio hat mich - gezwungen, aaarrg!!!" Danach fiel er in Ohnmacht.

"Vermaledeiter Kerl. Nicht schlecht, mich derartig zu hintergehen. Aber ich kriege schon heraus, was diese Kanallie sich dabei gedacht hat, mir dieses Kuckucksei ins Nest zu legen. Er Sah Tyr an und versuchte noch mal den Legillimens-Zauber, um in die Tiefen von Tyrs Geist zu blicken. Zwar war sein Gefolgsmann bewußtlos und der zu durchforschende Geist beinahe unbeweglich. Doch Seth schaffte es nun, einige Informationen herauszuholen, die ihm ein teuflisches Grinsen aufs Gesicht zauberten.

Er sah Tyr von drei vermummten Leuten eingekreist werden, hörte einige Zauberworte und spürte die Wogen des aufgewühlten Verstandes, der unter mächtigen Zaubern zusammengestaucht wurde. Er erkannte zwei Leute in Tyrs Erinnerungen wieder. Es waren Lohangio Nitts, ein heimlicher Großmeister der dunklen Künste, der sich an der Ostküste der Staaten häuslich eingerichtet hatte. Er erkannte, wie dieser Magier seinen Zauberstab auf Tyr richtete und ihn damit behexte. Oft drohte Seths tastender Zauber von der Wucht aufgescheuchter Gedankensplitter aus der Bahn zu geraten. Doch Schicht um Schicht, Erinnerungsverknüpfung um Erinnerungsverknüpfung, tastete sich der älteste der Schwarzbergs durch den von mehreren Flüchen und Zauberbannen durchsetzten Geist seines ohnmächtigen Kameraden durch. Einige Male zuckte Tyr zusammen, als ob sein Körper auf die gewaltsame Durchsuchung seines Geistes reagierte. Dann endlich hatte Seth alles herausgeholt, was er wissen wollte.

"Lohangio also. Der hat uns diesen Angriff eingebrockt", dachte Seth und ließ den Zauberstab sinken.

Durch die dicke Eichentür stürmte Belial Schwarzberg in den großen von Fackeln erhellten Kellerraum unter dem Landsitz der drei Brüder. Er wirkte sichtlich aufgeregt.

"Bruder, sie haben gerade den Körper von Sikes gefunden. Der Kopf, die Arme und Beine fehlen. Aber trotzdem atmet er irgendwie noch", keuchte Belial. der wohl die zweihundert Meter Apparierabweisendes Gelände um dieses Haus im Sprintlauf überquert hatte.

"Was sagst du?! Wo haben sie ihn denn gefunden?!"

"Im Weißrosenweg in New Orleans, keine zwei Häuser weit vom Betrunkenen Drachen weg. Diese blöde Laveau-Dienstmagd Porter war mit einer Lehrhexe da. Sie haben den Umbroriginis-Zauber angewendet, um zu sehen, wessen Leib da lag. Es war eindeutig Sikes. Ich weiß es von einem kleinen Mädchen, daß da zufällig vorbeigelaufen war. Ich habe den netten Onkel gespielt und sie bei der Gelegenheit legilimentisch ausgeforscht. Das wartatsächlich einer von denen, die nicht mehr aufgetaucht sind."

"Verfluchte Bande!" Knurrte Seth Schwarzberg. Sein Bruder fragte ihn, wen er genau meine, die Laveau-Leute oder die, welche Sikes das angetan hatten. Seth erwiderte sofort, daß er die Leute von Lohangio Nitts meinte, die nach dem Verhör von Tyr Cracklebone als Täter feststanden.

"Nitts kann unmöglich einen alten Körperzergliederungsfluch", widersprach Belial sofort. Kein anderer hätte Seth widersprechen dürfen.

"Ach, und wen würdest du tippen?"

"Entweder unseren netten englischen Freund Voldemort, der uns zeigen möchte, wie groß er schon wieder ist, oder Mortitius Cobley aus dem Norden, der sich unser Gebiet einverleiben will."

Seth deutete auf Tyr und sagte entschlossen: "Ich habe gerade an sehr mächtigen Gedächtnisbarrieren vorbei aus diesem Herren hier herausgeholt, daß Lohangio Nitts der Anstifter sein muß, weil Lohangio Tyr manipuliert hat, mit Gedächtniszaubern und Imperius."

"Ach, und warum liegt Saulus Rippley ohnmächtig daneben - und was ist mit dem Sessel von dir passiert?"

"Der gute Saulus hat mich wahrhaftig mit Avada Kedavra angegriffen. Nur weil ich schnell aus der Erfassung seines Zauberstabs gesprungen bin, hat er nur den Sessel zerfetzt. Ich fürchte, wir haben uns zwei Kuckuckseier ins Nest legen lassen."

"Hmm, dann versuch doch mal, ob Saulus auch Lohangio Nitts als Urheber ausplaudert!" Schlug Belial Schwarzberg vor. Sein Bruder Seth sah ihn herausfordernd an und deutete auf den zweiten bewußtlosen Kameraden.

"Das kannst du mal machen, damit du siehst, wie heftig innere Barrieren gelingen können. Du mußt ja schließlich noch was lernen, bevor wir dem überehrgeizigen Voldemort auf gleicher Augenhöhe begegnen können."

"Wie du meinst, Bruder. Immerhin habe ich ja doch was über Gedächtniszauber gelernt", sagte Belial und ging daran, den geschockten Kameraden mit legilimentischen Techniken auszuhorchen. Tatsächlich war es für den schwarzen Magier ein schwerer Parcours durch grausige Bilder und Gefühle, die ihn selbst um den Verstand zu bringen drohten. Er konnte die Barriere nicht überwinden, die ihm ein Labyrinth höllischer Hindernisse bot, an denen er fast seinen eigenen Verstand zerrieb. Er gab den Versuch auf und sah seinen Bruder an.

"Tja, du hättest ihn erst mit Imperius und Memorevelatus zwingen müssen, die von dir gewünschten Erinnerungen in sein Bewußtsein zu rufen, um die Barrieren zu zerschlagen. So verhedderst du dich nur in diesem Wirrwar aus alptraumhaften Visionen. Wer immer diese Barriere in sein Gedächtnis eingepflanzt hat versteht sein Handwerk besser als mancher andere von uns. Also, Brüderchen, probier's doch noch mal!"

Belial war versucht, seinem Bruder den Cruciatus-Fluch aufzuhalsen. Doch dieser war doch etwas besser im duellieren als er. So murrte er nur und fesselte Saulus mit magischen Stricken, weckte ihn aus dem Schockschlaf und nahm ihn unter den Imperius, um sofort auf eine Gegenkraft zu prallen. Seth sah, wie sein Bruder zusammenfuhr und dessen Zauberstab leicht vibrierte und grinste gehässig, während Belial sich nun mit brachialer Gewalt durch die Barrieren kämpfte, die im Wachzustand des Opfers immer noch großen Widerstand boten, bis Saulus dem eingepflanzten Befehl endlich folgte und "Mortitius Cobley!" Rief. Dann erfolgte eine legilimentische Durchforschung des ebenfalls nach der Sprengung der Gedächtnisblockade ohnmächtig gewordenen Saulus Rippley und brachte Belial Bilder von Mortitius Cobley und Lohangio Nitts hervor. Das erzählte er dann seinem Bruder.

"Die beiden sind zusammen, Bruder. Die wollen uns vereint schlagen. Die haben sich eingebildet, wir kämen ihnen nicht drauf, weil sie so tolle Gedächtniszauberkünstler sind. Aber den Zahn werden wir denen ziehen."

Sie berieten sich, ob und wie sie gegen ihre beiden größten Rivalen im schwarzmagischen Machtgeplänkel vorgehen sollten. Dabei trafen viele Eulen von heimlichen Verehrern der Brüder ein. Auch Hagen Schwarzberg hatte sich umgehört und von verschiedenen abgetrennten Körperteilen mit Eigenleben erfahren, die nett über die Staaten verteilt gefunden worden waren, einige sogar in Muggelsiedlungen. Die Strafverfolgungsbehörde hatte alle Hände voll zu tun, den Muggeln diese Funde aus den Erinnerungen zu entfernen und alle angefertigten Aufzeichnungen darüber zu vernichten.

"So sind die erstmal beschäftigt", grinste Seth Schwarzberg. "Kann mir vorstellen, daß unsere netten Durecore-Altgedienten das ausnutzen wollen, um uns heimlich abzuräumen. Also sollten wir uns schleunigst von hier fortmachen", erkannte Belial. "Immerhin wissen die wohl wo wir wohnen."

"Mach dir nicht in den Umhang, Bruder. Die werden unsere Abwehr nicht so leicht knacken. Ich denke eher, die nutzen das aus, daß die Strafverfolgungstruppen mit der Muggelwelt zu tun haben, um ihre Anhänger zusammenzutrommeln, die bestimmt von unseren lieben Ordnungshütern überwacht werden. Da wir leider keine übrig haben, können wir uns hier in Ruhe beraten, was wir nun machen."

"Seth, die werden jetzt nicht auf halbem Weg haltmachen. Die sind bestimmt schon in der Nähe und warten darauf, daß entweder die beiden hier rausgehen und unsere Beseitigung verkünden oder wir rauskommen, damit die uns aus sicherer Entfernung umbringen können. Du hast doch den Schattenavatar gesehen, der unsere Sonnenlichtkugel zerstört hat. Ich denke, dieses Biest konnte noch mehr."

"Hmm, könnte hinhauen, daß die uns schon auf ihrer Liste haben, Brüderchen. Dann sollten wir uns schnell in unser Ausweichlager zurückziehen. Komm, wir mentiloquieren das sofort Hagen!"

__________

Anthelia lauschte an der Mithörmuschel, deren Gegenstück bei Tyr Cracklebone verborgen war. Sie wurde immer heiterer, je länger sie zuhörte.

"Sie hätten Fernüberwachungssperren errichten sollen", sagte sie einmal, als Seth und Belial Schwarzberg von den Abwehrzaubern sprachen. Dann lachte sie verhalten aber vergnügt.

"Der Köder ist geschluckt, Schwestern. Sie haben die aufwendige Gedächtnissperre gewaltsam durchbrochen und genau die Übeltäter in den Geistern der zurückgeschickten gefunden, die sie bestimmt erwartet haben."

Pandora Straton sah ihre Tochter Patricia an, die mit einem Ausdruck großer Ehrfurcht Anthelia anblickte. Es waren also wirklich keine Spuren der wirklich erlebten Ereignisse in den Gedächtnissen der beiden dunklen Zauberer zurückgeblieben, die verraten hätten, wer sie wirklich manipuliert hatte. Als Anthelia ihr das Prinzip der mnemoplastischen Vertauschung erklärte, das nicht einfach eine Gedächtnisverformung sondern teilweise Ersetzung war. Echte Erfahrungen konnten mühelos durch die Memorextraktion aus dem Geist eines Menschen oder anderen Lebewesens gezogen werden. Dabei blieben jedoch für einen geübten Legilimentoren verräterische Lücken zurück, die nicht durch Verknüpfungen überbrückt wurden. Diese Lücken so zu füllen, daß neue innere Verästelungen und Verzweigungen ausgebildet wurden, bedurfte es gezielter Einpflanzungen bestimmter Bilder, Klänge und Gefühlsmuster. Anthelia hatte, als sie Tyr Cracklebone zum ersten Mal in ihrer Gewalt hatte, solche gezielten Ersetzungen vorgenommen und vorab schon mit starken Barrieren gegen die Selbsterkenntnis und Fremderkennung gesichert. Als sie dann den so präparierten Magier nach ihrem Überfall auf Schwarzbergs Gruppe noch mal behandelte, koppelte sie weitere Ersatzerinnerungen unter dem Imperius mit dem Befehl, den zweiten zurückgesendeten zu betäuben, falls die Schwarzbergs ihn verdächtigten, für jemanden anderen zu arbeiten. Saulus Rippley, für den sich Anthelia vier Stunden zeit genommen hatte, um sein Gedächtnis und Bewußtsein zu manipulieren, hatte sie mehrfach gestaffelt eingepflanzt, einfach drauflos die drei Brüder mit dem Todesfluch anzugreifen. Sie ging davon aus, daß höchstens nur einer dadurch sterben würde und die beiden überlebenden herausfinden konnten, von dem sie wollte, das sie es herausfanden. Bei diesen Manipulationen hatten ihr Seelenmedaillon und der Zauberstab des dunklen Wächters ihr entscheidend geholfen. Ja, und jetzt jagten die Schwarzbergs den Anhängern Cobleys und Nitts' nach. Damit diese Jagd auf Gegenseitigkeit beruhte, hatte sie vor zwei Tagen bereits Anhänger von Mortitius Cobley ausfindig gemacht und von ihren amerikanischen Hexenschwestern bewachen lassen. Auf ein verabredetes Zeichen würden diese das schwehlende Feuer richtig anfachen und damit den Vernichtungsfeldzug der schwarzen Bruderschaften in Amerika auslösen, ohne selbst noch einmal eingreifen zu müssen.

Vor der alten Daggers-Villa, die nach dem Großfeuer im nahebei liegenden Dropout unter einen Fidelius-Zauber gestellt wurde, landete ein Feuerblitz mit einer Hexe in weißem Umhang darauf. Da es jetzt früher Vormittag an der amerikanischen Ostküste war, rümpfte Anthelia verärgert die Nase. Wieso mußte Delila Pokes auch dann erscheinen, wenn es Tag war. Sicher, seit dem Bandenkrieg in Dropout und dem dabei ausgelösten Großbrand war außer Anthelias Schwestern niemand mehr hier auf diesen Hügel gekommen. Doch man mußte ja auch nicht auffallen.

Eine groß gewachsene Hexe mit blonder Löwenmähne trat schnell in die Villa, deren pompöses Portal Pandora Straton für sie aufgetan hatte. Sie trat vor Anthelia und sah sie erwartungsvoll an. Diese sagte nur:

"Ich gehe davon aus, Schwester Delila, daß du sehr gute Gründe hast, dich bei Tageslicht auf einem tarnunfähigen Besen herzutrauen."

"Ich wollte dir nur die Ausgaben unserer Zeitung der letzten zehn Tage überreichen, höchste Schwester. Verzeih mir bitte, daß ich nicht bis zum Einbruch der Nacht hier warten konnte. Doch ich muß wieder in Australien sein, bevor es bei uns Tag wird. Im Moment stehe ich nämlich sehr gut mit Lady Nimoe, weil wir die Shadelakes ausgeschaltet haben. Ich möchte nicht zu früh auffallen."

"Dies sei dir vergönnt, Schwester Delila. Aber du kannst auch vor der Villa apparieren. Ich habe keinen Abwehrzauber dagegen aufgerufen. Ich habe andere Methoden, Eindringlinge zu bekämpfen. Außerdem könnte es höchst dienlich sein, einen Eindringling zu stellen und für unsre Sache dienstbar zu machen. So kannst du also gleich auf dem kürzesten Wege abreisen, wenn du mir überreicht hast, was eure Tagesnachrichten verkünden."

Delila Pokes legte einen großen Stapel Zeitungen auf den Tisch. Anthelia überflog erst die Schlagzeilen der in Tagesfolge geordneten Blätter. Von dem Schicksal der Shadelakes war nichts zu lesen. Erst als sie genauer durchlas, was in den einzelnen Ausgaben stand, fiel ihr auf, daß man diese angeblich so hochgeschätzten Zauberergeschwister seit einigen Tagen vermißte. Offenbar lag jemandem was daran, sie auf Parties und wichtigen Empfängen als Gäste begrüßen zu können. Doch wie und warum die Shadelakes aus der Öffentlichkeit verschwanden wurde mit keinem Wort erwähnt.

"Lady Nimoes Spione im Zaubereiministerium haben uns berichtet, daß Ministerin Rockridge sofort den Deckel draufgemacht hat, als man nicht nur die perfusionierten Shadelakes fand, sondern auch ein paar bekannter Dunkelmagier, mit mehreren schweren Körperveränderungsflüchen schwer heilbar verunstaltet hatte. Die drei Hauselfen der Shadelakes hatte man mit verwirrtem Geist in ihrer Besenkammer gefunden.

"Nun, ich gehe davon aus, daß eure Ministerin für Magie diese Brut nicht sonderlich vermissen wird und sicherlich nichts nennenswertes unternimmt, die Täter zu jagen. Aber da hast du ja auch für gesorgt, daß dann welche verfügbar sind, Schwester Delila", gab Anthelia wohlwollend lächelnd eine Bemerkung zum Besten. Delila lief leicht rot an und bedankte sich dann für das Lob. Sie verabschiedete sich ehrfürchtig von Anthelia und disapparierte mit ihrem Feuerblitz aus der Daggers-Villa.

"Ich bin erfreut, daß diese Kreaturen der Zerstörung so leicht zu handhaben sind, daß sie sich am Ende selbst ausrotten werden, bevor wir endlich wahre Macht beanspruchen und die verirrte Menschheit zur naturgewollten Ordnung zurückführen werden", bekundete Anthelia lächelnd. Ihre Hexenschwestern nickten beipflichtend.

Im Verlaufe des 26. Novembers trafen verschiedene Mitschwestern in der Daggers-Villa ein. Anthelia hatte die Versendung von Eulenpost bei Tag verboten und um persönliches Erscheinen ersucht, wenn jemand etwas wichtiges mitzuteilen hatte. Dana Moore und Lucky Withers, zwei in England lebende Schwestern des Spinnenordens, berichteten Anthelia, daß Kundschafter des dunklen Lords an der Schlafstätte jener Tochter des Abgrunds erschienen waren, die vor einem Monat von Anthelias Seelenmedaillon in New York angezeigt worden war.

"Offenbar bildet sich dieser Emporkömmling ein, ausgerechnet die Töchter des Abgrunds für seine Ziele gewinnen zu können", sagte Dana Moore, nachdem sie ihren Bericht beendet hatten. "Ich fürchte jedoch, da wird er Pech haben."

"Die Gefahr besteht, daß die Tochter des dunklen Feuers bemerkt, daß andere Zauberkundige um ihren Schlafplatz herumstreunen und sie aufstöbern wollen. Mir deucht, sie befindet sich immer noch auf diesem Erdteil, harrt wahrscheinlich eines Opfers oder ist jener Person nachgefolgt, die sie geweckt hat. Bekanntlich kann dies nur ein Mensch mit unerweckbaren Zauberkräften sein, ein mit magischer Trägheit geschlagener oder ein Unfähiger, in dessen Adern jedoch zauberisches Blut strömt. Mir kommt die Furcht, daß diesem Manne das Schicksal des Opfers widerfahren wird. Andererseits mag er als Köder dienen, um sie herbeizulocken, wenn wir gewappnet sind, sie niederzukämpfen und von dieser Welt zu stoßen. Haltet weiterhin die Schergen des Emporkömmlings unter Obacht, Schwestern Dana und Lucretia! Es mag dem Zerstörungswütigen in den Sinn kommen, seinerseits den Verweil der erweckten Tochter des Abgrunds zu erforschen. In diesem Falle wünsche ich sofortige Kunde darüber von euch!"

"Sehr wohl, höchste Schwester!" Bestätigten Dana Moore und Lucretia Withers, die sich lieber Lucky nennen ließ in tiefster Unterwürfigkeit. Dann durften sie disapparieren.

"Glaubst du wirklich, von diesem Wesen geht Gefahr für uns aus?" Fragte Pandora Straton, nachdem die beiden britischen Bundesschwestern verschwunden waren.

"Ja, Schwester Pandora. Es wird tödlich sein, diese Wesen frei auf dieser Welt umherstreifen zu lassen. Sie verabscheuen magische Frauen und Mädchen und verwirren den Geist der Männer, die sie sich unterwerfen. Will ich eine verantwortungsvolle Herrin dieser Welt sein, darf ich dies nimmer dulden", sagte Anthelia.

"Und was geschieht mit den Dementoren?"

"Ich weiß nun Wege, ihre Selbstsicherheit zu brechen und sie an einem sicheren Ort zu belassen. Mögen sie doch weiterhin die Kerkerfestung bewachen, wie der britische Zaubereiminister sie hieß! Ich hege jedoch auch hier eine gewisse Furcht, daß sie dem Gebot des Ministers widerstreben und ihm, dem Emporkömmling willig und ergeben zuströmen, wenn er sie ruft."

"Mir wäre es lieb, wenn wir diese Wesen restlos vernichten würden, höchste Schwester. Ich würde besser schlafen, wenn ich sicher wüßte, daß es diese Ungeheuer nicht mehr gibt", gestand Pandora ein. Anthelia nickte ihr zu, wandte jedoch ein:

"Jedes Ding in der Natur erfüllt einen gewissen Zweck, solange es wirklich aus der Natur geboren ist. Vielleicht wird es angeraten sein, diese Wesen wie die Töchter des Abgrunds von der Erdoberfläche zu tilgen. Doch sie können auch dienstbar sein, wie der aus Furcht vor dem Verlust seiner Macht wahrheitsverachtende Tropf Cornelius Fudge bewiesen hat."

"Nun, dies müssen wir wohl entscheiden, wenn wir unser großes Ziel erreicht haben werden", stellte Pandora betrübt dreinschauend fest. Ihr war klar, daß Anthelia die zurzeit in Askaban wachenden Ungeheuer gerne als eigene Dienerschaft behalten würde. Doch daß Anthelia längst beschlossen hatte, die Dementoren zu vernichten, wenn ihr ein wichtiges Mittel in die Hand kam, das sie erst finden würde, wenn sie eine Reihe von Etappenzielen erreicht hatte, wußte Pandora nicht. Anthelia wußte wohl auch, dieses Geheimnis zu verbergen. Denn nur sie kannte ihre Pläne, und das sollte auch so bleiben.

__________

Das Kaminfeuer prasselte munter und warf tanzende Licht- und Schattenmuster in den sehr dürftig eingerichteten Raum. Im hochlehnigen Stuhl vor dem Kamin saß eine schlanke Gestalt in einem weiten schwarzen Umhang und klopfte mit spinnenartigen, bleichen Fingern auf die Armlehnen. Zeit verflog für ihn viel zu schnell, ohne daß er was dagegen tun konnte.

Es kam selten vor, daß Tom Vorlost Riddle, der allen Zauberern nur unter dem gefürchteten Namen Lord Voldemort bekannt war, nervös wurde. Doch er hatte sich selbst in eine für ihn unbequeme Lage manövriert. Hatte er ursprünglich beabsichtigt, heimlich und ohne daß es seinen ärgsten Feinden bekannt wurde zurückzukehren, war dieses Vorhaben daran gescheitert, daß der Junge Harry Potter durch einen unerklärlichen Umstand zum zweiten Mal seinem Todesfluch entgangen und nach Hogwarts entkommen war. Sein Plan, heimlich seine alten Gefolgsleute zurückzugewinnen und neue hinzuzugewinnen, ohne daß das Zaubereiministerium dies mitbekam, verlangte jedoch, nicht sofort aus seiner Deckung zu treten. Mit teuflischer Genugtuung hatte er erfahren, daß Harry Potters Bericht als Geschwätz eines geistesgestörten Jungen aufgefaßt worden war. Außer Dumbledore, diesem Muggelfreund und Erzfeind, wollte ihm niemand glauben. Voldemort hatte daraufhin beschlossen, sich auf die Erfüllung eines Planes zu konzentrieren, den er in aller Heimlichkeit ausführen konnte, ja sogar ohne selbst direkt an jemanden fremden herantreten zu müssen. Seine treuen Todesser würden ihm endlich die vollständige Aufzeichnung einer vor sechzehn Jahren gemachten Prophezeiung bringen, die seine Macht und sein Ende beinhalten sollte. Doch er wußte nur, daß es dabei um einen Zaubererjungen ging, der am Ende des Juli geboren wurde. Tja, er hatte zwei Zaubererjungen gefunden, die dafür in Frage kamen. Er hatte sich einen erwählt, der ihm am gefährlichsten erschien und ihn zu töten versucht. Der Schmerz des beinahen Todes, als sein eigener Fluch von einer unsichtbaren Gewalt zu ihm zurückgeschleudert wurde, war unerträglich gewesen. Nur als Schatten seiner selbst, kaum zu weiterer Macht fähig, war er geflohen und hatte sich lange Jahre verstecken müssen. Endlich, vor anderthalb Jahren erst, hatte ihn ein treuer Diener gefunden und ihm zu einem kurzfristigen Körper zurückverholfen. Dann war es ihm auch gelungen, seine endgültige, ursprüngliche Gestalt wiederzugewinnen. Doch nun, wo ihm dies passiert war, und Harry Potter erneut entkommen war, mußte er wissen, was die ganze Prophezeiung verhieß, um nicht ein drittes Mal zu scheitern.

Im Moment war der dunkle Lord allein in seinem Versteck, dem alten Haus seiner verhassten Muggelgroßeltern. Nur die große Schlange Nagini leistete ihm Gesellschaft. Eingerollt lag sie auf einem dicken Teppich und nahm die Wärme des Kaminfeuers in sich auf. Alle Todesser, die er wieder um sich sammeln konnte, hatten ihre alltäglichen Aufgaben zu erledigen. Außer Pettigrew, dem kriecherischen, wehleidigen Wurmschwanz, der heimlich in der Zaubererwelt herumstreunte, um Informationen über die Aktionen des Ministeriums zu sammeln und zu forschen, wer nicht etwa doch an Harry Potters Worte glaubte, mußten sie alle den Schein des bisherigen wahren. Einer jedoch, Lucius Malfoy, ein aalglatter Schleimer und Intrigant, der sich sehr gut mit Minister Fudge verstand und ihm öfter Gold in die gierigen Hände legte, hatte einen Auftrag für ihn auszuführen. Verlief diser Auftrag erfolgreich, würde der dunkle Lord noch vor Weihnachten den Schlüssel zu seinem Sieg in Händen halten.

Zwischendurch hatte er Eulen in ferne Länder entsandt, um dortige Befürworter seiner Pläne zu informieren, daß er sich wieder erhoben hatte und gerne mit ihnen zusammen die Zaubererwelt übernehmen würde. Er ging davon aus, daß gerade die Amerikaner und die Australier sich darum reißen würden, mit ihm zusammen diese Welt von den Schlammblütern in der Zaubererwelt zu befreien und die Muggel wie Vieh zusammenzutreiben und für seine Zwecke zu benutzen. Als er jedoch zwei Wochen nach Halloween erfuhr, daß es in Australien zu einem schweren Schlag gegen seine dortigen Mitläufer gekommen war und die noble Shadelake-Familie für alle Zeiten ausgerottet war, wie auch fünf mächtige Anhänger dieses alten Clans auf Dauer ausgeschaltet waren, hatte er sich mühsam beherrscht, nicht im Dorf Little Hangleton zu wüten. Er war in einen tiefen Wald in Wessex appariert und hatte dort Bäume und Tiere mit grausamen Flüchen niedergemäht. Dann war er zu Sarah Redwoods altem Haus appariert, um zu versuchen, erneut dort einzudringen. Doch wie Monate zuvor hatte der Uniheres-Fluch ihn brutal zurückgedrängt und ihn an die erste große Niederlage nach der Flucht Harry Potters erinnert. Denn eigentlich hatte er sich die alten Geheimnisse der mächtigen Dunkelhexe Sarah Redwood aneignen wollen und hätte dafür nur ein lebendes Mitglied ihrer Nachfahren gebraucht. Doch die Familie Redwood war beim Versuch, sie gefangenzunehmen durch Selbstmord und den Verrat eines Getreuen ausgelöscht worden, sodaß er auf lange Sicht keinen Fuß in dieses Haus setzen konnte.

Der vorläufige Höhepunkt der Wut Voldemorts war die Meldung seines amerikanischen Kundschafters Ragna Grizzle, der ihm vor Angst schlotternd berichtete:

"Herr, deine Freunde in den Staaten führen Krieg gegeneinander. Die Schwarzberg-Brüder wurden bei einer Zusammenkunft ihrer Getreuen überfallen und bis auf wenige grausam verflucht. Sie haben abgetrennte Körperteile mit Eigenleben über das Land verstreut gefunden. Seth Schwarzberg wird sicherlich Rache nehmen, wenn er weiß, wer das war. Wenn Ihr nicht eingreift, Mylord, werden sie sich gegenseitig ausrotten."

"Was sagst du da. Ich habe ihnen allen geschrieben, daß sie sich ruhig verhalten und mich erwarten sollen. Diese vermaledeiten Amerikaner denken wohl, ich sei eine billige Witzfigur, unfähig meine volle Macht wiederzuerlangen. Aber nein, die kämpfen darum, wer am Ende die Staaten für sich haben kann, der dann meint, mich persönlich angreifen zu können, sollte ich es wagen, ihn aufzusuchen. Kehre zurück und sage diesen Schwarzberg-Brüdern, daß ich sehr sehr ungehalten bin und er meinen Zorn fürchten soll!" Rief Voldemort, dem es in den Fingern juckte, den Boten mit einem Schauer von Schmerzen zu bestrafen. Ragna nickte schnell und disapparierte.

Wurmschwanz kehrte zusammen mit Guy Pike zurück. Pike, der im Zaubereiministerium arbeitete, grinste belustigt. Doch als sein wahrer Herr und Meister ihn aus glutroten Augen ansah, verflog dieses Grinsen wieder. Sichtlich eingeschüchtert sagte Guy Pike:

"Herr, Minister Fudge hat alle in Hogwarts zur Untätigkeit verdonnert. seine Kettenhündin Umbridge hält dort alle unter Beobachtung und bringt ihnen keine Verteidigungszauber mehr bei."

"Ist mir schon längst bekannt, du Schwätzer. Malfoy hat mir das schon längst erzählt, weil sein Sohn es ihm geschrieben hat. Außerdem hat Malfoy Fudge doch drauf gebracht, Dumbledore wolle in Hogwarts eine Armee gegen den Minister aufbieten. Wenn du mir jetzt nichts neues erzählst, wirst du die größten Martern zu spüren kriegen, die ich jemandem zufügen kann", fuhr Voldemort mit kalter hoher Stimme seinen Gefolgsmann an. Dieser schrak sichtlich verängstigt zusammen. Dann stammelte er:

"D-d-da i-i-ist n-noch w-w-was. Die Schlafende. Die Schlafende ist nicht mehr in ihrer Ruhestatt."

"Du meinst die Tochter des dunklen Feuers, die in England im magischen Dauerschlaf liegt? Hat es etwa jemand gewagt, sich ihr zu nähern?" Fragte der dunkle Lord mit einer Mischung aus Unbehagen und Aufregung.

"Es ist so, Herr. Sie muß erweckt worden sein, Herr. Sie wird wohl in diesem Land auf neue Opfer ausgehen, Herr."

"Und dann wieder zu ihrer Schlafstatt zurückkehren müssen, um die überschüssige Lebensessenz in ihren Vorratsspeicher zu überführen", vollendete Lord Voldemort den Gedankengang seines Todessers.

Zwei widerstreitende Ideen fochten in seinem Verstand um ihre Verwirklichung. Einerseits wußte der dunkle Lord, daß man die Töchter des Abgrunds, die in einigen magischen Handbüchern als Succubi bezeichnet wurden, nicht wie gewöhnliche Ungeheuer unter Kontrolle zwingen konnte. Sie waren mächtige Zauberwesen, mächtiger als Vampire oder Drachen, ja konnten selbst einem Dementor übel mitspielen. Sie labten sich an der Lebensenergie von Menschen, die magisches Blut in den Adern hatten oder sogen nichtmagischen Menschen mit grober Gewalt Leben und Verstand aus, um dadurch schier unsterblich zu bleiben. Außerdem verachteten sie alle Männer, die ihnen höchstens als gute Futterquelle dienten. Es wäre also höchst gefährlich, ein solches Wesen frei herumlaufen zu lassen. Die andere Idee war, gerade solche Kreaturen seinen Plänen dienstbar zu machen. Welche Waffe würde ein solches Wesen in seinen Händen sein. Er wußte auch, daß es insgesamt neun dieser Wesen gab und zwei von ihnen bisher wach und stark in der Welt herumwanderten. Er wußte nicht, wo sie gerade waren. Aber wenn eine der schlafenden Töchter des Abgrundes nun erwacht und auf neue Wanderschaft gegangen war, sollte ihn das sehr interessieren. Durfte er es riskieren, dieses Wesen zu finden und einzuladen, für ihn zu arbeiten? Oder sollte er dieses Wesen töten, wenn er ergründete, wo der Speicher mit gesammelter Lebenskraft versteckt war? Eines wußte er mit Sicherheit: Er würde dieses Wesen nicht unter seine Gewalt bringen können.

"Sage Croaker und Feerse, daß sie die Schlafstätte bewachen sollen. Kehrt die Schlafende zurück, sollen sie ihr meinen Gruß ausrichten und ihr anbieten, ich würde ihr noch mehr Macht und Freiheiten verschaffen und ihr helfen, ihre Ziele zu verwirklichen, wenn sie mir dafür hilft, meine Feinde zu vernichten. Sie sollen ihr bloß nicht drohen oder ihr einreden, sie hätte keine andere Wahl!"

"Ja, Herr", erwiderte Pike unterwürfig.

"Falls sie jedoch nicht mit mir zusammenarbeiten möchte, sagt ihr nur, daß sie keine Angst vor mir zu haben braucht. Wartet dann in sicherer Entfernung ab, bis sie wieder fort ist und sucht dann nach etwas, das wie ein übergroßer Behälter ist. Er muß unter der Erde verborgen sein. Findet diesen Behälter und bringt ihn zu mir. Ich weiß dann, was ich damit zu tun habe."

"Ja, Herr", erwiderten Pike und Wurmschwanz.

"Croaker und Feerse sollen sich jedoch vor ihrem blick hüten. Diese Wesen können einen damit ihren Willen aufzwingen."

"Das ist aber dann sehr gefährlich, Herr", erwiderte Wurmschwanz. Zur Strafe wegen Widerspruchs versetzte Voldemort dem kleinen grauhaarigen Zauberer fünf Sekunden Höllenqualen mit dem Cruciatus-Fluch.

"Vergiss nie, Wurmschwanz, daß ich das gefährlichste bin, was dir widerfahren kann", raunte Voldemort seinem Diener sehr bedrohlich zu. Dann schickte er mit einer schnellen Handbewegung die beiden los, um den Auftrag zu erfüllen.

"Entweder wird mir die Schläferin dienen oder für alle Zeiten verschwinden", dachte Voldemort.

Pike suchte Croaker auf, einen eigenbrödlerischen Zauberer, der in der Nähe des Dartmoore-Gefängnisses eine getarnte Hütte besaß. Er beschäftigte sich mit den dunklen Eigenschaften in Tieren und Menschen und wollte sie nutzen, um einen Brunnen der dunklen Erneuerung zu bauen, etwas ähnliches wie den Stein der Weisen schaffen, um sich selbst am Leben zu halten. Croaker war ein Todesser der ersten Stunde und war nach Voldemorts erstem Niedergang nie in Verdacht gekommen, für ihn gearbeitet zu haben. Seine schwarzmagischen Studien hatte noch niemand aufgedeckt. Ab und an holte er sich aus dem Gefängnis einen Schwerverbrecher, dessen Gefühle und Bedürfnisse er auszuschöpfen versuchte, um die Essenz der dunklen Quellen zu finden. Wenn der Sträfling danach mit verwirrtem Geist in seiner Gefängniszelle wiedergefunden wurde, wurde dies meistens als Gefangenenkoller abgetan.

Heute hatte Croaker keinen Menschen als Versuchsobjekt. Er beschäftigte sich mit dem Blut eines walisischen Grünlings und mischte es mit dem Hautsekret von Lurchen und Fröschen, um zu testen, ob die magischen Eigenschaften des Drachenblutes sich änderten und in welcher Weise dies geschah. Als Guy Pike vor der Hütte apparierte, füllte er gerade die dritte Mischung aus Drachenblut und Froschhautabsonderungen in einen Glaskolben um und verkorkte diesen rasch, als Pike an die Tür klopfte. Es war die Mitternacht vom 27. auf den 28. November.

"Hallo, Croaker. Der Herr will haben, daß du und Feerse euch nach Dover aufmacht, um das Versteck der Tochter des dunklen Feuers zu bewachen. Sollte sie selbst dort auftauchen, sagte seine Lordschaft, mögt ihr ihr anbieten, mehr Macht und Freiheiten in England zu haben, falls sie ihm hilft, seine Feinde zu bekämpfen und ihm hilft, weiter an Macht zu gewinnen. Sollte sie das jedoch ablehnen, sage ihr, daß der Herr bereits wüßte, wie sie zu vernichten sei und sie nicht mehr frei in England herumlaufen würde."

"Das kann doch wohl nicht sein, daß er nun schon weiß, wie er solche Wesen töten kann, wenn er nicht weiß, was sie am Leben hält", erschrak Croaker, der durch seine Studien der dunklen Kräfte von der magischen Regenerationsfähigkeit eines Succubus gehört hatte und seine Forschungen darauf ausgerichtet hatte, diese Fähigkeit nachzuahmen.

"Ich glaube nicht, daß der dunkle Lord sowas androhen würde, wenn er sich nicht sicher ist, daß er die Drohung auch wahrmachen kann", sagte Pike.

"Ich frage ihn besser selbst, wie er das meint, Pike, damit ..."

Pike zog seinen Zauberstab schnell wie ein Revolverheld seinen Colt. "Imperio!" Rief er. Croaker fischte gerade nach seinem Zauberstab, um sich zu verteidigen, als eine alle Gedanken und Gefühle fortspülende Woge durch sein Bewußtsein brandete. Danach hörte er Pikes Stimme mit einer überlagernden Kraft in seinem Kopf:

"Tu, was ich dir von dem dunklen Lord bestellt habe! Suche ihn nicht auf! Tu, was ich dir von dem dunklen Lord bestellt habe! Suche ihn nicht noch mal auf!"

Croaker brannte sich dieser Befehl so tief ins Bewußtsein ein, daß er nicht bemerkte, wie Pike immer weiter zur Tür zurücktrat. Wieder und wieder drang die innere Stimme durch seine Gedanken, drängte sie immer wieder zurück, wenn er versuchte, dagegen anzukämpfen. Irgendwann waren diese Befehle so tief in seinen Verstand eingebrannt, daß er keinen Gedanken mehr dagegen stemmen konnte. Er sah noch, wie Pike die Hütte verließ und vor der Tür disapparierte.

Wie aus einem Dämmerschlaf erwachend kam Croaker wieder zu sich. Er hatte alles in Erinnerung behalten, was Pike ihm erzählt hatte. Doch er hegte keinen Zweifel mehr daran, daß er die Anweisung so ausführen mußte, wie er sie erhalten hatte.

Wurmschwanz suchte Feerse auf, einen hageren Zauberer, der im Ministerium für magische Geschöpfe zuständig war. Er wohnte im Moment alleine, weil seine Frau Shana mit ihrer Schwester in Schottland unterwegs war. Pettigrew klopfte leise an Feerses Haustür, zwei kurz und dreimal lang. Der Hausbewohner öffnete so schnell es ging und ließ den nächtlichen Besucher ein. Pettigrew erklärte ihm, was der Herr von ihm wollte.

"Seine Lordschaft will, daß du mit Croaker nach Dover reist und euch bei einer alten Fabrik der Muggel versteckt, wo eine mächtige Zauberkreatur ihren Schlafplatz hat. Sie sieht aus wie eine gewöhnliche Menschenfrau mit roten Haaren. Aber sie ist so gefärhlich, sagt seine Lordschaft, daß wir ihr nur sagen möchten, daß er ihr helfen will, besser zu leben, wenn sie ihm hilft, unsere Feinde zu vernichten. Wenn sie aber nicht will, sollen wir sie erst in Ruhe lassen, bis sie weg ist und uns dann was holen, was wie ein großer Behälter aussieht, weil darin ihre Lebenskraft drin ist, sagt seine Lordschaft. Aber wir dürfen ihr nicht drohen, bevor sie fort ist. Sie ist sehr gefährlich. Der dunkle Lord sagt auch, daß wir sie nicht ansehen dürfen, weil sie einen mit ihrem Blick verhexen kann", trug Pettigrew seinem Kameraden auf, was der schwarze Lord ihnen aufgetragen hatte. Feerse grinste. Natürlich konnte er sich denken, was der dunkle Lord im Schilde führte. Sicher hatte er nie so recht an diese dunklen Töchter geglaubt, die angeblich seit Jahrtausenden auf der Erde herumliefen. Aber wenn Lord Voldemort sich sicher war, daß sie existierten, dann mußte er tun, was dieser sagte. Er sagte dem kleinen dicken Zauberer mit den wässerigen Augen, daß er verstanden hatte. Pettigrew nickte und verließ leise das Haus wieder.

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In einer Woche würde Richard, ihr Erwecker, ihr Gespiele und immer enger zu ihr hingezogener Diener nach England zurückkehren. Bis dahin würde er ihr endgültig gehören und es auch sehr genießen, ihr untertan zu bleiben. Sie war sehr froh, einen Menschen ohne selbstbewußtsein der Magie gefunden zu haben, der in einem Gefühlsungleichgewicht gefangen war, daß sie ihn mit beruhigenden Einflüssen und erfüllung seiner größten Träume an sich binden konnte. Erst langsam, dann immer stärker ausgeprägt hatte sie die natürlichen Barrieren in seinem Verstand durchdrungen, die ihr gestatteten durch seine Augen zu sehen, durch seine Ohren zu hören und alle Sinne von ihm wahrzunehmen, wenn sie es wollte. Sie hatte mit einer Mischung aus Unbehagen und Begeisterung erfahren, wie leicht dieser Mensch, der doch so klug und stark war, von seinesgleichen verärgert werden konnte. Doch durch ihre körperliche Nähe zu ihm, durch die leibliche vereinigung mit ihm, hatte sie ein festes Band geknüpft, das nun über die ganze Welt reichen mochte, wenn er zurückkehrte. Doch sie wußte auch, daß er immer wieder und immer häufiger von ihrer Leidenschaft kosten mußte, bald keinen Tag mehr ohne sie zubringen würde und zur Gefahr für seine Artgenossen werden mußte, wenn sie ihn nicht von ihrem heißen süßen Gift gab, das über die geschlechtliche Vereinigung von ihr zu ihm überfloss, ohne daß er es bemerkte. Bald, so wußte sie, brauchte sie nur zu denken, was er tun sollte, und er würde es tun. Sie wußte doch auch, daß sie nicht allein von ihm genug bekam, um ihr langes Leben zu erhalten. Doch ihn mußte sie halten, weil er ihr mehr gab als nur die reine Essenz des Lebens. Erst, wenn er wieder in England war, würde sie ihn endgültig in ihren Dienst nehmen, mit ihm in sein großes Haus ziehen und ... Doch nein, da durfte er nicht hin! Sie wußte noch zu gut, wie es war, als sie schon leichte Bande zu ihm geknüpft hatte, als sie nach Jahrhunderten erzwungenen Schlummers seine Nähe spürte und ihn fand, ihn in tiefer Trance hielt und sich von ihm holte, was sie brauchte, ohne ihn unrettbar auszuzehren. Er war zu seinem Haus zurückgekehrt und ihr dort mit einer grausamen Macht, die wie ein greller Lichtblitz und ein Donnerschlag über sie hereingebrochen war, entrissen worden. Als sie ihn ein zweites Mal spürte und mit ihren Sinnen erreichte, hatte sie nicht dieses leichte Band geknüpft, um ihn zu beobachten. Dennoch hatte sie verspürt, wie er in der Nähe seines Hauses abermals aus ihrem geistigen Griff entwunden wurde. Sie wußte nicht viel von ihm und mußte mehr erfahren. So hatte sie sich in der Nähe dieses Hauses auf die Lauer gelegt. Hier konnte sie spüren, daß jemand einen mächtigen Dom der alten Kraft um das Haus errichtet hatte, den sie nicht durchbrechen konnte, solange sie nicht genug Kraft angesammelt hatte. Auch wenn sie der Hunger nach frischer Lebensenergie quälte mußte sie warten, bis ihr Erwecker endlich aus dem Schutz des magischen Domes kam. Sie stellte mit großem Vergnügen fest, daß er offenbar eine längere Reise antreten würde und folgte ihm in ihrer ätherischen Gestalt, beinahe unsichtbar für Menschenaugen. Sie suchte ihn in einem Gasthaus auf, wo sie ihn erneut in einen tranceartigen Dämmerschlaf versenkte und sich mit ihm zusammentat, um die Kraft seines Körpers und seiner Gefühle zu verzehren. Sie konnte dem Drang, alles aus ihm herauszusaugen noch entgegenwirken, weil sie soeben noch erkannte, daß dieser Mensch lebendig besser für sie geeignet war als tot. Er flog in einer neuartigen Eisenvogelkonstruktion der jetzigen Menschheit über ein großes Meer in dieses Land. Sie blieb ihm auf den Fersen und bewachte, wo er hinging. Zwischendurch nahm sie sich von einem unstillbar triebhaften Mann all dessen Lebensenergie, sodaß nur ein verlöschender Funke davon in ihm zurückblieb. Dabei sog sie nicht nur Gefühle, Kraft und Lebensmut des Fremden in sich hinein, sondern auch dessen Wissen über dieses Land und die Zeit, in der sie nun erwacht war. Hoch erfreut stellte sie fest, daß sie dadurch mehr Macht und Bewegungsfreiheit besitzen würde. So war es für sie ein leichtes, ihren Erwecker wach und im Vollbesitz seiner Sinne anzusprechen und sich für eine ebenbürtige, wenn auch in anderen Forschungszweigen tätige Wissenschaftlerin auszugeben. Sie knüpfte einen ganz normalen Kontakt zu ihm, doch konnte zwischendurch auch einen Blick in seine innere Welt werfen, wenn er ihr in die Augen sah. Sie erfuhr, daß er seine Frau verstoßen hatte, weil diese seinem einzigen Sohn nicht gönnte, in den Künsten der Magie ausgebildet zu werden. Dabei verstand sie nun auch, für wen dieser Schutzwall aus der Kraft des alten Lichts errichtet worden war, der Richards Haus umgab. Doch hier in diesem Land, von dem sie vor ihrem Schlummer schon gehört hatte, war er schutzlos. Niemand aus der magischen Welt bewachte ihn. Hier hatte sie ihn endlich so weit, daß sie ihn langsam zu sich heranziehen und an sich binden konnte. Ja, und jetzt gehörte er ihr!

Sie, die sich nun Loretta Irene Hamilton nannte, wußte, daß er nicht nach England zurückkehren durfte, weil dort seine Wächter wieder einen Keil zwischen ihn und sie treiben würden. Diesmal würde es für beide unsagbar schmerzhaft werden, für sie einen hohen Energieverlust bedeuten, der sie zwang, sich wieder in den Schutz ihrer Ruhestatt zu begeben. Für ihn mochte diese schmerzhafte Trennung von ihr den Tod bedeuten. Doch sie war jetzt wach und wollte es bleiben. Sie hatte über die zwischenschwesterliche Gedankenbrücke mit ihren beiden Artgenossinnen in Arabien und Spanien Kontakt aufgenommen und erfahren, wie schön es war, auf dieser Welt herumzulaufen. Denn viele Menschen, denen die Magie nicht zu Gebote stand, hatten alles über Zauberwerk und Zauberwesen verdrängt und als unwirklich verdammt und waren somit leichte Beute. Sie wollte endlich auch richtig weiterleben, ohne lange schlafen zu müssen. Deshalb durfte Richard nicht nach England zurück.

Sie überlegte, was sie anstellen mußte, um dafür zu sorgen, daß ihr Erwecker nicht zu seinem Haus zurückkehrte. Sicher, sie konnte ihm sagen, er solle in dieser Stadt bleiben. Doch im Moment war ihre Kraft nicht tief genug in ihm verankert, um seine anerzogenen Vorstellungen von Arbeitseifer und Selbstbestimmung zu verdrängen. Doch wie sollte sie es anstellen, daß er ihr nicht mehr entrinnen konnte?

Vorerst galt es, einen Überschuss an Lebenskraft, den sie in sich trug, für den Notfall sicher aufzubewahren. Die Lebenskraft verschiedener Menschen war in den letzten Wochen von ihr aufgesogen worden. Diese Stadt war ein herrliches Jagdrevier. Ständig starben hier Menschen auf gewaltsame Weise. Ständig streunten triebhafte Menschen herum, um sich an anderen abzureagieren. Das beste war, daß diese Leute niemand vermißte, wenn sie ihr zum Opfer fielen. Andererseits schwebte Richard in ständiger Gefahr, von solchen Unholden verletzt oder getötet zu werden.

Nach dem letzten Wochenende mit Richard, das sie volle zwei Tage ausgeschöpft hatte, hatte sie genug eigene Kraft angereichert, um in einem magischen Sprung über das große Meer direkt zu ihrem Schlafplatz zu wechseln. Als sie in der Nähe der nun niedergerissenen Fabrik auftauchte, war es in England gerade nach Sonnenuntergang am 28. November. Sie spürte sofort, daß magische Menschen in der Nähe waren. Zwar verbargen sie sich unter einem abgestellten Bagger, doch sie konnte die Lebensenergieaura von zwei Zauberern sehen, die auf dem planierten Grundstück der alten Chemiefabrik herumlungerten. Sie wußte, daß diese Magier auf sie warteten. Ihr lag daran, daß sie nicht gestört wurde, wenn sie ihre Schlafstätte aufsuchte, um das überschüssige Leben aus sich in ihr Lebenskraftsammelgefäß zu füllen. Sie veränderte ihre Erscheinung geringfügig, daß sie nun ihre Urform besaß und mit goldbraunen Augen durch die Gegend blickte. Sie trug das weiße Gewand, welches sie immer vor wichtigen Ritualen trug. So war sie im Licht des Mondes deutlich zu sehen. Die Spätherbstkälte machte ihr nicht das geringste aus.

"Was sucht ihr hier, ihr beiden. Denkt ihr, ich sehe euch nicht, nur wegen dieser albernen Eisenkonstruktion über euch?" Rief sie laut in die Nacht. Die beiden im Moment nur als für sie leuchtende Schemen erkennbaren Zauberer sprangen auf. Offenbar waren sie nicht darauf gefaßt gewesen, so schnell entdeckt zu werden. Sie traten auf die freigeräumte Fläche hinaus. Es waren ein bärtiger gedrungener Mann mit struweligem dunklen Haar und ein hagerer Mann mit mittelhellem Scheitel. Sie trugen Kapuzenumhänge, die Kapuzen jedoch im Moment nicht über dem Kopf. Das Wesen, das sich Loretta Irene Hamilton nannte, betrachtete die beiden interessiert. Der mit dem Struwelhaar schrak zusammen, als sie ihren Blick an seinem Körper entlangstreichen ließ. Ja, er hatte bestimmt auch allen Grund dazu, sich vor ihr zu fürchten, erkannte sie. Denn in ihm floss starkes Zaubererblut, und womöglich war sein inneres Selbst stark und ergiebig. Doch im Moment hatte sie keinen Hunger. Doch wußte der andere das?

"Tretet näher! Wie nett, von zwei starken Herren der Zaubererwelt empfangen zu werden. Wer seid ihr, und was führt euch zu dieser Stunde zu mir?" Sprach sie die beiden Fremden an.

"Ich bin Roster Croaker", sagte der mit den Struwelhaaren und deutete auf seinen Begleiter, "und dies ist Lorne Feerse. Wir sind hier, um dich aufzusuchen, und dir einen Gruß von unserem Herren zu bringen."

"Oh, hat euer Herr es nicht nötig, dann selbst hier zu erscheinen?" Fragte Loretta herablassend. Croaker sah sie kurz an, als wisse sie nicht, über wen sie sich da lustig machte. Doch als sie ihm direkt in die Augen sehen wollte, schrak er zurück und wich ihrem Blick aus.

"Seine Lordschaft, Voldemort, der große Führer der magischen Reinigungsbewegung und zukünftige Gebieter der Zaubererwelt, entbietet dir seinen Gruß, Schwester des dunklen Feuers. Er wünscht dir alles gute zu deiner Erweckung aus langem Schlaf und möchte sich erkenntlich zeigen, weil du so große Macht besitzt", sagte Feerse unterwürfig klingend.

"Wie nennt sich euer Herr und Gebieter? Lord Voldemort? Hat er denn wirklich die Schwingen des Todes?" Fragte Loretta immer noch herablassend klingend.

"Er ist - er ist sehr mächtig. Er konnte sogar dem Tod widerstehen", sagte Croaker schnell, weil er nicht wußte, wie er diese Herabwürdigung seines Meisters hinnehmen sollte.

"Ach, ein Lebenskünstler. Dennoch traut er sich nicht, mich persönlich zu begrüßen. Immerhin ist es ja doch schon einige Monde her, daß ich wieder wach bin. Also, sagt mir, was dieser Lord Vol-de-mort mir ausrichten möchte. Ich werde es mir anhören und dann eine Antwort darauf geben, die ihr ihm ohne sie zu verfälschen überbringen dürft."

"Dieses Weib muß sehr mächtig sein, wenn es wagt, ohne es zu wissen über jemanden so abfällig zu sprechen", dachte Feerse und schrak zurück, als der Blick der goldenen Augen den seinen zu fesseln versuchte. So überließ er es Croaker, zu sprechen.

"Seine Lordschaft Voldemort bietet dir seine Hilfe an, deiner Natur zu folgen, dich in diesem Land nach Belieben auszuleben und dir zu nehmen, wonach es dich verlangt. Er fragt nur, ob du ihm dann ab und an helfen magst, gegen seine Feinde zu kämpfen."

Loretta lachte schallend los. Konnte es denn wirklich so sein?

"Mit anderen Worten, ich brauche die Erlaubnis deines Lord Voldemort, um meiner Natur zu folgen, Mensch? Soll es bedeuten, ich müßte ihm Tribut dafür zollen, daß ich überhaupt lebe, länger als deine ganze Ahnenreihe zusammen gelebt hat? Was soll denn das, mir von einem Kurzlebigen eine Genehmigung zu holen, meiner Natur zu folgen. Denkst du, ich erkenne nicht, wieviel Angst er vor mir hat, daß er euch diese Botschaft aufträgt? Also weiß er, daß ich oder meine Schwestern eh kommen und gehen, tun und lassen können was wir wollen oder müssen. Warum sollte ich seine jämmerlichen Feinde vernichten, Mensch? Ist er nicht mächtig genug dafür?"

"Selbstverständlich ist er mächtig genug, du Ungeheuer, und wenn du ihn noch weiter beleidigst wird er dir zeigen, wie sehr du von seiner Gnade abhängst, Kreatur. Denn er bietet dir nur einmal diesen Handel an. Lehnst du ab, bist du seine Feindin, und dann wird er dich vernichten, wie er alle seine Feinde vernichtet", sprudelte es scheinbar achtlos aus Croaker heraus. Feerse schrak zusammen. Hatte Wurmschwanz ihm nicht ausdrücklich gesagt, dieses Wesen nicht zu bedrohen?

"Croaker, bist du von Sinnen?" Zischte er seinem Begleiter zu. Croaker sah die Frau mit den langen roten Haaren an, eine überirdische Schönheit, anmutig in jeder Bewegung.

"Weder fresse ich das Zuckerbrot deines Lords, noch fürchte ich seine Peitsche, du Wurm. Wenn er wirklich so mächtig ist, mich zu vernichten, wäre er selbst erschienen und hätte diese Botschaft persönlich überbracht. Da er aber willige Untergebene geschickt hat, bin ich ihm entweder nicht wichtig genug oder zu gefährlich, um sein wertvolles Leben zu riskieren. Ich habe euch gehört und gebe euch nun die Antwort mit", sagte Loretta und erwischte nun doch den Blickkontakt mit Feerse. "Meine Schwestern und ich bestehen seit Äonen. Wir sahen schon mächtige Herrscher und Heere aufsteigen und im Staub vergehen. Viele so mächtige Zauberkundige fielen meinen Schwestern und mir zu Füßen, weil wir es wollten. Selbst eine mächtige Herrin, die große Sardonia vom Bitterwald, konnte uns bei all ihrer Macht nicht bezwingen. Und Sardonia hatte Macht und Größe, in eigener Person wider meine Schwester Ilithula anzutreten, behielt selbst noch ihren Mut, als Ilithula ihren Sohn zu ihrem Diener machte und ihre Tochter tötete, und scheiterte doch an ihrer Kraft. Sicher, sie überlebte den Kampf, aber uns gibt es immer noch. Auch wenn Ilithula, die Tochter der düsteren Stürme, noch schlafen muß, nach dieser Schlacht, so lebt sie immer noch, während Sardonia und die ihren auch schon im Staub der Welt vergangen sind. Was soll mir da ein Mann anhaben, wo eine Frau schon scheiterte? so sage ihm, er möge mich in Ruhe lassen und mich nicht zur Feindin machen. Den endgültigen Tod dürfte er nicht wollen. So, und jetzt macht euch von meinem Land herunter! Seid ihr in fünf Minuten nicht verschwunden, gehört ihr mir, und euer Lord Voldemort wird wissen, daß ich seine heuchlerische Anbiederung nicht gebraucht habe. Los, fort mit euch!"

Feerse hing noch unter dem eindringlichen Blick der Tochter des dunklen Feuers. Sie blickte in seine Seele hinein. Er spürte, wie sein Geist durchforscht wurde, wie ein Gewässer von einem Ruder durchwühlt und verwirbelt wird. Er stemmte sich dagegen, versuchte seine tiefsten Ängste, Freuden und Ärgernisse zu verstecken. Doch die unheimliche Kreatur nahm sich seine Gedanken, betrachtete sie gründlich und warf sie dann wieder in das aufgewühlte Bewußtsein zurück. Sie sah Feerse an und schickte einen eindringlichen Befehl an ihn, sofort zu verschwinden. Dies tat der Todesser sogleich. Croaker verschwand auch, bevor er noch irgendwas sagen konnte.

Einige hundert Meter entfernt vom planierten Fabrikgelände apparierten sie in einem vorher vereinbarten Versteck. Feerse sah Croaker an, wollte ihm sagen, daß es dumm war, dieser Kreatur zu drohen. Doch er schaffte es nicht, dies laut auszusprechen. Croaker sah den Begleiter an und meinte:

"Lord Voldemort wird sie schon fertigmachen. Er hat bisher alle Kreaturen besiegt, die sich ihm in den Weg gestellt haben."

"Hast du das Incantimeter dabei?" Fragte Feerse. Croaker nickte und holte ein prismenartiges Messgerät hervor.

"Damit kriegen wir mit, wann sie verschwindet. Ich werde diesen Lebenskraftbehälter finden, den die hier versteckt hat. Dann hat der dunkle Lord leichtes Spiel."

"Und wenn sie weiß, daß ... Sie wird nicht so schnell verschwinden", sagte Feerse. irgendwie hatte etwas den Gedanken verdrängt, sie könnte darauf gefaßt sein, daß man ihre Ruhestätte ausplündern würde.

"Wir müssen nur aufpassen, daß sie uns hier nicht erwischt", sagte Croaker. Er sah durch das Prisma hinüber zu der niedergerissenen Fabrik. Er mußte die Augen zukneifen, weil irgendwas helles zu sehen war.

"Die hat selbst auf dieser Entfernung eine heftige Eigenmagie", meinte Croaker fasziniert. "Vielleicht kriege ich damit auch raus, wo ihr Lebenskraftbehälter steckt. Warum hat der dunkle Lord uns nicht gleich danach suchen lassen?"

"Weil er will, daß dieses Wesen freiwillig für ihn arbeitet", erwiderte Feerse.

Eine geschlagene Stunde hockten die beiden Dunkelmagier weit vom Fabrikgelände entfernt. Dann entlich flüsterte Croaker, daß die Kreatur davongeflogen war, und zwar von ihnen fort.

"Die können fliegen? Wie geht das ohne Flügel?"

"Sie können sich in Nebel auflösen oder in eine fliegende Kreatur verwandeln, wenn sie genug Macht besitzen", wußte Croaker, der diese Wesen ausgiebig studiert hatte.

"Ist sie nun weg?" Fragte Feerse.

"Ja, ich kann sie nicht mehr mit dem Incantimeter erkennen", sagte Croaker.

"Dann los, zurück!" Flüsterte Feerse und disapparierte in Richtung Fabrikgelände. Croaker folgte ihm sofort.

"Diese Idioten", dachte eine kleine herumschwirrende Fliege. An und für sich war es zu dieser Jahreszeit zu kalt für Fliegen. Doch wen kümmerte es hier. Sie flog wieder näher an das Fabrikgelände hin und konnte die beiden Todesser noch entdecken, wie sie mit Zauberkraft den Boden aufwühlten und mit Fluchfindern nach verborgenen Zauberfallen suchten. Sie gruben und zerstrahlten den Boden aus ihrer Reichweite fort und forschten nach getarnten Eingängen. Dann trafen sie auf einen Widerstand, eine magische Sperre, die den Raum veränderte, sodaß man von außen nicht erkennen konnte, was dahinterlag. Mit drei mächtigen Flüchen brachen die beiden Zauberer die Sperre weg und stürzten fast in eine breite Felsspalte. Für einige Minuten war nichts zu erkennen. Dann schoss vom Nachthimmel her eine riesige Kreatur mit lederartigen Flügeln herunter wie ein Greifvogel, zielgenau durch den Felsspalt.

Croaker stand fasziniert in einer Höhle so groß wie eine Kathedrale. Baumdicke Säulen trugen eine gewölbte Decke, die nur durch den etwa zwei mal sechs Meter großen Spalt durchbrochen wurde. Ein rötliches Glimmen schimmerte von der Mitte der Höhle her. Croaker sah eine große Strohmatte mit darauf liegenden Kissen und einer großen Daunendecke. Doch das eigentlich grandiose hier war die Quelle des roten Glimmens, ein riesiger Krug aus einem rötlich glühenden Metall, der gut und gerne zwei Meter hoch war und anderthalb Meter durchmaß. Zwei ausladende, armdicke Henkel verzierten dieses Gefäß. Als Croaker nähertrat, konnte er im schimmernden Metall goldene Lichtgebilde tanzen sehen, die wie schnell vorüberhuschende Irrlichter aufleuchteten und vergingen. Er sah den massiven goldenen Deckel auf dem Krug und wußte, daß er wirklich den Behälter gefunden hatte, den er suchte.

"Der ist ja glühend heiß", stellte Feerse erschrocken dreinschauend fest. "Den können wir nicht einfach wegtragen."

"Er ist bestimmt auch sehr schwer", meinte Croaker.

"Dann sollten wir schnell alle holen, die wir erreichen können", sagte Feerse ehrfürchtig auf den gewaltigen Krug blickend.

Unvermittelt erstrahlte der mächtige Krug in einem goldenen Licht, das die ganze unterirdische Halle ausleuchtete. Gleichzeitig viel von oben ein großes Geschöpf mit roter Schuppenhaut und fledermausartigen Flügeln, das wie eine Mischung aus Reptil und Mensch aussah. Doch Croaker und Feerse hatten nicht genug Zeit, diese unerwartete Erscheinung zu deuten. Denn mit mächtigen Klauen packte das hereinstürzende Untier die beiden Eindringlinge und schleuderte sie spielerisch in die Luft. Sie landeten beide auf der großen Strohmatte. Doch als sie auftrafen, schoss um die Bettstatt ein meterhoher Ring aus dunklen Flammen auf, der noch mehr Kälte verströmte als es die Novembernacht eh schon tat.

"O nein, der dunkle Feuerring", schrie Croaker und zitterte vor Angst und Kälte. Durch das Spiel der nachtschwarzen Flammen konten sie verschwommen erkennen, wie das Flugungeheuer schrumpfte und dabei vollständig menschliche Gestalt annahm, die Gestalt einer Frau im weißen Kleid mit feuerroten haaren.

"Ich wußte, daß ihr kommen würdet, wenn ich weit genug fort sein würde. Ich hätte euch schon früher eingeladen, meine Ruhestatt heimzusuchen. Aber ich hatte dringende Geschäfte zu erledigen, bevor ich ausgehen konnte", sagte Loretta Irene Hamilton und sah die beiden Zauberer mit eiskaltem Lächeln an. Das goldene Licht des Kruges schien unverfälscht in ihren Augen wider.

"Die hat uns Idioten in eine Falle gelockt", erkannte Croaker vor Angst und Kälte schlotternd. Feerse zog seinen Zauberstab und schwang ihn einmal im Kreis entlang des dunklen Flammenrings. "Flammanulus!" Rief er. Aus seinem Zauberstab schoss ein oranger Flammenblitz. Die dunkle Feuermauer um sie herum strahlte nun tiefrot auf und schrumpfte auf ein Viertel ihrer Höhe zusammen. Sofort sprang Croaker auf und zog seinen Zauberstab. Auch er schwang ihn um sich herum und rief "Flammanulus!" Nun wich die grimmige Kälte, die das dunkle Feuer verströmte. Es wurde noch heller, sodaß es nun glutrot leuchtete und verlor noch mehr Höhe. Jetzt reichte die kreisförmige Feuermauer nur noch kniehoch. Croaker und Feerse sprangen ohne sich zu verabreden über die nun leicht zu überwindende Barriere hinweg. Sie liefen ohne Absprache in zwei verschiedene Richtungen davon und wollten durch die Spalte im Gewölbe nach draußen klettern. Loretta Hamilton schien zunächst nichts dagegen zu haben. Sie zog mit einer übermenschlichen Kraft den massiven Deckel vom Krug herunter. Ein orangeroter Schimmer drang aus dem Inneren des Gefäßes wie eingefangenes Abendsonnenlicht. Ein merkwürdiges Prickeln wie elektrische Spannung erfüllte die Luft. Croaker und Feerse stemmten sich gerade die Stufen in der runden Wand hoch, die zum Ausgang führten. Da verschloss sich der breite, lange Spalt so schnell, daß die beiden Todesser glaubten, das Gestein sei zu einer leicht verformbaren Gummimasse geworden. Sie klopften mit ihren freien Händen vor die versperrte Öffnung, die nun ein nathlos verlaufendes Stück Mauer war.

"Habt ihr Kurzlebigen euch wirklich eingebildet, ihr könntet mir mit einem einfachen Feuerring aus meiner Bettstatt entweichen und dann seelenruhig aus meinem Reich flüchten?" Fragte Loretta Hamilton. Feerse und Croaker sahen sich bedröppelt an. Dann versuchten sie, zu disapparieren. Doch das hätten sie besser lassen sollen.

Anstatt aus dem gewaltigen Raum zu verschwinden, prallten sie gegen ein unsichtbares Hindernis, wurden in eine rotierende Strömung gezogen und wie wild durch den Raum geschleudert, jedoch nicht nach außen, sondern nach innen, genau auf Bett und Krug zu. Sie schrien vor Angst und Schmerz. Wie Blätter im Herbststurm schlingerten ihre Körper herum, bis die magische Gewalt nachließ.

"Ihr wolltet sehr weit weg, nicht wahr?" Fragte die menschengleiche Kreatur mit amüsierter Stimme. "Euer Fluchtversuch hat viel Kraft entfaltet. Aber ich gebiete hier. Ich habe euch gesagt, ihr sollt verschwinden und nicht warten, bis ich hier fortgehe. Da ihr nach den erlaubten Fünf Minuten in meinem Reich erwischt wurdet gilt meine Forderung."

Feerse richtete schnell seinen Zauberstab auf Loretta. "Avada Kedavra!" Rief er.

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Die Vorletzte Woche seines Amerika-Projektes schlich trotz Arbeit und Nachbereitungen dahin wie eine fußlahme Schildkröte. Richard Andrews dachte daran, bald wieder in London zu sitzen und mit seinen Mitarbeitern den Alltagsjob auszuführen, der nicht minder anstrengend aber dafür übersichtlich war. Er saß gerade an einer Nachbereitung einer Versuchsreihe, als sein Telefon klingelte. Er speicherte das gerade zu schreibende Protokoll in seinem Rechner zwischen und nahm den Hörer ab.

"Dr. Andrews hier", meldete er sich ruhig sprechend.

"Andrews, was höre ich da von Ihrem Institutsleiter", donnerte die Stimme Goodwins aus der Hörmuschel. "Sie haben sich mit Ihren Mitarbeitern überworfen? Wie soll ich diese Mitteilung verstehen?!"

"Entschuldigung, Dr. Goodwin. Wer immer behauptet, ich hätte mich mit meinen Mitarbeitern überworfen hat Ihnen da eine verfälschte Sachlage geschildert. Wer behauptet denn sowas?" Erwiderte Richard Andrews sichtlich erregt.

"Tut jetzt nichts zur Sache. Ihr Institutsleiter, mit dem ich nebenbei sehr gut klarkomme, hat mir jedenfalls mitgeteilt, daß er sich persönlich erkundigen wird, wie Ihr Projekt gediehen ist. Wir haben mehrere Millionen in die Vorbereitung gesteckt, Dr. Andrews. Wir erwarten mindestens das dreifache davon zurück, wenn die Versuchsergebnisse auf den Markt gebracht werden sollen. Also erstatten Sie mir sofort Bericht, was bei Ihnen los ist!" Herrschte Richard Andrews' oberster Chef ihn an.

Richard berichtete, daß er zwar in einem gespannten Arbeitsklima seine Aufgaben erfüllte, dennoch mit den Leuten zusammenarbeiten könne. Falls jemand behauptet habe, er habe sich mit seinen Mitarbeitern verkracht, so sei dies total falsch oder schlicht gelogen. Immerhin würde das Projekt kurz vor dem erwarteten Abschluß stehen und die in ihn und seine Mitarbeiter gesetzten Erwartungen voll erfüllen.

"Wenn sie wollen, Sir, maile ich Ihnen die ganzen Versuchsprotokolle und Berichte sofort zu. Ich habe nichts zu verbergen", schloss Richard seine Rechtfertigungsrede ab. Goodwin knurrte zurück:

"Bevor ich ins Bett gehe. Hier ist es gerade Mitternacht."

"Wie Sie wünschen", erwiderte Richard Andrews und verabschiedete sich. Er legte auf, holte aus seiner Jacketinnentasche sechs Disketten hervor, überspielte den Inhalt auf die Festplatte des Rechners, rief das E-Mail-Programm auf und schickte die gesamte Datenmenge als komprimierten Anhang der elektronischen Nachricht nach London. Danach verbarg er die sechs Disketten wieder in seinem Anzug. Er tippte das Protokoll zu ende und speicherte es auf eine leere Diskette, die er zu den anderen Datenträgern steckte.

"Gut, daß die hier schon die Hochgeschwindigkeitsleitung installiert haben", dachte Richard. So würde die komprimierte Datenmenge nicht stundenlang im Internet unterwegs sein, bis sie bei Goodwin ankam. Er fuhr den Computer ordentlich herunter und verließ das Büro. Draußen stand Elvira Walker zusammen mit Arnold Vierbein und unterhielt sich leise. Richard glaubte, seinen Namen gehört zu haben. Außerdem wirkten die beiden so, als müßten sie etwas wichtiges verbergen, sahen irgendwie auch leicht verlegen aus. Doch Richard Andrews grüßte freundlich und erzählte ihnen, daß er nun das Vorabschlußprotokoll gesichert habe. Dann schloss er das Büro ab und verließ das Institut. Als er in seiner Mietwohnung ankam, sah er den Anrufbeantworter blinken. Er drückte die Abspieltaste und hörte, daß er zwei neue Nachrichten bekommen habe. Das kleine Tonband lief los und spielte die aufgenommenen Nachrichten ab.

Die erste Nachricht war von Loretta Hamilton, die um drei Uhr Ortszeit aufgesprochen hatte, daß sie ihn in zwei Tagen am Flughafen verabschieden würde. Dann sang sie wohl aus romantischen Anwandlungen das betörende Schlaflied, mit dem sie jede ihrer gemeinsamen Liebesnächte begleitet hatte. Richard fühlte sich in eine merkwürdig entspannte und geborgene Stimmung versetzt. Auch als blechern aus dem Lautsprecher dringende Verstümmelung der tiefen, sanften Stimme Lorettas wirkte diese Melodie auf sein Gemüt ein. Er setzte sich ruhig hin und trieb von Ton zu Ton in einem Strom wohliger Gefühle. Dann war die Nachricht vorbei. Die zweite Nachricht wurde abgespielt.

"Hallo, Sehr geehrter Dr. Andrews. Hier spricht Reno Scott von der vereinigten Gesellschaft zur Steigerung der Produktivität. Wie wir erfuhren, verweilen Sie gerade in New York City und arbeiten dort im Auftrag Ihrer Londoner Gesellschaft. Wir wurden von Mr. Mark Degenhart, Eigner und Präsident der Degenhart Autodesign-Kompanie gefragt, ob Sie vielleicht interessiert seien, sich beruflich zu verändern. Näheres erfahren Sie, falls Sie interessiert sind unter folgender Nummer. ..."

Die Telefonnummer war aus New York, konnte Richard Andrews schon an der Vorwahl erkennen. Doch was sollte das bedeuten? Wer interessierte sich da für ihn und warum? Er hatte schon von Wissenschaftlern und Managern gehört, die von sogenannten Kopfjägern von ihren bisherigen Unternehmen abgeworben wurden, weil finanziell besser dastehende Betriebe die Fachkenntnisse solcher Leute ausnutzen wollten. Natürlich bekam der Abgeworbene mehr Geld und / oder Freiraum für seine Arbeit, war damit jedoch auch gezwungen, das Geld wert zu bleiben, daß das Unternehmen in ihn und seine Arbeit hineinsteckte. Viele Firmen fürchteten und verachteten solche Kopfjäger, weil sie die von Ihnen geförderten Fachkräfte, für die sie selbst bereits viel Geld bezahlt hatten, für einen Bruchteil dieses Geldes an andere Firmen verlieren konnten, wenn unzufriedene Leute all zu gerne ihre Sachen packten und wechselten. Loyalität zu einer Firma war in diesen Zeiten selten geworden. Aber was wollte dieser Degenhart, daß er vielleicht solche Unterhändler auf ihn angesetzt hatte? Nun, das konnte er nur herausfinden, wenn er dort anrief. Doch damit würde er ja schon zeigen, daß er wechselwillig war. Denn nichts anderes bedeutete ja die Frage, ob er sich beruflich verändern wolle. Im Moment würde er glatt zustimmen, egal, welche Zugeständnisse man ihm machte. Doch wie sah das in einem halben Jahr aus, oder in fünf Jahren. Er hatte von der Universität weg bei Omniplast eine gute Grundlage für seine Arbeit und ein sehr gutes Auskommen gefunden. Wollte und durfte er das einfach in den Wind schlagen?

Er saß eine Viertelstunde bei laufendem Radio da und starrte das Telefon an, als ob es ihm verraten würde, was er nun tun sollte. Er wollte gerade eine Entscheidung treffen, da traf es ihn ohne Vorwarnung.

Als wenn ein Schnellzug mit gleißend grünem Scheinwerfer auf ihn zuschoss und ihn voll traf, fühlte sich Richard von einer Sekunde zur anderen. Er glaubte, von einer wuchtigen kalten Welle einfach hinweggespült zu werden, die ihm die Besinnung raubte. Er sackte schlaff von seinem Stuhl herunter und plumpste besinnungslos auf den Teppich vor dem Telefontisch.

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Die verbotenen Worte waren kaum verhallt, als aus Feerses Zauberstab ein greller grüner Blitz mit lautem Brausen zu Loretta hinüberschlug und sie voll traf. Für eine Zehntelsekunde krümmte sich die Kreatur in Frauengestalt zusammen und schrie laut auf. Ihr rotes Haar phosphoreszierte wie ein Schwarm übereifriger Glühwürmchen. Aus ihren Augen schien der goldene Glanz zu verschwinden. Doch das orangerote Leuchten aus dem offenen Krug erglühte stärker, bündelte sich zu einem dünnen aber hellen Lichtstrahl, der die von weißem Tuch überdeckte Körpermitte des menschengleichen Geschöpfes traf. Sie zuckte einmal, zweimal und stöhnte schnell und heftig. Dann richtete sie sich wieder auf und sah mit zurückgekehrtem Glanz in den Augen den Zauberer an, der sie gerade mit dem Todesfluch angegriffen hatte. Der grünliche Schimmer war aus ihrem Haar verschwunden. Das ganze hatte keine zwei Sekunden gedauert.

"Das kann doch nicht sein! Niemand überlebt das!" Rief Feerse erschrocken. Croaker jedoch schien damit gerechnet zu haben, daß dieser sonst so unabwehrbare Angriff scheitern würde. Er hatte nicht erst abgewartet, ob die weibliche Bestie sterben würde. Er rannte zurück zum Aufgang zum immer noch verschlossenen Höhleneingang.

"Reducto!" Rief er mit auf die Wand deutendem Zauberstab. Ein Blitz krachte daraus, prallte an die Mauer und schwirrte wie ein Luftheuler sirrend in den Felsendom zurück. Angerichtet hatte er jedoch nichts.

"Du hast mir ein Leben aus dem Leib geschlagen, du kleiner kurzlebiger Würmling", schnaubte Loretta Hamilton zornig. "Das gibst du mir sofort wieder."

"Was?!" Rief Feerse, während Croaker erneut versuchte, den Eingang mit einem Reducto-Fluch zu öffnen. Wieder schwirrte der Fluch als Querschläger in den Felsendom zurück und prallte dabei auf eine Steinsäule, die ihn noch mal umlenkte und schräg hinter Feerse gegen den Krug prallen ließ. Wie eine angeschlagene Bronzeglocke klang der übergroße Krug, als der abgefälschte Fluch ihn traf. Doch mehr geschah nicht.

"Ihr seid in meinem Reich hier. Keine Magie kann es durchdringen oder zerstören. Daß ihr hier überhaupt eingelassen wurdet, verdankt ihr mir. Ich wollte euch hier haben. Ja, und du gibst mir nun dein Leben für das, welches du mir aus dem Leib gesprengt hast, Feerse!"

Feerse richtete seinen Zauberstab erneut auf die Kreatur mit dem feuerroten Haar. Doch diese sprang schneller als eine Raubkatze auf ihn zu, riss ihm den Zauberstab aus der Hand, zerbrach ihn wie ein Streichholz und schleuderte die zwei Bruchstücke in den niedrigen Feuerring um ihr Bett. Zischend und mit einem Knacklaut verbrannte das Holz wie Zunder. Doch Feerse hatte keine Aufmerksamkeit dafür. Denn soeben wurde er von den schlanken Händen der Schwester des dunklen Feuers gepackt, die wie zwei Schraubstöcke unter seinen Achseln zuschnappten und ihn federleicht aufhoben. Er strampelte und versuchte, mit den eigenen Händen den eisernen Griff zu lösen. Er fühlte, wie sein Umhang mit einem Mal zerriss und von ihm abfiel. Er hieb mit der Faust nach dem Ungeheuer. Doch der Schlag federte zu ihm zurück und traf die eigene Nase.

"Ist gut jetzt! Du wirst dich nicht selbst verletzen, nur um für mich ungenießbar zu sein", fauchte Loretta Hamilton und riss mit einer Hand seine Unterkleidung in Stücke. So fand er sich nackt und hilflos in einer stählernen Umklammerung wieder, die ihm beide Arme an den Körper presste, während er auf den orangerot scheinenden Krug zugetragen wurde.

"Bei Merlins Bart, Feerse, die will dich einverleiben!" Rief Croaker ängstlich und feuerte einen Schockzauber auf Loretta ab, der sie nur kurz zusammenschrecken ließ. Dann setzte sie ihren Weg weiter fort und näherte sich dem außen goldenen und von innen her orangeroten Krug. Noch einmal klangen die Worte "Avada Kedavra" durch den Felsendom. Doch da hatte die Tochter des Abgrunds ihr nacktes Opfer schon über den Rand des großen Gefäßes geschleudert und es kopfüber darin verschwinden lassen. Als der grüne Todesblitz durch den Dom sirrte, tauchte sie nach unten, sodaß der Fluch über sie hinwegschoss, gegen die Mauer prallte und wie ein Kanonenschlag krachend daran zersprühte. Nur ein weißer Fleck auf dem mattgrauen Stein der runden Mauer zeigte, wo der unverzeihliche Fluch aufgeschlagen war.

"Imperio!" Rief Croaker. Loretta wirbelte herum. Irgendwas kitzelte ihr unter der Kopfhaut. Sie konzentrierte sich und verdrängte die Wirkung des Unterwerfungsfluches so heftig, daß Croakers Zauberstab so stark ausschlug, daß Croaker ihn nicht mehr halten konnte und ihn fallen ließ. Loretta huschte auf allen Vieren zu ihm und warf ihn nach hinten. Da fühlte sie einen Schauer wohliger Wärme in sich aufsteigen, sich ausbreiten und sie mit einer belebenden Kraft durchfluten, die sie in eine leidenschaftliche Stimmung versetzte. Croaker wußte, wo das herkam. Sein Begleiter, der laut schreiend in den großen Krug gestürzt war, hatte alles an Lebensenergie in dieses Höllengefäß verloren, das seinerseits die von ihm zehrende Kreatur so schlagartig mit neuer Lebenskraft auflud, daß sie einen Schauer wie von zehn lustvollen Liebesakten erlebte. Doch in dieser Ekstase war sie im Moment unfähig, ihn anzugreifen. Er wand sich unter ihr weg und rannte auf seinen am Boden liegenden Zauberstab zu. Wenn er ihn ergreifen und damit einen Todesfluch in den offenen Krug schleudern konnte, würde er vielleicht dieses Geschöpf da vernichten, zumindest aber schwächen. Doch er kam nicht mehr an seinen Zauberstab. Immer noch unter der Wallung so heftig an sie abgegebener Lebensenergie hächelnd sprang der Succubus von hinten auf Croaker zu, krallte sich in seinem Umhang fest und riss diesen wie dünnes Papier in Fetzen.

"Das war für den Anfang ein schönes Geschenk eures Herrn und Gebieters. Aber es schmeckte nach mehr", hauchte das Mörderwesen lustvoll seinem nächsten Opfer ins rechte Ohr. Croaker wußte, daß er ohne Zauberstab keine Chance mehr hatte, diesem Monstrum zu entkommen. Doch er wollte nicht sterben, einfach so in seine Energieform aufgelöst und dann von diesem Ungeheuer verschlungen werden. Er wollte selbst ewig leben. Er wollte den Brunnen der dunklen Erneuerung erschaffen und daraus neues Leben schöpfen. Doch als er über den goldenen Rand in einen orangeroten Strudel wie brennende Luft stürzte war ihm klar, daß er mit diesem Vorhaben endgültig gescheitert war. Er fiel hinein in dieses orangerote Lichtgebilde, ohne den Grund des Kruges zu erkennen. Er fiel in einen endlosen Schacht aus feuriger Luft. Dabei fühlte er, wie er immer leichter wurde, wie etwas prickelndes durch seine Haut drang, ihn durchströmte und immer stärker durchflutete, bis seine Sinne in dieser Woge aus Energie zerflossen, seine Seele sich ausbreitete und im Inneren des Kruges mit der halbstofflichen Substanz, nicht gasförmig, nicht flüssig, zerfloss.

Loretta sah, wie ihr zweites Opfer in den Krug stürzte, sah, wie seine Füße verschwanden. Dann fühlte sie dieses warme Prickeln in ihrem Unterleib, daß sich warm und pulsierend immer stärker werdend über ihren Körper ausbreitete und sie erneut in eine mächtige, wohlige Wallung tauchte, die mindestens zehn Sekunden dauerte. Sie schrie ihre Lust hinein in den Felsendom, kostete die in sie einschießende Kraft eines weiteren starken Lebens und genoss es, nun wieder kräftiger als vor einem Tag zu sein. Sie wartete, bis die letzten Wellen der Wonne abgeebbt waren, stand auf und hob den massiven Deckel an. Sie legte ihn auf den Krug und drehte ihn so, das er nahtlos schloss. Sie fühlte ein leichtes Pulsieren im Unterleib. Sie wußte von ihrer Schwester Ilithula, daß sie gerade zwei neue Leben empfangen hatte, die dann zu neuen Töchtern der großen Mutter jenseits des Abgrundes aufkeimen würden, wenn anderswo eine ihrer Schwestern sterben würde. So wurde das Neunergespann immer gehalten. Ja, und sie hatte nun diese zwei Leben in sich. Doch sie dachte nicht, daß vor den nächsten Jahrhunderten eine ihrer Schwestern würde sterben müssen. Dafür war es zu einfach, die Lebenskraft anderer zu schöpfen und hier zu lagern. Sie atmete tief durch und überlegte, was sie nun tun sollte. Da kam ihr die Idee, diesem Voldemort die Kleidung der beiden Gehilfen zurückzugeben, damit er sah, daß seine Schergen ihr zum Opfer gefallen waren. Dies würde ihn entweder davon abhalten, sie weiter zu belästigen oder ihn dazu treiben, in eigener Person herzukommen. Tat er dies, würde sie noch ein volles Leben auf einen Schlag empfangen.

Sie schritt ihr Reich noch mal ab und inspizierte den weißen Fleck, den ein Todesfluch an der Wand hinterlassen hatte. Sah irgendwie aus wie ein mehrfach verästelter Blitz, dachte die Unheimliche. Dann spie sie kräftig auf den Fleck und sah, wie ihr grünlicher Speichel sich wie Säure in die Wand fraß. Doch anstatt ein Loch zu hinterlassen, fraß ihr Speichel den weißen Fleck fort. restlos fügte sich das Mattgrau wieder in die ganze Wandfläche ein.

"Ich werde auch noch zulassen, daß ihr mein Reich mit euren groben Zaubern verunstaltet", sagte sie laut. Dann schritt sie um den Lebenskrug herum und schnipte mit den Fingern der rechten Hand. Mit einem kurzen Faucher fiel der ohnehin schon niedrige Feuerring um ihr Bett in sich zusammen.

"Dann werde ich nun zurück zu Richard springen und sehen, was er tut", dachte das Wesen, welches sich in der Menschenwelt Loretta Irene Hamilton nannte. Sie stand eine Sekunde in voller Erstarrung da, dann verschwand sie, jedoch ohne den üblichen scharfen Knall, den ein disapparierender Zauberer machte. Kaum war sie fort, erlosch der goldene Schein des übergroßen Kruges und ging in das dunkelrote Glühen über, daß zwei übereifrigen Todessern den Weg in die Falle gewiesen hatte.

__________

Richard fand sich auf dem Boden liegend wieder. Warum lag er hier. In seinem Gedächtnis gähnte ein großes, schwarzes Loch. Doch kaum daß er die Augen aufschlug strömte allerlei in dieses Vakuum hinein, füllte es mit Erinnerungen auf. Er war angekommen, hatte den Anrufbeantworter abhören wollen und war dabei dummerweise über seine eigenen Füße gestolpert und hingeflogen. Dabei mußte er sich wohl den Kopf angeschlagen haben. Er befühlte seinen Kopf, stellte jedoch weder eine Beule noch eine Platzwunde fest. Er wankte zum Spiegel im Flur und sah hinein. Außer daß er leicht erbleicht war hatte er sich nichts geholt. Dann mußte er wohl einen Kreislaufzusammenbruch erlebt haben. zwar war er noch nicht in einem Alter, wo sowas öfter passierte. Doch wenn jemand nach einem anstrengenden und belastenden Arbeitstag heimkehrte, mochte sowas passieren, daß der über Stunden hochgehaltene Blutdruck durch die Ruhe absank und zwar so plötzlich, daß es die Besinnung raubte. Jedenfalls konnte Richard jetzt nichts mehr an sich erkennen, was auf einen Unfall hindeutete. Er kehrte zum Telefontisch zurück und hörte noch mal die zwei Nachrichten ab. Als er Lorettas Schlaflied hörte, floss eine herrliche Wärme in ihn zurück. Konnte es sein, daß er deshalb umgefallen war? Er setzte sich sicherheitshalber ruhig hin. Als er die zweite Nachricht gehört hatte, überlegte er nicht lange. Wenn da wirklich ein Kopfjäger im Auftrag einer anderen Firma auf ihn angesetzt war, wollte er doch zumindest wissen, was ihn erwartete. So wählte er die New Yorker Nummer. Zwar war im Moment natürlich keiner da, weil auch in den Staaten die Büros um vier Uhr Nachmittags verlassen wurden. Doch er hörte eine Mobiltelefonnummer, die er außerhalb der Geschäftszeiten anwählen konnte. Er fragte sich zwar, was für ein Arbeitsleben das war, auch nach Büroschluß von Kunden oder Vorgesetzten behelligt zu werden. Doch er kannte es ja von seiner eigentlichen Arbeit her nicht anders. Wie oft war er in den dunkelsten Nachtstunden ins Labor gefahren, um eine aus der Bahn zu geraten drohende Versuchsreihe zu überwachen oder den Geistesblitz eines Mitarbeiters in die Tat umzusetzen. Wissenschaftler hatten keinen regelmäßigen 8-Stunden-Tag, wußte Richard zu gut. So rief er diesen Mr. Scott an und sagte ihm, daß er dessen Nachricht wegen eines überlangen Arbeitstages erst jetzt hatte hören können.

"Ja, ich kenne das, wenn man etwas unbedingt durchziehen muß und keine Schlafpause dazwischenschieben will", antwortete die junge dynamische Stimme, die Richard vorhin aus dem Anrufbeantworter vernommen hatte. "Sie sind also interessiert daran, das Angebot meines Clienten zu hören?"

"Sagen wir es so, Mr. Scott, mir ist es zwar schleierhaft, warum sich jemand hier und jetzt für mich interessiert, von dessen Betrieb ich in den Börsennotierungen der letzten zwei Wochen nur gelesen habe, daß er mit zwei weiteren Motorenwerken ins Geschäft kam. Ich bin Doktor der Chemie und kein Karosserieexperte oder Mechaniker oder Automobilingenieur."

"Nun, gerade Ihre Verdienste um ultraleichte aber widerstandsfähige Kunststoffe haben Mr. Degenhart auf Sie gebracht. Sicher weiß er, daß die Patente dafür laut Vertrag bei Ihrer bisherigen Firma liegen, und er legt es auch nicht darauf an, sie zu kaufen oder dagegen zu verstoßen, aber er trug mir auf, Ihnen anzubieten, Ihr Talent in diesem Bereich für praxiserprobte Alltagsgegenstände und Einbauteile zu verwerten. Allerdings kann und möchte ich seine vollständige Offerte nicht per Telefon verhandeln. Sie sind derzeitig in Ihrer Wohnung zu erreichen?"

"Ich weiß zwar nicht, warum Ihr Client es so eilig hat, Mr. Scott, und ich möchte Ihnen jede unnötige Arbeit ersparen, indem ich Ihnen sage, daß ich derzeit mit meiner Anstellung gut zurechtkomme und es unwahrscheinlich ist, daß ich von einem auf den anderen Tag wechseln werde. Doch andererseits wäre es unklug, meinen Marktwert zumindest nicht einmal zu überprüfen. Ich bin im Moment in meiner Wohnung. Falls Sie meinen, mich unbedingt noch heute aufsuchen zu müssen, kommen Sie bitte her. Ich werde Sie bei der Hausüberwachung anmelden. Allerdings wäre es ratsam, Sie nicht als Unterhändler eines Unternehmens anzumelden, sondern als privaten Bekannten."

"Ich verstehe Ihren Wunsch nach Diskretion. Erwarten Sie mich also in einer Stunde. Ich benötige kein Abendessen. Das nehme ich unterwegs zu mir."

"In Ordnung", sagte Richard Andrews und legte auf. Jetzt fragte er sich doch, ob er nicht sehr voreilig gehandelt hatte. So wie dieser Mensch, Reno Scott, gestimmt war, hatte der bestimmt schon zwei Kopien eines fix und fertigen Wechselvertrages in der Tasche und würde seine Überredungskunst spielen lassen, um ihn zum lebensverändernden Federstrich zu verführen. Aber jetzt hatte er zugestimmt. Er war ein erwachsener und freier Mann, der tun konnte, was er wollte. Sicher, die Patente an allen Entwicklungen, die er bei Omniplast zur Marktreife gebracht hatte, lagen im Tresor von Goodwin, beziehungsweise dessen Bank unter Verschluß. Doch wenn er seine Kenntnisse anwandte, um ähnliche Stoffe zu entwickeln, die in den Staaten noch nicht patentrechtlich geschützt waren, hätte er ein neues Betätigungsfeld. Doch er würde auf seine gewohnten Mitarbeiter verzichten müssen, oder dürfte er diese nachholen?

Richard hatte bei dem Wort "Abendessen" ein drängendes Magenknurren verspürt. Er half dem sofort ab, indem er ein Fertiggericht auftaute und in der wohnungseigenen Mikrowelle erhitzte.

Als er gegessen hatte, meldete er den erwarteten Besucher bei der Hausüberwachung an, die die videoüberwachte Zufahrtsschranke betätigte, wenn jemand in die Private Zufahrt wollte. Der Mann im Kontrollraum lachte laut und fragte:

"Ich dachte, Ihre rothaarige Bekannte hätte sich mit Ihnen verabredet. Die steht nämlich vor der Schranke und möchte zu Ihnen."

"Oh, Hmm, lassen Sie sie bitte zu mir!" Erwiderte Richard Andrews. Loretta war schon einige Male bei ihm gewesen, daß der Schrankenwärter sie kannte und sich auch ungefähr denken konnte, daß sie nicht der Arbeit wegen bei ihm ein- und ausging. Doch Diskretion war auch und vor allem in dieser Überwachungszentrale ein heiliges Gut. Kurz nach der Anmeldung kam Loretta Hamilton tatsächlich zu ihm. Er fragte sie, womit er die Ehre verdient hätte, daß sie jetzt schon zu ihm kam, wo sie doch auf seinen Anrufbeantworter gesprochen hatte, daß sie ihn erst am Abreisetag sehen würde. Sie erwiderte darauf, daß sie es wider Erwarten hinbekommen hatte, den Abend frei zu haben. Er lud sie auf ein Glas Sodawasser ein, denn Alkohol trank sie nicht und mochte es auch nicht bei ihm. Sie unterhielten sich über den Tag. Richard erzählte, was er erlebt hatte und bat um Verständnis, wenn er an diesem Abend wohl nicht mit ihr zusammen sein konnte. Sie lächelte ihn an und meinte:

"Es gibt Tage, da muß man sein Leben ordnen, Richard. Du sagtest zwar, daß du nicht auf einen Firmenwechsel ausgehst. Aber es ist doch wohl auch nicht gerade so, daß du mit Gewalt in deiner bisherigen Firma bleiben willst, oder?"

"In London habe ich kein Problem mit meiner Firma, Loretta. Das ist dieses Arbeitsklima hier. Andererseits, wenn die mich nicht hergeschickt hätten, hätte ich dich nicht kennenlernen können", sagte Richard Andrews, der unter dem Blick der braunen Augen dahinzuschmelzen begann. Loretta legte ihre schlanke Hand auf seine und hielt sie fest und warm. Sie hauchte ihm zu:

"Wenn der Mensch herkommt, hör dir an, was er will, lass dir zeigen, was er dir mitgebracht hat und sage ihm dann, er solle dir noch einen Tag Bedenkzeit geben. Wenn du übermorgen wieder heimkehren mußt, kann er morgen immer noch eine Entscheidung von dir kriegen."

Richard Andrews nickte ihr zu. Sie zog ihn kurz an sich und küßte ihn kurz aber leidenschaftlich. Er ertrank in dieser warmen Woge der Begierde. Doch als sie ihn freigab, kehrte sein kühler Verstand zu ihm zurück. Er wollte warten, was Reno Scott sagte.

Loretta räumte das Geschirr vom Abendessen in die Spülmaschine und entsorgte den Abfall im Wohnungseigenen Müllschlucker. Dann setzte sie sich noch etwas zu ihm und erzählte ihm, was sie an diesem Tag angestellt hatte.

"Ich werde wohl zwei Wochen länger hierbleiben als du, Richard. Aber dann bin ich für dieses Jahr fertig mit der Archäologie."

"Na, für mich wird das dann noch ein Akt, meinen Chef davon zu überzeugen, daß ich wirklich alles mögliche aus diesem Projekt bei uns hier rausgeholt habe. Ist schon gut, wenn ich da zumindest den Abschluß schaffe. Allerdings weiß ich nicht, ob mir meine werten Kollegen nicht noch eine nette Abschiedsüberraschung bereiten."

"Du glaubst immer noch, daß sie dich absichtlich dumm aussehen lassen könnten?" Fragte Loretta. Richard nickte nur. Da schellte die Wohnungstürklingel.

Reno Scott erwies sich als junger Großstadtberufstätiger in einem maßgeschneiderten Anzug mit ordentlich gebundener Krawatte, schwarzem Ausgehhut und einer schwarzen Schweinslederaktentasche mit silbernen Kombinationsschlössern, sowie einem handlichen Tragekoffer für einen Laptop-Computer. Sein Gesicht verriet jedem, daß er wohl gerade ein Jahr von der Universität oder dem College herunter sein mochte. Stahlblaue Augen sahen freundlich aber auch sehr genau auf Richard, der noch in Bürokleidung bereitsaß. Loretta Hamilton hatte sich vor dem Eintritt des jungen Mannes mit der kastanienbraunen Kurzhaarfrisur ins Schlafzimmer ihres Gastgebers zurückgezogen. Beide waren sich darüber einig, daß der spontane Besucher nichts von ihrer Beziehung wissen mußte und auch nicht ins Schlafzimmer hineinsehen mußte. Loretta hatte die Tür von innen verriegelt und sich wohl aufs oder ins Bett gelegt, um möglichst geräuschlos zu sein.

Nach einem förmlichen Begrüßungsritual bot Dr. Andrews seinem Gast Knabberein und alkoholfreie Getränke an. Für Kaffee war es doch schon spät und deshalb hielten er und Reno Scott sich an Traubensaft und frisch gepresstem Orangensaft fest, während der Unterhändler einer detroiter Autoinneneinrichtungsfirma seine Aktentasche öffnete, Unterlagen über sich, sein Unternehmen und die Offerte von Degenhart vorlegte. Anders als Richard vermutete, war kein unterschriftsreifer Vertrag bei diesen Unterlagen. Scott begründete das damit, daß seine Firmenphilosophie keine zu festen Vorbedingungen verlangte, um möglichst großen Spielraum für Verhandlungen zu bieten.

Das Angebot konnte sich in der Tat sehen lassen. Degenharts Automobildesign-Firma bot Dr. Richard Andrews als erste Verhandlungsgrundlage ein eigenes Büro, ein ihm zugeteiltes Labor mit von ihm zu bestimmenden Mitarbeitern und ein Jahresgehalt von 200000 US-Dollar, zuzüglich Erfolgsprovision und zwei Prozent Anteile am Verkauf. Allerdings, so meinte Scott, sei da nach oben immer noch Spielraum. Richard fragte oft und gründlich nach dem Werdegang der Firma und den Jahresumsatz, sowie die bisherigen Mitarbeiter. Dann wollte er wissen, warum man nun wirklich auf ihn gekommen sei. Scott holte dazu ein Blatt Papier aus der Aktentasche und ließ ihn lesen, was darauf stand. Richard stutzte. Dieser Mr. Degenhart hatte lückenlos recherchiert, was wer in der Welt im Bereich umweltfreundlicher Kunststoffe in den beiden letzten Jahren geleistet hatte. Glaubte Dr. Andrews zuerst, jemand hätte seine Firma ausspioniert, mußte er jedoch feststellen, daß sämtliche Entwicklungsberichte auch in den Fachzeitschriften gestanden hatten. Er las dreimal, was da aufgeführt war, prüfte noch mal das Startangebot von Degenhart und sagte dann:

"Wie ich Ihnen schon sagte drängt es mich im Moment nicht nach einem Wechsel. Außerdem müßte ich dafür eine hiesige Arbeitserlaubnis erwerben. Ich fürchte, die Bürokratie dafür ist langwierig."

"Ach, das habe ich Ihnen noch nicht erzählt, Dr. Andrews. Degenhart hat gute Beziehungen, bei der Detroiter Arbeitsvermittlung, um Ihnen oder einem anderen ausländischen Mitarbeiter pro Jahr eine Arbeitserlaubnis für alle Bundesstaaten der USA ausstellen zu lassen. Er muß lediglich die Personalien und die Qualifikation des Mitarbeiters angeben, um den Anschein der Illegalität auszuräumen."

"Und ich ging davon aus, daß man hier in den Staaten eine politische und gesellschaftliche Gesinnungserklärung abzugeben hätte."

"Hmm, Degenharts Unternehmen legt keinen Wert darauf, daß Sie verheiratet sind oder mit wem sie in Ihrer Freizeit was anstellen, solange es Sie nicht erpressbar macht oder gegen bestehendes Strafrecht verstößt. Insofern kann sein Anwalt die nötigen Passagen für den Antrag auf Arbeitserlaubnis so formulieren, daß er mit den hiesigen Gesinnungs- und Moralvorstellungen konform geht", hatte Scott auch auf diese heikle Frage eine Antwort parat. Richard fühlte, daß sein Gewissen an ihm nagte. Diese Leute hatten gut recherchiert, sich über ihn erkundigt und trotz oder wegen aller Dinge, die über ihn bekannt waren beschlossen, ihn anzuwerben. Dennoch wollte er an seinem Plan festhalten, darüber zu schlafen und sich am nächsten Tag zu entscheiden.

So überhörte er manche Lobhudelei des Kopfjägers, der ihn immer wieder aufmunternd anlächelte. Immerhin würde der wohl für eine erfolgreiche Anwerbung eine satte Provision kassieren, dachte Richard. Doch er schaffte es, seiner Linie treu zu bleiben und nach einer Stunde, in der Scott mehr gesagt hatte als er selbst, den Besucher höflich auf den nächsten Tag zu vertrösten. Scott ließ ihm die Unterlagen zur noch maligen durchsicht da und verabschiedete sich mit einem festen Händedruck und den besten Wünschen für ihn von Dr. Richard Andrews.

Als Reno Scott eine Minute fort war, rief der Schrankenwärter von unten an und meldete, daß der Besucher gerade fortgefahren sei. Richard fragte, ob Mr. Scott mit seinem Wagen oder einem Taxi gekommen sei. Er bekam zur Antwort, daß der Besucher mit einem BMW der 500er-Reihe vorgefahren sei und keinen Chauffeur hatte.

"Danke, gute Nacht dann noch!"

"Gute Nacht, Dr. Andrews", erwiderte der Schrankenwärter. Richard wunderte sich, warum er nicht gefragt hatte, wann Loretta fortgehen würde. Doch dann fiel es ihm ein, daß dieser Schrankenwärter schon die Male Dienst gehabt hatte, als Loretta bei ihm gewesen war. Da dies immer eine ganze Nacht gedauert hatte, fragte der Wachmann wohl nicht mehr. Er hatte sie nicht weggehen sehen, also würde sie wohl wieder eine ganze Nacht bleiben. Punkt!

Tatsächlich empfing ihn seine neue Liebschaft unbekleidet und in erwartungsvoller Pose auf dem breiten Bett. Sie lächelte ihn an und deutete auf seinen Anzug. Er verstand und ließ seine Bürokleidung langsam aber sicher zu Boden gleiten. ...

__________

"Welcher Idiot hat dieser Kreatur gesagt, daß ich sie umbringen will?" Rief Voldemort höchst erregt, als er einen Tag später die zerfetzten Umhänge von Feerse und Croaker wie lästigen Abfall vor das Haus der Riddles geworfen bekam. Ein Zettel war dabei auf dem in einer zierlichen Handschrift geschrieben stand:

Eure Lordschaft Voldemort, der neue Herrscher der magischen Menschen,

mir kam durch Eure Botschafter Croaker und Feerse zu Ohren, daß Ihr an einer guten Beziehung zu mir höchstlich interessiert seid. Nun, dies ehrt mich, da ich nun weiß, daß selbst Ihr euch für wichtige Wesen interessiert. Allerdings, nehmt mir dies nicht übel, bin ich auf keine wie auch immer geartete Beziehung zu Euch angewiesen. Ihr seid mir, dies müßt Ihr so hinnehmen, zu primitiv in Euren Zielen und Methoden. Ein wirklich wissender Zauberer hätte nimmer gewagt, mich mit dem Tode zu bedrohen. Das ist nicht nett von Euch, mir sowas zu unterbreiten, nur weil ich es nicht nötig habe, Euch bei Euren Unternehmungen zu helfen. Ja, die beiden wackeren Recken, die Ihr aussandtet, mochten mein höfliches Nein nicht akzeptieren. Sie versuchten mich zu bestehlen und mich zu töten. Ich sah nicht ein, ihnen dies durchgehen zu lassen und überzeugte sie davon, daß eine großzügige Spende an mich ihre Untaten sühnen würde. Sie waren dabei so eifrig, daß sie dabei aus dieser Welt verschwanden. Ich kann Euch nur noch ihre Kleidung zurückerstatten.

Falls Ihr wirklich an einer guten Beziehung zu mir und meinen Schwestern interessiert seid, haltet euch oder Eure Handlanger aus meinem Weg heraus! Widrigenfalls werde ich wohl auch von Euch eine großzügige Spende beanspruchen dürfen.

In diesem Sinne
                    Halliti, die aus dem dunklen Feuer geborene

"Wurmschwanz, Pike! Zu mir!!" Rief Voldemort. Doch Wurmschwanz und Pike waren gerade unterwegs. So mußte er warten, bis einer seiner anderen Todesser ankam, Lucius Malfoy, der Voldemort mit stolzgeschwellter Brust verkündete:

"Herr, ich habe ihn soweit, daß er seine Strafverfolger ausschließlich hinter dem Animagus Black herschickt. Dementoren will er zwar nicht dazu abberufen, aber wenn diese Auroren sich nur um diesen Blutsverräter kümmern haben wir leichteres Spiel."

"Und was ist mit dem Eingang? Sitzt da jemand herum?" Fragte der dunkle Lord sehr gefährlich klingend.

"O Herr, dies kann ich nicht sagen. Zumindest weiß mein Freund Cornelius nichts davon. Aber zuzutrauen ist es Dumbledore, daß er vorhersieht, was Ihr plant."

"Macht nichts. Ich komme schon daran. Wann wird Bode endlich für uns dort hineingehen?"

"Er ist sehr stark, Meister. Er wehrt sich immer noch. Ich kann ihn gerade dazu zwingen, nichts von mir zu erzählen. Aber ich schaffe es, ihn dort hineinzutreiben", sagte Malfoy verängstigt. Er wußte zu gut, daß der dunkle Lord keine halben Sachen duldete.

"Wenn er bis Monatsende nicht in der Abteilung war, Lucius, wird jemand lange leiden müssen, und das mußt nicht direkt du sein."

"Herr, ich kann nicht mehr tun, als unter Eurem Befehl, nicht aufzufallen, getan werden kann. Wenn ich nicht ständig zu Fudge gehen würde, könnte ich überhaupt nicht mehr an Bode heran. Ich habe schon mehrere hundert Galleonen ..."

"Interessiert mich überhaupt nicht, Lucius", zischte Voldemort nun ganz gefährlich mit den roten Augen funkelnd. "Du schneidest immer damit auf, wieviele Verliese du in Gringotts voller Gold hast. Da werden dir einige hundert oder tausend Galleonen nicht so weh tun, wie eine Stunde un-ter-dem-Cru-ci-a-tus-Fluch.." Malfoy erbleichte noch mehr als ohnehin schon und zitterte, als hätte der dunkle Lord ihn jetzt schon unter diesen grausamen Fluch genommen.

"Sicher, Herr, ich werde ihn schon dort reinschicken, Herr", keuchte Lucius Malfoy angstvoll. Er sah seinen Herrn und Meister an und wartete, ob dieser noch was sagte.

"Ich hätte da noch was für dich, Lucius. Dein vielversprechender Sohn könnte mir dort wo er ist einen großen Dienst erweisen, wenn ich dies wünsche. Es wird noch ein wenig dauern, bis ich einige Unterlagen vollständig habe. Wenn ich sie studiert habe, werde ich dir mitteilen, wann, wo und wie mir dein Erstgeborener helfen kann. Praktisch wäre es, wenn er seine gute väterlich ererbte Begabung nutzen und weiterhin sehr beliebt bei dieser Professor Umbridge werden könnte. Du wiederum solltest dich leicht von zweitausend Galleonen trennen können, um Fudge in die Stimmung zu bringen, Hogwarts noch intensiver zu kontrollieren. Ich bin sicher, daß dieser Muggelfreund, dessen Namen ich hier nicht erwähnen muß, irgendwann einen Fehler machen und seine Schule verlassen muß. Sollte dies eintreten, so kann ich meinen Plan dort freier und erfolgreicher umsetzen, natürlich nur, wenn dein Sohn Draco nicht in Selbstüberschätzung einen fatalen Fehler macht."

"Ich schwöre, er wird nur tun, was Ihr ihn tun lassen wollt, Herr", gab Malfoy untertänig zur Antwort. Dann entließ ihn der dunkle Lord.

"Wenn er könnte würde er mich umbringen, weil er weiß, daß ich kein Reinblut bin", dachte Voldemort. "Man muß ihn und seine Sippe immer in Angst halten."

Im Laufe des Tages erfuhr der schwarze Hexenmeister noch, daß es in den Staaten zu einem offenen Kampf zwischen Lohangio Nitts und den Schwarzberg-Brüdern, sowie den Anhängern von Mortitius Cobley gekommen war, der seinerseits angeblich an einem Überfall auf die Schwarzberg-Bruderschaft beteiligt gewesen sein sollte.

"Die sollen mir die Staaten erhalten und nicht zerstören!" Rief Voldemort. Er entschied sich, persönlich zu Lohangio Nitts zu reisen, um ihn zur Ordnung zu rufen. Er war lange nicht mehr über so eine große Strecke appariert. Doch wenn er schnell dort sein wollte, mußte er es riskieren. So zog er sich in sein privates Schlafgemach zurück, stellte sich das Stadthaus Lohangios vor und konzentrierte sich. Er sammelte genug Zauberkraft, um den weiten Sprung zu machen und disapparierte erst, als er sicher war, nicht unterwegs aus der Bahn zu geraten.

__________

Ornatus Pane kannte Seth Schwarzberg von einigen Bildern her, als er am Abend des 28. Novembers am Landsitz seines Meisters Lohangio Nitts eintraf.

"Ach, der kleine Pane, dessen Sippschaft zur Hälfte in Askaban festhängt", flötete der erstgeborene Schwarzberg und ließ sich bei Lohangio anmelden.

"Ich ging davon aus, du wolltest mich überfallen, Schwarzbart", sagte Lohangio mit bösartigem Grinsen. "Oder verbreitet der klägliche Rest der Gefolgschaft nur das Gerücht, ich hätte deine Party ruiniert nur, um mich bei den Wohltätigkeitsbällen nicht mehr reinzulassen?"

"Ich habe Beweise, daß du und dein Anhang meine Freunde grausam zerflucht hast, du Rabenaas. Reicht es dir nicht, daß du diesen Abschnitt der Staaten kontrolierst? Was willst du mit Kalifornien?"

"Hmm, das Wellenreiten soll dort sehr gut funktionieren, heißt es", erwiderte Lohangio mit überlegenem Grinsen. Dann fragte er: "Und du traust dich alleine zu mir? Ich dachte, du und deine beiden Brüder wärt noch gut miteinander zusammen."

"Für dich reiche ich alleine völlig aus, du Drachenfurz."

"Eh, so sprechen Sie nicht mit Meister Nitts", mischte sich Ornatus ein. Lohangio sah seinen Lehrling strafend an und zischte ihm zu, bloß den Mund zu halten.

"Danke, das du mich mit der Blähung eines Drachens vergleichst, Sethy. Ich habe mal erlebt, wie hundert Zauberer reihenweise umfielen, als ein Peruanischer Vipernzahn einen hat fahren lassen. Insofern nehme ich diese Äußerung als Geste des Respekts hin."

"Was ich dir und diesem Zwerg da sagen wollte: Vergiss Mortitius Cobley! Der ist zwar gut in alten Flüchen. Aber es wird ihn nicht mehr lange geben. Ich habe einen Ruf zu schützen, du feige Ratte. Hast wohl gedacht, deine Gedächtniszauberkunst hätte dich gut versteckt, als du meine Gefolgsleute manipuliert hast, wie? Aber ich bin nicht so dumm wie dein kleiner Lehrbube dort aussieht. Ich hab's rausgezerrt, was du versteckt hast. Ich denke auch, ich kann die beiden von deinem Dreckszauber kurieren."

"Ich höre Gedächtniszauber. Offenbar sollte ich mal meinen Gedächtnisverstärker überarbeiten. Denn irgendwie kann ich mich nicht entsinnen, irgendwas mit deinen Leuten angestellt zu haben. Das wäre doch lebensmüde, mich allein mit euch dreien gleichzeitig anzulegen. Ich denke, der gute Mortitius hat das gedreht, um uns aufeinander einschlagen zu lassen. Sähe ihm ähnlich, oder?"

"Du meinst, du siehst es ihm nach, wenn er einfach Leute von mir in ihre Einzelteile zerlegt? Kann ich mir sehr gut vorstellen. Aber das kostet dich viel, Lohangio. Wenn er herkommt, weil du uns gegeneinander aufgehetzt hast, wirst du von ihm bestraft und nicht ich."

"Oh, zittert da jemand vor einem Phantom, von dem viele sagen, es sei endgültig verschwunden?" Feixte Lohangio Nitts. "Wenn er wirklich von seiner kleinen Insel herunterkommen und dich oder mich besuchen will, habe ich ein reines Gewissen. Ich habe es nicht getan und hatte es auch nie vor, dir mit grober Gewalt dein Gebiet abzujagen. Dafür habe ich erstens kein Personal und zweitens keine Zeit. Ich habe wichtigeres zu tun als deine Brüder zu ärgern."

"Richtig, du läßt Mortitius die Drecksarbeit machen. Aber wie gesagt, den wird es nicht mehr lange geben. Er hat meine Brüder und mich lange genug veralbert. Wahrscheinlich wirst du es morgen schon in der Zeitung lesen können, daß er einen bedauerlichen Zauberunfall hatte. Was dich angeht, Trollpopel, so finde ich noch raus, was du alles gegen uns angestellt hast. Dann zerlege ich dich bei lebendigem Leib, wie dein neuer Freund Morty es mit meinen Leuten getan hat."

"Passen Sie auf, daß ich Sie nicht zerlege", schnaubte Ornatus Pane gereizt. Lohangio warf einen weiteren strafenden Blick auf seinen Lehrling. Seth Schwarzberg lachte schallend.

"Das Spatzenküken droht dem Adler, ihn zu beißen. Ne-he-he-hein i-hi-hi-hist da-has ko-ho-homisch."

"Ornatus, heute weder Mittag- noch Abendessen und zwei Fuder Holz für die Kamine ohne Zauberkraft hacken", verhängte Lohangio eine Strafe gegen seinen Zauberschüler. Seth Schwarzberg lachte immer noch. Doch als Lohangio zu seinem Zauberstab greifen wollte, war er schlagartig wieder ruhig. Blitzartig holte er seinen Zauberstab heraus und richtete ihn auf Lohangio. Dieser rief nur: "Protego!"

"Ach, und ich dachte schon, du wolltest mich wirklich angreifen", grinste Seth und hielt seinen eigenen Zauberstab gesenkt. Dann sah er noch mal Ornatus Pane an und grinste teuflisch:

"Dein Cousin Brutus hat Glück gehabt, daß er nur in dieser Dementorenanstalt ist, Jungchen. Aber dein Heim- und Futtergeber sollte dir ja beibringen, erwachsene Hexen und Zauberer mit wesentlich mehr Respekt zu behandeln. Nicht jeder versteht kleine Kinder so gut oder hat soviel Humor wie ich. Habe die Ehre!"

Seth verließ das Landhaus Lohangios und ging ruhig davon. Er schien sich nicht darüber zu ängstigen, daß Lohangio ihm von hinten einen Zauberbann nachjagen könnte. Ornatus zog seinen Zauberstab hervor. Lohangio bekam das jedoch mit und hieb seinem Lehrling links und rechts eine runter.

"Wie gehirnamputiert bist du eigentlich, daß du dein Maul soweit vor Seth Schwarzberg aufreißt?!" Fuhr er ihn an. "Das ist unser größter Erzfeind. Kann aber auch der beste Verbündete sein, den wir kriegen können. Wenn Voldemort wirklich genug Macht gewinnt, um auch hier Getreue zu werben, will ich bestimmt nicht wegen einer unbewiesenen Verleumdung von ihm oder seinen Brüdern niedergeflucht werden! Dann versuchst du auch noch, mit deinem Zauberstab hinter diesem Seth herzuzielen. Glaubst du, der hätte sich nicht einen wirksamen Schutz vor hinterhältigen Flüchen mitgenommen? Hättest du ihn angegriffen und sein Schutz hätte deinen Fluch abgeblockt, dann wärest du jetzt tot und ich dürfte mich neben dich Hohlkopf niederlegen. Wenn du bei und von mir lernen willst, wie's in der Zauberei zugeht, dann lerne wirklich erst einmal Respekt vor erwachsenen Zauberern! Da muß ich diesem schimpfwütigen Kerl leider absolut zustimmen.

Sie drehten sich beide um, um ins Haus zurückzukehren, als mit lautem Knall jemand vor dem Stadthaus apparierte. In das Haus hinein konnte niemand auf diese schnelle Weise kommen. Ornatus sah mit geröteten Wangen aus dem Fenster in der Tür und erschrak, als er ein aschfahles Gesicht mit rot glühenden Augen erblickte.

"O Meister, er ist's selbst", wimmerte er und sprang hinter seinen Lehrer in Deckung.

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Anthelia sah kühl und ohne sichtbare Regung auf den Kampf, der tobte. Gerade hatten die beiden Schwarzberg-Brüder Hagen und Belial sich mit Mortitius Cobley angelegt, einem fülligen Mann im roten Umhang, der dem Weihnachtsmann der Muggelwelt alle Ehre gemacht hätte, wenn sein Vollbart weiß statt schwarz gewesen wäre. Eigenhändig hatte er den jüngeren der beiden Brüder mit einem wuchtigen Fluch rückwärts aus seinem Haus gefeuert. Hagen griff sofort mit einem anderen Fluch an, prallte damit aber auf einen großen Schild.

"Ihr kommt hier an und flucht voll los!" Rief Mortitius Cobley. "Wollt ihr mir nicht sagen, was euch dazu treibt?"

"Du schweinehund hast unsere Kameraden mit diesem babylonischen oder wo immer auch herkommenden Zerlegungsfluch malträtiert. Wir wollen wissen, was dich dazu getrieben hat!" Rief Hagen Schwarzberg.

"Ach, und du meinst, mit dem Musculotremor-Fluch kriegtest du die Antworten so flott von mir? Ich habe deine Leute nicht zerflucht. Allerdings hat es mich schon fasziniert, daß es jemanden außer mir gibt, der den kann. Der kommt übrigens aus Phönizien, falls du noch weißt, wann und wo das gelegen hat."

""Außer dir, sagst du, hätte den hier keiner können können? Dann warst du es wohl selbst. Du hast dich wohl mit einem Gedächtniszauber belegen lassen, damit dein Gewissen schön rein bleibt. Aber das kitzeln wir schon aus dir raus!" Rief Belial.

Anthelia, die im sicheren Abstand hinter einem magischen Hörrohr und einem Vergrößerungsspiegelfernrohr auf einem Stativ die ganze Szene beobachtete sah ruhig zu, wie sich die Schwarzbergs und Mortitius unvermittelt wieder mit Flüchen beschossen. Dann tauchten noch zwei Anhänger des vollbärtigen Zauberers auf und griffen die Schwarzbergs voll an. Es entsponn sich eine wüste Schlacht zwischen fünf Zauberern. Anthelia bewunderte, wie schnell und stark die Schwarzbergs kämpften. Fast alle Flüche prallten an sichtbaren oder unsichtbaren Schildzaubern ab und schlugen auf die Angreifer zurück.

"Beeindruckend, wie mächtig unsere Widersacher sind, wenn sie sich untereinander bekämpfen", stellte die höchste Schwester des Spinnenordens fest. Dann sah sie, wie Hagen Schwarzberg unter einer Doppelsalve von Flüchen zu Boden ging und schlagartig aufquoll wie ein schnell arbeitender Hefeteig. Belial Schwarzberg konnte mit einem vernichtenden Feuerballschlag ins Haus hinein Mortitius Cobley niederbrennen und dessen Haus von einem Moment zum anderen in ein loderndes Flammenmeer tauchen. Dann jagte er einem der beiden Anhänger Mortitius' noch einen Todesfluch nach. Der zweite disapparierte, als der Kumpan unter dem grünen Todesblitz zu Boden stürzte.

"Das war Mortitius Cobley", stellte Anthelia mit heimtückischem Lächeln fest. Dann winkte sie vier Hexenschwestern. Sie zogen ihre Kapuzen über und stürmten wortlos vor. Belial Schwarzberg, der gerade das Gewirr von Flüchen auseinandersortieren wollte, mit dem sein Bruder verunstaltet worden war, schrak zu spät auf, als Anthelia ihren Zauberstab auf ihn richtete. Er dachte zunächst an die Brigade des Lichtes, die in den Staaten neben den offiziellen Strafverfolgern und dem Laveau-Institut alle dunklen Magier jagte, teilweise jedoch mit umstrittenen Mitteln. Dann jedoch erkannte er, wenn auch zu spät, daß er dem eigentlichen Feind gegenüberstand. Als der blaue Blitz ihn traf und ihn regelrecht kristallisierte, war ihm klar, daß er die falschen gejagt hatte. Hagens Fluchleiden wurde behoben, jedoch nur um ihn auch zu einer kristallinen Abbildung seiner selbst erstarren zu lassen. Der Kristallkerker tötete niemanden, doch wenn niemand den Gegenfluch konnte oder anwenden wollte, würden die beiden Schwarzbergs nun ewig als witterungsbeständige Statuen gebannt sein. Aber Anthelia hatte noch mehr vor. Sie ließ ohne ein einziges Wort zu sprechen die beiden kristallisierten Körper zu ihrem Landsitz bringen und schuf dort mit einem Negaformus-Zauber in die massiven Wände eines hauseigenen Kerkers passgenaue Mulden, in die die Kristallkörper hineingestellt wurden und dann unverrückbar im Felsgestein eingeschweißt wurden.

Als Anthelia mit dieser heftigen Tat fertig war, apparierte sie zum Stadthaus von Lohangio Nitts. In sicherer Enfernung sah sie, wie Seth Schwarzberg das Haus verließ und disapparierte. Sie hörten über das magische Hörrohr mit, wie Lohangio seinen Lehrjungen Ornatus ausschimpfte und schlug. Anthelia fragte eine ihrer Mitschwestern, aus welcher Familie der Junge kam. Sie erfuhr, daß er von den Panes abstammte, einer britischen Familie voller brutaler Hexen und Zauberer, die alle mit Voldemort sympathisierten. Sie rief sich Bartemius Crouch Juniors Erinnerung ins Bewußtsein zurück und sah durch dessen Augen, wie er neben einem hochgewachsenen Zauberer stand, der ihm verkündete, daß er bald Radona Turpin heiraten würde. Den ersten Jungen wolten sie dann Brutus nennen, nach seinem Urgroßvater, der mit Arcturus Black zusammen eine ganze Muggelsiedlung in Schutt und Asche gelegt hatte. Diese Panes waren das also. Nun, würde man sie vermissen? Andererseits war es vielleicht nützlich, ein lebendes Mitglied dieser Schlagetote in den eigenen Reihen zu halten, um mehr über sie zu erfahren.

Anthelia verdrängte alle Gedanken an zukünftige Pläne, als mit scharfem Knall eine Gestalt im schwarzen Umhang vor dem Stadthaus Lohangios apparierte. Sie sah den hochgewachsenen Fremden an, der nun langsam seine Kapuze zurückschlug und einen fahlen Schädel entblößte, der mehr mit einer Schlange als mit einem Menschen gemeinsam hatte.

"Sieh da, mein großer zerstörungssüchtiger Widersacher selbst gibt sich die Ehre", flüsterte Anthelia.

"Bleibt es bei unserem Plan?" Fragte eine Spinnenschwester. Anthelia nickte. Sie hatte die Falle für Lohangio schon vor einem Tag vorbereitet. Ein Zauberwort genügte, und aus sicherer Entfernung würde ein steinerner Koloss auf das Haus zustürmen und mit den Kräften von Erde, Feuer und Wind losschlagen.

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Voldemort selbst war gekommen. Sollte lohangio das nun als Gefahr oder als Ehre ansehen. Sicher, der dunkle Lord hatte bestimmt von den Unruhen gehört, die hier passiert waren. Doch er hatte kein schlechtes Gewissen. Gut nur, daß Seth Schwarzberg schon gegangen war.

Er begrüßte den dunklen Lord mit ausgesuchter Höflichkeit ohne Heuchelei. Er wußte, daß Voldemort ein Gespür dafür hatte, wann ihn jemand anlog. Zuvorkommend lud Lohangio den schwarzen Magier aus Großbritannien ein, ihm in sein bescheidenes Haus zu folgen. Dort hieß er Ornatus Pane, Tee zu machen und Gebäck vorzulegen.

"Du weißt, Lohangio, daß ich nicht hergekommen bin, um zu sehen, wie du deinen kleinen Lehrjungen dort im Zaum hältst. Immerhin weiß ich von dir, daß du einer der aussichtsreichsten Zauberer in diesem Landstrich bist. Ich kam her, weil es offenbar schwere Meinungsverschiedenheiten zwischen dir und meinen Freunden Seth, Hagen und Belial Schwarzberg gibt. Ich will hören, was du dazu zu sagen hast. Und weich mir nicht aus, Bursche."

"Ich werde doch nicht lügen, Mylord", sagte Lohangio ruhig. Dann erzählte er, was ihm die Schwarzbergs vorwarfen und daß er damit nichts zu tun hatte. Voldemort beobachtete gehässig, wie Ornatus Pane beinahe auf allen Vieren vor ihm herkroch und ängstlich darauf bedacht war, dem dunklen Meister zu gefallen. Irgendwann meinte Lord Voldemort:

"Wenn du mir wirklich so ergeben bist, wie du vorgibst, dann leck mir doch den Staub von den Reisestiefeln!"

"Mylord, das verbietet mein Anstand", sagte Lohangio Nitts ruhig. Höflichkeit war eines, sklavische Unterwerfung etwas anderes.

"Deine Ehre ist der Dreck an meinen Schuhen, du Wurm", polterte Voldemort. "ich muß wissen, ob du loyal zu mir stehst und dich mit den Schwarzbergs zusammentun und für mich hier die Stellung halten wirst, wenn ..."

Bumm! Mit Urgetöse war irgendwo etwas explodiert oder mit voller Wucht irgendwo gegen gekracht. Der dunkle Lord, der gerade seinen Zauberstab gezückt hatte, um Lohangio Respekt vor ihm einzutrichtern, fuhr herum, gerade als mit Donnerschritten ein Monster wie aus grauer Vorzeit auf das Haus zustampfte.

Es wirkte wie eine langgezogene Abbildung eines Elefanten oder Mammuts, mächtige aufwärts gekrümmte Stoßzähne und ein meterlanger dicker Rüssel zierten den breiten Schädel des Ungetüms, das mit jedem dröhnenden Schritt vier Männerschritte vorwärtspolterte. Dann hob es den Rüssel und stieß mit dem Gebrüll von tausend Posaunen einen Glas zertrümmernden Ruf aus. Die vorderen Fenster zerbarsten in tausend Stücke. Voldemort hielt sich die Ohren zu, während Ornatus Pane wieselflink ins Haus flüchtete und im Kerker der Unzerstörbarkeit Schutz suchte.

"Was soll das?" Rief Voldemort wütend. "Ist das deine Art von Empfangskommitee?!"

Das elefantöse Steinungetüm hob erneut den Rüssel. Doch diesmal kam kein ohrenzerfetzender Trompetenstoß heraus, sondern ein gleißender Feuerstrahl, der wie brennendes Benzin aus einer feinen Düse zielgenau auf das Haus fiel.

"Das ist ein animierter Elementarkraftpaladin", erkannte Lohangio die Natur dieses Monsters, während sein Haus Feuer fing. Schnell sprach er den Brandlöschzauber dagegen, doch das Monstrum blies nicht nur Feuerstrahlen, sondern auch einen orkanartigen Wind gegen das Haus. So fand das Feuer rasch genug Nahrung und prasselte hungrig über Dach und Stockwerke.

"Dissolvetur Artivivum!" Rief Voldemort mit auf den breiten Schädel deutenden Zauberstab. Krachend zerbarst der Kopf des steinernen Ungeheuers. Doch das hätte Voldemort besser wissen müssen. Denn nun brach eine Woge freigesetzter Elementarkräfte über das Haus herein. Voldemort und Lohangio konnten gerade noch disapparieren, bevor ein Wirbel aus Flammen, Wind und Lava das Haus fortriss, es buchstäblich fortfegte.

"Bleibt in Deckung!" Flüsterte Anthelia ihren Schwestern zu, die staunten, wie mächtig ihre Anführerin war, ein solches Ungeheuer zu erschaffen und auf ihre Gegner loszulassen. Sie sahen, wie Voldemort und Lohangio keine zweihundert Meter vor ihnen apparierten. Zum Glück hatte die wiedergekehrte Nichte Sardonias eine Mauer der einseitigen Unsichtbarkeit errichtet, hinter der sie alle nun in Deckung lagen. Der dunkle Lord rief und gestikulierte wild. Lohangio war ebenfalls außer sich. Dann disapparierten die beiden. Eine halbe Minute später erhielt Anthelia von Patricia Straton, die das Anwesen der Schwarzbergs bewachte, eine Gedankenbotschaft, daß der dunkle Lord selbst mit Lohangio Nitts in der Nähe des Hauses aufgetaucht war. Sie liefen nun darauf zu. Anthelia sandte eine Gedankenbotschaft zurück, die im Haus der Schwarzbergs vorgefundenen Zauberfallen auszulösen. Sollte Voldemort doch zeigen, wie schnell er war.

Fünf Minuten später kam eine weitere Gedankenbotschaft, daß Voldemort ohne Lohangio aus dem Haus stürmte, verfolgt von einem grünen Gas, das ihn fast einholte. Er konnte gerade noch disapparieren, bevor die giftige Wolke ihn einhüllte.

"Sieh an, die haben Drachengallengas in ihrem Keller gehabt, zwanzigmal stärker als Garottengas", erkannte Anthelia, als Patricia Straton, die ihren Beobachtungsposten wegen der ausgetretenen Gaswolke aufgeben mußte, ihr von der Wirkung des Giftes erzählte. So war es nach vier Stunden erst möglich, das Landhaus zu betreten. Denn Drachengallengas wirkte nicht nur durch Einatmen, sondern legte sich als zäher, ätzender Schleim auf die Haut und konnte sich langsam durch Fleisch und Muskeln fressen, wenn man ihm nicht rechtzeitig entging, um sich unter klarem Quellwasser und Hautheilungszaubern von diesen schädlichen Wirkungen zu befreien.

Sie fanden Lohangio Nitts vor einem großen Metallbehälter, aus dem das mörderische Gebräu verdunstet war. Doch sie erkannten nur, daß er es war, weil eine silberne Schnupftabaksdose mit dem Wappen der Nitts neben den zerfaserten Resten des Umhangs und dem beinahe noch gut sortierten Skelett gefunden wurde. Offenbar war er zu weit hineingegangen. Beziehungsweise, Voldemort hatte ihn vorgeschickt, um zu testen, was im Haus lauerte.

"Das dieser Voldemort ein Feigling ist, ist bekannt. Andre Zauberer würden nicht so brutal darauf bedacht sein, ihre Untergebenen unter Kontrolle zu halten", bemerkte Anthelia, als sie sich das Bild des Grauens im Stadthaus der Schwarzbergs ansah. Nur die drei kristallisierten, in ihre Wände eingeschweißten Schwarzbergs hatten den Gasaustritt überstanden. Patricia Straton hatte Seth Schwarzberg zusammen mit anderen Mitschwestern mit einem Überraschungsschlag überrumpeln können. Vier Schockzauber gleichzeitig hatten ihn niedergeworfen. Dann hatte ihn dasselbe Schicksal wie seine Brüder ereilt, so wollte es Anthelia. Patricia hätte Seth Schwarzberg gerne in einen Hampelmann für ihre Cousine verwandelt. Doch Anthelia hatte deutlich gesagt, daß man den Eindruck aufrecht halten mußte, die größten Dunkelmagier der Staaten hätten sich selbst eliminiert. Daß Voldemort noch Zeuge dieser Vernichtung geworden war, war nicht beabsichtigt gewesen, aber durchaus willkommen. Denn dieser wußte nun, daß die Staaten nicht zu seinem heimlichen Außenposten werden würden. Wollte er hier neue Anhänger finden, mußte er höchst selbst herkommen. Das er bestimmt schnell nach England zurückdisapparierte stand für Anthelia so gut wie fest. Denn Dana Moore, die seine Leute dabei beobachtet hatte, wie sie in die Falle der gesuchten Tochter des Abgrunds gerannt waren, hatte mit Lucky Withers noch die Gerüchte angerührt, die Auroren hätten Hinweise darauf, daß einige ehemalige Todesser die Lage in Großbritannien nutzten, um ihre eigenen Clubs aufzuziehen. Natürlich stimmte davon kein Wort. Aber Voldemort würde es nicht darauf ankommen lassen, seine Leute unbeaufsichtigt zu lassen. Ihm fehlte das Seelenmedaillon, mit dem Anthelia ihre ganzen Schwestern unter einen tödlich endenden Fluch gesetzt hatte, der bei derjenigen losbrechen würde, die sie zu verraten oder hintergehen trachtete. Alle wußten das und hielten sich daran, ihrer höchsten Schwester nicht zu mißfallen. Große Strafen oder Gewaltanwendungen waren daher für Anthelia unnötig geworden.

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Voldemort roch den ätzenden Gestank der Drachengallendünste. Lohangio Nitts hatte törichterweise einen Mechanismus ausgelöst, der diese tödliche Wolke freiließ. Er floh, ohne sich groß umzusehen und erreichte die nötige Entfernung, um schnell zu disapparieren. In mehreren Kilometern Entfernung erholte er sich von der anstrengenden Lauferei. Zwar kannte er sich hier nicht so gut aus, um genau zu wissen, wo er war. Doch er beherrschte das Apparieren so gut, daß er zumindest wußte, wie weit es nach England war. Nach fünf Minuten reiste er zunächst an die Ostküste, um eine Minute später endlich in seine Heimat zurückzukehren. Dort hörte er bald, daß Auroren angeblich ehemalige Todesser überprüfen würden, die im Verdacht standen, eigene kleine Zirkel dunkler Magier zu gründen. Er beschloss, bis auf weiteres in England zu bleiben, solange er heimlich und im verborgenen agieren mußte. Doch die vier Tiefschläge, die er innerhalb eines Monats hinnehmen mußte, würde er nicht so leicht vergessen. Die Prophezeiung über sein Schicksal war immer noch im sicheren Gewahrsam des Ministeriums. Seine größten Verehrer in Australien waren einem selbst ihm grausam anmutenden Angriff zum Opfer gefallen. Die Tochter des Abgrunds, die in England geruht hatte, lief frei herum und wollte ihm nicht dienen, ja hatte ihm gedroht, ihn zu töten. Schließlich hatten sich seine drei aussichtsreichsten Verbündeten in den vereinigten Staaten in einem unsinnigen Prestigekrieg gegenseitig ausgelöscht. Oder mochte es sein, daß jemand anderes diese drei Familien und Bruderschaften von der Erdoberfläche getilgt hatte? Es konnte ja wohl kein Zufall sein, daß in Australien und Amerika beinahe zeitgleich wertvolle Bundesgenossen dahingerafft worden waren. Aber wer und warum hatte das getan? Die Antwort würde er finden, wenn er frei über seine Aktionen bestimmen konnte, ohne Rücksicht auf Heimlichkeiten nehmen zu müssen.

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Es war ihm immer noch eine Wohltat, Lorettas warmen Körper mit seinem zu vereinen. Er fühlte sich im höchsten Maße befriedigt, wenn sie mit ihm tat, wovon er schon als Teenager nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Ja, und immer wenn sie sich erschöpft hatten und er am Rande der Ohnmacht dahintrieb, summte sie ihm ein schönes Schlaflied vor, das seine Seele barg und stärkte.

Als er am Morgen nach dem Besuch des Abwerbers oder Kopfjägers neben Loretta aufwachte, seine rechte Hand unter ihrem langen roten Haar, überdachte er das gespräch von gestern. Ja, es war noch ein Verhandlungsspielraum drin. Er dachte daran, was er tun würde, wenn er die bisherige Anstellung aufgab. Sollte er wirklich für Autozubehör und Einbauten neue Kunststoffe erfinden? War er dazu überhaupt in der Lage? Darauf konnte er nur mit Ja antworten. Er dachte an seinen Alltag in London. Donaldson hatte schon oft auf seinen Posten gelinst, Goodwin hatte ihn seit der Scheidung von Martha nicht mehr zu privaten Empfängen eingeladen. Offenbar mißfiel es ihm, einen in der Ehe gescheiterten Forschungsleiter präsentieren zu müssen. Hier würde er zumindest nicht als gescheiterte Existenz gelten, falls dieser Degenhart es ernst mit ihm meinte. Sollte er es jetzt darauf anlegen, das Angebot anzunehmen? 200000 Dollar waren das Startangebot. Was ließ sich da noch steigern?

Loretta wachte auf, fühlte Richards Hand unter ihrem Haarschopf und drehte sich ihm zu, nackt und warm wie sie war.

"Hast du etwa die ganze Nacht so neben mir gelegen, Richard?" Fragte sie amüsiert.

"Öhm, muß wohl so sein, Loretta", sagte Richard und näherte seine freie Hand ihrem Oberkörper. Sie ließ ihn gewähren, bis sie sagte:

"Ich weiß, ich gefalle dir sehr, Richard. Aber du mußt wohl langsam aufstehen und zur Arbeit. Aber keine Sorge. Ich werde heute Abend wieder für dich da sein."

Richard mußte eingestehen, daß sie recht hatte. Er durfte sich nicht so gehen lassen. Noch mußte er sich ranhalten, sein Projekt zu Ende zu bringen.

Der Arbeitstag verlief anstrengend aber die Erwartungen erfüllend. Dennoch dachte Richard Andrews immer wider an den Kopfjäger und dessen angebot. Elvira Walker, seine Mitarbeiterin, fragte ihn nach dem Tag im Labor:

"Stimmt das eigentlich, daß sie Besuch von Reno Scott hatten. Der Chef hier hat das mitbekommen. So diskret sind die Schrankenwärter nicht."

"Und was hieße das für Sie, wenn ja oder nein?" Herrschte Richard die Enzym-Expertin an.

"Nun, der Chef könnte das als Illoyal ansehen und es Ihrem obersten Vorgesetzten mitteilen, daß Sie von einem bekannten Kopfjäger besucht wurden."

"Oh, ein Kopfjäger? Hat er mir nicht erzählt, daß er einer ist. Ich dachte, die gäbe es auf Borneo."

"Haha, guter Witz das, Dr. Andrews. Allerdings denke ich, daß er Ihnen das schon irgendwie mitgeteilt hat, was er macht und warum er ausgerechnet zu Ihnen kommt. Oder hat Ihre neue Liebe Ihnen diesen Reno Scott auf den Hals gehetzt?"

"Dr. Walker, Sie überschreiten da gerade massiv ihre Kompetenzen", warnte Richard Andrews. "Zum einen bin ich unverheiratet und kann daher anstellen, was ich will, solange es im gegenseitigen Einvernehmen mit denen ist, die davon betroffen sind. Zum zweiten sollte ich doch mal nachfragen, ob jemand ernsthaft was gegen mich hat, daß ich nicht nur ausspioniert werde, sondern die mir zugewiesenen Mitarbeiter gegen mich aufgehetzt werden. Ich denke, Sie sollten es sich selbst wert sein, sich nicht vor den Karren irgendwelcher Intriganten spannen zu lassen, Dr. Walker. Oder gehören Sie zu der Art Karrierefrau, die sich vor jeden Karren spannt, um schnell an ein ihr vorschwebendes Ziel zu kommen?"

Elvira Walker hob die rechte Hand. Doch sie verzichtete auf eine Ohrfeige gegen Richard Andrews. Verächtlich drehte sie sich von ihm fort und ging davon. Doch für Richard stand in diesem Moment fest, daß er sich sofort für ein anderes Angebot entscheiden würde, wenn sein derzeitiger Institutsleiter ihn wegen Reno Scott anfahren würde.

Als habe er tatsächlich sowas vorhergesehen kam eine Stunde nach seiner Heimkehr ein Anruf von Goodwin, der ihm nahelegte, sich bei seiner Rückkehr einstweilen beurlauben zu lassen, da geklärt werden müsse, ob er für Omniplast noch tragbar sei. Es gebe da gewisse Fragen, die ein trübes Licht auf ihn, Richard Andrews, warfen. Außerdem sei Professor Donaldson in seiner Abwesenheit wesentlich besser mit den laufenden Versuchsreihen zurechtgekommen. Für Dr. Richard Andrews war das das endgültige Signal. Er sagte schnell und ohne groß nachzudenken:

"Glauben Sie, ich wäre mit Ihrer Firma verheiratet?! Ich konnte mich von Martha scheiden lassen und finde auch im Beruf genug neue Partner, Herr Generaldirektor Goodwin. Richten Sie Professor Donaldson von mir aus, ich wünsche ihm alles Glück für seinen neuen Posten!" Dann verabschiedete er sich ohne weiteres Wort von Goodwin abzuwarten und rief Scott an, den er gebieterisch darum bat, für ihn einen Jahresverdienst von 250.000 Dollar anzumelden und notfalls bis auf 220000 Dollar herunterzugehen.

Zwei Stunden später erhielt er von Scott einen Anruf mit dem Text: "Degenharrt billigt Ihnen 220000 Dollar Jahreseinkommen inklusive Krankenversicherung zu und gewährt Ihnen die bereits erwähnte Provision. Allerdings kann er sie dann nicht am Umsatz beteiligen. Er bietet Ihnen stattdessen an, pro 10000 Dollar Gewinn eine Aktie seines Unternehmens auszugeben."

"Wenn er Meint", hatte Andrews nur gesagt. Er sollte morgen in Scotts Büro den endgültigen Vertrag unter notarieller Aufsicht unterzeichnen und am 3. Dezember in Detroit antreten. Degenhart wollte ihm eine von der Firma freigehaltene Wohnung im benachbarten Bay City zur Verfügung stellen.

Richard überlegte nach dem Telefonat, was dieser Degenhart an ihm finden mochte, daß er ihm so schnell eine neue Anstellung mit Arbeitserlaubnis und Wohnung anbot? Konnte es vielleicht sein, daß die Typen, mit denen seine Exfrau sich eingelassen hatte, ihn aus England fortlocken wollten? Galt es, ihn endgültig von Julius, seinem Sohn, fernzuhalten? Dazu hätten sie sich nicht diese Mühe machen müssen. Denn er hatte seiner Frau eindeutig erklärt, mit ihm bis auf weiteres nichts mehr zu tun haben zu wollen, falls er nicht zu einer normalen, ihm genehmeren Ausbildungsform überwechseln würde. Außerdem hielten sich diese Leute nicht mit industriellen Unternehmungen auf, wo sie doch Dinge einfach aus dem Nichts zaubern konnten.

Als er am späten Abend wieder mit Loretta zusammensaß und mit ihr besprach, was geschehen war, sagte sie ruhig:

"Nun, ist das nicht vieler Wissenschaftler Traum, hier zu leben und zu arbeiten?"

"Zu arbeiten schon. Ob ich hier leben will, weiß ich noch nicht. Aber zumindest kann ich nun ein ganz neues Leben anfangen. So gesehen denke ich, daß Goodwin, mein zukünftiger Exvorgesetzter es darauf angelegt hat, mich aus England zu vertreiben. Vielleicht war ich ihm oder einem Günstling im Weg. Die Karriereleiter ist schlüpfrig und steil, Loretta. Ich hoffe für dich, daß dein Job dir nie so viele Neider einträgt, daß du Angst vor jedem Schritt haben mußt, ob dir nicht jemand ein Bein stellt oder Knüppel zwischen die Beine wirft."

Interessante Überleitung", grinste Loretta schelmisch.

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Anthelia hatte eine Wache vor Lohangios Haus postiert. Ihr war aufgefallen, daß Ornatus Pane nicht unter den Trümmern war. Als der kleine Zauberer dann panisch aus dem niedergebrannten Haus floh, fingen ihn Patricia Straton und ihre Bundesschwester Charity ab. Er wollte schreien. Doch mit dem Silencius-Zauber ließ Charity den verängstigten Jungen verstummen. Sie nahmen ihm seinen Zauberstab ab und brachten ihn zu Anthelia. Diese verhörte den Jungen unter Veritaserum und erfuhr, daß er in einem unzerstörbaren Kerker unter dem Haus Zuflucht gefunden hatte, als das Inferno über Lohangios Stadthaus hereinbrach. Er wurde noch über seine Familie befragt.

"Warum sitzen deine Verwandten in Askaban?"

"Mein Cousin Brutus hat versucht, ein Schlammblut in Hogwarts mit Avada Kedavra zu töten. Hat aber leider nicht geklappt."

"So, warum wollte er diesen Sohn von Unfähigen töten?" Fragte Anthelia.

"Weil er ein Schlammblut ist und in allem besser als Brutus war."

"Und wie hieß dieser Junge, Ornatus?"

"Das weiß ich nicht. Ich war bei dem Prozess nicht dabei. Mum und Dad haben mich sofort hierher gebracht, damit ich bei Meister Nitts zaubern lerne", antwortete der gefangene Zauberlehrling.

"Na ja, wenn dieser Junge besser als deines Oheims Sohn war mag das auf viele Jungen zutreffen. Ist wohl auch nicht so wichtig", sagte Anthelia. Sie wartete danach, bis die Wirkung des Veritaserums nachließ. Als Ornatus merkte, was er alles erzählt hatte, versuchte er, sich aus den magischen Stricken zu lösen. Anthelia gebot ihm mit einer Handbewegung, stillzusitzen.

"Hör gut zu, Ornatus. Ich biete dir eine großzügige Chance, deine magischen Künste weiterzulernen. Allerdings wirst du bei mir und meinen Schwestern lernen, dich fügen und innere Stärke gewinnen. Die andere Möglichkeit wäre, daß ich dich zu einer niederen Lebensform verurteilen muß. Suche es dir aus!"

"Aber höchste Schwester, du sagtest doch, wir nehmen nur Hexen in unseren Kreis auf", warf Pandora Straton ein, die dem Verhör wie ihre Tochter Patricia beigewohnt hatte.

"Oh, das ist natürlich ein Hindernis. Aber dieses Hindernis kann überwunden werden, Schwester", erwiderte Anthelia. Ornatus Pane sah die Hexenlady mit dem strohblonden Haar an. Und dann durchzuckte ihn ein heftiger Schreck. Das konnte nicht sein! Er hatte das Gesicht der Oberhexe erkannt. Doch das konnte nicht sein. Sie konnte unmöglich Bartemius Crouch Juniors Schwester sein. Er wußte, daß der alte Crouch nur einen Sohn hatte, der in Askaban verrottet war, weil sein eigener Vater ihn dort hineingebracht hatte, zusammen mit den Lestranges.

"Sieh an, man kennt doch die großen Helden der dunklen Zeiten", grinste Anthelia. Dann sah sie Ornatus sehr genau in die Augen. "Willst du wweiterhin Zauberei lernen und von mir lernen, wie man die hohen Künste der Magie machtvoll anwenden kann, ohne gleich hunderte von Zauberern und Unfähigen hinzuschlachten?"

"Ihr wollt doch keine Jungs, hat die da eben gesagt", schnaubte Ornatus und deutete mit dem Kopf auf Pandora. Diese sah ihn mit ihren tiefgrünen Augen an und schnaubte:

"Ich geb dir gleich "Die da". Aber wenn die höchste Schwester dich fragt, solltest du ihr schon eine Antwort geben."

"Also, ich möchte schon gerne zaubern lernen. Ich weiß nicht, ob die Schwarzbergs mich nicht jagen, weil Lohangio gegen sie gekämpft hat. Außerdem will ich mich gegen den dunklen Lord wehren können. Ich mache das, wenn ihr mir endlich sagt, wer ihr seid."

"Wenn du eingeführt wurdest wirst du alles erfahren", sagte Anthelia. Dann nickte sie Patricia Straton zu, die aufstand, in den langen Weinkeller hinüberging und zwei Dinge holte, eine silberne Schere und eine kleine Schale mit magischen Verzierungen.

"Was gibt das?" Fragte Ornatus, als er auf seinem Stuhl so hingesetzt wurde, daß der rechte Arm über der Schale zu liegen kam.

"Wir holen dich jetzt zu uns hinüber", sagte Anthelia ruhig wie eine Ärztin, die ein kleines Kind vor einer Spritze beruhigen will. Ornatus sah wieder ihr Gesicht an. Dann sagte er:

"Sie können niemals die Tochter von Bartemius Crouch sein."

"Nun, er wäre mit einer Tochter sicherlich besser bedient gewesen als mit einem verblendeten Sohn. Allerdings muß ich diesem Jungen dankbar sein, daß er mir die Möglichkeit gegeben hat, neu zu leben. Mehr mußt du im Moment noch nicht wissen. Es erklärt sich vieles, wenn wir dich in unseren Kreis aufgenommen haben."

"Aber diese grünäugige Hexe hat doch gesagt, nur Hexen", wandte der schmächtige Jüngling von gerade zwölf Jahren ein. Alle anwesenden Spinnenschwestern lachten.

"Diese Grundregel wird nicht verletzt", erwiderte Anthelia, nahm die Schere und schnitt ihm eine lange Haarsträhne ab. Diese Haarsträhne ließ sie in die Schale fallen, nahm ihren Zauberstab und sprach merkwürdig bedrohliche Worte. Die Schale glühte kurz auf und wurde dann wieder normal, nur dasß das Haar dann nicht mehr darinlag. Dann ritzte sie Ornatus wie beiläufig in den freigelegten Arm. Der Junge schrie auf, weil er glaubte, man wolle ihn foltern. Als dann Blutstropfen in die Schale fielen und diese sich danach rot färbte, während Anthelia weitere Zauber sprach, fühlte der Junge, daß er gleich etwas unfaßbares erleben würde. Er hatte Angst. Als dann zum Schluß ein Zauberspruch erklang, der ihn in ein silbernes Licht eintauchte, das ihn auflöste und für etliche Sekunden verschwunden hielt, verlor er seine Sinne. Als dann auf seinem Stuhl eine zierliche Junghexe mit dunklen Haaren aus dem Licht hervorkam, sahen die Spinnenschwestern sie amüsiert an.

"Diese Grundregel wird nie verletzt", sagte Anthelia, als das silberne Licht um den Körper des hervorgekommenen Hexenmädchens erloschen war.

"Bettet sie nun zur Ruhe, bis sie den Schlaf der neuen Erkenntnis geschlafen hat und sich erinnert, wer sie nun ist!" Befahl Anthelia. "Wenn sie zu sich gefunden hat, werde ich sie wie euch unter meinen Treuefluch nehmen. Oder seid ihr der Meinung, sie habe etwas mehr Unabhängigkeit verdient?"

"Nein, höchste Schwester", sagte Patricia Straton gehässig grinsend. Vorsichtig bettteten sie das neuerschaffene Hexenmädchen auf eine bequeme Liege und deckten sie zu. Anthelia wachte bei der neuen zukünftigen Spinnenschwester, in deren Gedanken sie vorsichtig hineinforschte, um zu verfolgen, wie die Erinnerungen eines Jungen sich langsam aber unaufhaltsam in die Erinnerungen eines Mädchens verwandeln würden, wie es der Contrarigenus-Fluch bewirkte, aus dem sie selbst ja hervorgegangen war, allerdings bevor ihre eingespeicherte Seele diesen Körper bezogen hatte.

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Die Nachrichten in den Zaubererzeitungen Amerikas waren voll von den Katastrophenmeldungen über den Tod von Nitts, Cobley und den Schwarzberg-Brüdern. Alle Reporter fragten sich, ob es zu einem Krieg verruchter Magier gekommen sei, weil an den beharrlich bestrittenen Gerüchten doch mehr dran sei, daß der dunkle Lord Voldemort wieder auferstanden wäre. Bachus Vineyard, der Wirt des betrunkenen Drachens, hörte und meldete die neuigkeiten weiter, die aus allen Regionen der Staaten eintrudelten. Als er am ersten Dezember an den Tisch kam, an dem sich Jane Porter und Maya Unittamo niedergelassen hatten fragte er leise:

"Glauben Sie, Jane, daß die sich gegenseitig umgebracht haben?"

"Teilweise schon. Ich sage es meinen Auszubildenden immer wieder. Wer die dunklen Künste zum täglichen Brot macht, wird daran ersticken. Wer eigene Macht durch schwarze Magie zu steigern versucht, gewinnt zehnmal mehr Feinde als Freunde. Wer dies weiß, konnte Nitts, Cobley und die Schwarzbergs problemlos gegeneinander ausspielen, wie zwei Bauern im Schach. Ich glaube nicht richtig, daß das Zergliederungsmassaker von Cobley alleine angezettelt wurde. Ich möchte keine Betriebsgeheimnisse ausplaudern, Bachus. Aber ich stelle die Frage, ob nicht jemand sehr großes Interesse daran hat, Freunde des sogenannten Unnennbaren einzuschüchtern oder zu neutralisieren. Denn er ist wieder da. Das darf ich ruhig sagen. Aber in England glauben sie's nicht und möchten auch von uns nichts darüber hören. Ehrlich weiß ich nicht, ob wir ohne Schwarzbergs und Rivalen wirklich sicherer dran sind. Es steht nur fest, das jemand, der oder die Außenposten des unnennbaren Zauberers nicht dulden will, nun freie Hand hat, ihn von uns fernzuhalten. Aber das heißt nicht, daß diese Hexen oder Zauberer uns anderen nur gutes wollen. Sie haben lediglich mehr Spielraum, die ausländische Konkurrenz auf Abstand zu halten."

"Tja, dann sollten wir uns wohl doch in stiller Trauer üben", sagte Maya Unittamo. Bachus Vineyard nickte betreten und ging zu den anderen Tischen hinüber.

"Du glaubst wirklich an diese unbekannte Macht, die die drei dunkelmagischen Gruppen gegeneinander ausgespielt hat?" Fragte Maya.

"Glauben heißt, nicht wissen, liebe Maya. Wenn ich etwas nur glaube, weiß ich nichts konkretes, und wenn ich etwas konkretes weiß, brauche ich keinen Glauben mehr zu bemühen. Ich darf dir trotz unserer guten Nachbarschaft nicht alles erzählen, von dem ich weiß. Glaube mir, daß wir besser schlafen, solange nicht jeder alles weiß, was den Schlaf stören könnte", sagte Jane Porter verhalten.

"Gut, das gestehe ich dir zu, Jane. Aber was ist mit dieser netten jungen Polizistin, die dieses Kreuzzeichen bei sich trug?"

"Sie wurde von Zachary Marchand informiert, was geschehen ist. Es war eine schwere Arbeit, wirklich alle Aufzeichnungen zu finden und zu beseitigen, die über die lebendigen Amputate und Torsi gemacht wurden. Allerdings fehlen immer noch die Köpfe der zergliederten Magier."

"Ich denke, man wird ihnen nun den Gnadenstoß geben, weil sie wertlos geworden sind, falls es wirklich andere Leute waren, die die Schwarzbergs und ihre Kameraden überfallen haben und jetzt noch herumlaufen."

"Sollten diese Leute wirklich so gnädig sein?" Fragte Jane Porter leicht beklommen dreinschauend.

ENDE

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