SCHWERT UND KRUG

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Es geht weiterhin Turbulent zu, nachdem der dunkle Erzmagier Voldemort endgültig entmachtet wurde. Anthelia kann ihre wiedergewonnene Freiheit nicht lange feiern. Zum einen schafft es der in seinem versilberten Skelett gefangene Geist des dunklen Voodoomagiers Ruben Coal, in den lebenden Körper seines Nachfahren Gordon Stillwell einzudringen, wodurch er sehr mächtig wird und eine Armee von echten Zombies gegen die Nachfahren der früheren Sklavenhalter aufstellen will. Zum anderen trachtet der durch den Genuß radioaktiv verseuchten Blutes veränderte Vampirfürst Volakin danach, die Herrschaft über Vampire und Menschen zu erringen. Zudem gerät der Bruder Richard Andrews' bei einer Urlaubsreise in Spanien in die Falle der wachen Abgrundstochter Itoluhila, die sich ihm und ihren Abhängigen gegenüber Loli nennt. Sie schafft es, auch ihn zu einem ihrer Abhängigen zu machen, um mit seiner Hilfe mehr Macht zu erringen. Anthelia, die wegen des angeblichen Mordes an Zaubereiminister Lucas Wishbone zur meistgesuchten Hexe der Staaten wird, überwältigt den in Wirklichkeit nur versteckten Zaubereiminister und verflucht ihn so schwer, daß ihm und seiner Tante Tracy nur die Rettung im Iterapartio-Zauber möglich erscheint. Anthelia hört von osteuropäischen und französischen Bundesschwestern von Volakin und stellt sich ihm entgegen. Sie begräbt ihn unter einer mächtigen Flutwelle, als Volakin sich mit der auf ihn wütenden Itoluhila duelliert. Volakin stirbt und setzt dabei eine Menge Strahlung frei, die Anthelia an den Rand des zweiten körperlichen Todes treibt. Sie sieht nur noch eine mögliche Rettung: Sie muß ergründen, was es mit einer menschengroßen Spinne auf sich hat, die in Australien ihr Unwesen treibt. Als sie mit ihrer Mitschwester Tyche Lennox aufbricht fordert Hyneria Swordgrinder Donata Archstone, die Anthelias Getreue in den Reihen der nordamerikanischen Nachtfraktionsschwestern ist, zum Entmachtungskampf auf Leben und Tod. Sie gewinnt. Danach schließt sie mit einem nebelhaften Zauber alle ihr untreuen Hexen in eine grüne Kristallform ein und trachtet danach, die unter dem Namen Lysithea Greensporn wiedergeborene Daianira Hemlock aus dem Weg zu schaffen. Sie verwendet eine schwarzmagische Vorrichtung, die darin eingeschlossenen innerhalb von Minuten alle verbliebenen Lebensjahre entzieht. Doch dabei kommt es zu einer unerwarteten Reaktion, bei der die Vorrichtung zerstört wird und alle um sie herum zu Säuglingen verjüngt werden. Die in der Vorrichtung gefangene Daianira findet sich im Körper einer gerade erwachsen gewordenen Frau wieder. Doch sie fragt sich, was eine Vision bedeutet, die sie während dieser Magieentladung erfuhr und in der Professeur Tourrecandide aus Frankreich mitspielt, deren Tochter sie beinahe hätte werden müssen. Tourrecandide spürt zeitgleich ihrer zur Vampirin gewordenen Schwester Voixdelalune und ihrem Blutgefährten nach, die zwei Muggelkinder entführt haben. Dabei trifft sie auf die wieder freigekommene Nyx und wird fast von den Vampiren gebissen, als sie in einem goldenen Licht verschwindet und dabei ihre Kleidung und Ausrüstung zurückläßt. Anthelia indes findet die schwarze Spinne und hofft, durch einen Entkörperungszauber ihr Geheimnis zu ergründen. Dabei kommt es wegen der alten Magie der Tränen der Ewigkeit zu einer vollständigen Fusion zwischen ihr und der als Spinnenfrau lebenden Naaneavargia. Dairons Zaubergegenstände zerstören sich danach, und die neu entstandene Hexe kehrt in ihr Hauptquartier zurück, wo sie erfährt, daß Donata und die ihr folgenden Hexen aus der Nachtfraktion tot oder handlungsunfähig sind. Stillwell bereitet derweil einen Großangriff auf sicherheitsrelevante Einrichtungen der vereinigten Staaten vor. Das Laveau-Institut entwickelt magische Wurfscheiben, die Zombies enthaupten können. Martha Andrews wird von ihrer Schwippschwägerin Monica Gilmore auf das ungewöhnliche Verhalten ihres gemeinsamen Schwagers Claude Andrews und seiner Frau Alison hingewiesen. Das ruft die Geschwister Fuentes Celestes und ihre heimliche Mitbewohnerin Maria Montes, die nun Maria Valdez heißt, auf den Plan. Maria, die mittlerweile Mutter einer Tochter ist und weiß, daß sie von der sehr mächtigen Weißmagierin Ashtaria abstammt, tritt Claude Andrews entgegen, den seine neue Herrin gerade noch fortholen kann, bevor die Kraft von Marias magischem Talisman ihn aus der Sklaverei entreißen kann. Um alle Spuren zu verwischen inszeniert Itoluhila den Tod ihrer Abhängigen Carlos Ramirez und Rufina, um diese wie Claude ins Ausland zu schaffen. Stillwell greift Atomkraftwerke und Bioforschungsstätten an, wird dort jedoch von Nichtmagiern und Zauberern zurückgeschlagen. Sein Rachedurst richtet sich vor allem auf Marie Laveau. Er schickt zwei unterworfene Piloten mit vollgetankten Passagiermaschinen los, um damit in die New Yorker Börse zu stürzen. Gleichzeitig greift er New Orleans an, wo es zu einem Duell mit Marie Laveaus Geist kommt. Anthelia kann inzwischen herausfinden, daß Samedis Sohn versilberte Knochen hat und formt aus zusammengestohlenem Silber eine mehr als zwei Meter große Silberkugel, die sie durch eine kombinierte Erd- und Mondzauberei zum Magneten für pures Silber macht. Damit schafft sie es, Stillwell alias Coal anzuziehen und ihn zu vernichten. Sein Zauber erlischt. Der befohlene Anschlag auf das Finanzzentrum der USA wird rechtzeitig gestoppt. Daianira weiß nun, daß Austère Tourrecandide zur Ungeborenen zurückverjüngt wurde und nun in ihr heranwächst. Mit ihrer Cousine und zeitweiligen Mutter Leda stimmt sie ab, wie sie mit dieser Lage umgehen soll. Die aus Anthelia und Naaneavargia zusammengefügte Hexenlady will sich nun auf ihre verbliebenen Gegner vorbereiten, die Vampirin Nyx, die Abgrundsschwestern und mögliche Nachfolger Voldemorts. Hierfür will sie nach den Artefakten aus dem alten Reich suchen. Die Flöte von Naaneavargias Bruder ist für sie nicht mehr zu finden. Doch es gibt ja noch mehr aus der Zeit der Spinnenfrau.

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Sie fürchteten ihn wie den Teufel selbst. Doch gleichzeitig verehrten sie ihn auf eine Weise, die nur Gesellen ihres Schlages möglich war. Die fünfzig Mann der "Black Dragon" liebten ihr rauhes, brutales Handwerk. Zwar wünschten sich einige, daß ihr Kapitän eines Tages doch in die Hölle zurückkehrte, aus der er wohl stammte. Doch bis dahin genossen sie jeden Sieg.

Rollin McFusty wußte, daß er nicht nur Verehrung von seinen Leuten bekam. Der vierte Sohn von Angus McFusty, dem Hüter der schwarzen Hebriden, hatte nie daran gedacht, das zu tun, was sein Vater von ihm erwartet hatte. Da Rollin McFustys ältester Bruder Clyde nach des Vaters Tod die Führung des Clans, dessen Grundstücke und die Verantwortung für die wilden Drachen erben würde, war Fergus, der zweitälteste Sohn von Angus in die Zaubertierforschung gegangen. Ian, der dritte Sohn, hatte nach einem passablen Abschluß in Hogwarts den Schulleiter gefragt, ob er in einigen Jahren nicht als Magister für Zaubertierkunde zurückkehren konnte. Rollin selbst sollte, so hatte es sein Vater verkündet, in die Dienste von Bruce McDarwish eintreten, dem mächtigsten Zauberer Schottlands. Doch Rollin hatte von vorne herein kein Interesse daran, als niederer Diener, gerade noch etwas besser als ein Hauself, für diesen alten Zausel zu arbeiten. Eigentlich hätten seine Eltern es doch wissen müssen, daß er sich zu mehr berufen fühlte. Denn als er im Jahre 1670 nach Hogwarts kam, hatte er den alten Hut Gryffindors nachdrücklich aufgefordert, ihn bloß nicht zu den anderen Gryffindors zu stecken. Deshalb war er bei den Slytherins gelandet, die sich freuten, einen der reinblütigsten schottischen Zaubererfamilien in ihrem Haus zu beherbergen. Als er dann die Schulzeit mit höchsten Belobigungen in den Fächern Alchemie, Zaubertierkunde, Zauberkunst und Kampfzauber verließ und auch in der Verwandlungskunst nicht schlecht weggekommen war, hatte er sich gleich nach dem Durchschreiten des von den beiden geflügelten Steinebern bewachten Tores mit unbekanntem Ziel davongemacht. Er hatte sich mit Unaufspürbarkeitszaubern versehen, die alle auf seinen Namen, sein Blut oder sein Abbild ausgehenden Suchzauber von ihm fernhalten konnten. Er war als angeblicher Waisenknabe in die Dienste der englischen Flotte eingetreten und hatte da Gefallen an Kaperfahrten gewonnen. Im Jahre 1680 fand er, daß er endlich mehr sein konnte als ein Matrose. Hatte er bis dahin seine Magie nur sehr behutsam eingesetzt, um bei Raufhändeln den Gegnern Mut und Kraft zu rauben oder wirksame Tränke zur Körperstärkung und Schutz vor allen möglichen Krankheiten zu brauen, zettelte er eine Meuterei gegen seinen Kapitän an. Dieser wurde bei der Übernahme des Schiffes zwar von aufgehetzten Matrosen erschlagen. Doch ihm treue Besatzungsangehörige entkamen und meldeten die Meuterei an die Admiralität. McFusty mußte fliehen und heuerte auf einem Piratenschiff an, das die karibische See unsicher machte. Allerdings sah er nicht ein, warum er als Handlanger eines mit Klugheit unbegüterten Gierhalses weiterleben sollte und trieb den Kapitän mit dem Unterwerfungsfluch Imperius dazu, bei Nacht über Bord zu springen. In einer manipulierten Auswahl wurde McFusty zum neuen Kapitän. Er benannte das Schiff von "Hammerhead" in "Black Dragon" um und begann, alles was Gold und Silber von Amerika nach Europa verschiffte zu jagen und auszuplündern. Nun wandte er seine Zauberkenntnisse ungehemmt an. Er imprägnierte alle Planken des Schiffes mit einem Rückprellzauber, der alle von außen kommenden Geschosse zu ihren Absendern zurückschleuderte, lackierte die Decksplanken mit einer Schutzlösung gegen Feuer, härtete die fünf Masten und alle Rahen mit dem Durolignum-Elixier und entwickelte eine Gießform für Kanonenkugeln, die in die Geschosse Runen einfügten, die für Stärke, Geschwindigkeit und Unaufhaltsamkeit standen und bezauberte diese mit dem Ferrifortissimuszauber, so daß die Geschosse durch die dicksten Bordwände durchschlagen konnten wie ein Schwert durch hauchzarte Seide und quer durch den Schiffsrumpf und zur anderen Seite wieder hinausfuhren. Außerdem erfand er Glaskugeln, die bis nach dem Abfeuern stabil blieben und füllte diese mit Brenngebräu, das die Entzündungstemperatur jedes davon benetzten Materials auf ein Zehntel absenkte oder einen gezündeten Brand auf die zehnfache Verheerung verstärkte. Damit gelang es ihm, bereits aus großer Entfernung Schiffe zu versenken, die er nicht ausplündern wollte. Um Schiffe ihrer Kapitäne zu berauben hatte er auf der Kommandobrücke der "Black Dragon" ein kleines Geschütz, das mit Brenngebräu gefüllte Hohlkugeln verschoß, die beim einschlagen aufplatzten und das alles in Flammen setzende Elixier verspritzten. Damit konnte er aus sicherer Entfernung die Kommandostände feindlicher Schiffe zerstören und bestenfalls gleich die Kapitäne erledigen, bevor die Mannschaften wußten, wie ihnen geschah. Als besonderes Zeichen seiner magischen Überlegenheit hatte er die aus Ebenholz geschnitzte Nachbildung eines schwarzen Hebriden mit Drachenblut und Animierzaubern dazu verwandelt, auf seinen Zuruf loszufliegen und Schiffstakelagen und Segelzeug in Brand zu stecken. Doch was seinen Spießgesellen und Gegnern das größte Unbehagen bereitete war ein einfacher zauber, eine Spielerei, die er in Hogwarts erfunden hatte. Dort hatten sie ihn alle Feuerkopf oder Flammenbart genannt, weil er keinen Wert auf gepflegtes äußeres gelegt hatte, zum Leidwesen einiger Slytherins, die gutes Aussehen als Türöffner in wichtige Häuser und Familien ansahen. Er hatte mit Licht- und Feuerzaubern experimentiert, bis es ihm gelungen war, eines seiner ausgezupften Haare in einem hitzelosen Feuer brennen zu lassen, ohne daß es verbrannte. Als er es gewagt hatte, diesen Zauber auf seine Kopf- und Barthaare anzuwenden, hatte er in der spiegelnden Oberfläche einer vollen Wasserschüssel sehen dürfen, daß mehrere Zoll lange Flammen aus Kopf und Vollbart schlugen, die keinen Hauch Hitze abgaben. Diese magische Spielerei benutzte er bei seinen Kaperfahrten nun, um die Gegner vollends einzuschüchtern. Denn wer ihn sah hielt ihn, Rollin Redhead, für einen Abgesandten der Hölle. Zwar machte er selten Gefangene, und wenn dann hauptsächlich die arglos mitreisenden Damen, die zum Vergnügen seiner aus anderen Galgenvögeln und Schlagetots bestehenden Männer einige Wochen länger leben durften. Dennoch gelang es dem einen oder anderen, noch vor der Gefangennahme oder Ermordung durch die Piraten zu entkommen. Dadurch erfuhren die Admiralitäten Spaniens und Englands, sowie mancher Reeder in Europa vom "Freibeuter des Satans". In Spanien nannten sie ihn sogar "Hijo del Infierno", den Sohn der Hölle. McFustys einziger Alptraum war der, daß durch die Geflüchteten auch die magische Welt von seinem Tun erfuhr. Er tat daher sehr gut daran, sich nie in der nähe seiner Heimat oder dem europäischen Festland blicken zu lassen. Was er und seine eingeschworenen Spießgesellen erbeuteten wurde zum großen Teil versteckt, wenn er es seinen Leuten nicht überlassen wollte, damit auf den Putz zu hauen und das geraubte Gold mit leichten Mädchen und Schnaps zu verprassen. Er selbst hielt sich an den Töchtern der Eingeborenen schadlos, solange diese nicht ihre Geisterbeschwörer und Ritualzauberer zu Hilfe riefen. Fast hätte ihn ein Schamane eines Indiostammes mit seiner wilden Trommelei einen schmerzhaften Körperschwächungsfluch auferlegt. Doch McFusty hatte den fremden Zauber dadurch kontern können, daß er auf sich selbst einen Zauber anwandte, der alles ihm zugefügte dreifach auf den Zufügenden zurückwarf.

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Sie hatten gedacht, mit sechs Schiffen sicher nach Europa durchzukommen. Doch Rollins "Black Dragon" hatte sie alle in den Grund gebohrt. Teilweise hatten sich die spanischen Kriegsschiffe, die das Schatzschiff "Lucibella" geleiteten, mit ihren eigenen Kanonenkugeln durchlöchert, die von der magischen Panzerung abgeprallt waren. Den Rest hatten die Durchschläger und Brenngebräukugeln erledigt. Rollin hatte es genossen, wie er einen Moment lang Admiral Fernando Alvaro de Bourbon y Mondego in die Augen geblickt hatte, der auf dem Fünfmaster "Santa Inés" mit ihren 48 Kanonen das Kommando geführt hatte. Er hatte sich ruhig mit seinem Zauberstab durch das wilde, feuerrote Haar und den ebenso wilden Vollbart gekämmt und seinen eigenen Zauber gemurmelt: "Lucento Capillignes!" Wie ein höllischer Heiligenschein hatten orangerote Flammen seinen Kopf umzüngelt und dem Admiral in den letzten Sekunden seines Lebens das Fürchten gelehrt. Dann hatte der zauberkundige Piratenkapitän die kleine aber gemeine Brückenkanone abgefeuert, die er Old Nick getauft hatte. Die kurz nach dem Abfeuern zerbrechlich werdende Kugel mit Brenngebräu hatte ihren Weg zur Kommandobrücke gefunden und sie in einem gleißenden Glutball eingeäschert. Das Feuer erledigte danach auch den Rest der Inés. Die anderen Schiffe flogen in die Luft oder sanken wegen zu vieler Lecks. Die "Lucibella" wurde geentert und restlos ausgeplündert. Die Matrosen des Silberfrachters kämpften zwar wie die Löwen. Doch gegen Rollins mit Ferrifortissimus-Zauber gehärteten Säbel und die Entermesser hatte keiner seiner Gegner eine Chance. Die von seinen Leuten niedergekämpft wurden wanderten über Bord, ob schon tot oder nur leicht verwundet. Willy Oneear, der seinen Namen einem spanischen Schwertstreich verdankte, der ihm das rechte Ohr abgetrennt hatte, präsentierte den Säbel des geschlagenen Kapitäns. Von Redheads Galgenvögeln waren sieben gefallen. Von den Spaniern lebte niemand mehr.

Als alles Silber umgeladen war legten die Piraten eine lange Lunte zu den Schießpulvervorräten der "Lucibella" und segelten schnell davon. Fünf Minuten später schoß eine weißblaue Flammengarbe aus dem Leib des verlassenen Schiffes. Dunkler Rauch jagte in den Himmel hinauf und wuchs zu einer berghohen Säule, deren oberes Ende wie der Hut eines gigantischen Pilzes auseinanderwehte. Die Piraten jubelten über diesen letzten Akt ihres Raubzuges.

Rollin blickte auf die See, die sich nun über die versunkenen oder zerfetzten Wracks geschlossen hatte. Sein Haarschopf und der Vollbart loderten immer noch in hitzelosen Flammen. Das war jetzt nicht mehr nötig. Er nutzte einen Augenblick des Alleinseins und strich sich mit dem Zauberstab durch die wilde Haarpracht. "Finis Incantato!" Dachte er. Ohne ein Geräusch erloschen die Flammenzungen. Rollin war sehr zufrieden. Wieder einmal hatte er einer haushoch überlegenen Übermacht getrotzt.

Siegestrunken fuhren die Piraten zu einer der vier kleinen Inseln, auf denen sie ihren Raub zu verstecken pflegten. Danach ging es nach Jamaika, wo die Seeräuber in den einschlägigen Spilunken ihren Anteil mit Rum, Schnaps und leichten Mädchen durchbrachten.

Rollin hatte von einem Spion aus England erfahren, das ein Schiff unterwegs war, dessen Fracht geheimgehalten wurde. Es sollte die Antilleninsel Martinique ansteuern und die Fracht dort irgendwo abliefern. Laut dem Spion sollte das Schiff namens "Lady Amber" kurz nach dem Spion den Hafen von Cornwall verlassen haben. Rollin beschloß, es abzufangen und die geheimnisvolle Fracht zu überprüfen.

Es war am Morgen des zwölften August 1692, als Willy Oneear ein Schiff mit himmelblauen Segeln von Ostnordost ausrief. Rollin eilte auf die Brücke und griff das von ihm bezauberte Fernrohr, mit dem man dreimal so weit wie sonst blicken konnte. So konnte er, nachdem der Bug über die beinahe unbewegte Kimm gestiegen war den Namen lesen: LADY AMBER. Die Galionsfigur des Schiffes war ein Engel in einem bernsteinfarbenen Gewand. "Drache gegen Engel, wie in der Bibel", grummelte Rollin. Er wollte sicherstellen, daß es keine ihm gestellte Falle war. Deshalb schickte er die eigene Galionsfigur auf Erkundungsflug. Wenn da eine magische Falle auf ihn wartete konnte der Drache aus Ebenholz das durch eine Beeinflussung der eigenen Bewegungsfreiheit erkennen und kehrte sofort zurück. So hatte er es der animierten Nachbildung eingeprägt. Willy sah dem schwarzen Drachen mit der üblichen Mischung aus Furcht und Faszination nach, wie er einem Adler gleich in den Himmel emporstieg und weit weit über ihnen dahinglitt. Er sollte nicht landen oder angreifen, nur über dem fremden Schiff kreisen. Als der Drache einige Minuten über der "Lady Amber" seine ungestörten Kreise gezogen hatte befand Rollin, es anzugreifen. Der kleine zweimaster besaß an jeder Seite gerade sechs Geschütze. Die hatten offenbar keine Angst vor Seeräubern, wenn die mit einem so unterbewaffneten Schiff den Ozean befuhren, dachte Rollin und argwöhnte weiterhin eine Falle. Da seine Galionsfigur gerade nicht auf ihrem Platz war würde auch keiner erkennen, es mit der "Black Dragon" zu tun zu bekommen. So näherte sich das Piratenschiff dem kleineren Segler. Doch als sie versuchten, sich dem Schiff zu nähern, wich es aus. Offenbar stand da drüben auch jemand mit einem guten Fernrohr. Rollin ließ den Kurs immer wieder berichtigen. Nun wußten die da drüben zwar, daß man sie abzufangen trachtete. Aber nützen würde es ihnen nichts. Er schickte Willy wieder ans Ruder. Diesmal beschwor er einen Windzauber, der seine Segel dreimal so stark blähte wie die natürliche Elementarkraft. So verkürzte die "Black Dragon" den Abstand immer mehr. Als die "Lady Amber" schließlich zu fliehen ansetzte, war es zu spät. Der Windsammelzauber zog die Kraft des Windes an, um sie nur dem Piratenschiff zuzuführen. Das nahm der "Lady Amber" den Wind aus den Segeln. Doch das Schiff machte trotzdem große Fahrt. Offenbar war doch jemand mit magischen Kräften an Bord, der den Propulsus-Zauber beherrschte. Das reichte jedoch nicht aus, um die "Black Dragon" abzuschütteln. Sie holte auf. Da flogen ihr die ersten Kanonenkugeln entgegen und prallten ab. Rollin ließ sein Haar wieder auflodern und winkte mit dem Zauberstab dem über ihnen kreisenden Drachen. Dieser stieß hinab, griff aber nicht an, wie schon oft zuvor, sondern pflanzte sich auf seiner üblichen Position am Bug des Piratenschiffes auf. Da sah Rollin ihn. Es war ein hagerer Mann mit schwarzem Haar, der gerade auf die Kommandobrücke trat. Er hielt einen Zauberstab in der rechten hand. Als die "Black Dragon" trotz der ihr entgegengefeuerten Kugeln auf Enterhakenreichweite heran war, wirbelte der Zauberer auf dem Schiff herum und zielte auf Rollin, dessen im hitzelosen Zauberfeuer loderndes Haar ein ideales Ziel bot. Doch der Piratenkapitän hatte bereits seine Pistole in der Hand. Er sah, wie der Zauberer seine Lippen bewegte und drückte ab. Die Kugel aus der Handfeuerwaffe war schneller bei dem Zauberer als dieser seinen Spruch vollenden konnte. Sie traf ihn genau zwischen die Augen. Der Magier fiel von der Brücke. Dabei löste sich schrill pfeifend ein flirrender, grüner Blitz, der wirkungslos in den Himmel hinaufzuckte. Rollin erschauerte. Er war dem tödlichen Fluch um ein blinzeln entronnen. Dann sah er etwas, was sonst keiner an Bord mitbekam. Über der Brücke erschien eine weiße, erst nebelhafte und dann klar erkennbare, durchsichtige Gestalt, ein Mann mit zwei Augen und einem silbern umrandeten Loch zwischen Augen und Nasenwurzel. Dieser Zauberer hatte sich entschieden, nicht in die Totenwelt hinüberzugehen. Doch Rollin verlachte den Geist. Gerade erst entstandene Gespenster waren wie neugeborene Kinder. Sie mußten alles erst erlernen, um in der stofflichen Welt was bewegen zu können. Zumindest aber brauchten sie Minuten, bis sie ihre vollkommene Bewegungsfreiheit errungen hatten. Doch er wußte auch, daß er nur wenig Zeit hatte, wollte er die Fracht der "Lady Amber" sichern. Noch einmal donnerten die Kanonen. Die "Lady Amber" bekam ihre eigenen Geschosse ab. Dann krachten die Musketen und Pistolen der Matrosen. Die Piraten erwiderten das Feuer. Dabei fielen auf der Seite Rollins fünf Mann. Doch von den Gegnern stand nach dem Schußwechsel nur noch einer. Die Piraten warfen die Enterhaken aus. Rollin stieß seinen Kriegsruf aus und führte seine verwegene Bande an. Sie trafen auf wenig Widerstand. Offenbar war vielen der Tod des mitreisenden Zauberers und die magische Panzerung der Dragon zu viel gewesen. Rollin fand eine Luke, die mit sonderbaren, für ihn jedoch verständlichen Schriftzeichen umschrieben war. Das waren Versiegelungsrunen. Der Magier hatte was immer hier gelagert sein sollte gegen unbefugten Zutritt oder anderen Zauber abgesichert. Er wollte gerade seinen Zauberstab zücken und die Versiegelung nach und nach abbauen, als aus der Kajüte ein Junge in der Kleidung eines Schiffsjungen herausstürmte. Der Bursche mochte gerade zwölf Jahre alt sein, noch zu jung für einen regulären Schiffsjungen. Er besaß tiefschwarzes Haar und funkelte die an Deck herumlaufenden Piraten kampfeslustig an. Mit beiden Händen führte er einen großen Säbel und rannte auf Rollin zu, den er als Anführer ansah.

"Ja, hallo, was willst du Bürschchen denn von mir!" Rief Rollin, der gerade nichts in der Hand hielt. Da stieß der Junge mit seinem Säbel vor und versuchte, den Piraten die Spitze in den Bauch zu rammen. "Öi, was gibt das!" Fluchte Rollin, der von dem Schwung des Jungen einen Schritt zurückgetrieben worden war. "Eine Sprotte will dem hungrigen Haifisch in die Nase beißen? Wie närrisch bist du kleiner denn, dich ausgerechnet mit mir anzulegen, ey?"

"Ich mach dich tot!" Rief der Junge schrill und ging wieder auf Rollin los, der zur Seite tanzte, um dem Säbelhieb zu entgehen. Er zog den eigenen Säbel, den er locker mit einer Hand führen konnte. Der Junge hieb nach der Klinge des Piraten. Offenbar hatte der doch schon einige Fechtstunden im zweihändigen Kampf gehabt. Rollin parierte den Schlag mit der Breitseite seines Säbels. Klirrend zersprang die Waffe des Jungen in zwei Teile. Lachend steckte der Pirat seine Waffe wieder fort, als der Junge mit bloßen Fäusten auf ihn eindrosch. Er wollte ihn nicht schlagen, sondern packte ihn beim Arm und riß ihn herum. "Was willst du kleine Sprotte. Du hast ja nicht mal 'nen Bart im Gesicht und wagst es, dich mit mir, Redhead, dem Freibeuter des Teufels, anzulegen? Wer bist du, Knabe?"

"Ich bin Eddie Teach, Neffe des großen Zauberers Keneth Teach. Da!" Mit seinen letzten Worten rammte der Junge dem Piraten das rechte Knie voll in den Unterleib. Rollin heulte laut auf. Wut und Schmerz trieben ihm die Tränen in die Augen. Einen Moment kam Eddie frei und hieb nach Rollin. Doch der Fausthieb prallte auf die magisch gepanzerte Brust des Piraten. Ein häßliches Knacken war zu hören, und nun heulte auch der Junge. Rollin schäumte vor Wut und krümmte sich vor Schmerzen. Doch als er sah, daß sein tollkühner Gegner sich bei seinem Schlag wohl das Handgelenk gebrochen hatte, verdrängte er die unerträglichen Schmerzen im Unterleib für einen Moment. Er stieß vor, packte den Knaben an beiden Armen, riß ihn hoch und stampfte im Geschwindschritt zur Reling. "Du bist für meinen Säbel zu schade, du widerlicher Molch. Sollen die Haie dich fressen. Und wenn du denen auch zu klein bist soll Gott Neptun zusehen, was er mit dir anfängt!" Schnaubte er und warf den Jungen über Bord. Schreiend landete Eddie Teach im wogenden Meer und strampelte in wilder Panik. Rollin fühlte immer noch die pochenden Schmerzen im Unterleib. Sollte das Meer diesen gemeinen kleinen Widerling schlucken.

Erst als er wieder frei denken konnte machte er sich daran, die magisch versiegelte Luke zu öffnen. Seine Mannschaft beschäftigte sich gerade mit der zweiten Ladeluke, die ohne Verschlußzauber war. Als Rollin im Schein seines Haarrschopf-Feuerzaubers in den geheimen Laderaum hinuntergeklettert war spürte er bereits eine starke Kraft, die von einem Ort hinter der vor ihm liegenden Tür ausging. Er prüfte die Tür auf Flüche, fand keinen und entriegelte sie. Dann stand er in einem Raum ohne Bullaugen. Vor sich sah er eine sechs fuß breite und vier Fuß hohe Kiste. Er wirkte den Prüfzauber zum Erkennen fremder Magie und schrak im ersten Moment zurück. Die Truhe zeigte keine Reaktion. Doch etwas in ihr reagierte auf den Erkennungszauber. Es war wie ein auf einem Sockel ruhender, riesiger flacher Krugaus purem Gold, der den ganzen Raum ausfüllte, und von dem für nur eine Sekunde wirbelnde Schlieren nach unten wehten und von dort zurückströmten. Dann erlosch das magische Leuchten. Rollin erahnte, daß in der Kiste etwas hochpotentes war, etwas, daß er besser nicht mit bloßen Händen anfassen sollte. Er zertrümmerte die Kiste mit seinem Säbel. Jetzt konnte er den Gegenstand sehen. Ein knapp drei Fuß hoher, fünf Fuß breiter Krug, fast schon eine Schale, die aussah wie die untere Hälfte einer riesigen Muschel. Das Gefäß glänzte im Schein des Zauberfeuers rosiggolden. Sein Grund lag in dem, was er wie einen Sockel ansah. Der Krug besaß zwei große Henkel, die erwachsene Männer wohl mit beiden Händen umfassen konnten. Doch vor allem war das Gefäß randvoll mit klarer Flüssigkeit, womöglich reinem Wasser, angefüllt. Rollin sah sein von Flammen umzüngeltes Spiegelbild von unten her aufblicken. Ehrfürchtig stand er vor dem Krug und wußte erst nicht, ob er ihn besser dort lassen sollte wo er war. Dann besann er sich und wirkte einige Flucherkenner. Sie wiesen zwar nicht auf ihm bekannte Flüche hin. Doch irgendwie erkannte er, daß der Krug wohl durch Berührung Macht über den Berührenden erringen mochte. Vielleicht wohnte ihm eine eingekerkerte Seele inne, die den Menschen, der den Krug nahm unterwarf und knechtete. Da er nicht wußte, wie er diesen Fluch brechen konnte, ohne den Krug komplett zu entmachten, stand er einige Sekunden da. Dann hörte er Willy Oneear.

"Wau!" Sagte der einohrige Pirat, als er den Krug sah. Rollin erkannte die Gier in den Augen des Getreuen. Er rief ihm noch zu, den Krug nicht anzufassen. Doch Willys Gier war übermächtig. Er packte einen der Henkel. Obwohl Rollin mit etwas schlimmem gerechnet hatte verschlug es dem Zauberer doch den Atem. Willy erstarrte, zitterte und sackte nach vorne. Dabei zerfloß sein Körper wie Sirup. Der Krug schien das einzusaugen. Denn Willys Gestalt verschwamm im Wasserspiegel des magischen Gefäßes. Dann begann das Wasser zu brodeln. Rollin sprang zurück. Laut zischend schoß eine Fontäne so breit wie der obere Rand in die Höhe. Von der Decke fiel ein säulenförmiger Wasserfall auf den Boden. Rollin eilte zur Tür. Das Wasser stieg bereits an. Es hatte den Boden schon zu einem halben Zoll überflutet. Rollin deutete mit dem Zauberstab auf den Boden und rief: "Vanescento Aquae apportatae." Für einen Moment flimmerte ein blauer Lichtschleier zwischen Rollin und dem Raum. Dann knallte es vernehmlich. Das Wasser blieb und stieg weiter. Jetzt stand er auch schon hier im Gang in halbzollhohem Wasser. Er hoffte, daß es kein Witterwasser war, daß verheerend auf alles wirkte, das es berührte. Er lief schnell zurück und errichtete mit "Murus Elementarium!" Eine silberne Mauer aus Zauberlicht. Dabei dachte er an ihn bestürmende Fluten. Damit konnte er einen Gang oder Raum gegen Überflutung sichern. Zumindest sollte das so gehen. Doch als die hinter der Zauberlichtmauer steigende Flut mehr als ein Zoll hochstand, erzitterte diese und zerfiel laut krachend. Das angestaute Wasser schoß rauschend in den Gang hinaus. Rollin versuchte noch einen Verdunstungs- und einen Ausdörrungszauber. Doch auch diese Kunst kam nicht gegen die steigende Flut an. Er rief noch Elementa Recalmata. Damit rief er jedoch eine ihm unangenehme Reaktion hervor. Aus dem Raum mit dem magischen Krug spannte sich für eine Sekunde ein goldener Lichtbogen zu seinem Zauberstab. Rollin schrie auf, als etwas wie ein heißer Stoß durch den Arm und seinen Körper schlug. Dann krachte es, und sein Eibenholzstab zerfiel zu schwarzer Asche, die in der immer noch und immer schneller ansteigenden Überschwemmung zerfloß. Rollin taumelte und fiel hin. Er wurde klatschnaß. Das weckte seine Lebensgeister wieder auf. Er raffte sich auf und lief zum Niedergang. Mühsam schaffte er den Aufstieg. Hinter ihm stieg das Wasser weiter an. Er sah den Leichnam des von ihm erschossenen Zauberers. Über diesem schwebte dessen Geist, wohl noch nicht ganz sicher, was mit ihm geschehen war. Rollin ließ sich auf die Knie fallen und krabbelte auf den Toten zu. Mit einem Griff hatte er den diesem entfallenen Zauberstab. Da stieß der Geist von oben herab und umklammerte mit gefrierkalten Händen den Hals des Piraten.

"Nimm die Dreckspfoten von meinem Zauberstab", heulte ihm das nebeltaufrische Gespenst entgegen. Doch Rollin war nun wütend. Er schickte den Geist mit einem wirksamen Geisterbann auf Abstand. Doch er hörte noch, wie das davonfliegende Gespenst ihm zurief: "Wenn dich der Tod ereilt, werde ich da sein und dich hierher zurückbringen, um mit dir den Krug der Aiondara zu bewachen, Redhead! Deine Schandtaten werden nicht mehr lange währen." Dann verschwand der Geist.

"Raus und weg hier!" Rief Rollin mit magisch verstärkter Stimme, als er vor der Luke stand, die zum anderen Laderaum hinunterführte. Seine Mannschaft eilte herauf und rannte zur Reling. Hastig sprangen die Piraten auf ihr Schiff zurück, das anfing etwas höher zu steigen. Doch es war nicht die "Black Dragon", die stieg, sondern die "Lady Amber", die sank. Jack Blond fragte nach Willy. Rollin sagte nur: "Der ist tot. Weg hier!"

Als die Seeräuber auf ihrem Schiff waren sahen sie, wie aus der vorhin gesicherten Luke ein gewaltiger Schwall Wasser drang. Die "Lady Amber" lag nun schon so tief im Wasser, daß die nutzlosen Kanonen vom Meer überspült wurden. Es krachte, als die angestaute Flut die Wand zum nächsten Laderaum eindrückte und sich dort hineinergoß. Die "Lady Amber", eben noch hecklastig, sackte nun wieder in die übliche Lage, lag jedoch immer tiefer im Wasser. Dann sackte sie unvermittelt in die Tiefe. Um sie herum kräuselten sich kreisrunde Wellen. Brodelnd entwich die letzte Luft aus dem Leib des sinkenden Schiffes, bevor sich das Meer darüber schloß. Rollin fühlte die Verunsicherung seiner Leute. Sie hatten es mit etwas zu tun bekommen, das ihnen allen überlegen war. Auch Rollin wußte jetzt, daß er nicht alles kriegen konnte, was er wollte. Er blickte in die Ferne und sah, wie der Knabe Eddie Teach im Wasser paddelte wie ein Hund, immer wieder von den Wellen überspült wurde. Er fühlte beim Anblick des Knaben die Schmerzen im Unterleib wieder. Das brachte ihn davon ab, den Bengel zu retten. Der sollte im Meer ersaufen oder Haifutter werden. Laut hallte Rollins Stimme über das Deck, als er seinen Leuten befahl, Kurs auf Jamaika zu nehmen. Er ernannte dann noch Pete Scarhand zu Willys Nachfolger und beförderte den Leichtmatrosen Jack Blond zum Maat. Auf Jamaika würde er wieder einige Galgenvögel finden, die bei ihm anheuern mochten. Und wenn nicht, heuerte er sie eben mit magischem Nachdruck.

In der Kapitänskajüte schrieb er die ungefähre Position, an der die "Lady Amber" versunken war. Hier wollte er so schnell nicht mehr herkommen, kzwischen vierzig und sechzig Seemeilen ostsüdöstlich von Martinique.

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Er kämpfte um sein Leben. Die Wellen klatschten immer wieder über seinem Kopf zusammen. Er paddelte mit aller Kraft gegen die ihm entgegenlaufenden Wogen an. Doch er fühlte, daß er nicht mehr lange weiterschwimmen konnte. Einmal sah er die dreieckige Flosse eines Haies in der Ferne. Das trieb ihn an, schneller zu schwimmen. Wut und Enttäuschung hielten ihn wach, nachdem die erste Panik verflogen war und er meinte, sich gut im Wasser halten zu können. Dieser Seeräuber mit dem Feuer im Haar hatte ihn einfach weggeworfen. Er war ihm nicht wichtig genug gewesen, um mit ihm zu kämpfen. Zwar hatte er ihm kräftig in die Klunker getreten. Doch er hätte es lieber gehabt, wenn sich dieser Kerl auf einen richtigen Kampf eingelassen hätte. Jetzt kämpfte er zwar auch, aber gegen das Meer, das alles fressende Meer, das nichts übrig ließ, was es einmal verschlungen hatte. Sein Onkel hatte ihm Geschichten von Meeresungeheuern und Nixen erzählt. Er wußte, daß sein Onkel Macht über Wasser, Feuer, Luft und die Erde gehabt hatte. Doch dieser Pirat hatte ihn einfach erschossen. War der noch mächtiger als der zauberer Keneth? Wen kümmerte das überhaupt. Er schwamm gerade im weiten Ozean. Die Piraten hatten ihm nur hämisch nachgerufen, nicht so langsam zu schwimmen. Dann waren sie davongesegelt. Er schwor sich, sollte er je dem gierigen Schlund des Meeres entgehen, würde er selbst zum Beherrscher der Meere werden, würde sich eine Mannschaft suchen und diesem Feuerkopf Redhead entgegentreten und ihn erledigen. Da schwappte wieder eine Welle über ihn hinweg. Salzwasser drang ihm in den Mund und brannte in seiner Nase. Er prustete und röchelte. Seine Beine erlahmten. Er fühlte den Schmerz im gebrochenen Handgelenk. Seine Arme erlahmten. Er rief um Hilfe. Doch er erkannte, daß niemand ihm helfen konnte, kein Gott, kein Teufel. Er fühlte wieder eine Welle, die ihn unter Wasser drückte. Ihm ging langsam die Luft aus. Er sah bereits rote Punkte vor den Augen. Da sah er die Haifischflosse in seiner Nähe. Jetzt war es aus. Der Fisch würde gleich bei ihm sein und ihn in die Tiefe reißen. Eddie fühlte nun Verzweiflung. Unbändiger Haß auf Redhead und alle, die ihm nicht geholfen hatten. Er würde Haifutter werden. Er machte sich darauf gefaßt, daß ihn gleich etwas mit ganzer Kraft in einen Arm oder das Bein beißen und runterziehen würde. Er sah noch eine Haifischflosse. Er würde zum Fraß dieser Biester. Er wurde wieder von einer Welle überspült. Ihm schwand die Kraft. Aus. Er ließ sich treiben. Sollten die Haie ein Ende machen. Er fühlte, wie ihm die letzten Kräfte schwanden. Sein Kopf sank in die Fluten. Da meinte er, ein Paar Arme würden ihn umschlingen. Das war ganz sicher ein Traum. Dann wurde es schwarz vor seinen Augen.

Als er wieder zusich kam lag er auf den Planken eines Schiffes. Starke Männerhände rüttelten an ihm. Er spuckte Wasser aus. Als er einigermaßen bei sich war sagte er seinen Namen und daß er auf der "Lady Amber" gewesen war. Daß sein Onkel Zauberer war durfte er keinem erzählen, den er nicht kannte. So erwähnte er nur, daß sie von Piraten überfallen worden seien und er den Anführer zu töten versucht hatte. Die Männer grinsten belustigt, als sie das hörten und warfen sich bestürzte Blicke zu, als Eddie vom brennenden Schopf des Piratenkapitäns erzählte. "Des Satans Freibeuter", hörte er einen flüstern. Dann wurde er in eine Kajüte gebracht und dort in warme Decken gewickelt.

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Die Besatzung der "Black Dragon" verdrängte den Zwischenfall mit der "Lady Amber" relativ schnell. Das magisch gepanzerte Piratenschiff brachte in den Monaten zwischen September und Dezember mehr als zwanzig Schatzschiffe auf. Dabei gerieten die Leute Redheads auch immer wieder an andere Seeräuber. Doch mit denen machte der schottische Rotschopf kurzen Prozeß, in dem er deren Schiffe immer gleich mit Brennkugeln in Flammen aufgehen ließ. Allerdings jagten spanische, englische und niederländische Kriegsschiffe hinter allen Piraten der Karibik her. Rollin wäre fast selbst in einen Hinterhalt auf Tortuga geraten, hätte er die Falle nicht aus den unausgesprochenen Gedanken eines Spions herausgelesen.

Es war am Morgen des 18. Januar 1693. Die "Black Dragon" lauerte hundert Seemeilen vor der Küste von Caracas. Vielleicht kam heute wieder ein Silberfrachter vorbei. Rollins Leute langweilten sich. Das war nicht gut, fand der zauberkundige Pirat. Dann waren die leicht reizbar und gingen schon mal mit den Messern aufeinander los. Er mußte dann immer den Cruciatus-Fluch aufrufen, um die Borddisziplin wiederherzustellen. Der Rum war bereits seit vier Tagen alle. Wenn morgen kein lohnendes Ziel vor die Geschütze der "Black Dragon" kam mußten sie zu einem der nächsten Schlupfwinkel, um zumindest das Rumproblem zu lösen.

"Noch so'n Spruch und ich schlitze dich auf von Bug bis Heck!" Hörte Rollin die Stimme von Joe Spalding, dem Schiffskoch der "Black Dragon". Rollin verließ seinen Posten auf der Brücke und jagte hinunter zu einer Menschentraube vor dem Zugang zur Kombüse. Mit einem lauten "Hey, was ist hier los!" ließ er die aufgebrachte Menge erstarren. Er sah Joe mit einem Fleischermesser vor Jack Blond stehen, der ein Entermesser kampfbereit in die Höhe reckte. "Der Kerl da hat behauptet, ich hätte in die Suppe gepinkelt", knurrte Joe. Jack deutete auf den Suppentopf in der Kombüse, aus dem weiße Dampfspiralen aufstiegen. Rollin sah die beiden Streithähne an. Dann sagte er:

"Dann soll Jack heute eben nix essen und solange im Eisenkäfig bleiben, bis er kapiert, daß du hier nix verpanschst, Joe. Los, bringt den Bengel unter Deck!"

"Der hat bestimmt was in die Suppe reingemacht, was nich' reingehört, Captain Redhead", protestierte Jack, als ihn zwei große Kameraden ergriffen. Rollin fragte ihn noch, ob er ihn vielleicht kielholen lassen sollte. Das wirkte. Jack und die anderen hatten es einmal erlebt, wie einer, der meinte, sich mit Pete Scarhand anlegen zu müssen, quer unter dem Schiff durchgezogen worden war. Die dort wuchernden Muscheln und Seepocken hatten dem den Rücken aufgerissen, und er wäre fast dabei ertrunken. So ließ sich Jack lieber ohne weiteren Protest und Widerstand von den Kameraden unter Deck führen. Joe sah den Piratenkapitän an. Der sagte dann ganz ruhig:

"Kriege ich raus, daß Jack doch recht hatte lasse ich dich von bug bis Heck kielholen, Joe. Schon schlimm genug, daß wir bis heute nix mehr entern konnten. Da sollte der Koch ganz ruhig und vor allem ganz ordentlich sein. Und ihr Faulpelze zurück auf eure Posten. Wir wollen keine Algen ansetzen!" Die Mannschaft trollte sich. Widerworte waren fast ein Todesurteil. Rollin brauchte sie jedoch noch.

Als der Kapitän gerade zur Brücke aufenterte erklang der Ruf aus dem Mastkorb: "Schiff in Sicht! Richtung Südsüdwest!" Rollin fühlte die Erregung und griff zum Fernrohr. Da kam wirklich ein Schiff von südsüdwest heran, ein Schiff mit hellgrünen Segeln. Er suchte die Flagge. Für wen fuhr das. Es war auf jeden Fall ein gedrungenes Schiff mit drei Masten. Er erkannte sofort, daß alle Geschütze ausgerannt worden waren. War das ein Kriegsschiff oder ein anderer Pirat? So oder so würde es gleich eine willkommene Abwechslung bieten. Er kommandierte alle Mann an Deck und ließ die Segel für ein Wendemanöver setzen. Pete steuerte auf den Kurs des Fremden ein. Rumpelnd rollten die dreißig Kanonen in ihre Gefechtsstellung. Rollin schuf einen unsichtbaren Schild, der gegen anfliegendes Metall schützen sollte. Konnte immerhin sein, daß die da drüben auch Brückengeschütze hatten, um gegnerische Kapitäne im ersten Ansatz zu erledigen. Immerhin hatten das mehrere Spanier und Franzosen versucht, denen er in den letzten Monaten begegnet war. Jetzt sah er die Galionsfigur, einen goldenen Stier, oder war es doch eine Kuh? Als er genauer hinsah erkannte er tatsächlich ein Euter bei der lebensgroßen Abbildung. Hatte er von so einem Schiff schon mal gehört? Er kannte eine "Bunte Kuh", ein Schiff aus der Zeit des deutschen Piraten Klaus Störtebeker. Allerdings war dieses Schiff das Verhängnis des großen Seeräubers gewesen, der die hanseatischen Kauffahrer tüchtig in Angst und Schrecken gehalten hatte. Von einer goldenen Kuh hatte er noch nie was gehört.

"Klar zum Abfangen!" Rief der Piratenkapitän seinen Leuten zu. Er zählte die Geschütze. Nur zwölf. Nur zwölf? So ein großes Schiff mit so wenigen Geschützen? Die waren aber mutig. Da hatte die "Black Dragon" ja schon bald das dreifache und käme mit der Hälfte schon wunderbar klar. Das fremde Schiff hielt auf das auf Abfangkurs fahrende Piratenschiff zu. Rollin fragte sich, warum noch keiner ein Flaggensignal versucht hatte. Sollte er das ausnahmsweise mal tun? Nein, das war überflüssig. Denn so oder so würden sie das Schiff entern, vor allem, wenn es so unterbewaffnet dazu einlud. Jetzt sah er den Kapitän und seinen ersten Offizier. Sie trugen spanische Kauffahrteiuniformen. Er sah auch einen Mann im Mastkorb, der mit seinem Fernrohr die Umgebung beobachtete. Der sah doch den schwarzen Drachen und die gerade gefechtsklaren Geschütze. Rollin hatte die Flagge Schottlands gehisst, obwohl viele seiner Kumpane Engländer, Iren oder Kolonialgeborene waren. Würde der andere einfach vorbeisegeln wollen? Rollin scheute davor zurück, den ersten Schuß abzufeuern, bevor er nicht wußte, was genau das für ein Schiff war. Seine Spione hatten ihm nichts von einem spanischen Frachter mit goldener Kuh als Galionsfigur erzählt. Dann fielen ihm die vergitterten Bullaugen auf. Solche besaßen nur Gefangenentransporter oder Sklavenhändler. Wenn irgendwer aus Amerika nach Spanien verschifft werden sollte hätte er das sicher gewußt. Denn seine Augen und Ohren in den Kaschemmen und Werften entlang der gesamten amerikanischen Ostküste und der vorgelagerten Inseln hatten ihm immer zuverlässig berichtet, wenn Konkurrenten von ihm ihre letzte Fahrt angetreten hatten, vor Gericht gebracht wurden oder nach Europa verfrachtet wurden. Pete Scarhand enterte auf die Brücke auf. Am Ruder stand Barney Moore, ein muskelüberladener Dreinschläger mit braunen Haarstoppeln und Spitzbart.

"'n Gefangenenschiff mit so wenig Rohren?" Fragte Pete. Rollin wunderte sich auch. Dann sah er, wie das fremde Schiff um drei Grad nach Backbord drehte. "Die wollen Steuerbord an Steuerbord an uns vorbei, Captain", erkannte Pete.

"Die bieten sich voll für eine Breitseite an. Zurück ans Ruder, Pete. Das wird vielleicht nur ein kurzer Kampf. Aber ich will meinen besten Mann am Ruder haben, wenn der Tanz losgeht."

"Aye, Captain!" Bestätigte Pete und turnte die Jakobsleiter wieder hinunter. Rollin fühlte es, daß da irgendwas nicht stimmte. Diese dumpfe Vorahnung hatte er bisher nie bei einer anstehenden Seeschlacht wahrgenommen. Sollte er den Angriff vergessen und den anderen ziehen lassen? Nein, der mochte dann berichten, den schwarzen Drachen in diesen Gewässern gesichtet zu haben. Das durfte er nicht zulassen. Vielleicht hatten die gerade andere Piraten an Bord. Die mochten ihm dann was schuldig sein, wenn er sie vor den korrupten Klauen der spanischen Justiz bewahrte. Das hieß aber auf jeden Fall, daß er keine Brandgeschosse verwenden durfte. Er wollte gerade Old Nick mit einem Geschoß laden, das beim Aufschlagen in tausend Splitter ging, als ihm die Entscheidung aus der Hand genommen wurde. Das fremde Segelschiff drehte weiter und präsentierte die sechs steuerbordgeschütze. Die mittleren zwei blitzten auf. Er sah die Kugeln anfliegen und mit lautem Klong vom Vorderdeck zurückfedern. Das Schwirren der davonfliegenden Geschosse vermischte sich mit dem doppelten Donnerschlag des Abfeuerns. "Das war deutlich! Los Jungs. Neunzig Grad Steuerbord, Pete! Klar für Breitseite!" Kommandierte Rollin. Da schwirrten schon die nächsten Kugeln heran, prallten am Bug und am Brückenaufbau ab und heulten in Gegenrichtung davon. Rollin zog den Zauberstab von Keneth Teach und ließ sein Haar in hitzelosem Feuer aufflammen. Danach lud er Old Nick mit einer Brennkugel, während weitere Geschosse vom schnell nach Steuerbord drehenden Schiffskörper abprallten. Jetzt lagen beide Segler parallel zueinander. Rollin visierte die Brücke an und feuerte Old Nicks höllischen Gruß ab. Die bis zum abfeuern bruchsichere Glaskugel schwirrte unsichtbar für ihre Gegner auf die Brücke zu und zerplatzte. Es blitzte kurz auf, und rotglühende Tropfen rannen am Brückenaufbau herunter. Doch sie erloschen sofort wieder. Das durfte doch nicht wahr sein. Rollin lud mit einer wohl einstudierten Folge von Zaubern die Kanone neu und feuerte sie ein zweites Mal ab. Gleichzeitig schlugen aus allen sechs Steuerbordgeschützen des Gegners die Geschosse von der Bordwand zurück. Old Nick donnerte los. Sein tödlicher Gruß erreichte zwar das Ziel, entfaltete aber nicht seine höllische Wirkung. Wieder rannen rote Tropfen am Brückenhaus nieder und erloschen wie Sternschnuppen in einer klaren Winternacht. Da war Rollin klar, was die Stunde geschlagen hatte. Er gab zwar den Befehl, die Durchschläger abzufeuern, ahnte in dem Moment jedoch schon, daß sie nichts erreichen konnten. So war er nicht so entsetzt wie seine Männer, als die Geschosse kurz vor dem Ziel blau aufglühten und dann von der gegnerischen Bordwand abprallten, wie es sonst nur bei der "Black Dragon" vorkam. Heulend kehrten sie um, krachten als rotglühende Bolliden gegen die eigene Bordwand, prallten wieder ab und wimmerten zurück. Sie schlugen noch einmal gegen die Bordwand des spanischen Seglers und klatschten dann ins Wasser. Der Ausguck rief: "Die können auch zaubern, zum Teufel noch mal."

"Was du nicht sagst", knurrte Rollin, der sich schon darauf gefaßt machte, gleich mit direkten Flüchen beharkt zu werden. Doch vorher passierte was ganz anderes. Die goldene Kuh auf dem Bug glühte in einem grünen Licht auf und verformte sich. Jetzt hockte da eine ungemein dicke Frauengestalt mit rückenlanger Struwelmähne und einem Kleid, das wie aus zusammengenähtem Laub wirkte. Rollin winkte dem Drachen auf seinem Bug zu und befahl ihm, die Segel der anderen anzuzünden. Er machte sich zwar keine großen Hoffnungen, daß das eingewirkte Zauberfeuer des Ebenholzdrachens mehr ausrichtete als das Brenngebräu. Aber er wollte sich nicht geschlagen geben, ohne wirklich alles ausprobiert zu haben. Jetzt las er an Bug und Heck einen in grünem Licht leuchtenden Namen: MEIGA GORDA.

"Die Brenner schaffen es nicht!" Rief Rollin seinen Kanonieren zu, die gerade nachladen wollten. "Geben wir denen den Sticknebel. Dagegen können die auch nix machen." Er hatte vorsorglich mehrere der Glaskugeln mit einem Gebräu gefüllt und versiegelt, das beim Kontakt mit der Luft zu einem den Atem raubenden Brodem wurde. Damit wollte er nur auf Gegner schießen, deren Schiff oder Bollwerk er nicht beschädigen durfte. Da flogen die fünfzehn Sticknebelkugeln auch schon los. Sie würden nicht abprallen, sondern bbeim Aufprall in hunderttausend Stücke gehen und ihr giftiges Innenleben freigeben. Doch als die Geschosse in die Nähe der "Meiga Gorda" gerieten, explodierten sie in grünem Feuer. Zur Antwort bekam die "Black Dragon" Gegenfeuer aus den Kanonen. Diesmal waren es jedoch Kugeln, die im Flug zu grün-blauen Feuerbällen wurden, die mit großer Wucht an die Bordwand schlugen und ein laut prasselndes Gewitter aus blauen, grünen und gelben Blitzen auslösten. Rollin sah den Drachen, der gerade über dem Großmast niederstieß. Da drehte sich die dicke Frauengestalt auf dem Bug um, riß die rechte Hand hoch und deutete mit dem Zeigefinger auf den magisch belebten Drachen. Grüne Blitze entfuhren dem Zeigefinger der mindestens drei Meter großen Nachbildung. Oder war das vielleicht eine echte Meiga, eine Wald- und Flußhexe aus Galizien? Der Drache stand plötzlich in smaragdgrünen Flammen, begann sich wie ein Mühlrad im reißenden Fluß zu drehen und zerplatzte in einem gleißendgrünen Feuerball, aus dem glimmende asche niederregnete. Damit war Rollins Prunkwaffe und Schiffskennzeichen fort und dahin. Da flogen weitere grün-blaue Leuchtgeschosse heran, zerbarsten an der Bordwand der "Black Dragon" und zerstoben zu wilden Blitzen. "Volle Wende!" Rief Rollin seinem Steuermann zu. Dieser reagierte kalt wie ein Eisberg. Die nächste Breitseite der "Meiga Gorda" erzielte nur ein Sechstel der bisherigen Wirkung. Ein Feuergeschoß krachte gegen das Heck und zersprühte zu einem Bündel Blitze. Rollin wurde den Verdacht nicht los, daß die Geschosse keinen direkten Schaden anrichten, sondern die in seinem Schiff wirkende Panzerung zerstreuen sollten. Die Steuerbordgeschütze zielten nun auf die "Meiga Gorda". Diesmal feuerten sie alle drei Sorten früher so vernichtenden Geschosse ab. Doch die Brenner zerliefen in hübschen roten Rinnsalen. Die Durchschläger glühten blau auf, prallten ab und flogen einige Male zwischen den Schiffen hin und her, bis sie genug Schwung verbraucht hatten, um im Meer zu versinken. Die Sticknebelkugeln zerplatzten in unschädlichen Feuerbällen. Dann krachte ein grün-blauer Blitz aus der rechten Hand der Galionsfigur des fremden Schiffes und traf den vorderen Mast. Dieser sprühte Funken, erzitterte und zersplitterte einfach. Dazu gesellten sich die bereits verwendeten grün-blauen Leuchtgeschosse, die erneut ein Blitzgewitter auslösten. Rollin wußte, daß er auf der Brücke ein leichtes Ziel bot, vor allem mit seinem brennenden Schopf. Doch wenn er schon sterben sollte, dann im Kampf und aufrecht auf der Brücke seines Schiffes stehend. Lebendig sollten die ihn nicht kriegen. Wieder prasselte ein grün-blauer Lichtblitz gegen einen der Masten. Auch dieser sprühte Funken, zitterte und zersplitterte vollständig. Die Rahen hingen nun über. Die Segel und Taue knarrten protestierend. Rollin wußte, daß es nur noch drei solche Angriffe brauchte, um das Schiff manövrierunfähig zu machen. Er rief seinem Kameraden im Mastkorb zu, schleunigst runterzuklettern. Doch dieser war bereits auf dem Weg nach unten. Der hatte nicht gewartet, bis man ihm befahl, sein nacktes Leben zu retten. Überhaupt löste die unbestreitbare Überlegenheit des anderen Schiffes eine immer mehr zunehmende Verstörtheit unter den Piraten aus. Sie kannten Magie und hatten mitbekommen, wie mächtig sie sein konnte. Doch jetzt erlebten sie, daß es gegen alle Zauber auch Gegenzauber gab, und ihr Schiff nun von offenbar sehr wütenden Vertretern der schwarzen Kunst kunstgerecht zerlegt werden sollte. Wenn die wie ein riesiger Kürbis geformte Abbildung da ihren zerstörungsstrahl auf die Bordwände richtete konnten nicht mal mehr Ratten rechtzeitig von Bord. Abgesehen davon, daß Rollin diese Tiere nie an Bord geduldet und sie mit für diese tödlichsten Futterfallen erledigt hatte, sobald sie abgelegt hatten. Rollin wußte, daß es unsinn war, weiterzuschießen. Doch er wollte sich nicht geschlagen geben. Er ließ weiterfeuern. Da zersplitterten auch die drei verbliebenen Masten. Krachend und Klatschend schlug die ganze Takelage auf Deck auf. Vier der Piraten, die gerade neue Munition herbeischafften, wurden von den Rahen erschlagen. Also hatten die da drüben genausowenig Skrupel wie Rollin, der versuchte, einen tödlichen Fluch zum Kapitän zu schicken. Doch auch wenn er ihn ausrufen konnte, war der Abstand doch zu groß. Der grüne Blitz verblaßte weit vor Erreichen seines Ziels. Damit war für Rollin klar, warum sie noch keine Flüche auf ihn gelegt hatten. Dann flogen wieder feste Kanonenkugeln an. Diesmal schlugen sie laut krachend an Deck und Backbord mittschiffs ein. Das bestätigte Rollins unausgesprochenen Verdacht. Die wirksame Panzerung war zerstört. Sie waren nun genauso von Kanonenkugeln zu treffen wie die meisten anderen Schiffe. Dann sah Rollin ihn, den Geist des von ihm erschossenen Zauberers Keneth Teach. Er schwebte von Backbord voraus auf die "Black Dragon" zu und winkte. Rollin hörte als einziger sein triumphales Lachen. "Zaltag, Rotschopf. Ich warte auf dich."

Rollin schickte dem Gespenst einen Geistervertreibezauber auf den feinstofflichen Hals. Doch Teach tauchte wie ein niederstoßender Adler darunter weg und schlüpfte durch die Backbordwand im Vorderschiff. Rollin kannte wie die meisten Seeleute die Geschichte vom Klabautermann, einem Seegespenst, daß immer dann zu sehen und zu hören sein sollte, wenn das Schiff kurz vor dem Untergang stand. Gerade eben hatte er seinen persönlichen Klabautermann gesehen.

"Ihr habt jetzt keinen Schutz mehr und könnt nicht mehr weitersegeln. Ergebt euch. Dann werden wir euch auf einer unbewohnten Insel aussetzen!" Hörten sie die übernatürlich laute Stimme eines Mannes, der schottischen Akzent sprach. Jetzt konnte Rollin einen Mann im meergrün-himmelblauen Schottenrock und einer ebenso gefärbten und gemusterten Kappe auf dem rotbraunen Schopf sehen. Das große Schwert auf dem Rücken stand er auf der Brücke der "Meiga Gorda", Dustin McDarwish, des alten Bruce McDarwish erstgeborener Enkel und Clanhäuptling der übernächsten Generation.

"Hätte ich gewußt, daß du auf diesem Hexenpott sitzt hätte ich gleich meine Aufwartung gemacht", rief Rollin mit ebenfalls magisch verstärkter Stimme. "Hat dein dicker alter Großvater gesagt, du sollst mir die Hucke vollhauen, Dusty?"

"Er sagte, ich soll ihm deinen Kopf mitbringen, Rollin. Und den hole ich mir gleich, wenn deine Spießgesellen im Bauch der dicken Tante Meiga verstaut sind", antwortete Dustin McDarwish.

"An den ungehobelten erstickt die dicke Trulla", knurrte Rollin. "Wenn du mich haben willst mußt du rüberkommen. Und meine Jungs brennen darauf, euer Schiff zu übernehmen, nachdem du unseres so unpfleglich behandelt hast."

"Wir sind zwanzig Zauberer, du Trollhirn. Gegen uns haben deine Galgenstricke und Halsabschneider keine Chance."

"Habe ich auch mal geglaubt und dann gesehen, wie gut die schießen können", erwiderte Rollin. Er veränderte seine Stimme wieder zur normalen Lautstärke und befahl seinen Leuten, sich möglichst alle Pistolen zu greifen, die an Bord waren und alle zu laden. Er selbst hatte was anderes vor.

"Dein Großvater wird sich sicher auch freuen, wenn ich ihm deinen Kopf mitbringe, Dusty. Ich warte auf dich!"

"Wir kommen rüber!" Rief Dustin und winkte dem Kapitän zu, der nicht wie ein zauberer aussah. Dann verließ er die Brücke. Rollin tauchte unter die Brüstung der Brücke und holte ein Gewehr hervor. Eigentlich hatte er gedacht, es nicht mehr zu benötigen. Doch den Kapitän da drüben wollte er nicht ohne eine Kugel lassen. Er spannte den Hahn, riß den Lauf hoch, zielte aus der Bewegung heraus und drückte ab. Laut krachte der Schuß. Der Kapitän stand noch auf der Brücke. Da zerplatzte vor ihm ein winziger Feuerball. Die Bleikugel war von einem Abwehrzauber zerstört worden. Rollin versuchte nun, den Propulsus-Zauber anzuwenden, um dem anderen Schiff doch noch zu entrinnen. Doch dort drüben waren sie auf dem Posten und setzten einen vereinten Vortriebszauber dagegen, so daß die "Meiga Gorda" keine Minute Später auf Enterhakenreichweite heran war. Dann krachten die beiden Schiffe seitlich gegeneinander. Die dabei zusammenstoßenden Geschützmündungen schepperten wie kaputte Kirchenglocken. Dann flogen von unsichtbaren Kräften gelenkte Seile herüber und vertäuten die Schiffe an der Reling und den Bordwänden. Laut platschend fiel der schwere Anker der "Meiga Gorda". Leise rasselnd spulte sich das mehrfach geflochtene Ankertau ab. Mit einem Ruck faßte der Anker. Die Piraten hechteten über die armdicken Segeltaue hinweg, Jeder hatte eine Pistole in jeder Hand und mindestens vier am Gürtel. Da apparierten die ersten Zauberer. Wie Dämonen aus dem Nichts standen sie plötzlich an Deck der "Black Dragon" und schwangen ihre Zauberstäbe. Die Piraten gaben Feuer. Tatsächlich fielen die tolldreisten Apparierer unter der Salve nieder. Da waren es nur noch zehn, dachte Rollin. Da erschienen die nächsten aus dem Nichts heraus. Ihre Ankunft knallte genauso laut wie die unvermittelt gegen sie abgefeuerten Pistolen. Damit hatten sie nicht gerechnet, daß die Piraten wußten, was Apparition war und nicht so erschraken wie sie das wohl erhofft hatten. Wieder fielen fünf Zauberer um. Schnell ließen die Seeräuber die leergeschossenen Pistolen fallen und zogen die nächsten Zwei von ihren Gürteln. Da erschienen die letzten Fünf, darunter Dustin McDarwish. Rollin winkte mit seinem Zauberstab. Aus dem Nichts erschien sein Schwertgurt mit der Scheide aus der Haut eines schwarzen Hebriden. Er schnallte ihn um und zog das schwere, zweihändig zu führende Claymore. Dustin sah noch, wie vier seiner Leute umfielen, als wieder auf sie geschossen wurde. Er stand aber sicher da. Dann fiel auch Rollin auf, daß etwas nicht stimmte. Er sah zwar die am Boden liegenden Feinde, jedoch keinen Einschuß in den grünen, blauen und violetten Umhängen. Ehe er diese Beobachtung richtig zuordnen konnte erhoben sich die scheinbar niedergeschossenen auch schon wieder wie Inferi unter der Beschwörung ihres Meisters.

"Denkt ihr Schurken wahrlich, wir besäßen keine Kenntnis von euren Mordwerkzeugen und hätten nicht Sorge getroffen, uns wider sie zu wappnen?!" Rief McDarwish, während Rollins Leute ihre Pistolen wieder abfeuerten. jetzt konnte der kurz vor der vernichtenden Niederlage stehende Redhead es sehen, wie die Pistolenkugeln vor den Körpern verglühten. Er hätte es doch wissen müssen, als er versucht hatte, den Kapitän der Meiga zu erschießen. Noch einmal krachten Pistolen. Doch diesmal blieben die Zauberer unbeeindruckt stehen. Dann waren alle Waffen leergeschossen. Sie nachzuladen dauerte zu lange. Da flogen geschmeidige Seile aus den Zauberstäben der Feinde und wickelten sich um die Körper der Piraten. Doch einige zogen ihre Säbel und kämpften gegen die sie umschnürenden Seile an. Tatsächlich gelang es, einzelne Seile zu kappen. Doch dafür flogen von woanders her scharlachrote Entwaffnungszauber gegen die berserkergleich fechtenden Piraten und hieben diesen die Säbel aus den Händen. Das ganze ging über mehrere Sekunden. Dann hatten die magischen Seesoldaten ihre Feinde überwältigt und gebunden. Nur Rollin stand noch ungefesselt da, das magisch gehärtete Zweihandschwert fest in den Fäusten.

"Sie hatten ihre Chance. Sie werden auf die nächste bewohnte Insel gebracht und dort der Gerichtsbarkeit überordnet", sagte Dustin. Wir beide werden nun darum kämpfen, wer wessen Kopf in die Heimat zurückbringt."

"Das ist doch eindeutig, wer das sein wird. Ich habe von meinem Großvater, meinen Onkeln und meinem Vater das beste Claymore-Fechten gelernt, daß ein Abkömmling magischer Eltern erlernen kann", tönte Rollin. Dustin erwiderte darauf nur, daß ein großer Mund noch keinen großen Kämpfer mache. Rollin sah die Zauberer an, die gerade seine Leute verschnürt hatten. "Wenn ich diesen Möchtegernkronprinzen da einen Kopf kürzer gehauen habe werdet ihr meine Leute wieder freilassen. Denn wenn er fällt habe ich zu bestimmen."

"Wir hatten nur den Auftrag, die Unfähigen zu fangen, die unter deinem Kommando standen", erwiderte einer der Zauberer in astreinem Englisch, obwohl dessen Wiege sicher irgendwo in einer der spanischen Kolonien gestanden hatte. Dann ergriffen sie die wütend gegen ihre Fesseln ankämpfenden und disapparierten mit ihnen. Rollin und Dustin waren alleine. Sie konnten sich nur auf ihre Schwerter verlassen.

"Du hättest Shana heiraten können, du Trollhirn", knurrte Dustin. "Großvater Bruce war bereit, sie dir zum Weibe zu geben."

"Ich weiß, daß ihr gerne euer überhebliches Blut mit dem edlen Blut der McFustys vermischen wollt, Dustin. Ich hatte keine Lust, deines fetten Großvaters willig wiehernder Zuchthengst zu werden und ihm aus purer Dankbarkeit noch die Füße und was auch immer zu lecken. Bringen wir es hinter uns, ich freue mich schon drauf, dem alten McDarwish ins trauervolle Angesicht zu blicken."

"Von seinem Kaminsims aus wirst du ihn sehr lange sehen können, falls Teach dich läßt", knurrte Dustin. "Wir haben einen Handel. Er bekommt deine verdorbene Seele zur Begleitung auf seinen von dir erzwungenen ewigen Wachtposten, und ich deinen verwirrten Schädel."

"Ich werde mir deinen Schädel einschrumpfen und an meinen Gürtel hängen, du rückgratloser Wasserträger. Also los!"

"Erst gibst du den Zauberstab heraus, der dir nicht gehört!" Forderte Dustin. Rollin schüttelte den Kopf. "Der dem er früher war benötigt ihn nicht mehr, und ich kann sehr gut damit zaubern, Dusty."

"Wenn du einen ehrenvollen Zweikampf haben willst, so gib den Stab heraus!"

"Nur wenn du deinen auch aus den Händen gibst, Dustin. Immerhin brauchst du den später auch nicht mehr", erwiderte der Piratenkapitän. Dustin grinste und deutete auf die "Meiga Gorda". Ein junger Zauberer mit hellrotem Haar kam herüberappariert. "Gordy, du nimmst unsere Zauberstäbe in Verwahrung", sagte Dustin ihm und gab dem Jungen seinen Zauberstab. "Nun, bist du ein Mann oder ein Feigling, Rollin? Gib den dir nicht gehörenden Zauberstab heraus und zeige mir, ob dein Schwert mächtiger ist als deine Worte!" Rollin zückte den Zauberstab von Keneth Teach und gab ihm den wohl gerade mit Hogwarts fertiggewordenen Zauberer. "Pass gut drauf auf. Ich will den gleich wiederhaben!" Feixte Rollin. Doch Dustin zog sein Schwert. Rollin nahm sein Claymore wieder fest. Mit loderndem Haar, eingehüllt in seinen rot-gelb-weißen Schottenrock, stand er Dustin McDarwish gegenüber. Gordy, der junge Zauberer, sollte noch das niedergestürzte Segelzeug verschwinden lassen, um keine Stolperfallen zu hinterlassen. Dann verschwand der junge Zauberer mit leisem Plopp.

Die beiden Duellanten verneigten sich voreinander. Dann griff Dustin an. Mit klirrender Klinge parierte Rollin den ersten Angriff. Dann ging es schlag auf schlag. Die beiden Gegner konnten ihre Schwerter meisterhaft führen und waren gewandt. Sie schlugen aufeinander ein, parierten, fintierten. Die gehärteten Klingen begannen zu glühen, als sie schon das zehnte Mal mit Wucht aufeinandergeprallt waren. Schabend rutschten die langen und breiten Schwertblätter voneinander ab, um im nächsten Sekundenbruchteil wieder zusammenzukrachen. Rollin verließ sich auf seine schützende Lederkleidung. Doch die würde gegen ein magisch gehärtetes Claymore nicht lange durchhalten. Die Gegner bedrängten einander. Klirren, Schaben, durch die Luft wischende Schwertklingen. Die Sonne spiegelte von den blitzartig vorschnellenden Klingen. Immer wieder versuchte der eine oder andere einen Schlag gegen den Hals des Gegners, um diesen zu enthaupten. Doch jedesmal fing der Bedrängte den Schlag mit seiner Klinge ab, um aus der Abwehrbewegung den nächsten Angriff einzuleiten. Beide waren großartige Fechter und schienen die schweren Claymores wie zierliche Florette zu benutzen. Sie umtanzten und umsprangen einander, stießen vor oder sprangen zurück, wenn der Gegenschlag eine Körperstelle zu treffen drohte. Die beiden schottischen Zauberer hielten einander auf Abstand oder drängten einander zu schnellen Vorstößen. Der Kampf erstreckte sich auf die gesamte Länge des Schiffes. Da alle panzernde Magie aus den Planken entzogen war, kam es vor, daß die gehärteten Klingen laut knirschend durch die Planken schnitten wie ein Rasiermesser durch Seidenstoff. Funken sprühten, wenn die Klingen mit voller Wucht aufeinandertrafen und sofort voneinander abrutschten. Rollin fühlte, wie der Rausch des Kampfes langsam aber deutlich von einer immer größer werdenden Ermüdung verdrängt wurde. Er hoffte, daß Dustin, der zwanzig Jahre älter war als der Piratenkapitän, noch eher erschöpft sein würde. Wieder schlug Rollin eine Finte und verleitete Dustin zu einem Fehlschlag. Doch der Enthauptungsschlag gegen Dustin wurde pariert. Dann trat Rollin auf ein Brett, das von einem nahebei eingeschlagenen Geschoß angebrochen worden war und brach mit dem Fuß durch das Deck. ER überzog den Schlag und rammte sein Schwert vor sich in den Boden, was dem Brett den Rest gab. Dustin sprang gerade rechtzeitig zurück, als die Planke durchbrach. Doch er sah auch seine Chance. Er holte weit aus. Rollin hörte, während er versuchte, sich und sein Schwert wieder freizubekommen, wie die gegnerische Klinge auf ihn zupfiff. Dann war da dieser kurze, heftige Schmerz, der sofort wieder nachließ. Dann meinte er, von einer unsichtbaren Macht hochgeschleudert zu werden und über das Schiff hinweg, über die Reling hinaus ins Meer zu fliegen, bevor schlagartig ein schwarzer Vorhang vor seine Augen fiel. Doch sofort fühlte er, wie jemand ihn an Kopf und Armen packte und aus der Dunkelheit zurückzerrte. "Nichts da, du bleibst hier und wirst mit mir wachen, Rollin Redhead", hörte er die überaus entschlossene Stimme eines Toten, Keneth Teach.

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Jack Blond hockte in der vergitterten Zelle tief im Bauch der "Black Dragon". Er konnte durch das winzige Bullauge hinausblicken, hörte den Kanonendonner und sah die grünen, blauen und gelben Blitze und hörte die Unruhe. Dann krachten Einschläge links und rechts von ihm in die Bordwand und über seinem Kopf. Er sah, wie auf dem Gang vor der Gittertür ein Loch in der Decke entstand und laut polternd eine Kanonenkugel auf den Boden fiel und gegen die Gitterstäbe klirrte. Die "Black Dragon" war nicht mehr gepanzert, erkannte Jack Blond. Dann hörte er die Aufforderung zur Aufgabe und die Erwiderung seines Kapitäns. Er konnte das Krachen von Pistolen hören und dann das Stampfen und Klirren der an Deck fechtenden Duellanten. Irgendwann hörte er ein Knarzen, einen unterdrückten Fluch und dann ein Poltern, als sei ein schwerer Gegenstand oder Körper auf die Planken gestürzt. "Nichts da!Accio Kopf!" Hörte er dann noch was, daß eindeutig eine Zauberformel war und nicht aus dem mund Von Captain Redhead klang. Er sah etwas loderndes, das über dem Einschuß in der Decke hinwegflog. Dabei erlosch das Feuer, und er konnte für einen winzigen Moment in die Augen von Rollin Redhead sehen, bevor sein Kopf aus dem Sichtfeld verschwand. In dem Moment meinte Jack, daß alles Blut aus seinem eigenen Kopf gewichen sei. Er fühlte einen unbändigen Schwindel und sackte in der Zelle zusammen. Er konnte noch hören, wie der siegreiche Kämpfer über das Deck ging und wohl in der Kapitänskajüte verschwand. "Accio Rollin McFustys Aufzeichnungen!" Hörte er dumpf und wie aus weiter Ferne. Dann krachte es wie eine in einem geschlossenen Raum abgefeuerte Pistole. Danach wurde es fast still. Nur das gegen die Bordwand plätschernde Wasser und das Knarren der geschundenen Planken im Seegang erreichte Jacks Ohren. Der Schwindelanfall und die nun rhythmisch klingenden Geräusche, vereint mit den sachte wiegenden Bewegungen, erfüllten Jack mit großer Müdigkeit. Er legte sich hin und schlief ein.

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"Das Abkommen gilt", bestätigte der Geist von Keneth Teach, der gerade den wie aus flüchtigem Dunst zusammengefügten Torso des Piratenkapitäns umklammert hielt. In der linken Hand hielt das Gespenst den von silbernen Flammenzungen umtosten, durchsichtigen Kopf des besiegten Piraten. Dann trieb er Rollins Nachtoderscheinung vor sich her in Richtung norden, in die ungefähre Richtung der französischen Inselkolonie Martinique. Der abgetrennte Kopf schimpfte und brüllte auf den ihn schlenkernden Peiniger ein. Dustin, der gerade den fast im Meer verlorengegangenen Kopf des Piraten in einen Lederbeutel stopfte, dachte noch an die Aufzeichnungen des Seeräubers. Sie wollten wissen, wo er seinen ganzen Raub versteckt hatte. So holte er sich alles an Aufzeichnungen aus dem Schiff und apparierte zurück auf die Meiga. Das Schiff legte ab. Sie wollten die "Black Dragon" treiben lassen. Denn an und in ihr wirkte jetzt kein verräterischer Zauber mehr. Irgendwann würde sie genug Wasser gefaßt haben, um ihr nasses Grab zu finden. Wo das sein sollte wollte der Enkel von Bruce McDarwish nicht wissen. Er hatte was er wollte. Der kopflose Leichnam Redheads sollte mit seinem Schwert in der Tiefe verschwinden. Sein Geist würde nun auf Ewig über dem Punkt zu wachen haben, an dem die "Lady Amber" versunken war. Hätte einer der Zauberer das Schiff genauer untersucht, wäre ihm aufgefallen, daß noch ein Pirat an Bord war. Doch niemand hatte daran gedacht. Alle hatten gedacht, die gesamte Besatzung an Deck angetroffen zu haben. So trieb die "Black Dragon" mit einem einsamen, erschöpften Jack Blond ins Ungewisse davon.

Die gefangenen Piraten wurden nach einer gründlichen Gedächtnisbezauberung an die spanischen Kolonialherren ausgeliefert. Viele von ihnen hauchten ihr verruchtes Dasein an einem Galgen aus. Die jüngeren von ihnen wurden jedoch zu lebenslänglichem Dienst auf spanischen Kriegsschiffen verurteilt. Erst viele Jahre später erfuhr McDarwish, daß noch ein Pirat entkommen war. Jack Blond war von einem niederländischen Kauffahrer gefunden worden und hatte sich auf die niederländischen Antillen bringen lassen, von wo er entkommen war. Er hatte sich versteckt, weil er wußte, daß es magisch begabte Menschen gab. Dustin kümmerte sich nicht darum. Was mit Rollin, der "Lady Amber" und der "Meiga Gorda" passiert war, würde den Unfähigen nie gewahr. Das Meer hatte sich über allem geschlossen und würde es bis in alle Ewigkeit bewahren.

Als er im Jahre 1702 die junge, schwarzhaarige Hexe Gwenda Bedford heiratete, wußte er nicht, daß alles, was er von Rollin erfahren hatte, aus seinem Gedächtnis extrahiert wurde, als er nach dem Vollzug der Ehe erschöpft einschlief. So wurde das Geheimnis der "Lady Amber" nicht völlig vergessen. Es ruhte sich nur aus.

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Feuerzungen tanzten über der glühenden Lava, die wie ein gelblich rot glühender Brei im gewaltigen Schlot des einsamen Vulkans brodelte. Wo brennbares Gas dem feurigen Gebräu entwich, entstanden zischende Feuerfontänen, die von wenigen Sekundenbruchteilen bis eine Minute lang loderten. Dieser ruhige, aber doch aktive Berg hielt die Besiedlung der kleinen Insel im hawaiianischen Archipel auf. Niemand wagte sich hier anzusiedeln. Die polynesischen Ureinwohner behaupteten, daß der Berg der Lieblingsplatz ihrer Feuergöttin Pele sei, die von ihnen als Herrin aller Vulkane verehrt wie gefürchtet wurde. Und genau aus dem Grund barg dieser Berg ein Geheimnis aus einer Zeit, als Menschen mit göttergleichen Kräften um die Vorherrschaft über ihre Welt gekämpft hatten.

Tief unterhalb der brodelnden Oberfläche, in einer von der Glut aufgeweichten Innenseite des Kraters, stak etwas, das allen Feuern der Erde widerstand. Denn es war dazu gemacht, diese Gewalten zu lenken und zu bändigen, sofern es jemandem gelang, die darin eingeschlossene Seele ihres Schmiedes und ersten Besitzers zu unterwerfen, ohne selbst sein Dasein auszuhauchen. Yanxothars Klinge, das Schwert des großen Feuermagiers aus Altaxarroi, war hier von jemandem versteckt worden, der durch einen Jahrtausendzufall Eigenschaften angenommen hatte, die ihm eine schiere Unverwüstlichkeit gegen Feuer gaben. Diego Vientofrio, der seinen Tod durch ein Ritual überdauert hatte, das ihn mit dem Körper eines peruanischen Viperzahnes verschmolzen hatte, hatte es dem machthungrigen Magier Voldemort entwunden, als dieser meinte, ihn, Vientofrio, wie jeden anderen Drachen beherrschen zu können. Fast zweieinhalb Jahre war dies schon her. Doch für den Berg und das Schwert war das keine meßbare Zeit. Die in der Klinge wohnende Seele Yanxothars, die Voldemorts Seelensplitter nicht hatte festhalten können, war noch nicht zur alten Kraft zurückgekehrt, als der Drachenmann Vientofrio ihn hier abgelegt hatte. Für Yanxothar war Zeit bedeutungslos, solange kein lebendes Wesen seine Waffe berührte. So schlummerte die Klinge weiter im glutheißen Vulkanschlot, scheinbar unerreichbar für alle anderen.

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Anthelia las mit gewisser Erheiterung in der Stimme des Westwinds von der Hochzeit der Quodpotspielerin Brittany Forester mit dem Halbwaisen Linus Brocklehurst, der bei Valery Saunders' schlimmsten Überfall auf Cloudy Canyon aus Versehen seinen Vater mit Avada Kedavra getötet hatte. Das amüsante daran war jedoch nicht der Bericht über das Brautpaar, sondern über dessen Gäste. So erfuhr sie von Linda Knowles, daß der Junge Julius mit seiner Mutter auch bei der Hochzeit dabei gewesen war und seine Mutter jetzt den ehrwürdigen Nachnamen Eauvive trug, obwohl sie keinen aus der alteingesessenen Zauberersippe geheiratet hatte. Sie las, daß Martha Eauvive Linda Knowles gegenüber nur gesagt hatte, daß sie nun Eauvive heiße, mehr nicht. Da um das Haus der Hochzeitsgesellschaft ein Lauschabwehrzauber gespannt worden war, der selbst die Zauberohren der Reporterin am Lauschen hinderte, hatte sie wohl nichts weiter ausführen können, außer daß Martha Eauvive den Brautstrauß Brittanys aufgefangen hatte. Sie fand es schade, daß wegen des Besuchs der gerade schwangeren Ministergattin so ein riesiger Aufwand mit Schutzzaubern betrieben worden war. Allerdings hätte sie sich kaum ohne Unsichtbarkeitszauber in die Festgesellschaft einschleichen können. Ihre frühere Animagus-Form konnte sie nicht mehr annehmen. Sie konnte nur noch zu einer zwei Meter großen Spinne werden. Als solche wäre sie garantiert aufgefallen. Dann las sie noch davon, daß man immer noch nach der Hexe suchte, die den Totentänzer erledigt hatte. Minister Cartridge hatte dem Kristallherold gegenüber verlauten lassen, daß sie trotz des unbestreitbaren Dienstes an der Magischen und nichtmagischen Gemeinschaft keinen Dank vom Ministerium erwarten könne und darauf gefaßt sein müsse, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit dingfest gemacht zu werden.

Als der Abend kam erhielt sie eine Eule von einer ihrer vier niederländischen Mitschwestern, Annelies van der Bruck. Die Mitschwester schrieb auf Deutsch, weil sie kein Englisch oder Französisch konnte. Anthelia verzog das Gesicht:

Höchste Schwester!

Du hast uns gebeten, uns zu erkundigen, ob es in unseren Ländern erhöte Vampiraktivitäten gab oder gibt. Deshalb möchte ich dir schreiben, daß gestern ein alter Hellmondler festgenommen wurde, als er versuchte, zwei dort schaffende Freudenmädchen zu Frau und Tochter zu machen. Weil die Gesetzeshüter der Muggel mit der Zaubererwelt in Verbindung stehen, ohne es zu wissen, konnte der Vampir gerade noch festgenommen werden. Allerdings widerstand er den sonst so üblichen Befragungsmethoden. Er hatte eine Reisetasche mit mehreren seltsamen Ganzkörperanzügen dabei, die wohl direkt auf der Haut zu tragen waren. Doch bevor der gefangene Vampir doch noch was aussagen konnte, rief er nur noch ein Wort: "Nocturnia!" Dann starb er einfach, als habe er einen tödlichen Herzanfall erlitten. Kannst du mit dem Begriff was anfangen? Die Leute von uns vermuten, daß die beschlagnahmten Anzüge von Muggeln produziert worden sind. Sie wurden aber von irgendwem mit einem Anhaftungszauber versehen, der jeden Zerreiße- oder Aufrufezauber blockiert. Prüfungen ergaben, daß diese Anzüge das Licht der Sonne so stark aussperrten, daß ein Vampir darin womöglich Stunden lang ohne die sonst auftretenden Verbrennungsschäden herumlaufen kann. Hattest du nicht geschrieben, daß die Vampirin Nyx diese Art Schutz für ihre Sippschaft entdeckt hat?

Wir wissen nicht, ob es außer dem alten Hellmondler, der nur als Corvinus Lunarius bekannt war, noch mehrere gibt, die für diese ominöse Nocturnia-Sache arbeiten. Sollte das mit diesen Sonnenschutzhäuten eine groß angelegte Sache sein, könnten wir es wahrhaftig mit Vampiren zu tun bekommen, die am hellichten Tag herumlaufen können wie Werwölfe.

In der Hoffnung, deine zeit nicht mit diesem Brief vertan zu haben verbleibe ich

mit freundlichen Grüßen

Annelies van der Bruck

Anthelia nickte schwerfällig. Nyx hatte also weitere Getreue werben wollen. Sie verfluchte den Umstand, daß Hyneria Donata Archstone getötet hatte und sie im Moment keine Verbindung in das US-amerikanische Zaubereiministerium besaß um zu erfahren, was dieses gegen Griselda Hollingsworth alias Lady Nyx unternehmen konnte. So blieb ihr nur die Hoffnung, daß Nyx nicht so schnell wieder einen Dummen fand, der sie über einen Ozean hinwegtragen und in die Staaten bringen würde wie damals, wo sie von Daianira und Pandora nach Montenegro geflogen worden war, wo sie auch noch den Mitternachtsdiamanten an sich bringen konnte, mit dem sie jetzt in einer magischen Symbiose existierte, die ihr, Anthelia, sicher noch einmal heftiges Ungemach bereiten mochte. Denn ihr fiel aus Naaneavargias Erinnerungen ein, was der dunkle Erzmagier Iaxathan einmal gesagt hatte, als er naaneavargia einmal mehr körperlich geliebt hatte und wohl dachte, sie würde ihm nicht nur körperlich sondern auch geistig verfallen.

"Meine Blut trinkenden Nachtkinder werden eines Tages ein Reich von mir erhalten, das Reich der Nacht, das Reich ohne Landesgrenzen. Sie werden meine Armee der Dunkelheit sein und jene kleinhalten, die am Tag leben. So wird es eintreten."

"Du trägst seine Seele in deinem unfruchtbarem Schoß herum, du dummes Weib", dachte Anthelia an Nyxes Adresse. "Durch dich wirkt sein Vermächtnis in dieser Welt. Seine Macht hat ihren Preis. Auch wenn er Frauen nur als Dienerinnen und Gespielinnen wollte wird es ihn sicher amüsieren, daß ein Weib sein Vehikel in dieser Welt wurde, und das ganz freiwillig. Nocturnia soll dein Reich der Vampire also heißen. Nun, ich habe Iaxathan einmal aus dieser Welt getilgt. Ich werde sein Erbe nicht aufkeimen lassen, wo Darxandrias Erbe uns die Schlangenmenschen vom Hals geschafft hat." Dann dachte sie daran, wie sie einer so übermächtigen Gegnerin wie Nyx und dann noch jener Kreatur Itoluhila oder ihren Schwestern beikommen konnte. sie dachte wieder an die Gegenstände der großen Meisterinnen und Meister, zu denen auch Ailanorar gehört hatte. Dessen magische Flöte war offenbar an einem geheimen Ort in einem Conservatempus-Behälter, damit sie diese nicht erspüren und finden konnte. Darxandrias Krone würde sie, eine nicht recht auf ihrer Seite stehenden und trotz Blutsverwandtschaft größte Nebenbuhlerin um die Gunst Ailanorars, nicht akzeptieren. So fielen ihr zwei Gegenstände ein, an die sie vielleicht gelangen konnte. Sie erinnerte sich an das Schwert Yanxotahrs. Sie kannte die Worte, die es führten und traute sich zu, mit der ihm innewohnenden Seele des großen Feuermagiers im direkten Kampf fertig zu werden und sich damit das Schwert zu erobern. Doch wo hatte dieser Drache Vientofrio es hingetragen? Sicher hatte der es im glutflüssigen Inneren der Erde versteckt, einem Vulkan oder einer anderen Stelle, wo das flüssige Erdinnere das Schwert umfangen konnte. Dann war da noch der Krug, von dem Anthelia in ihrem ersten Leben schon gehört hatte. Dieser Sohn von Unfähigen namens Keneth Teach, dessen Cousine Clearwater einen Krug in ihrem Besitz gehabt haben soll, in dem immer klares Wasser enthalten gewesen war. Er wollte ihn auf eine der neu entdeckten Inseln in der karibischen See schaffen, weil Anthelia nach dem Sieg über Sycorax Montague davon erfahren hatte, daß es diesen Krug gab. Anthelia hatte damals nicht daran geglaubt, daß es dieses Artefakt gab. Als sie dann erfuhr, daß das Schiff Keneth Teaches von einem mit Magie hantierenden Piraten namens Rollin McFusty überfallen worden war und Keneth dabei ums Leben kam, jedoch als Geist in der Welt der Lebendigen verblieb, war sie doch neugierig geworden, wohin das Schiff, die "Lady Amber" gefahren war. Doch zum einen war die damalige Navigation sehr ungenau gewesen. Zum anderen war das Meer dort, wo das Schiff gesunken war, sicher mehr als vierhundert Klafter tief gewesen, zu tief, um dort im Schutz der Kopfblase hinzutauchen. Und um mit Dianthuskraut den Meeresgrund abzusuchen hätte sie mehrere Tonnen dieses magischen Wasserkrautes benötigt. Da damals noch niemand wußte, ob es nicht gefährlich war, dauernd Dianthuskraut einzunehmen hatte Anthelia nichts riskiert, um am Ende einem Zaubererweltmärchen nachzujagen. Doch nun, wo sie mit Naaneavargia Körper und Geist vereinte, dachte sie wieder an diesen Krug. Das konnte nur der Krug der Aiondara sein, einer Gegenspielerin von Yanxothar, die ihr Wissen nur ihren eigenen Kindern weitergeben wollte. Wer sich des Kruges würdig erwies, der oder die konnte alle ihm bekannten Wasserelementarzauber um ein vielfaches leichter beziehungsweise stärker wirksam ausführen und bekam die Macht über die an das Wasser gebundenen Lebewesen mit oder ohne magische Abkunft und Wirkung. Anthelia dachte jetzt an Sarah Redwoods Vermächtnis, daß sie übernommen hatte. Schon einmal hatte sie den Trank der Meermenschengestalt benutzt, um in die Tiefe des Ozeans vorzudringen, wo sie als reine Anthelia gehofft hatte, den Stein der Madrash Ghedon, der tiefgründigen Mutter Erde, zu erbeuten. Damals hatte sie den Kampf mit der Seele Madrash Ghedons fast verloren. Sarahs in Dairons Medaillon verankerte Seele kam dabei frei und trat statt Anthelia in das Seelenheim von Madrash Ghedon, wo sich beide Seelen vereinten und den Stein für sie unantastbar machten. Jetzt, wo sie Nyx und eine Abgrundstochter mit angeborener Wassermagie gegen sich hatte, sollte sie darauf ausgehen, nach Aiondaras unleerbarem Krug zu suchen, der aus einer Tiefseemuschel, einem aus Korallenstein geformten Sockel und einem Überzug aus Orichalk gefertigt worden sein sollte. Denn nun, als Einheit Anthelia/Naaneavargia, wußte sie, daß es kein Zaubererweltmärchen war. Wo also lag der Krug nun? Wenn sie das wußte, dann konnte sie ... Aber nein, Sarahs Trank würde genauso von den Tränen der Ewigkeit aufgehoben wie jeder andere schwache bis hochpotente Zaubertrank. Das bereitete ihr großen Unmut, nicht selbst an diesen Krug heranzukommen. Aber an das Schwert Yanxotahrs wollte sie gelangen. Und wenn sie dort nicht selbst hingelangen mochte, wo es lag, so mochte es klappen, den, der es dort verborgen hatte, dazu zu bewegen, es ihr zu beschaffen. Gleichzeitig wollte sie eine Suche nach der "Lady Amber" in Gang setzen. Was wußte man in der Zaubererwelt und was in der Muggelwelt darüber. Ihre einzige wirkliche Verbindung in das Zaubereiministerium in den Staaten war Tyche Lennox. Dann wollte sie Patricia Straton bitten, in der Muggelwelt nach Spuren dieses Schiffes zu suchen.

Zunächst jedoch suchte sie ihre britischen Mitschwestern auf, um diese auf das versunkene Schiff und den Piraten Rollin McFusty anzusetzen.

"Es heißt, daß die McFustys die Schiffstagebücher von diesem Piraten haben", erwähnte Anatolia Moore, eine Verwandte der beim Kampf gegen Hallitti gestorbenen Dana Moore. "Aber die Tagebücher sind von Siomas McFusty II. bezaubert worden, daß nur die Hand eines Mannes die Bücher ergreifen kann, der einen männlichen Erben des McFusty-Clans gezeugt hat. Da kommen wir also nicht dran."

"Bedauerlich. Und sonst existiert keine Aufzeichnung, wo dieser Rollin auf die "Lady Amber getroffen ist? Ich weiß leider nur von Gwenda McDarwish, was dieser über das letzte Duell mit dem Piraten McFusty getönt hat."

"Es soll einen Überlebenden gegeben haben, der den Spaniern nicht ins Netz ging, höchste Schwester. Jack Blond soll er geheißen haben, ein junger Bursche, noch zu jung für den Strick, aber eindeutig darauf aus, am Galgen zu enden", erwiderte Anatolia Moore. Anthelia sah sie verblüfft an. Sie hatte damals doch noch gelebt. Sie hätte es doch mitbekommen müssen. Doch Anatolia gab ihr die Antwort: "Ist erst 1789 rausgekommen, höchste Schwester. Da hat ein gewisser Maximilian Blackwater in den Aufzeichnungen seines Vaters einen Abschiedsbrief an seine Familie gefunden, in dem stand, daß es sich bei diesem Herren nicht um James Blackwater aus Irland gehandelt habe, sondern um Jack Blond, einem Waisenjungen, der mit Rollin Redhead, dem "Freibeuter des Satans" auf Kaperfahrt gewesen sei und dessen Enthauptung mitbekommen haben will. Angeblich habe das Haar des Piraten bei Kämpfen immer im Höllenfeuer gelodert."

"Dies trug mir Gwenda auch zu, Schwester Anatolia. Rollin muß einen Zauber erfunden haben, der ähnlich wirkt wie die hitzelosen Flammen zum erhellen tiefer magischer und nichtmagischer Dunkelheit. Hat bestimmt einen großen Eindruck auf seine Feinde gemacht, die ja alle keine Ahnung von Magie hatten oder sie als Gabe des ihnen so verhaßten weil gefürchteten Satanas, Beelzebub oder Luzifer sahen", erwiderte Anthelia verärgert. Wie viele Zauberer und vor allem Hexen waren unter dem Vorwand, sie arbeiteten für dieses bockshäuptige Geschöpf, gejagt, gefoltert und getötet worden? Sicher waren hundert mal mehr unmagische Menschen gestorben. Aber allein dieser von den Religionshütern so beharrlich verbreitete Haß auf alles magische hatte sie, Anthelia, genauso wütend werden lassen wie ihre Tante Sardonia. So fragte sie schnell noch, ob die Aufzeichnungen dieses Jack Blond oder James Blackwater noch existierten.

"Das amerikanische Zaubereiministerium hat die Unterlagen von einer lebendigen Vogelscheuche kaufen und sicher in einem Verlies von Gringotts New York unterbringen lassen. Man wollte alle Spuren verwischen, die auf einen echten Magier in der langen Reihe berühmter Piraten schließen lassen mochten."

"Eine lebende Vogelscheuche hat diese Bücher gekauft? Hmm, das wäre bei einer Institution, die um Unauffälligkeit bemüht ist höchst seltsam", erwiderte Anthelia. Dann mußte sie grinsen und fragte, ob wirklich von einer lebenden Vogelscheuche gesprochen worden sei.

"Hmm, in den Archiven des Zaubereiministeriums hier steht was von wegen, daß ein vom US-Zaubereiministerium beauftragter Strohmann die verräterischen Unterlagen erworben hat", erwiderte Anatolia. Anthelia mußte darüber schallend lachen. Als sie gefragt wurde, was daran so witzig sei erklärte sie ihrer reinblütig zaubererweltgeborenen Mitschwester, daß das Wort Strohmann für einen heimlichen Mittelsmann stehe, der im Auftrag unbekannt bleiben wollender Dritter Geschäfte tätige und bestenfalls keine Spuren hinterließ, die auf seine wahren Auftraggeber zurückwiesen. Da sie in ihrem zweiten Leben schon oft genug mit Handlangern großer Verbrecherbanden zu tun hatte und über ihren damaligen Kundschafter Cecil Wellington viele Begriffe aus der modernen Muggelwelt kannte, war ihr der Begriff geläufig. Womöglich hatte erwähnter Mittelsmann keine Ahnung von der Zaubererwelt oder wurde nach erfolgreichem Erwerb der Aufzeichnungen mit einer anderen Erinnerung versehen.

"Also in New York liegt dieses für das Zaubereiministerium so schützennswerte Wissen."

"Da kommen wir nicht dran, höchste Schwester. nachdem es Potter, Granger und Weasley gelang, bis in ein Hochsicherheitsverlies vorzudringen haben die Kobolde sich auch gegen Imperius-Flüche abgesichert, weil der zuständige Kobold ja mit einem belegt worden ist."

"Verstehe, Schwester Anatolia. Dennoch werde ich daran gehen, diese Aufzeichnungen zu erlangen, um zu wissen, ob dieser Jack Blond gewußt hat, wo das Segelschiff "Lady Amber" auf den Grund sank", stellte Anthelia klar, daß sie nicht davon ablassen würde, näheres über das nasse Grab der "Lady Amber" zu erfahren, wenn sie schon nicht Rollins Logbücher lesen konnte, weil so ein misogyner Schotte diese verzaubert hatte. So blieb ihr nur, sich bei Anatolia Moore zu bedanken und in ihr Hauptquartier bei Dropout zurückzukehren.

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Florymont Dusoleil fröstelte ein wenig, obwohl die Umgebung absolut nicht dazu einlud. Er stand am Rand eines Kraters eines gerade nicht sonderlich aktiven Vulkans auf Island. Heute sollte eine von drei Proben mit lebender Person laufen. Er prüfte noch einmal das Kopf-Körper-verbindungsstück des heute orangegelben Anzuges. Wenn er jetzt die Schutzrunen antippte und "Vesticlausa" sprach, würde der Anzug seine Wirkung tun. Er berührte die Schlüsselrunen für Hitze und Flammen und die für Druck und Ersticken am Kehlkopf und die Verschlußrune am Nacken und murmelte "Vesticlausa!" Leise raschelnd entfaltete sich eine silbrrig-durchsichtige Folie aus der Nackentasche des Anzuges, schlüpfte über Florymonts Ohren und klappte sich zu einer hauchzarten Kugel um seinen Kopf. Als mit einem leisen Sirren die Folie mit dem metallenen Kopf-Körper-Verbindungsstück verschmolz, blähte sich die Folie zu einer etwas größeren Blase auf und wurde völlig durchsichtig wie kristallklares Glas. Florymont atmete prüfend. Die gelben Schwefeldämpfe, die wie schlecht verbrennendes Holz und faule Eier im Duett stanken, konnten seine Nase nicht mehr erreichen. Er sog angenehm kühle, frische Luft ein. Dann verstaute er seinen Zauberstab in einer luft- und Flüssigkeitsdicht abschließbaren Außentasche und strich den Verschluß glatt. Durch den darin steckenden Zauberstab aktiviert schweißte sie diesen nun ein und würde ihn erst wieder freigeben, wenn Florymont mit den Fingern eine bestimmte Stelle berührte.

Florymont Dusoleil war stolz auf seine Erfindung, die nur deshalb funktionierte, weil es ihm gelungen war, die Pinkenbach-Grenzen für bezauberbare Materie um die Hälfte zu erweitern. Somit würde er nicht nur als Erfinder eines Allzweckschutzanzuges gegen Hitze, Kälte, Überdruck, Leere, ätzende und giftige Nebelschwaden in die Zauberkunstgeschichte eingehen, sondern auch als Erfinder des Pinkenbach-Expanders. Der jedoch machte es notwendig, die Anzüge nur in kleiner Menge pro Jahr herzustellen, weil hierfür echtes Platin im Stoff des Anzugs verwoben werden mußte. Drei Jahre hatte er daran geforscht, die Bezauberbarkeitseigenschaften von Platin auf eine beliebige damit durchwirkte Menge Textilien zu erweitern. Durch die wichtige Arbeit an den Antisonden, um Muggelstämmige aus Marthas und Julius' Heimatland zu schmuggeln, war er zwar in der Forschung um einige Monate zurückgefallen. Doch jetzt hatte er ihn. Gleich mit zwei durchbrechenden Erfindungen an die Öffentlichkeit zu gehen würde ihm den goldenen Hammer der internationalen Zunft der Zauberkünstler eintragen. Nicht das er auf Orden ausging. Aber seine Kinder und Enkel sollten irgendwann sagen dürfen, daß sie einen wichtigen Vater und Großvater hattn.

"So, du Höllenschlund. Wollen doch mal sehen, ob du mich frißt oder wieder freigibst", dachte Florymont und schnallte sich den Gürtel um, der mit einem langen Seil verbunden war, das Reiß- und feuerfest verarbeitet war. Wenn der im Anzug verborgene Wärmeprüfer mehr als neunzig Grad nach Celsius meldete, würde das Seil ganz von alleine wieder eingeholt. Alles in allem konnte er damit fünfhundert Meter in die Tiefe klettern. So seilte er sich langsam ab. Er sah die brodelnde Lava kurz an. Würde der Anzug ihre extreme Hitze nicht abhalten konnte er sich schnell die Füße verbrennen, wußte er. Doch die Proben mit Wachspuppen hatten ihn beruhigt. Die Puppen waren alle unangeschmolzen aus der Lavaglut zurückgekehrt. Drei Einstiege in einen Vulkan mußte er noch ausprobieren, um den zwei frei bestimmbare Lebensbedrohungen zugleich abwehrenden Anzug als für die Öffentlichkeit sicher anzumelden. Das Patent hatte er schon sicher. Aber die Zauberkunstgesetze verlangten für Erfindungen, die außerhalb des Privatgebrauchs standen, daß sie nur dann verkauft oder vermietet werden durften, wenn ihre Handhabung und ihre Lagerung keine unkalkulierbare Gefahr für andere Personen barg. Nach der Lavaglut mußte er dann noch in die von ihm eingerichtete Leerekammer, in der er die Luftleere und Kälte des Weltraums nachempfand, nachdem er kurz am Nordpol gewesen und da einen Tag lang ohne zu frieren ausgehalten hatte. Nur der Hunger war unerträglich gewesen. Gegen Durst reichte die kleine Rauminhaltsbezauberte Flasche mit Saugvorrichtung unter dem Kinn. Wirklich ins All konnte er nicht. Denn einerseits hatte er außer seinem Objekttransferartefakt, das winzige Mengen von gerade so erreichbaren Planeten sammeln konnte, kein wirkliches Raumfahrzeug. Zweitens konnte sein Anzug nur zwei lebensbedrohliche Umwelteinflüsse zugleich abwehren, und eine Reise in eine Erdumlaufbahn wegen des Wechsels zwischen Sonnenglut und kosmischer Kälte mit gleichzeitigem Schutz vor dem Unterdruck erfordern würde. Drittens hatte er bisher keinen Zauber, der gegen die unsichtbaren Strahlen aus dem Weltraum schützte. Die Betreiber der Luftschiffverbindung zwischen seinem Heimatort und Viento del Sol wachten wie eine Hundertschaft Gringotts-Drachen darüber, daß er nichts über die Verarbeitung und Betriebsarten des magischen Luftfahrzeuges herausfinden konnte und somit auch nichts über den Strahlenschutz erfahren würde, den diese in sehr großer Höhe dahinrasenden Fluggeräte besaßen.

Er hörte trotz der harten Schutzblase das Blubbern, brodeln, Spotzen und Fauchen der Lava. Wehe ihm, wenn der Hitzeschutz bei lebenden Trägern versagte! Dann berührten seine Füße die unruhige Oberfläche der Lava. Flämmchen umspielten seine Beine wie kleine blaue, rote und orange Feuergeister. Feuergeister. Da war er auf der Insel der Elfen und Trolle und wollte ausgerechnet ein Bad in Lava nehmen, wo keiner wußte, ob von den Vorzeitdrachen nicht noch welche in den Schloten der wachen Vulkane wohnten. Bisher spürte er nichts von der zähflüssigen Glut an seinen Füßen. Erst als er sie behutsam eintauchte merkte er den Widerstand und das Rütteln der daraus freikommenden Gasblasen. Immer noch keine Hitze. Er dachte einen winzigen Augenblick daran, daß er wohl keinen Schmerz mehr spüren würde, wenn ihm die Füße in einem einzigen Augenblick von den Beinen gebrannt würden. Dann dachte er daran, daß er dann schon längst tot sein mußte, weil die um ihn wabernden Gase bestimmt schon heißer als kochendes Wasser waren und sofort zu feuer wurden, wenn frische Luft mit ihnen zusammentraf.

Tiefer und tiefer ließ er sich in die Lava hinab. Sein Seil war sicher. Das hatte er mit hellblauem Feuer bearbeitet, ohne es anzukokeln. Feuerfestigkeit war ja ein Muß für einen Zauberschmied. Gluckernd, brodelnd, blubbernd, zischend und fauchend rumorte es um seinen Bauch. Er meinte, in ständig ruckelnden Morast einzutauchen. Dann glitten seine Füße wie in Wasser. Wasser? Ganz bestimmt nicht! Vielmehr war er dem Vulkan mit den Füßen schon bis in das glutflüssige innere gerutscht. Er ließ sich weiter hinabgleiten. Jetzt konnte er auch die Oberschenkel frei bewegen. Er fühlte keine Erwärmung. Dann tauchte er mit dem Brustkorb in das orangerote Material ein. Jetzt sah er die kleinen und großen Flammen wirklich wie ihn umtanzende Feuergeister. Wollte er wirklich bis zum Scheitel in dieses Gebräu eintauchen? Wenn er wissen wollte, ob der ganze Körper geschützt wurde dann mußte er das. Camille hatte den Brief in der Werkstatt, der geöffnet werden konnte, wenn er sich in den nächsten dreißig Stunden nicht mehr meldete. War das nicht irgendwie feige? Da war ein Bad in glühender Lava ja nichts gegen, der eigenen Ehefrau offen ins Gesicht zu sagen: "Du, Cherie, sei mir nicht böse, aber wenn ich meine Erfindung ausprobiere kann ich sterben. Ich mach das aber trotzdem." Womöglich hätte sie ihn dann angefleht, sein Leben nicht zu riskieren, nur weil er schon vier gesunde Kinder gezeugt hatte. Aber woran dachte er denn jetzt? Er wollte seinen Anzug testen. Und außer seinem durfte er keines anderen Zauberers Leben riskieren. Also rein in die Teufelsbrühe!

Als die Lava lärmend laut über seinem Kopf zusammenfloß sah er nur orangerote Glut um sich herum. Er kletterte weiter. Die Luft war weiterhin angenehm und atembar. Er ließ sich bis unter die breiige Oberfläche sinken und blickte als vielleicht erster Mensch mit eigenen Augen in eine Landschaft, die sonst nur Drachen vorbehalten war. Er meinte, in einem See aus leuchtendem Gold zu schwimmen. Um ihn erstreckte sich das gelbglühende Gestein aus den Tiefen der Erde, Feuer und Erde vereint, um Leben und Tod zu erzeugen. Jetzt fing er auch noch an zu philosophieren. Das lag seinem Schwager Emil eher als ihm. Lag es daran, daß er gerade in eine absolut menschenfeindliche Welt eingetaucht war? Nur die in seinem anzug verflochtenen Zauber erlaubten ihm, diese Umgebung zu besuchen. Er wußte, daß sie ihm maximal eine Stunde lang Schutz bieten würden, bevor sie sich aufgebraucht hatten. Er sprach: "Uhrzeit!" in seine gläserne Atemluftkapsel.

"Fünf Urrr und ßieben Minuuuten", quäkte ein winziges Stimmchen hinter Florymonts linkem Ohr. Der Uhrenohrring, keine von seinen Erfindungen sondern von Laurin Lighthouse, seinem heimlichen wie hochgeehrten Konkurrenten um die Gunst der Zauberkunstgemeinde. Mit der französischen Version haperte es aber noch, was die Aussprache anging. Aber da hatte er mit dem kleinen Laurin schon eine Übereinkunft, daß er die Ansage zurechtbiegen durfte, wenn Laurin dafür die Baupläne seines Stahlelefanten bekam.

Florymont blickte weiter auf die ihn umfließende Lava. Oder hieß das Zeug hier unten schon Magma? Sonnengelbe Blasen, goldene Strudel, ockerfarbene Schlieren in einem rotgelben Meer. Er blickte nach unten und sah kein Ende. Er schwebte, nur an einem Seil hängend und sich langsam weiter herablassend, über einem unendlich tiefen Schacht. Er fühlte zwar, daß er sich freier bewegen konnte, weil das Gestein völlig flüssig war. Doch er fühlte auch den Auftrieb, weil das von ihm verdrängte Material schwerer war als er selbst. Insofern brauchte er sich keine Gedanken zu machen, daß ... Unvermittelt sackte er mit den Füßen durch etwas durch, das für einen Moment um ihn herum alles Gelb und Rot verdrängte und dann mit lautem Wummern an ihm vorbeistieß. Keine Sekunde später schwappte das glutflüssige Gestein wieder zurück, und über sich hörte Florymont einen lauten Donnerschlag. Er fühlte, wie er von aufkommenden langsamen aber kraftvollen Wellen hin und hergeschwungen wurde. Da war wohl gerade eine besonders große Gasblase ausgetreten und geplatzt.

"Uhrzeit!" Rief Florymont in die gläserne Kopfkapsel. "Fünf Urr und treizeeeen Minuuuuten", quäkte der kleine Ohrring. So schnell waren sechs Minuten verstrichen? Das durfte ihm absolut nicht passieren, daß er hier unten die Zeit aus den Augen verlor. Denn dann konnte sein Anzug sich nach Aufbrauchen der magischen Ladung auf englisch verabschieden und ihn dem alten Feuergott zum Fraß überlassen. Wie hieß der noch mal? Egal, an den glaubten auf Island ja eh keine Leute mehr. Aber die Elfenund Trolle waren sogar den Muggeln geläufig. Aber besser war es, wenn er jetzt wieder ans Nach-oben-Klettern ging. Die nächste Gasblase konnte ihn vielleicht mitreißen und ihn dabei gegen den Krater schmettern oder vom Seil losreißen, obwohl das eigentlich nicht so einfach war.

Florymont suchte und fand Halt, obwohl er seine Hände durch die gelbe Glut nicht sehen konnte. Dann krabbelte er nach oben. Seine Handschuhe und Füßlinge hatte er extra mit einem zusätzlichen Muscapedes-Zauber belegt. Mit dem PE ging das gerade so noch mit den fünf paarweise kombinierbaren Umwelteinflußabwehrzaubern überein. Vielleicht würde die nächste Generation des Duotectus-Anzuges noch einen Schutz gegen das unsichtbare, alles und jeden durchdringende Feuer der Radioaktivität beinhalten. Aber dafür in einem dieser Atombrennöfen herumzuklettern hatte er nicht die Lust zu.

Er brauchte bis "Fünf Urr und zöweiundzöwansich Minuuuten", bis er endlich mit dem Körper durch die zähe Oberfläche war und dem Krater glücklich entstieg, zurück in seine Welt. Er löste rasch das Seil. Denn das Brodeln und Blubbern hinter und unter ihm nahm bedrohlich an Tiefe und Lautstärke zu. er eilte schnell den Hang hinunter, während über ihm zischend und tosend eine Feuerfontäne aus dem Schlot fuhr, allerdings eine kleinere. Dann krachte es wieder laut. Lavatropfen spritzten auf den Rand des Kraters. Seine bewegungen wurden schwerfälliger. Denn die an seinem Anzug anhaftende Lava kühlte ab. Das hatte Florymont jedoch einkalkuliert und achtete eine Minute lang nicht darauf. Er kletterte Dank des Muscapedes-Zaubers rasch nach unten bis zu einem Felsüberhang. Unter diesen zog er sich zurück, nun von einer dunkelroten Schicht überzogen, die noch dunkler wurde. Der Berg erbebte und rumorte weiter. Offenbar hatte Florymont gerade den richtigen Zeitpunkt abgepaßt, seinen Abstieg in die Lava zu machen. Denn der Berg war wohl in Donnerwetterlaune. "Freispülen!" Rief Florymont in die gläserne Kopfkugel hinein. Da sprang eine weitere Außentasche auf und entließ eine außen kleine wasserflasche, die von selbst nach oben schwebte, mit leisem Plopp aufsprang und dann ein mächtiger Wasserfall auf den Zauberschmied niederging. Schon Praktisch, was man so hinbekam, wenn das Material sehr inkantationsakzeptant war, dachte der gerade in einem rauschenden Wasserfall stehende Zauberer aus Millemerveilles, Frankreich. Die Flasche war eigentlich kein Behälter, sondern ein Wasserfokussierer, der wie mit zehn Aguamenti-Zaubern zugleich solange Wasser auf die auf ihn abgestimmte Person sprühte, bis diese entweder "Saubergespült" sagte oder das ganze Wasser der Umgebung vergossen war. Und die isländische Umgebung hielt viel Wasser. Das konnte lange dauern, die Gletscher, seen, Flüsse und Geysire leerzupumpen. Nachdem er festgestellt hatte, daß das lose Gestein auf seinem Anzug restlos abgewaschen war sagte Florymont "Saubergespült". Mit leisem Plopp verkorkte sich die über ihm auslaufende Wasserflasche wieder, kehrte in ihre Aufbewahrungstasche zurück und wurde sicher darin verschlossen.

Mit lautem Rumpeln meldete sich der Feuerberg erneut zu Wort. Florymont rief nur: "Ja, ich verstehe, daß dich das angenervt hat, daß ich in deiner Feuersuppe herumgeplanscht bin. Aber danke für den gelungenen Test!" Dann öffnete er auf die ihm bekannte Weise seine Zauberstabaufbewahrungstasche und berührte die Runen für Sicherheit und Öffnen an Kehle und Nacken. Dann disapparierte er. Keine halbe Stunde später entlud der Vulkan angestauten Gasdruck in einem kurzen, feurigen Schauspiel und herausspritzender Lava.

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Patricia Straton wußte nicht, wie ihr Verhältnis zu Anthelia weitergehen sollte. Einerseits dachte sie noch immer, daß die Hexen eine bessere Herrschaft auf Erden führen mochten. Andererseits hatte Anthelias Vorgehen im Kampf gegen die Schlangenkrieger aufgezeigt, daß die höchste Schwester auf keinen Menschen Rücksicht nahm, wenn sie ihre Ziele verfolgte. Sicher, Sardonia hatte dies auch nicht. Aber von Anthelia hatte Patricia doch eine gewisse Behutsamkeit erwartet, nachdem sie diesen Jungen Ben Calder nicht als gefährlichen Mitwisser getötet hatte. Tja, so konnte man sich eben selbst was vormachen. Aber sie hatte Anthelia unwissentlich geholfen, wieder als erwachsene Hexe auf die Erde zurückzukehren, ohne Jahrelang als Tochter Daianiras aufzuwachsen und gar unter deren Sanctuamater-Zauber zu stehen. Doch eigentlich hatte sie nur verhindern wollen, daß Daianira an etwas drankam, was sie Macht über Hexen bekommen ließ. Anthelia dankte ihr zwar die Befreiung. Doch diese wußte sicher, daß Patricia nicht wirklich darauf ausgegangen war. Dennoch war die Tochter Pandoras nicht von ihr abgerückt, nachdem sie erkannt hatte, daß das Sonnenmedaillon der Inkas Anthelia auf Abstand halten konnte. Auch wenn sie Cecil Wellington aus Anthelias Einfluß gelöst und gänzlich ihrem Einfluß unterworfen hatte, hatte sie noch keinen offenen Verrat begangen. Cecil war eben durch Daianiras Abwehrkampf gegen Anthelia aus der magischen Verbindung mit Dairons Seelenmedaillon gelöst worden, fertig.

Als Patricia in den ersten Januartagen von Anthelia die mentiloquistische Bitte erhielt, sich in der Muggelwelt über ein Schiff namens "Lady Amber" zu erkundigen, hatte Anthelia ihr nicht verraten, warum sie sich für dieses Schiff interessierte. Mochte sein, daß Anthelia ihr auch nicht mehr alles anvertrauen würde, nachdem sie mit der alten Spinnenfrau Naaneavargia eins geworden und trotzdem noch empfindlicher gegen die Strahlung des Sonnenmedaillons geworden war. doch eine gewisse Neugier trieb Patricia an, ihrer nicht mehr ganz so geachteten Anführerin zu folgen und nach dem erwähnten Schiff zu suchen.

In der Muggelwelt gingen Gerüchte um, das Schiff habe eine verbotene weil vom Satan gefertigte Ladung von England in die Karibik transportiert. Es wurde erwähnt, daß ein Fluch auf dem Schiff läge und jeder, der es in seinem tiefen, dunklen, nassen Grab störe, den höchsten Preis bezahlen müsse, nämlich mit dem eigenen Leben. Als sie dann erfuhr, daß sich ein Schatzsucher namens Clifford Braxton für dieses Schiff interessierte und eine Pressekonferenz abhalten wollte, bemühte sie ihr früheres Muggelwelt-Alter-Ego Liberty Grover, um den Schatzsucher auszuforschen.

Es war nicht schwer, den genauen Ort der Pressekonferenz zu erfahren. Schwierig war es nur, nicht mitten im Pulk von Reportern belanglose Antworten auf neugierige Fragen zu erfahren. Sie wollte ihn sprechen, wenn die anderen schon gegangen waren.

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Die grellen Blitze störten ihn heute noch mehr als sonst schon. Clifford Braxton haßte das Getue mit den Presseleuten. Doch wenn er schon nicht die legendäre Goldstadt Eldorado fand oder den Königspalast von Atlantis auf einer Seekarte ankreuzen konnte, so war er auf die Aufmerksamkeit der Medien angewiesen. Er wollte die letzten Geheimnisse des berüchtigten Piraten Blackbeard lüften. Clifford, der mit seinen fünfundvierzig Jahren aussah wie eine rotblonde Version von Indiana Jones, eben nur ohne Hut und Peitsche, straffte sich und blickte in die gläsernen Augen der Foto- und Fernsehkameras. Gerade hatte ihn eine Pressetante von der Archäologischen Rundschau aus London gefragt, wo der nächste Schatz lag, den er suchte. Er antwortete mit seiner sonoren Stimme:

"Ich suche diesmal nicht nach einem Schatz, sondern nach der Wiege von Edward Teach genannt Blackbeard. Ich habe alte Quellen aufgetan, die behaupten, der wüste Kerl sei als zwölfjähriger mit seinem Onkel auf eine Fahrt gegangen und unterwegs selbst Opfer von Piraten geworden. Die haben den über Bord geworfen, weil der Captain von denen seinen Säbel nicht mit Kinderblut besudeln wollte oder sowas. Irgendwer hätte den Burschen dann aus dem Wasser gefischt. Ich will jetzt das Schiff suchen, auf dem der Junge gefahren ist. Die damalige Navigation war ja noch sehr umständlich und ungenau. Deshalb habe ich mein Prachtmädel "Golden Hope" für ein volles Jahr klargemacht."

"Wenn Sie die Wiege von Blackbeard suchen, dann müßten Sie ja wissen, wo sie gestanden hat", wandte ein junger Reporter mit einer Videokamera ein, auf der GIN stand. Braxton wußte, daß damit der englischsprachige Internet-Fernsehsender Global integriertes Nachrichtennetz stand und antwortete:

"Nun, wo Teach wirklich geboren und aufgezogen wurde, und warum er mit seinem Onkel auf großer Fahrt gewesen sein soll, muß ich ja rausfinden. Ich hoffe, die haben auf dem Schiff Tagebuch geführt."

"Wie heißt das Schiff?" Fragte eine vollbusige Wasserstoffblondine mit Kalifornischem Dialekt.

"Nun, wenn die Quellen stimmen, die ich aufgespürt habe war das die "Lady Amber", benannt nach einer reichen Dame aus Cornwall, die viel für die notleidenden Menschen getan hat und deshalb auch Bernsteinengel genannt wurde, Misses ..."

"Halligan, Kate Halligan, Australische Rundfunkkompanie", stellte sich die Reporterin vor. Braxton wollte schon fragen, ob er sich dann im Dialekt vertan hatte, was ihm als Sohn San Franciscos eigentlich nicht passieren mochte, so viele Kalifornier und -innen er schon hatte sprechen hören. Doch da fragte ihn ein Reporter mit grauer Halbglatze, ob er dann auch von dem Fluch gelesen hatte, weil auf der "Lady Amber" angeblich ein schwarzmagisches Artefakt transportiert worden sein sollte. Braxton mußte grinsen. Dann erwiderte er amüsiert:

"Wissen Sie, Sir, mein Hobby, das irgendwann mein Beruf wurde, führt mich andauernd an Orte oder zu Sachen, die verflucht sein sollen. Wenn ich mir bei jedem Stein oder jeder Grabstätte den dranhängenden Fluch eingehandelt hätte, wäre ich heute schon längst verrottet. Mich interessiert die Geschichte, ob da echt der junge Teach auf dem Schiff war und ob die Piraten es ausgeplündert haben. Falls ja, dann haben die sich Ihren Fluch eingefangen und sind bestimmt ganz schnell gen Hölle gesegelt. Falls nicht, dann ist wohl hoffentlich noch was interessantes für mich da zum forschen."

"Wo soll die "Lady Amber" denn untergegangen sein, wo damals noch keine SOS-Rufe gesendet werden konnten?" Fragte der mit der GIN-Kamera.

"Das erzähle ich besser erst, wenn ich das Schiff gefunden habe. Es hat schon genug Zeit und Geld gekostet, diesen Ausflug vorzubereiten. Ihn durchzuführen wird auch lange dauern. Das muß sich irgendwo ja für mich, meine Schwester und meinen Schwager lohnen. Setzen sie ruhig in Umlauf, daß das legendäre Schatztrio nach Blackbeards Schulranzen sucht und dann die erste eingenäßte Windel von ihm finden will. Nachdem, was mein Profi-Kollege Stuard vor einem halben Jahr über uns verlauten ließ ist unser Ruf doch eh schon im Gefrierfach. Wie erwähnt, ich wollte nur ankündigen, daß ich mit meinen Getreuen für ein Jahr weg bin. Wenn wir was finden, was Sie und die Öffentlichkeit interessiert, kriegen Sie das über Sattelitenkamera zugespielt. Ich darf mich empfehlen." Sprach's und drehte den Kameras und Mikrofonen den Rücken zu. Die Reporter schnatterten wild durcheinander, brüllten einander nieder und versuchten, ihn zu weiteren Einzelheiten zu befragen. Doch er ging hinaus aus der angemieteten Halle, wo er seine athletisch gebaute, einen halben Kopf kleiner als er gewachsene Schwester und deren wettergegerbt aussehenden Mann Myron traf. "Die Schau ist vorbei. Laßt uns abrauschen." Da ging die äußere Tür der Halle auf. Eine schlanke Frau mit langen, dunkelbraunen Haaren und grünen Augen, die einen leichten Graustich aufwiesen, hastete herein. "Ah, Mr. Braxton, schon fertig? Nur eine Frage bitte!"

"Die PK ist rum, Madam", knurrte Braxton.

"Grover, Liberty Grover vom Mississippi-Magazin. Ich wollte einen Aufmacher über die Abenteurer des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts schreiben und hörte sehr kurzfristig von der Pressekonferenz hier. Nur eine Frage", sprudelte die Nachzüglerin heraus. Clifford sah seine zwei Begleiter an, verhielt und nickte kurz.

"Stimmt es, daß sie wissen, wo die "Lady Amber" liegt, die angeblich von einem Fluch betroffen war?"

"Da Sie mich nicht fragen wo sie liegt, sage ich Ihnen und Ihren Rezipienten gerne, daß ich weiß, wo ich nach ihr suchen muß. Die damalige Navigation war noch sehr unausgegoren. Die konnten nur die Breitengrade klar messen und mußten sich an Fahrzeiten und Sternbildern ausrichten. Aber ich weiß ungefähr, in welcher Ecke der Welt ich das Schiff finden kann. Ob da was verfluchtes drauf war wird wohl der wissen, der den Fluch auf das Schiff gebracht hat, der Herr mit den Hörnern. So, das war die eine Frage. Ich hoffe, Sie amüsieren sich noch gut in New York. Ist 'ne tolle Stadt, wenn man auf viele Menschen steht."

"Gut, dann schreibe ich, daß Sie auf der Spur des Fluches der "Lady Amber" sind und keine Angst haben, sich ihm auszusetzen, obwohl es heißt, daß der Geist eines mitreisenden dort wachen soll", sagte Liberty, während die innere Hallentür aufschwang und die Wasserstoffblondine heraustrat. Die beiden Frauen musterten sich kurz. Dann meinte Myron McKartney: "Mädels, die Fragestunde ist durch. Wir melden uns dann, wenn wir was für euch haben."

"Ey, wie reden Sie mit meiner Frau", klang eine genervte, australisch gefärbte Männerstimme. Clifford sah den dazu gehörenden Mann, der einen bonbonrosa Kinderwagen vor sich herschob, womöglich mit quängelndem Inhalt. Cliff stupste Myron an und sagte dann laut: "Konnte mein Schwager nicht sehen, daß das ihre Frau ist, Sir. 'tschuldigung und tschüs!!" Dann verließ er endgültig die Halle, nicht wissend, daß er mehr verraten hatte, als er vorhatte.

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"ER sucht die "Lady Amber" in der Gegend von Martinique", meldete Patricia Straton ihrer höchsten Schwester eine Stunde, nachdem sie es geschafft hatte, den Schatzjäger Braxton telepathisch auszuhorchen. Sie hatte sich die ungefähren Breiten- und Längenangaben aufgeschrieben und mit Virginia Hencocks Rechner durchgespielt, wo auf der Welt das war. Das Suchgebiet hatte sie dann über den Drucker ausdrucken lassen und per Eule verschickt.

Einen Tag später traf Tyche Lennox bei ihr ein und überbrachte Anthelias klaren Auftrag, die "Golden Hope" zu beobachten und den genauen Liegeplatz der "Lady Amber" zu erkunden.

"Ach, will sie dann wieder diesen Trank schlucken, den sie und ich mal genommen haben?" Fragte Patricia. Tyche preßte die Lippen fest aufeinander. Doch ihre Okklumentik half nur wenig gegen Patricias Gedankenhörsinn. Dadurch erfaßte die Trägerin des Sonnenmedaillons, daß Anthelia wohl keinen Trank mehr schlucken konnte, weil dieser ohne Wirkung blieb. So mochte sie darauf kommen, eine oder zwei andere damit auszustatten. Patricia bangte, daß sie wieder mal diejenige sein sollte. Es wäre für Anthelia einerseits eine Möglichkeit, eine bereits damit vertraute zu dem Schiff gelangen zu lassen. Konnte aber auch dazu führen, daß Patricia diesmal der ständig steigenden Versuchung erlag, im Wasser zu bleiben und vollends zu einer Meerfrau zu werden, die Anthelia dann so oder so nicht mehr gefährlich werden konnte.

"Dianthuskrauttrank?" Fragte Tyche mit hörbarer Stimme.

"Nein, den meine ich nicht. Da ich nicht weiß, in was die höchste Schwester dich alles einweihen möchte nur so viel, daß sie etwas kennt, was jemanden lange genug unter Wasser atmen und zaubern läßt, um etwas zu finden oder zu bergen."

"Wenn du das Zeug kennst wird sie wohl auf dich zurückgreifen", grummelte Tyche. Doch Patricia hörte in dieser vorgespielten Enttäuschung eine gewisse Hoffnung heraus, eben nicht damit behelligt zu werden. So blieb den beiden Hexen nur, sich bis auf weiteres zu verabschieden.

"Werde ich diesmal ablehnen?" Fragte sich Patricia. Der Trank war ihr unheimlich. Außerdem liebte sie es, eine Landfrau, eine zauberkundige Hexe zu sein und keine Meerfrau, die nur über ihren Gesang und die mentale Macht über kaltblütige Wassergeschöpfe Magie ausüben konnte, wenn sie in ihrem Element war. Patricia dachte daran, ob sie dann Anthelia ganz entsagen mußte. Das hieß dann aber, daß sie sich ganz woanders verstecken und einen neuen Fidelius-Zauber ausführen mußte. Denn für den Rest der Welt war sie ja tot und begraben.

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Die Schreie seiner Frau rissen ihn immer wieder aus der Lektüre in die Gegenwart. Sein Herz klopfte wild. Seine Frau brachte gerade seinen Sohn Garwin zur Welt. Aber wenn der nicht in den nächsten sieben Stunden den Ausgang passierte würde er, Tim Abrahams, das plüschige Murmeltier gegen einen Teddy im Matrosenanzug eintauschen müssen. Offenbar hatte Galatea gerade wieder sprichwörtlich Atempause. Diese verdammten Hexen hatten eine Barriere aufgebaut, die keinen Mann durchließ, weil sie ihn erst dabei haben wollten, wenn der Kleine geboren war. So hatte er sich in die Bibliothek zurückgezogen und die Chronik des McFusty-Clans gelesen. Diese ließ sich nur von Männern lesen, die bereits einen Sohn gezeugt hatten. Für Hexen, Jungen und Vätern von Töchtern war dieser alte Schinken nur ein großer Klotz aus schwarzem Stein. Zum Buch wurde das Ding nur, wenn im Umkreis von fünf Schritten keine Hexe zu finden war. So durfte er ein Buch nur für Männer lesen, während im Gang zu seinem und Gallys Schlafzimmer eine unsichtbare Mauer gegen Männer stand. Er las weiter über die unrühmliche Figur des Rollin McFusty, der als "Freibeuter Satans" zu Beginn der 1690er Jahre die Karibik unsicher gemacht hatte. Als er dann las, daß der zauberkundige Pirat bei der Enterung eines Schiffes namens "Lady Amber" von einem zwölfjährigen Jungen namens Eddie Teach mit einem Säbel bekämpft worden sei - zumindest stand das nach dem Tod des vom rechten Kurs abgekommenen rollin Redhead McFusty erbeuteten Logbuchs so drin - mußte Tim doch grinsen. Das war doch nicht etwa der Edward Teach gewesen, der später selbst zum Schrecken der Karibik geworden war. Konnte eigentlich auch nicht sein, weil der Junge von Rollin über Bord geworfen wurde, weil der Piratenkapitän nicht gegen Knaben kämpfen wollte. Mit gewissem Schaudern las er von dem geheimnisvollen Krug, aus dem unaufhörlich Wasser gekommen war und die bereits durchlöcherte Amber innerhalb weniger Minuten auf den Meeresgrund geschickt hatte. Auch von Keneth Teachs Geist las er, daß dieser Rollin gedroht hatte, ihn bei seinem Tod zu holen und mit ihm auf diesen Krug aufzupassen. Dann folgten weitere Raubzugsberichte bis am 18. Januar 1693 nur noch von der See, dem Wind und der gelangweilten Stimmung in der Mannschaft geschrieben wurde. Danach hatte jemand anderes eingetragen:

Heute habe ich, Dustin McDarwish, sohn des Siomas, Sohn des Bruce, den flammenden Schädel von Rollin Redhead abgehauen und ihn auf seinem Kahn zurückgelassen. Konnte jedoch sehen, wie der Geist von Keneth Teach dessen Geist mit flammendem Kopf gepackt hat und mit ihm davongeschwebt ist. So wird seine verfluchte Seele niemals in die Ruhe der Nachwelt eintreten. Werde meinem Vater den feuerroten Schädel dieses verdorbenen Burschen bringen. Die Spießgesellen von Redhead habe ich meinen spanischen Freunden überlassen, die sie auf der "Meiga Gorda", die die Muggler als "Vaca Dorada" kennen, zur nächsten Insel bringen, wo man denen sicher die Hälse langziehen oder auch mit ehrlichem Eisen die Schädel abhauen wird.

Er las noch Gedanken von Angus I. McFusty über das Ableben seines vierten Sohnes und das Dustin McDarwish Gwenda, die Nichte von Angus, zur Frau genommen hatte. Wieder erscholl ein Schmerzensschrei seiner Frau. Dann erklang der langgezogene Schrei eines Neugeborenen, kräftig und streng, wie es sich für einen Offiziersenkel gehörte. Garwin war da!

Als Tim seiner Frau für den Sohn gedankt und dem kleinen, rothaarigen Burschen zum Geburtstag gratuliert hatte, überreichte er beiden Geschenke, seinem Sohn ein mit Reis gefülltes, plüschiges Murmeltier, weil in den Staaten ja heute wieder der große Wetterprophet Phil die Länge des restlichen Winters vorhersagen würde, und seiner Frau schenkte er ein smaragdgrünes Ballkleid. "Da muß ich aber erst mal wieder reinwachsen, Zuckerfeder", hatte sie dazu nur gesagt und über ihren trotz erfolgreicher Entbindung noch sichtlich gerundeten Bauch und ihre üppigen Beine gestreichelt.

"Es bleibt dabei, daß du die nächsten Nächte in Megans Zimmer schläfst", stellte Tims Schwiegermutter Ceridwen fest.

"Nur wenn mich diese kichernden Gören auf dem Abschlußjahrgangsbild nicht anzüglich anglotzen, wenn ich mich umziehe", knurrte Tim.

"Giddy, hol dir das Bild in dein Zimmer!" Bestimmte Ceridwen, deren flammenrotes Haar und blaugrüne Augen Tim einen Moment an den Flammenschädel Rollin McFusty denken ließen. Brigid, die Galateas Schwester und Hebamme war, nickte und eilte an Tim vorbei in das Schlafzimmer ihrer großen Schwester Megan, um das erwähnte Bild zu holen. Tim sagte dann noch zu Ceridwen:

"Schade, daß der McFusty-Wälzer sich nicht von euch lesen lassen will. Aber ist wohl wegen der brutalen Szenen da drin."

"Ach, du bist bei Rollins ruchlosem Leben angekommen. Da habe ich von meiner Oma Arianrhod auch was drüber erfahren", erwiderte Ceridwen. "Auf jeden Fall nichts für Wöchnerinnen und Neugeborene." Tim mußte das wohl bejahen.

Am Abend las er das Kapitel über Rollin und McDarwish zu Ende. Er erfuhr, daß Keneth Teaches Geist seinem Neffen geholfen hatte, indem er Mèribelle, die Tochter eines aus Frankreich in die Karibik ausgewanderten Meervolkes, dazu gebracht hatte, den Jungen zu bergen und zu einem Schiff zu bringen, wo man ihn in die Menschenwelt zurückbringen sollte. "Wenn du alter Klabautermann das gewußt hättest, was für einen Braten du da auf die Menschheit losgelassen hast", dachte Tim. Doch dann erkannte er, daß auch er keine Jungen im Wasser ersaufen lassen würde, vor allem, weil er gerade heute einen kennengelernt hatte, für den er sein Leben geben würde.

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Anthelia stand vor der kleinen Hütte in mitten des südamerikanischen Urwaldes. Hier lebte Alicia Montesalvaje, eine alte Mitkämpferin der entschlossenen Schwestern Hispanoamerikas. Sie horchte mit ihrem durch die Vereinigung mit Naaneavargia stärker gewordenen Gedankenspürsinn in die Umgebung und erfaßte, daß Alicia zu Hause war. So zog sie an dem Türklopfer, der wie ein Frosch aussah. Eine Minute später stand eine drahtig aussehende Hexe mit grauen Haaren vor Anthelia und verneigte sich. Sie blickte die neue Hexenlady mit ihren weißblauen Augen an und sagte in ihrer Muttersprache: "Höchste Schwester, sei willkommen in meinem bescheidenen Haus. Ich hoffe, du befindest dich wohl!"

"Danke der nachfrage, Schwester Alicia und Danke für deine Erlaubnis, dein Heim zu betreten", erwiderte Anthelia. Alicia ließ sich nicht anmerken, wie unwillkommen Anthelia ihr war. Sie hatte es ihr nicht vergessen, wie diese sie dazu gezwungen hatte, sie in die geheime Festung Yanxotahrs mitzunehmen. Anthelia hatte ihr den Infanticorpore-Fluch aufgehalst und sie tagelang als hilfloses Wickelhexlein gehalten und sogar gesäugt wie eine professionelle Stillmutter. Diese Erniedrigung konnte Alicia nicht verwinden. Aber sie hatte Anthelia Gefolgschaft geschworen, und die Erfolge der höchsten Schwester sprachen für diese Hexe, die nun den dritten Körper überhaupt bewohnte. Sie mußte ihr danken, daß diese Insektenfrau Valery Saunders vernichtet wurde, obwohl es ja gerade Anthelia war, die dieses Ungeheuer erschaffen hatte. Natürlich hatte Alicia auch davon gehört, daß Anthelia fast als Tochter Daianiras wiedergeboren worden wäre. Das hätte ihr, Alicia, schon gefallen, wenn Anthelia selbst ein hilfloser Säugling geworden wäre, die Schmach, von ihrer eigenen Feindin geboren worden zu sein noch dazugerechnet. Andererseits mußte Alicia Anthelia auch dafür danken, daß diese den Totentänzer gestoppt hatte, der seine Armee der Zombies hauptsächlich in Südamerika zusammengestellt hatte. Aber was wollte Anthelia jetzt?

Die höchste Schwester ließ sich Zeit und plauderte erst über die Ereignisse in der südamerikanischen Hexenwelt. Dann stellte diese die entscheidende Frage:

"Wo finde ich diesen Diego Vientofrio, der sich selbst in einen Drachen verwandeln kann?"

"Ich dachte, du hingst so sehr an deinem Leben, höchste Schwester", schnarrte Alicia respektlos. "Weil sonst hättest du ja ruhig Daianiras Kind werden oder dieses unsicchtbare Feuer der Radioaktivstrahlung über dich ergehen lassen können."

"Das ist nicht die Antwort, die ich hören wollte, Alicia, sondern ob du weißt, wo ich diesen Kerl finde", fauchte Anthelia. Sie war drauf und dran, ihren Zauberstab zu nehmen, und Alicia zu züchtigen. "Und was das mit Daianira angeht, so solltest gerade du mich nicht damit provozieren, wo du so wild gequängelt hast, weil ich dich in meine Obhut nehmen mußte."

"Was ja auch nichts eingebracht hat", schnarrte Alicia. "Du konntest das Schwert nicht kriegen. Das hat er erwischt."

"Nenn doch seinen Namen, Schwester Alicia! Er lebt nicht mehr. Und sein Vermächtnis ist zu klein, um neue Blüten zu treiben", schnaubte Anthelia. "Außerdem weiß ich wie du, wen sich dieser törichte Waisenknabe zu unterwerfen versucht hat. Genau deshalb will ich diesen Vientofrio aufsuchen, weil er das Schwert hat oder besser weiß, wie man es erlangen kann. Also wo ist dieser Kerl?"

"In den Anden, soweit ich weiß. Wo genau weiß ich schon deshalb nicht, weil ich ihm und den von ihm kultivierten Viperzähnen nicht vor die Mäuler geraten will. Nur lebensmüde Leute wollen zu ihm hin."

"Schwester Alicia, ich kann verstehen, daß du mir wegen damals noch grollst. Aber wenn das, was wir beide miteinander erlebt haben, einen bleibenden Wert haben und nicht als dunkler Schatten einer ständigen Niederlage um uns herum sein soll, dann verrate mir jetzt freundlichst, wo ungefähr ich suchen muß, um von ihm gefunden zu werden! Abgesehen davon, sollte er es wirklich schaffen, mich zu töten, bekämst du ja doch noch eine gewisse Genugtuung, nicht wahr?"

"Die hätte ich höchstens, wenn ich an Daianiras Stelle deine Mutter geworden wäre", knurrte Alicia. Anthelia lachte darüber.

"Ich denke, das funktioniert jetzt nicht mehr, Schwester Alicia. Meine neue Erscheinungsform besitzt eine so hohe PTR, daß nicht einmal der Vielsaft-Trank wirkt, und ist durch die Art, wie ich sie erwarb gegen alle Flüche resistent, also auch Infanticorpore. Insofern danke für das Angebot! Aber ich kann und will es nicht annehmen. Also wo ungefähr haust dieser Drachenmann?"

"Ein Bekannter von mir, der im Viperzahn-Kontrollamt der Tierwesenbehörde arbeitet behauptet, er reise mit seiner Hütte umher. Aber es gebe eine große Drachenpopulation, die an einem Ort in der Nähe eines berges liegt, der "Alter Riese" genannt wird. Ich kann dir die Umgebung und den Berg als räumliche Bildillusion vorführen." Anthelia nickte und erwiderte:

"Dann bitte ich dich in schwesterlichem Respekt, mir diese Umgebungsillusion vorzuführen, Schwester Alicia."

Alicia Montesalvaje holte aus einem nur für sie betretbaren Raum eine kleine Glaskugel, die mit bläulichem Rauch gefüllt war. Anthelia dachte an die Erinnermichs oder an die kopfgroßen Kristallkugeln, wie sie die Wahrsager verwendeten. Tatsächlich war es eine Umgebungsansichtsverstärkerkugel. Alicia berührte den gläsernen Miniglobus mit ihrem Zauberstab und rief damit in ihrer Hütte eine naturgetreue Umgebungsansicht hervor. Anthelia sah die Berge und erkannte sofort, warum einer von ihnen Gigante Viejo, der alte Riese, genannt wurde. Denn der Gipfel wirkte wie der weiße Schopf eines alten Mannes, und Felsvorsprünge und ein tiefer Einschnitt in der Flanke gaben ihm den Anschein, ein gigantisches Gesicht zu besitzen. Ja, jemand mochte ernsthaft an einen bis zum Kopf im Boden vergrabenen, steinernen Risen denken. Anthelia prägte sich das Bild genau ein. Alicia versuchte, zu okklumentieren. Doch es gelang ihr nicht. So fing Anthelia einen Gedanken auf, daß niemand, der dort hingegangen sei, lebend wieder hatte zurückkehren können. Anthelia sagte deshalb:

"Mach es mit dir aus, ob ihr ohne mich besser dran wäret als mit mir. Die Ereignisse des letzten Jahres dürften dir und allen anderen eine deutliche Antwort geben. Ich bedanke mich bei dir für deine Hilfe, Schwester Alicia." Sie stand auf und nickte Alicia zu. Diese nahm den Zauberstab von der Glaskugel. Sofort entstand die wirkliche Umgebung wieder. Anthelia ging auf die Tür zu und öffnete sie. Alicia hütete sich davor, irgendwas zu unternehmen. Denn Anthelias telepathische Begabung war ihr noch zu vertraut. Außerhalb der Hütte disapparierte Anthelia. In nur zwei großen Sprüngen kehrte sie in die Daggers-Villa zurück. Es war schon seltsam, in dieses leere alte Haus zu kommen, wo früher 41 Geister frei herumgespukt hatten. Doch diese waren von Anthelia aus verbrauchter Geduld heraus in alte Weinflaschen gesperrt worden und fristeten nun in einem Klangkerkerraum ein noch tristeres Dasein als zuvor. Ihre Schülerin Dido Pane war gerade mit Maura, einer von Anthelias Mitschwestern, unterwegs, um wildwachsende Zauberpflanzen zu besichtigen. Sie hatte noch einen Tag Zeit, um Vientofrio aufzusuchen und ihm das Versteck des Schwertes zu entlocken oder ihn dazu zu bringen, es ihr zu beschaffen. Und wenn sie das Schwert nicht bekam, so würde sie wohl demnächst den unleerbaren Krug Aiondaras erhalten. Auch wenn Aiondara sich mit ihr einen schweren Kampf liefern mochte, so war sich Anthelia sicher, daß sie mit der Kraft der vereinigten Seelen und dem Wissen Altaxarrois den Kampf gewinnen würde. Sie mußte es einfach. Denn wenn stimmte, was sie mittlerweile von mehreren Mitschwestern aus aller Herren Länder erfahren hatte, wollte Nyx wahrhaftig ein Vampirreich auf Erden errichten. Ohne wirksame Waffen des Feuers oder des fließenden Wassers würde sie gegen die Macht des Mitternachtsdiamanten einen schweren bis hoffnungslosen Stand haben. Am Ende mußte sie noch mit Itoluhila paktieren, um die gemeinsame Feindin zumindest auf Abstand zu halten. Sie war nicht naiv, zu denken, daß sie das niemals nötig haben mochte. Doch es sollte für sie die allerletzte Lösung sein. Sie wollte ihre Pläne so gestalten, daß sie aus eigener Kraft, höchstens noch mit der vereinten Kraft ihrer Mitschwestern, das große Ziel erreichen konnte. Ein Pakt mit Itoluhila wäre eine Kapitulation. Denn Itoluhila würde womöglich die Gunst der Stunde nutzen und doch noch Rache für ihre Schwester nehmen oder Anthelia unter ihre dunkle Macht stellen. Dann konnte sie ihr ja gleich in den Lebenskrug springen und ihr Leben dieser Kreatur opfern und hoffen, daß sie an den Tränen der Ewigkeit ersticken mochte. Ersticken! Sich verschlucken! Diese Begriffe wirkten in Anthelias Geist wie ein ganzes Orchester an allen Saiten angezupfter Harfen. Jetzt wußte sie, wie sie Diego Vientofrio dazu bringen konnte, ihr zu helfen, an Yanxothars mächtiges Schwert zu kommen. Sie ging daran, ihr Vorhaben mit Diego Vientofrio in die Tat umzusetzen. Dafür würde sie einen ganzen Tag brauchen. Der Drachenmann würde sich wundern.

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Die Wochen verflogen. Garwin Abrahams hatte alles und jeden im Griff. Tim hatte seine alten Schulfreunde auf den kleinen Abrahams trinken lassen und seinem Vater eine Mail mit allen Geburtsdaten des Enkelsohnes geschickt. Er hatte scherzhaft angefügt, daß der Kleine wohl Flugzeugträgerkapitänsblut in den Adern hätte, weil er sich freute, wenn man ihn badete und er die bunten Drachen und Hippogreifen so anstrahlte, die als Mobile über seiner Wiege kreisten. Der Minister hatte ihn mit Handschlag eine Beförderungsurkunde überreicht. "Für Ihre Verdienste um die Befreiung der Zaubererwelt und den Schutz der unschuldigen Mitbürger Großbritanniens ernenne ich Sie zum Leiter des neuen Büros für die Sicherung der friedlichen Koexistenz zwischen Menschen mit und ohne Zaubertalente. Herzlichen Glückwunsch!" Diese Soulsängerstimme hatte diese Nachricht noch einmal so gelungen rübergebracht. Tim war nun Leiter des Muggelverbindungsbüros und dem Büro gegen die unrechtmäßige Bezauberung von Muggelartefakten, daß früher einmal von Arthur Weasley geführt worden war, der jetzt auf knapp unter dem Höhepunkt einer Ministerialbeamtenkarriere war und die Strafverfolgungsabteilung leitete. Dann hatte er noch gehört, daß die Ravenclaws gegen Gryffindor gewonnen hatten, obwohl Harry Potter den Schnatz gefangen hatte. Kevin Malone hieß der Bursche, der als Hüter die Ringe sauber gehalten hatte. Er hatte darüber gestrahlt. Kevin Malone und dessen Familie lebten, weil er damals der Umbridge von der Schippe gesprungen und lieber den Barleys in den Hühnerstall gekrochen war. Insofern konnten die Ravenclaws, bei denen er selbst sieben Jahre gewohnt hatte, sich für diesen genialen Hüter bedanken. Auch für Harry Potter freute er sich, daß trotz des noch mehr entstandenen Rummels um ihn, den Auserwählten, den Sieger über den Unnennbaren, die Schule und der Sport noch was hergaben.

Als er Mitte Februar im Internetcafé seiner alten Heimatstadt saß und die neuesten Nachrichten las, fiel ihm schlagartig die Chronik der McFustys wieder ein. Der Internet-Nachrichtenkanal GIN hatte einen Tag vor Garwins Geburt eine sehr kurze Pressekonferenz ins Netz gestellt und dazu einen umfangreichen Text über den Piraten Blackbeard, dessen geheimnisvolle Kindheit und die prüfbare Geschichte der "Lady Amber" veröffentlicht. Sofort ließ er sich die Texte ausdrucken und entschied, daß sein neues Büro demnächst auch einen Internetanschluß haben müsse. Er würde June Priestley als Expertin für Muggeltechnologie einstellen und mit ihr zusammen einige Fäden in die magielose Welt halten. Also hatte es außer dem berüchtigten Edward Teach noch andere gegeben, die über die "Lady Amber" berichtet hatten. Es sprang ihm förmlich in die Augen, als er las, daß an Bord des Schiffes eine geheimnisvolle Kiste gewesen sei, in der angeblich ein Artefakt der schwarzen Magie verborgen gewesen sei und das gemunkelt wurde, einer der Mitreisenden sei ein echter Zauberer gewesen, der das gefährliche Ding unter Kontrolle halten und an einem für menschen unerreichbaren Ort aussetzen sollte. Da dies alles um die Jahre der Salemer Hexenverfolgung lag, konnte sich Tim zwar vorstellen, wie leicht etwas geheimnisvolles mit Magie oder Dämonen aller Art in Verbindung gebracht wurde. Aber in diesem Fall mochten die Verfasser der Texte gänzlich unbeabsichtigt eine heftige Wahrheit ausgeplaudert haben. Als er die Texte ausgedruckt hatte schickte er den Verweis auf die Internetseite an Madame Martha Eauvive. Ob er sich je an den neuen Nachnamen gewöhnen würde? Seine Schwiegermutter hatte ihm erzählt, daß es möglich war, daß elternlose Erwachsene von einer Zaubererfamilie adoptiertt werden konnten, wenn sie dadurch mehr Schutz und Entfaltungsfreiheit erlangen konnten. Sicher interessierte es Martha ... Eauvive ... auch, über diese Sache zu lesen. Er tippte noch ein paar begleitende Zeilen dazu, warum ihm dieser Artikel so spektakulär und nachprüfenswert erschien und schickte die elektronische Postsendung ab. Dann kehrte er zum Hof Hühnergrund zurück, wo ihn sein Sohn mit einem fordernden Schrei empfing, der für ihn wie eine Ankündigungsfanfare oder der Begrüßungspfiff einer Bootsmannspfeife klang. Da seine Frau der wort- aber keinesfalls lautlosen Aufforderung Folge leistete, zog er sich mit seiner Schwiegermutter in die Bibliothek zurück und gab ihr die Ausdrucke der Texte zu lesen.

"Wäre schöner gewesen, erst mir und Angus diese Sachen zum lesen zu geben, als sie gleich weiterzuleiten", schnarrte sie. Dann holte sie luft und sagte: "Andererseits habe ich über Martha Eauvive verwitwete Andrews gehört, daß sie sehr umsichtig und überlegt handelt. Ich darf die Nachricht aber doch sicher anderen Interessenten zu lesen geben, oder?" Tim nickte. Ceridwen kopierte die Ausdrucke. Dann sagte sie noch: "Auch wenn ich damit ein offenes Portal wie das von Hogwarts einrenne bitte ich dich darum, die Angelegenheit mit diesem Schatztrio weiterzuverfolgen. Wie nannte dieser Reporter die drei? Die letzten Jünger von Atlantis? Falls die es schaffen sollten, näher als zwei Schritte an den Krug heranzukommen könnte das tatsächlich der Wahrheit entsprechen."

"Ich habe mir auch die Seekarte von dem Gebiet, wo die Amber versunken ist rausgesucht. Da ist das Meer zwischen fünfhundert und tausend Meter tief. Die müssen da entweder mit Helium und Tiefseetaucherglocken ran, was Wochen Zeit wegen der Druckanpassung kostet oder mit fernsteuerbaren Greifwerkzeugen dran. Aber wenn das Ding so eine starke Aura hat, wie Rollin McFusty behauptet hat, dann könnte jede hochempfindliche Elektronik in deren Einfluß Twist, Salsa und Macarena zugleich tanzen und dann unangekündigt den Dienst verweigern."

"Abgesehen davon, daß ich diesen Modetanz macarena für keinen wirklich gelungenen Tanz halte könntest du recht haben, Tim. Aber genau dann dürften die Muggel auf dieser "Golden Hope" sehr alarmiert reagieren, falls sie den Ausfall ihrer Elektronischen Gerätschaften überleben. Wenn dann noch stimmt, daß der Geist von Keneth Teach diesen Krug zusammen mit dem am Übertritt in die Nachtodwelt gehinderten Rollin Redhead bewacht, könnten die sogar in Lebensgefahr schweben, bevor sie in die Nähe des Kruges gelangen. Abgesehen davon dürften einige Zeitgenossen und -genossinnen sich daran erinnern, daß es wohl doch keine zaubererweltlegende sein mag, daß auf der "Lady Amber" etwas hochpotentes transportiert wurde. Du bleibst bitte an der Internetnetzwerk-Berichterstattung dran! Ich recherchiere in anderen Richtungen."

"Der Typ ist US-Bürger. Wenn der in der Karibik herumfährt ist das entweder eine Angelegenheit des US-Zaubereiministeriums oder betrifft das Zaubereiministerium der Insel, die zu einem europäischen Land gehört, wie Frankreich, Großbritannien, Spanien oder die Niederlande. Wenn der wirklich in Richtung Martinique unterwegs ist, dürfte es dann das Zaubereiministerium von Frankreich betreffen."

"Du hast doch während der Fluchthelferperiode Kontakte zu Muggelstämmigen in den USA erlangt. Könnte interessant sein, mehr über diesen Braxton zu wissen." Tim nickte. Gleich morgen würde er mit seinem Antrag auf Einrichtung eines internetfähigen Rechners in einer magiearmen Arbeitsstätte zum Zaubereiminister gehen und ihm den Grund dafür frei Haus liefern. Dann holte ihn der Alltag des jungen Familienvaters ein. Denn Galatea und er hatten sich geeinigt, sich beim Windelwechseln ihres Stammhalters abzuwechseln.

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Es war bereits der siebzehnte Februar. Der unsichtbare Besen sauste in knapp hundert Metern über dem felsigen, teilweise schon mit Eis überzogenen Boden dahin. Anthelia fühlte ihn leicht zwischen ihren Beinen zittern. Es war ein Risiko, mit einem nicht für allzu große Höhen geeigneten Flugbesen herumzusuchen. Doch sie wollte nicht auf gut Glück apparieren und im Zweifelsfall beweglich genug bleiben, um anfliegenden Drachen auszuweichen.

Wo war der Gigante Viejo? Anthelia hatte sich die Umgebungsillusion Alicia Montesalvajes so gut es ging eingeprägt und die Erinnerung daran in das von Sardonia geerbte Denkarium ausgelagert. Sie kannte jeden Felsüberhang, jede Gipfelform und jeden Hangverlauf in unmittelbarer Sichtweite des Berges, den die Einheimischen als alten Riesen bezeichneten. Ja, jetzt konnte sie den Berg ausmachen, der gemäß Alicias Projektion südlich des Gigante Viejo in den Himmel ragte. Da Anthelia vom Süden her anflog, mußte sie den gewaltigen Berg nur umfliegen oder überqueren. Letzteres erschien ihr zu riskant, da sein majestätischer Gipfel weit in den Himmel emporragte. Anthelia schätzte die Gipfelhöhe auf etwa fünftausend Meter. Das wäre für den Harvey-Besen zu hoch. Denn der wurde wegen der Tarnbezauberung nur für eine Maximalhöhe von viertausend Metern empfohlen, und dann auch nur, wenn es nicht anders ging. Anthelia selbst war durch eine Kopfblase vor dem in dieser Höhe herrschenden Luftmangel geschützt und trug gleichwarm bezauberte Kleidung, um der grimmigen Kälte zu widerstehen. Doch der Besen würde den Anstieg über den Gipfel nicht überstehen. So suchte sie nach einer Schlucht oder einem Tal, um den Berg in nördlicher Richtung zu passieren. Erst ganz nahe an der südlichen Steilwand entdeckte sie eine Einkerbung, die lang genug war, um an dem Berg entlang zu fliegen. Sie änderte die Richtung nach Nordwesten und verzögerte den rasenden Flug ihres Besens, der nun etwas weniger zitterte.

Hinter dem einen Berg ragten weitere Berge auf. Anthelia mußte sich sehr konzentrieren, an den Felsvorsprüngen und -überhängen vorbeizugleiten. Jetzt sah sie ihn, den Gipfel, der aussah, als hülle eine wahre Mähne schneeweißen Haares den Kopf eines Riesen ein. Da hörte sie von Südosten lautes Gebrüll.

Sie hatte in ihrem ersten Leben schon häufiger mit Drachen zu tun gehabt, um einen Drachen zu erkennen, wenn er sie anbrüllte. War das vielleicht Vientofrio? Da röhrte eine lautstarke Antwort aus West zurück. Anthelia wandte schnell ihren Kopf in die Richtung und sah das geflügelte Ungeheuer, wie es adlergleich über dem westlichen Berg kreiste. Es glitzerte kupferrot im hellen Licht der Sonne. Anthelia wußte, daß die hier heimischen Viperzähne Menschen über mehrere Kilometer entfernung wittern konnten. Selbst die Unsichtbarkeit von Besen und Reiterin würde die Drachen nicht täuschen. Wieder brüllte es hinter Anthelia. Die Führerin des Spinnenordens wandte wieder ihren Kopf und sah in großer Ferne einen Punkt frei in der Luft. Noch war der eine Drache zu weit weg. Doch das Antwortbrüllen des Wächters im Westen klang schon etwas näher. Anthelia sah früh genug, daß das schuppige Scheusal bereits auf dem Weg zu ihr war. Wenn diese Biester sich gegenseitig zuriefen, wo die Beute war, konnte sie noch arge Probleme haben. Da röhrte ein dritter Drache genau hinter dem Gipfel des Gigante Viejo. Anthelia sah ihn erst, als er mit hoher Steiggeschwindigkeit in die Lüfte stieg und den makellos weißen Gipfel überquerte, um seinerseits auf die Hexe auf dem unsichtbaren Besen zuzuhalten. Drei Drachen? Anthelia fragte sich, ob ihre Kenntnisse von Drachen falsch oder nur unzureichend waren. Sie hatte immer gedacht, daß Drachen außerhalb der Paarungszeit strickte Einzelgänger waren und ein mehrere Dutzend Quadratmeilen großes Revier für sich alleine hielten und jeden Artgenossen eifersüchtig bekämpften, der es ihm streitig machen konnte. Offenbar galt das nicht für die drei Drachen, die gerade auf dem Weg zu ihr waren.

Anthelia blickte schnell auf ihre mit mehreren Fluchabhaltezaubern belegten Handschuhe. Offenbar brauchte sie tatsächlich so viele von Daianiras Drachentöterscheiben, wie sie in weiser Voraussicht hergestellt hatte. Sie fischte in den auf ihrer linken Seite hängenden Drachenhautbeutel hinein und fühlte das leise Vibrieren einer der zwanzig Münzen, die sie hatte. Der darin eingewirkte Fluch versuchte, die isolierende Magie des Handschuhs zu durchdringen. Doch es gelang nicht. Jetzt freute sich Anthelia, daß sie eine längere Zeit mit Daianira zusammengelebt hatte. Denn auf die Idee, Decompositus als wirksamen Drachentöterzauber auf münzenartige Wurfscheiben zu legen war sie selbst trotz aller Erfahrung mit den dunklen Künsten nnie verfallen, weil der Fluch so ungemein gefährlich war. Sie wollte die zwischen den Fingern liegende Wurfscheibe gerade freiziehen und darauf lauern, den ersten Drachen damit angreifen zu können, als ihr einfiel, daß Vientofrio einer dieser Drachen sein mochte. Ihn zu töten wäre völlig unsinnig gewesen. Dann hätte sie sich den Ausflug in die Anden ersparen können. Doch sie mußte sich mindestens zwei Drachen vom Leib halten. Denn einer alleine war schon zu gefährlich. Aber wie konnte sie den einen Drachen von den übrigen unterscheiden? Ihre telepathischen Sinne reichten ungefähr einen halben Kilometer weit. Die Gedanken von Drachen bestanden aus einem Bündel animalischer Triebe wie Hunger, Revierverteidigung, Selbsterhaltung und Paarungsbereitschaft. Das konnte ihr helfen, den besonderen von den übrigen Drachen zu unterscheiden. Da hörte sie noch einen vierten Drachen brüllen und sah ihn von Nordosten her über den Gipfel des Gigante Viejo hinweggleiten. Vier Drachen! Drei zu viele! Anthelia wußte, daß sie wohl nur noch wenige Minuten hatte, um sich diese drei Drachen vom Hals zu schaffen. In ihr wuchsen Kampfeslust und Entschlossenheit an. Das Drachenfeuer konnte ihrem Körper nichts anhaben, wenn sie zur schwarzen Spinne wurde. Doch diese konnte keinen Besen mehr fliegen. Aber das hatte sie auch nicht nötig, erkannte Anthelia mit gewisser Überlegenheit. Dennoch wollte sie auf den Besen nicht verzichten. Auch wenn die Drachen ihren Körpergeruch in den suppentellergroßen Nüstern habem mochten zielten sie bei ihren Feuerstößen doch gerne auf Sicht. Deshalb waren ihre Augen auch die schwächste Stelle, solange sie ihre Mäuler geschlossen hielten.

Die Vier drachen näherten sich Anthelia von allen Seiten mit zunehmender Geschwindigkeit. Die Reiterin des Harvey-Besens riskierte es und trieb ihn dazu an, noch höher aufzusteigen. Sie fühlte bereits, wie der Besenstiel immer mehr erzitterte. Bald würden sie die Grenze erreichen, bis zu der der Harvey-Besen sich gerade noch fliegen ließ. Die vier Drachen machten das Aufstiegsmanöver mit. Offenbar war die Luft für sie noch nicht dünn genug, um mit ihren lederartigen Flügeln genug Auftrieb zu erzielen. Wie hoch war der höchste fliegende Drache je gestiegen? Diese Frage beschäftigte Anthelia nur eine halbe Minute lang. Denn dann ruckelte und rüttelte der Besen. Die Drachen stiegen weiter mit auf, ohne ihren Annäherungskurs zu ändern. Anthelia fühlte die Belastung des Besens. Einen Moment lang fühlte sie die Erregung, die das zwischen ihren Beinen klemmende Fluggerät ihr bereitete. doch ihr Verstand zwang sie, sich nicht diesem wohligen Gefühl hinzugeben. Sie war in höchster Gefahr. Entweder würde ihr der herrlich anregend vibrierende Besen ganz und gar den Dienst versagen. Oder die Drachen würden sie unrettbar einkreisen. So blieb ihr nichts anderes übrig, als die große Höhe wieder zu verlassen und sich tollkühn in die Tiefe zu stürzen. Wenn ihr der Besen dabei ausfiel würde sie wie ein Stein abstürzen. Die Drachen mochten dann wie niederstoßende Adler leichtes Spiel mit ihr haben. Womöglich erreichte sie den harten Felsboden nicht einmal mehr. Sie hielt auf den Gigante Viejo zu. Flucht nach vorne hieß die Losung. Sie stieß genau auf einen der nun wieder nach unten jagenden Drachen zu, der bereits sein Maul weit aufriß. Da erfaßte Anthelia die Gier und der Hunger, die dieses Wesen umtrieben. Zwar konnte der Drache sie nicht sehen. Aber er erfaßte, daß die verheißungsvoll duftende Beute gerade unter ihm hindurchschlüpfen wollte. Anthelia horchte kurz auf die geistigen Ausstrahlungen des echsenartigen Flugwesens und vermochte keine Spur menschlicher Regung daraus zu entnehmen. Also war das da zumindest kein besonderer Drache. Sie hielt weiter auf das Ungeheuer zu, wohl wissend, daß es sie in knapp zehn Metern entfernung mit seinem Flammenatem angreifen mochte. Sie wog die freigezogene Wurfscheibe in der linken hand. Sie mußte nahe genug heran, um wuchtig genug und zielgenau genug zu werfen. Denn der Fluch blockierte jede Fernbewegungszauberei und angeborene Telekinese. Da kam der Drache auf sie zu. Seine Nüstern bebten. Seine schlangenartigen Augen drehten sich suchend hin und her, konnten aber das Ziel nicht erfassen. Es fehlten noch knapp hundert Meter. Anthelia hatte in der Daggers-Villa Zielwürfe quer durch den Salon geübt. Es hatte etwas gedauert, bis sie eine Schale, einen Trinkkelch und einen Dessertteller mit ihren Würfen genau in der Mitte hatte treffen können. Jetzt mußte es sich zeigen, ob sie einen Drachen töten konnte, wie es Daianira ihr vorgeführt hatte. Sie holte aus. Der Drache kam näher. Jetzt fehlten nur noch vierzig Meter. Der Drache sperrte seinen Rachen weit auf. Offenbar wollte er einen fächerartigen Feuerstoß ausspeien. Anthelia faßte das Ziel genau ins Auge. Ihren Besen konnte sie wegen dessen Unsichtbarkeit nicht als Zielausrichtungshilfe verwenden. Doch das ihr entgegendrohende Drachenmaul war nicht zu klein. Sie erfaßte die Gedanken des Drachens. Er war verwirrt, weil er nicht sah, was er roch. Doch er war entschlossen, das unsichtbare Etwas mit voller Feuerkraft anzugreifen. Anthelia holte aus und warf die verfluchte Wurfscheibe von sich, ohne ihre Fluglage zu verändern. Sobald der Decompositus-Diskus aus der Unsichtbarkeitsaura des Besens heraus war, glitzerte er wie eine Sternschnuppe im Sonnenlicht auf. Der Drache sah das blinkende Ding auf sich zufliegen und setzte an, es mit dem Feuerstrahl zu treffen. Anthelia indes brach nach links oben aus der Flugbahn aus. Da traf die Wurfscheibe voll in den Drachenrachen.

Die höchste Spinnenschwester meinte, daß ihr trotz Kopfblase und dünner Andenluft die Ohren von den Köpfen gerissen würden, als der Drache in einer Woge unerträglicher Schmerzen aufbrüllte. Das Wurfgeschoß tat seine Wirkung. Direkt von innen wirkend, die Magiepanzerung der Schuppen umgehend, entfaltete der Decompositus-Fluch seine vernichtende Wirkung. Anthelia mußte sich okklumentisch gegen die Schmerzwelle des Drachens abschirmen, was sie fast aus der Flugbahn geworfen hätte. Da hörte sie das wütende Gebrüll von zwei anderen Drachen, die schon ziemlich nahe bei ihr waren. Sie zirkelte auf dem Besen herum und sah die zwei in Formation vliegenden Drachen. Einer flog einige Meter über der Höhe des anderen an dessen rechter Seite. Formationsflug bei Drachen? Das war faszinierend und erschreckend zugleich. Denn es würde schwer sein, dem Angriff zu entgehen, weil sie ja gerade nur einen Drachen zur Zeit angreifen konnte. Sie blickte sich nach dem zuerst getroffenen Drachen um. Dieser sah äußerlich noch unversehrt aus. Doch die aus dem Drachenmaul wehende, giftgrün-schwarze Rauchfahne und das in ein ersterbendes Röcheln übergehende Gebrüll verrieten ihr, daß sie den ersten Gegner ausgeschaltet hatte. Dieser blies noch einmal einen Feuerstoß aus, der weißblau aus dem Drachenmaul herausplatzte und als laut detonierender Feuerball knapp vor dem Ungeheuer auseinanderflog. Der Drache stürzte ab. Doch zwei andere waren noch da. Anthelia erfaßte die beiden Gedankenströme und fühlte die Gier und den Hunger. Die ihr entgegenwehenden Gedanken verrieten ihr, daß sie es mit zwei Weibchen zu tun haben mußte. Denn irgendwie sah sie zwei streitbare, überauswütende Frauen vor ihrem geistigen Auge. Jedenfalls war kein Vientofrio dabei. Anthelia mußte es riskieren, freihändig zu fliegen und verlagerte die Beinstellung ein wenig, so daß ihr linker Oberschenkel etwas näher zum Schweif hin den Besen umschloß. Dann zog sie mit beiden Händen Drachentöterscheiben hervor, fühlte den in diesen wirkenden Fluch als starke Vibrationen und ließ die beiden schuppigen Ungetüme kommen. Als sie nur noch dreißig Meter von ihr fort waren warf sie die erste Münze nach oben weg. Dabei hätte sie sich fast das tödliche Metallstück an ihrer linken Wange gehalten. Sie wollte nicht darauf vertrauen, daß die Tränen der Ewigkeit auch Decompositus abhielten und war beim Abwurf der zweiten Münze etwas sorgfältiger. Der Drache links von ihr erkannte die Gefahr wohl, brach nach oben aus und prellte das Metallstück mit seinem schuppigen Bauch zurück. Auf dem Schuppenkleid des Drachens entstand ein kopfgroßer weißer Fleck. Das war die ganze Wirkung des Fluches. Die zweite Münze erwischte ihr Ziel an der gespaltenen Zunge, die augenblicklich schwarz anlief. Offenbar aus einem unbestimmten Reflex heraus schlang das Monstrum die Münze in sich hinein und besiegelte damit sein Schicksal. Wie vorhin schon erschütterte ein ohrenbetäubendes Gebrüll die Luft. Anthelia konnte dem getroffenen Drachen gerade so ausweichen, der in einem letzten Aufbäumen sein Feuer spie. Der verfehlte Drache warf sich herum, um von der Seite aus anzugreifen. Anthelia drehte nach links und zog die vierte Wurfscheibe von zwanzig. Sie riskierte es, in die Feuerstrahlbahn zu geraten und warf dem Drachen das tödliche Geschoß entgegen. Dieser bekam es nun ins zum Feuerstoß aufklaffende Maul und stieß den Anthelia schon bekannten wie schmerzhaften Todesschrei eines Drachens aus. "Daianira hätte sich die Methode international patentieren lassen sollen, bevor sie auf die Insel reiste", dachte Anthelia mit unverhohlenem Triumph. Drei Drachen hatte sie erledigt. Blieb nur noch einer. Doch der mochte jetzt endgültig gewarnt sein. Dann fühlte sie, wie es ihr von hinten warm und wärmer wurde. Anthelia warf sich mit dem Besen herum und hörte es laut Zischen, als das Feuer, daß ihren Besenschweif ergriffen hatte, durch die Luftzufuhr angefacht wurde. Sie sah nach hinten und erkannte, daß ihr Harvey-Besen in den Ausläufer des finalen Flammenstoßes des unteren Drachen geraten war. Die Reisigbündel loderten bereits wie eine Fackel. Die Unsichtbarkeit des Besens war dahin und damit auch die Anthelias. Die oberste der Spinnenschwestern ahnte, daß sie mit dem Besen nicht mehr weit würde fligen können. Nur die dünne Luft in den Anden verzögerte die Ausbreitung des Feuers. Sie mußte auf dem Gipfel des Gigante Viejo. Sie wirkte schnell mit ihrem Zauberstab den Brandlöschzauber. Doch es war schon zu spät. Die ersten Reisigbündel fielen ab. Der Besen schlingerte und wippte wild nach vorne und hinten. Seine Bezauberung geriet völlig aus dem Lot. Anthelia versuchte noch, den Besen genau auf den schneebedeckten Gipfel Gigante Viejos auszurichten. Da bockte der Besen so heftig, daß Anthelia trotz ihrer exzellenten Flugerfahrung und der kräftigen Beine den Halt verlor und abgeworfen wurde. Sie sah den brennenden Besen an sich vorbeistürzen. Der gleichwarm bezauberte Umhang hielt die Hitze von ihr ab. Doch der verzehrenden Macht eines Feuers konnte auch er nicht lange widerstehen. Anthelia fühlte den Fall in die Tiefe, wie die Luft immer stärker um ihren Körper strich. Es mochten nur noch hundert Meter sein, die sie vom felsigen Boden trennten. Anthelia dachte nur eine Sekunde nach. Dann disapparierte sie.

Sie hatte eigentlich vorgehabt, auf dem Gipfel des Berges Gigante Viejo zu apparieren. Doch als die Welt um sie herum wieder Licht und Form bekam stand sie in einer ganz anderen Gegend. Anthelia wunderte sich einen Moment lang. Dann gebot ihr das langsam an ihrer Kleidung nagende Feuer, sich erst mal mit anderen Dingen zu befassen. Sie riß den Umhang von ihrem überragend schönen Leib und warf ihn vor sich auf den Boden. Nur noch ein hautenger Unterwäsche dastehend wirkte sie den Brandlöschzauber Extingeo. Jetzt fühlte sie die hier vorherrschende Kälte an Schultern, Beinen und am Hals. Ihr Unterzeug hielt ihren Rumpf warm genug. Doch die Kälte mochte ihre Glieder lähmen, wenn sie sich ihr zu lange auslieferte. So zog sie schnell den Umhang wieder über, der bereits leicht angebrannt roch, seine Gleichwärmebezauberung jedoch noch behalten hatte. Jetzt erst konnte sie sich damit befassen, wieso sie an einem falschen Ort appariert war. Sie hatte sich doch vollends auf den Gipfel des Berges konzentriert. Doch sie stand nun ganz wo anders, bestimmt sehr weit von Gigante Viejo entfernt. So heftig danebenspringen konnte sie auf diese kurze Entfernung und auf Sicht doch gar nicht. Dann hörte sie ein Gebrüll in der Ferne und erkannte es als Revierruf eines Viperzahns. Ihr fiel der vierte Drache ein, der sie hatte angreifen wollen. Das Gebrüll klang nahe. Und es wurde von einem weiteren Brüllen beantwortet, das gut und gerne einem größeren Artgenossen entstammte, womöglich einem Weibchen. Anthelia versuchte, noch einmal auf den Gigante Viejo zu apparieren. Da fühlte sie, wie etwas sie aus dem Transit herauszerrte und an ihren Ausgangspunkt zurückbrachte. Jetzt war ihr klar, was ihr da passiert war. Ein Locattractus-Zauber hatte sie eingefangen. Dann mochte sie in der Nähe des Berges sein, denn ein Locattractus-Zauber umspannte höchstens zwei Kilometer Umkreis. Daß sie den Berg Gigante Viejo nicht sah kam sicher daher, daß um das Zentrum der Apparatorenfalle eine starke Illusion wirkte. Anthelia dachte daran, daß sie diese Illusion brechen mußte. Sie lachte lauthals. Ihr mit einer Bildillusion zu kommen! Lächerlich! Sie hob ihren Zauberstab und rief: "Katarash!" Schlagartig umtobten sie silberne Blitze. Es knisterte und prasselte laut. Dann verschwand die bisher für wirklich gehaltene Umgebung. Der Boden erzitterte leicht, als die Illusion verflog. Der mächtige Zauber aus Altaxarroi hatte seine Macht bewiesen. Jetzt konnte sie sehen, daß sie im Zentrum eines vier Meter durchmessenden, goldenen Kreises stand, der aus verschiedenen Runen und anderen Zaubersymbolen bestand. So und nicht anders mußte ein Locattractuskreis gezogen werden, um seine ganze Wirkung zu entfalten, wußte Anthelia. Dann blickte sie schnell nach oben, wo sie unvermittelt Wogen großer Angriffslust erspürte.

Da kamen die beiden Drachen, deren Revier- oder Jagdruf sie gehört hatte. Sie waren nicht mehr weit von ihr fort. Einer kam vom Gigante Viejo her angeflogen. Der zweite Drache flog von Nordwesten her an. Anthelia fühlte die ihr geltende Gier und den Hunger, aber auch das Verlangen, Futter für andere zu beschaffen, wohl geschlüpftem Nachwuchs. Dann fiel ihr auf, daß obwohl der Angreifer vom Gigante Viejo schon näher als einen halben Kilometer herangekommen war, kein einziger Gedanke von ihm zu ihr herüberdrang. Sie erspürte nur die mentalen Schwingungen des zweiten Ungetüms, das wahrhaftig anderthalbmal so groß war wie das erste und somit eindeutig ein Weibchen sein mußte. Anthelia horchte noch mal mit angespannten Sinnen auf Ausstrahlungen des anderen Drachens, der von ihr aus rechts anflog. Sie erspürte nichts. Da wußte sie, was los war. Sie fischte mit ihren Handschuhen noch einmal in den Beutel mit den Drachentöterdisken und zog gleich drei heraus. Ihre Hand vibrierte förmlich unter der Macht der drei Flüche. Sie Sah gerade, wie das Drachenweibchen das Maul aufriß und warf zwei der Wurfscheiben danach. Einer konnte das Viperzahnweibchen ausweichen. Die zweite landete im Inneren ihres Mauls. Anthelia meinte, in einem Erdbeben und Sturm zugleich zu stehen, so heftig dröhnte der Todesschrei des Drachens. Sie hatte sich noch rechtzeitig gegen ihr zuwehende Gedanken abgeschottet, um die Schmerzwoge des Ungeheuers nicht in ihr Bewußtsein fluten zu lassen. Dann sah sie den zweiten Drachen, der vom Gebrüll der Artgenossin einige Meter nach oben getrieben worden war und nun mit geshlossenem Maul auf Anthelia zuflog, um sie wohl unangespitzt in den Felsenboden zu rammen. Sie hatte nur eine Möglichkeit, die schnelle Flucht. Doch dazu mußte sie ihre Zweitgestalt annehmen, was hieß, daß sie ihre mitgeführten Zauberutensilien entweder nicht mehr benutzen konnte oder ganz verlor. Die Decompositus-Scheiben waren durch den Fluch gegen jede Verwandlung gefeit. Es fehlten nur noch hundert Meter. Sie warf den Drachenhautbeutel von sich und griff in ihren Umhang. Sie holte etwas kleines, rundes heraus und ließ es auf den Boden fallen. Dann dachte sie mit aller Macht daran, die große Spinne zu sein. Das Gefühl, vom Tode bedroht zu werden beschleunigte die Umwandlung. Als sie als übergroße, schwarze Spinne auf dem Boden hockte, schnellten ihre Beißwerkzeuge vor und ergriffen den von ihr abgelegten Gegenstand. Alles andere war durch den Verwandlungsakt erst einmal nicht mehr vorhanden. Da hörte sie das Flügelschlagen des Drachens und konnte jetzt klare Gedanken von ihm empfangen. "Wer und was du immer bist wirst dafür büßen, meine Frau umgebracht zu haben." Anthelia sah den Körper des Drachens wie aus einem gewaltigen Puzzel zusammengefügt über sich auftauchen. Er riß das Maul auf, was alle ihre Sinneshaare erschütterte. Dann wurde sie zwischen zwei gnadenlos zuschnappende Kiefer gezwengt. Nur ihr magischer Spinnenpanzer hielt der tödlichen Kraft entgegen. Sie zog rasch ihre Fühler und Beine so an sich, daß diese nicht zwischen die gifttriefenden Zähne gerieten. Anthelia ahnte, daß der Drache nun versuchen würde, sie zu zerbeißen. Sie irrte sich nicht. Wild entschlossen krachten und malmten die Reißzähne auf ihre unverwüstliche Spinnenhaut ein. Sie fühlte es wie eine Ameisenarmee in sich selbst, wie die Tränen der Ewigkeit gegen die zerstörerischen Zahnreihen ankämpften. Anthelia nahm den üblen Geruch aus dem Schlund der Bestie wahr und wußte, daß sie erneut in einem solchen dunklen, feuchten, schleimigen Kerker hineingeraten würde. Ihre alte Platzangst meldete sich wieder. Doch durch die lange Zeit in Daianiras Leib konnte sie diese große Furcht niederhalten. Der Drache rammte seine Zähne immer wieder in ihren Leib. Sie fühlte die unbändige Kraft, die bestimmt ganze Baumstämme durchbeißen und einem Menschen jeden Knochen im Leib in tausend Stücke brechen konnte. Doch die Zähne drangen nicht bis in ihren Körper vor. Wütend warf der Drache seinen Kopf hin und her. Anthelia fühlte die Gedanken der grenzenlosen Wut. Sie wurde vor und zurückgeworfen. Doch der Drache spuckte sie nicht wieder aus. Er wollte sie zerbeißen und dann verschlingen. Dann langdete sie auf der schleimigen Zunge des Monstrums und stieß sich in Richtung des finsteren Rachens ab. Sie fühlte, wie sie dort hineingeriet und in der großen, sie umschlingenden speiseröhre landete. Wenn sie jetzt nichts unternahm, um wieder freizukommen würde sie im Bauch dieser Bestie landen, wie einst in dem Valery Saunders'. Mit immer noch großem Grauen dachte sie an dieses Erlebnis, daß sie durch das Seelenmedaillon so mitbekommen hatte, als sei nicht Daianira, sondern sie selbst verschlungen worden. Gut, eigentlich war es ja auch so gewesen. Nur der Zauber, den Daianira gewirkt hatte, konnte Valery Saunders den Appetit verderben. Anthelia hörte das mächtige Herz des Drachens schlagen und fühlte die stauchenden und walkenden Bewegungen der Speiseröhre, hörte das angestrengte Keuchen des Drachens, der das zu große Stück Beute hinunterzuwürgen trachtete. Anthelia gab das runde Etwas frei, das sie bis jetzt in ihrer linken Beißschere festgehalten hatte. Sie wußte, daß es unaufhaltsam im Magen des Drachens ankommen würde. Jetzt galt es, den Drachen zu zwingen, sie wieder auszuwürgen. Sie ließ ihre giftigen Scheren mit ganzer Kraft in die zähe Schleimhaut eindringen. Sie wußte nicht, ob ihr Gift den Drachen beeindrucken mochte. Doch das war ihr jetzt auch erst einmal egal. Sie nahm ihren restlichen Mut zusammen und würgte ihre ätzende Magensäure aus, die in die geschlagenen Wunden eindrang. Die Pumpbewegungen der Speiseröhre erstarben. Das Organ zuckte nun heftig. Anthelia verspritzte noch einmal eine Ladung Verdauungssäfte und wartete, bis diese in der Schleimhaut versickert waren, die sich bereits zu lösen begann. Dann fühlte sie, wie sie unter immer stärkeren Kontraktionen des Schluckorgans in Richtung Maul zurückgepreßt wurde. Hoffentlich war das, was sie hier ablegen wollte, schon durch die Speiseröhre hindurchgerollt. Sie stieß mit ihren zwei hinteren Beinpaaren nach, um sich noch besser nach vorne zu arbeiten. Dann sah sie das Licht. Der Drache riß das Maul weit auf. Dann fühlte, sah und hörte sie, wie das Monstrum sie mit einem gewaltigen Flammenstoß ausspie. Sie flog mindestens zwanzig Meter weit, umtost vom wilden Drachenfeuer. Doch auch dieses konnte ihr nichts anhaben. Was ihr einen Moment lang Sorgen bereitete war, daß ihr zu früh frohlockender Gegner mit ihr über zweihundert Meter in die Luft gestiegen war.

"Waaas bist duuuu!" Brüllte ihr eine schmerz- und wutverzerrte Stimme nach, während sie in die Tiefe stürzte. Anthelia reagierte noch nicht darauf. Wieder umtoste sie das wütende Feuer des Drachens, der jedoch darauf verzichtete, sie in sein Maul zu zerren. Anthelia fiel weiter in die Tiefe. Dann stieß sie aus ihren Spinnwarzen klebrige, aber unzerreißbare Fäden aus. Mit ihren Klauen an den beinen verwob sie die ihr entströmende Spinnenseide zu einem festen, sie umschließenden Kokon. Nur in diesem hatte sie eine Chance, den Aufprall auf den Boden ohne große Erschütterung zu überstehen. Der Drache hinter ihr spuckte feuer. Das konnte die Spinnseide nicht vertragen. Sie loderte auf. Anthelias Kokon zerfiel schneller als sie ihn nachspinnen konnte. "Dich verdammtes Misttier mache ich alle", hörte sie den Drachen denken. Anthelia sah ihn hinter sich, das Maul zum neuen Feuerstoß geöffnet. Wieder umtoste sie eine Flammenwolke, die sie hochwarf. Der Drache stieß sich mit seinenFlügeln voran. Er wollte die Spinne am Boden zerschmettern. Doch das wollte Anthelia ganz sicher nicht. Sie konzentrierte sich auf die Wörter der freien Bewegung in der Luft. Da sie Naaneavargias Kenntnisse besaß und diese mit der eigenen Magie potenzierte, gelang es ihr, den rasenden Sturz aufzuheben, zur Seite zu gleiten und zu sehen, wie der Drache an ihr vorbeistieß. Dieser erkannte eine Sekunde vor dem wuchtigen Aufprall, daß seine Beute irgendwie entwischt war und kämpfte mit seinen Flügeln gegen den Absturz an. Es dauerte fünf Sekunden, bis das kupferrote, mit merkwürdigen blauen und schwarzen Zeichnungen übersäte Geschöpf wieder aufwärts stieg. In der Zeit hatte sich Anthelia mit der Magie der freien Bewegung in der Luft genau über dem Rücken des Echsenmonstrums in Stellung gebracht und ließ sich genau zwischen die weit ausschwingenden Flügel fallen. Sofort sonderte sie Spinnenseide ab und klebte sich mit mehreren Fangfäden an den Schuppen des Scheusals fest. Die eine Bestie ritt nun auf einer anderen. Der Drache, in dem Diego Vientofrio verkörpert war, erkannte, daß seine unverwüstliche Gegnerin ihm wie eine Laus im Pelz auf dem Rücken hockte und sich immer fester daran sicherte. Er warf sich herum, bockte wie ein ungebärdiges Pferd und rollte mal nach links und mal nach rechts einmal um seine Längsachse herum. Doch die Spinne hatte sich unerreichbar für sein Feuer festgeheftet. Er flog auf den nasenartigen Überhang des Gigante Viejo zu. Anthelia dachte, daß er sie gegen die Felskante schlagen und so herunterschlagen wollte. Da schickte sie einen Gedanken an den nun von unbarmherzigem Zerstörungsdrang durchfluteten Geist. "Diego Vientofrio, wenn du michchch dagegenschschschschlägssst sstirbssst du nach mir." Der Drache reagierte nicht darauf. Er warf sich auf die rechte Seite, so daß sein Rücken mit der daraufgeklebten Spinne gegen den Felsen schlagen mußte. Doch er verkalkulierte sich. Zwar traf sein Rücken auf den Felsen. Doch er schrammte laut knirschend knapp unter Anthelias Sicherungsfäden hindurch über die Schuppen und bremste den rasenden Flug des Drachens so stark, daß dieser in die Tiefe sackte, wieder vom Felsen weg. Er mußte sich wieder in die richtige Fluglage werfen und die Flügel schwingen, was wegen der Nähe zu dem Felsen noch nicht so ging wie er wollte. So sackte das Ungetüm mit seiner monströsen Reiterin weiter durch, krachte auf einen Felsvorsprung und rutschte daran herunter. Der Drache schlug in nun überhandnehmender Panik mit Klauen und Flügeln um sich und bekam den Felsen zu packen. Laut prasselte Geröll aus der Wand in die Tiefe, als der Drache sein ganzes Gewicht in den Berg hängte. Laut schnaufend hing er einige Sekunden da wie eine Fliege an der Wand. Dann stieß er sich wieder ab und konnte endlich seine kupferroten, lederartigen Schwingen ausbreiten. Sichtlich ungehalten flog der Drache einige dutzend meter weit nach oben und versuchte erneut, die unerwünschte Reiterin abzuschütteln. Diese, sichtlich benommen von den vielen Flugbewegungen, hoffte, daß der Drache bald landete. Sein Feuer half nichts. Er mußte sicher landen, um seine Krallen einzusetzen, um Anthelia von seinem Rücken zu reißen. Doch der Drache hatte eine andere Idee. Er stieg weiter und weiter und weiter nach oben. Das war für die Spinne auf seinem Rücken fatal, denn die zunehmende Kälte lähmte sie mehr und mehr. Anthelia meinte dabei, daß der Drache immer schneller flöge und hörte ihn immer schneller aber auch immer höher keuchen. Da erfaßte sie, wie seine Gedankenschwingungen sich veränderten. Es war, als höre sie jemanden mit immer höherer Tonlage sprechen. Wie kam das denn zustande?

Sie verlor fast das Bewußtsein, als der Drache endlich seinen rasenden Aufstieg beendete, einige Sekunden in der Luft blieb und dann in rasender Fahrt wieder nach unten stieß. Sie hörte ihn erst wie einen kleinen Hund hächeln, bis das Hächeln für sie wie von einem galoppierenden Pferd, einem schnaufenden Elefantenbullen und dann wieder wie zu Beginn klang. Auch die immer schneller und höher zu ihr gewehten Gedanken verlangsamten sich und bekamen die vorhin verspürte Schwingungsart zurück. Dann fühlte sie, wie der Drache mit einem heftigen Rums aufsetzte. Die von ihr gesponnenen Haltefäden wurden bis zum Anschlag gespannt. Einige davon verloren den Halt an der Schuppenhaut und peitschten durch die Luft. Jetzt warf sich der Drache auf den Boden und wälzte sich auf den Felsen. Anthelia wurde dabei vom Rücken der Bestie heruntergefegt und konnte gerade noch die Beine anziehen, um wie eine Kugel den Abhang hinunterzurollen. Ihr kam die Idee, sich totzustellen, wie es viele Insekten taten. Sie okklumentierte und wartete, bis sie nach mehreren Minuten am Fuß eines Berges aufkam und noch einige Meter weit rollte. Sie konzentrierte sich, keine verräterische Bewegung zu machen. Sie wartete ab. Spinnen waren Lauerjäger. Anthelias und Naaneavargias Persönlichkeit war auf Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit ausgelegt, wenngleich Naaneavargia ihren Trieben immer wieder nachgegeben hatte. Die schwarze Spinne lag da, die Beine nach oben. Sie wartete, ob der Drache sie erneut angreifen würde. Doch irgendwann hörte sie das laute Lachen, das unmöglich von einem Menschen stammen konnte. "Haab ich dich doch erledigt, du Ungezifer!" Vernahm sie einen unbändigen Triumphruf. "Die Kälte hat dich erledigt, wie?" Ich muß noch was erledigen. Aber dann fresse ich dich doch noch, trotz deines zähen Panzers!"

"Mach das", dachte Anthelia bei sich und lauschte. Sie konnte mit dem Gehör einer Spinne nicht genau einschätzen, wie weit der Drache entfernt war. Doch als sie eine weitere Weile gewartet hatte riskierte sie die Rückverwandlung. Aus der schwarzen Spinne wurde wieder Anthelia. Diese blickte sich sofort um, ob der Drache wieder angriff. Der würde ihre menschlichen Ausdünstungen doch sofort in die Nase Kriegen. Sie sah sich um und erkannte, daß sie einige Dutzend Kilometer vom Gigante Viejo entfernt war. Sie erkannte keinen weiteren Drachen am Himmel. Also glaubte dieser Werdrachen tatsächlich, daß sie tot oder zumindest kampfunfähig war. Außerdem hatte er noch einen Fehler begangen. Er war mit der Erde in Kontakt gekommen. Anthelia mußte schnell herausbekommen, ob ihr Plan aufging. Wenn nicht, mußte sie einstweilen das Feld räumen. Sie grinste, als sie dachte, daß eine Falle auch für den Fallensteller gefährlich werden konnte. Dann disapparierte sie.

Als die Welt erneut um sie herum Gestalt annahm stand sie genau im goldenen Kreis. Ihr mächtiger Illusionsverdrängungszauber hatte diesen Platz von allen magisch erzeugten Täuschungen freigemacht. Doch der Locattractus-Zauber wirkte noch. Jetzt hörte sie in der Ferne ein wütendes Gebrüll und wußte, daß der Drache Vientofrio gemerkt hatte, daß seine Gegnerin noch lebte. Doch das kümmerte Anthelia nicht. Er war so weit fort, daß sein Gebrüll eher wie eines der vielen Echos wirkte, die es erzeugte. Sie las ihren Beutel mit den verfluchten Wurfscheiben auf. Eigentlich brauchte sie die nicht mehr. Doch wußte sie, ob nicht noch ein paar Drachen in der Gegend waren? Erst einmal galt es, den Locattractus-Zauber zu zerstören. Da die ihn verhüllende Illusion nicht mehr bestand war es für Anthelia leicht, aus dem Kreis heraus in Richtung Gigante Viejo zu laufen. Als sie zwanzig Schritte getan hatte, drehte sie sich um und zielte mit ihrem nun wieder greif- und einsetzbaren Zauberstab auf den goldenen Kreis. Laut und eindringlich sang sie eine altaxarroi'sche Zauberformel, gegen die der von ihrer Tante Sardonia erlernte gleichartig wirkende Zauber verblaßte. Denn sie rief nicht einfach nur die betroffenen Erd- und Gesteinsmassen in Zauberstabausrichtung an, sondern bündelte die Kraft der Erde, ließ sie durch sich hindurchströmen und richtete sie auf den goldenen Kreis aus. Nach dem ersten Durchgang vibrierte die Erde ein wenig. Nach dem zweiten erzitterte sie schon merklich. nach dem dritten Mal wurde sie so stark erschüttert, daß Anthelia um ihr Gleichgewicht bangen mußte. Doch sie hielt sich auf den Beinen und sang die Formel noch mal aus. Da krachte es im Zentrum des goldenen Kreises. Eine Geröllfontäne schoß laut prasselnd in die Höhe. Gleichzeitig klaffte ein immer breiterer und immer längerer Spalt im felsigen Boden. Der Kreis wurde unterbrochen. Doch dabei blieb es nicht. Er wurde regelrecht von der herausbrechenden und aus mehreren Metern niedergehenden Gesteinsmassen zertrümmert. Dann klaffte der Erdspalt so weit auf, das er so breit wie der Durchmesser des Kreises war. Pfeifend, prasselnd und knallend fuhren weiße, blaue und silberne Blitze aus dem Spalt in den Himmel. Anthelia wußte, daß der Locattractus-Zauber sich nun restlos entladen hatte. Krachend und klatschend stürzte das aus dem Boden geschleuderte Gestein in die tife Spalte hinein. Anthelia sang noch einmal die alte Zauberformel. Dann rief sie eine neue auf, die den Prozeß stoppte und dann mit ebensolchen heftigen Erderschütterungen wieder umkehrte. Der Spalt schloß sich wieder. Doch der goldene Kreis war verschwunden. Jetzt konnte sich Anthelia wieder auf den Drachen besinnen. Sie sah sich um und erkannte, wie das Ungetüm gerade vom Gigante Viejo her auf sie zukam. Doch sein Flug war nicht mehr so majestätisch. Er schwankte in der Luft wie ein Schiff bei hohem Seegang.

Anthelia sah am Flug des Drachens, daß ihr Plan doch aufging. Das Ungeheuer mochte zwar erschöpft vom Kampf mit ihr sein. Doch ein Drache konnte dann immer noch sicher fliegen. Selbst ein Faß Schnaps konnte einen Drachen nicht so in der Luft torkeln lassen wie Vientofrio. Also hatte ihre kleine, heimliche Gabe ihren Weg gefunden und wirkte bereits. Das bewog Anthelia dazu, dem Drachen mit erleuchtetem Zauberstab zuzuwinken. Dann disapparierte sie und apparierte wie sie wünschte auf dem Gigante Viejo. Vientofrio flog wohl noch auf den zerstörten Bannkreis zu. Dann hörte Anthelia sein wütendes Gebrüll und eine mit Donnerwetterstimme klingende Verwünschung:

"Verdammt! Wie konntest du entkommen? Ich bring dich um!"

Anthelia wirkte den Sonorus-Zauber und rief zurück: "Ich stehe auf deinem kleinen Berg und warte, Vientofrio!"

"Ich habe genug Söhne und Töchter, die dich in Stücke reißen wollen!" Brülte der Drache zurück, der schon etwas näher klang. "Sie werden den Tod ihrer Mutter rächen."

"Nachdem sie gefressen haben, was von ihr übriggeblieben ist und dann meine kleine, hübsche Glücksmünze mit einverleiben. Warum fragst du dich nicht, wieso ich dich nicht damit vernichtet habe?"

"Weil ich dir überlegen bin", hörte Anthelia die Stimme des Drachens. Sie sah ihn, wie er immer weiter durch die Luft torkelte, als würde er jeden Moment abstürzen. Sie lachte, was vom Stimmverstärkerzauber zu einer weithallenden Entgegnung auf Vientofrios Behauptung wurde.

"Das habe ich gemerkt, wie überlegen du mir bist. Du hast das Drachenweib und seine Brut verloren, dir an mir fast die Zähne ausgebissen und es nicht geschafft, mich von dir runterzuwerfen oder mit deinem lächerlichen Feuer ein Haar zu versengen. Und das beste erzähle ich dir, wenn du bei mir gelandet bist."

"Das ist gleich. Und diesmal wirst du dich nicht mehr so schnell verwandeln. Als dreckiges Hexenweib kann ich dich sicher zu durchgebratenem Hackfleisch verarbeiten."

"Und einen Tag darauf keine Bewegung mehr ausführen, weil niemand mehr da ist, der dich von dieser unerträglichen Schwere befreit, die du ganz sicher gerade fühlst. Aber das sage ich dir gleich", erwiderte Anthelia und hielt sich bereit, notfalls wieder zur schwarzen Spinne zu werden. Doch der nun auf sie zuschlingernde Drache konnte schon keinen gezielten Angriff mehr ansetzen. Außerdem konnte sie nun beliebig apparieren. Und das wußte Vientofrio auch.

Der Drache glitt herab. Keine zehn Meter über Anthelia riß er sein Maul auf. Sie disapparierte sogleich. Der Flammenstrahl aus dem Drachenmaul schmolz den Schnee und brachte den darunterliegenden Boden zum glühen. Anthelia stand schon längst woanders.

"Verfluchtes Weib. Ich kriege dich doch!" Brüllte der Drache. Doch Anthelia rief zurück, daß er besser landen und sich anhören sollte, was sie von ihm wollte. Vientofrio stürzte sich in die Tiefe und raste der Quelle der Antwort zu.

Anthelia setzte die Taktik fort, dem Drachen durch schnelle Apparitionen zu entwischen, sobald er Feuer speien wollte. Vientofrio wunderte sich, warum er so langsam und träge reagierte, daß sie immer dann verschwinden konnte, wenn er gerade seine schlimmste Waffe einsetzen wollte. Irgendwas stimmte nicht mit ihm. Hatte ihn das Zwicken und Brennen im Hals nicht verraten, daß ihn dieses Spinnenmonster gebissen hatte. Doch das Gift konnte ihn unmöglich so heftig betreffen. Er schlingerte, sackte durch und bekam immer wieder Schlagseite, während das Katz-und-Maus-Spiel mit der Fremden weiterging. Es kostete ihn zu viel Kraft, sie immer wieder neu anzufliegen. Er mußte ihr hinterherapparieren und sie mit dem Todesfluch erledigen. Dann war seine Rache auch erfüllt, obwohl er sie am liebsten verschlungen und fein verdaut als einen großen Haufen in die Landschaft geklatscht hätte. Minuten wurden zu einer halben Stunde, dann zu einer ganzen. Irgendwann war Vientofrios sonst so große Ausdauer erschöpft. Irgendwas an oder in ihm zehrte ihn aus, machte ihn träge und schwer. Er mußte landen, wollte er nicht mit lahmen Flügeln in die Tiefe stürzen. Selbst ein Viperzahn konnte bei einem Sturz aus großer Höhe zerschmettert werden. Er versuchte, seine vier anderen Söhne zu rufen. Doch die wohnten hundert Kilometer weit fort, und seine Stimme war nicht mehr kräftig genug für den Ruf. Nur wenn er sein goldenes Horn blies konnte er alle Viperzähne der Umgebung herbeirufen. Doch es würde Stunden dauern, bis diese da wären. Und dieses Weib hatte mit einem Erdverschiebungszauber seinen Locattractus-Zauber zerstört und konnte jederzeit disapparieren. Sie hatte ihm gesagt, er müsse sterben, wenn er sie umbrachte oder sie nicht anhörte. Vielleicht stimmte es, und dieses Spinnenweib hatte ihm heimlich etwas untergejubelt, was ihn langsam aber sicher umbrachte, ob als Drache oder als Mensch. Es war besser, wenn er das klärte, bevor er den Todesfluch versuchte. So flog er schwerfällig zum Gigante Viejo zurück, wo die Fremde gerade auf der vom Schnee befreiten Stelle stand und ihm zuwinkte. Er landete fünfzig Meter von ihr entfernt. Dann dachte er daran, wieder ein Mensch zu werden, rief sich alle schönen Tage seines rein menschlichen Daseins ins Bewußtsein und fühlte, wie er seine frühere Erscheinungsform zurückgewann.

Anthelia hatte es zwar erwartet. Doch es zu sehen, wie aus dem kupferfarbenen Drachen immer mehr ein Mensch wurde war schon beeindruckend. Erst schrumpfte er ein. Dann bekam er mehr und mehr menschliche Züge. Das Drachenmaul formte sich zu einem Gesicht um. Die Schuppen zogen sich in die Haut zurück. Er stieß Laute zwischen Lust und Qual aus. Der lange, mächtige Schwanz und die Flügel verschwanden im Körper des Wandlers. Er richtete sich auf und stand auf den Hinterbeinen, die immer mehr menschlichen Beinen ähnelten. Die Krallen schrumpften zu gewöhnlichen Fingernägeln. Nun entstand um den Körper Kleidung aus dem Nichts heraus. Aus dem Kopf sprossen hellgraue Haare. Die Drachenaugen schrumpften, blieben jedoch gelb und wirkten wie die eines Greifvogels. Dann gab es noch mal einen Ruck, der den Drachenmann restlos zum Menschen werden ließ. Vor Anthelia stand nun ein kleiner, gedrungener Mann in einem blaßroten Umhang. Seine gelben Augen und die geierschnabelartige Nase deuteten jedoch darauf hin, daß in ihm etwas sehr gefährliches schlummerte. Erst staksend, dann immer sicherer, kam Vientofrio auf Anthelia zu. Er fischte in seinen Umhang und wollte einen Zauberstab herausziehen. "Keine gute Idee, Señor Vientofrio!" Rief Anthelia, die ihren Zauberstab schon längst in der Hand hatte. Der Drachenmann sah die Spinnenfrau verächtlich an, ließ aber den Zauberstab im Umhang. Er kam näher und sah Anthelia an. Diese musterte den kleinen Peruaner ebenso prüfend, wobei sie daran dachte, ob dieser Mann da ein brauchbarer Liebhaber sein mochte. Doch wenn der als Mensch herumlief, war er nicht besonders vielversprechend. Träfe sie ihn und wüßte nicht, daß er zu einem Drachen werden konnte, hätte sie ihn wohl nur umworben, wenn es ihr egal war, wen sie sich auf das Lager holte. Im Moment aber war ihr eher nach einer anderen heißen Freude.

"Was hast du mir eingeflößt, du Biest? Wer bist du eigentlich?"

"Das hast du gesehen, wer ich bin. Ich bin die schwarze Spinne, die Erbin des alten und erhabenen Reiches, das vor zehntausend Jahren in den Fluten des Ozeans versank. Nenne mich Goorammaya Naaneavargia", stellte sich Anthelia vor. Warum nicht den Namen benutzen, dem sie ihr weiteres Leben zu verdanken hatte? Denn sie log ja nicht.

"Atlantis?" Fragte der Drachenmann. "Du bist eine der alten Magierinnen? Das kann nicht sein. Die von der Insel runterkamen starben aus. Nur wenige ihrer Nachfahren konnten ein wenig ihres alten Wissens bewahren."

"Das hast du gesehen, daß ich das sehr wohl kann und selbst deiner Drachengestalt gewachsen bin. Mehr noch, dadurch, daß du meintest, mich einfach so verschlingen zu können, hast du mir eine geniale Möglichkeit gegeben, dir den Stein des Rückrufes in deinen Leib zu legen. Ich konnte es deinem Flug und deiner Langsamkeit ansehen, daß er bereits seine Wirkung zeigt. So gehörst du nun der großen Mutter, der Erde und kannst dich nicht von ihr zu weit entfernen, ohne Kräfte zu verlieren. Doch wenn du nicht tust, was ich von dir erwarte, wirst du in einem einzigen Tag eins mit dem Gestein, auf dem du dich gerade befindest. Denn der Stein des Rückrufes schwillt an, wenn er mit Verdauungssäften in Berührung kommt. Du kannst ihn weder auswürgen noch durch den Enddarm ausscheiden. Er wird dich einen Tag lang begleiten und dich dann mit dem Gestein verschmelzen, das gerade unter deinen Füßen ruht. Versuchst du, diesen Zeitpunkt im Flug zu überstehen, wird er dir den Rest an Körperkraft rauben und dich zu Boden stürzen lassen. Nur ich, die ihn auf dich geprägt habe, kann seine Macht widerrufen. Denn nur ich kenne die magischen Worte. Und nur wenn diese von meiner Stimme ausgerufen werden, erlischt die Macht des Steines."

"Du bluffst, du halbasiatisches Weib. Dein ganzes Geschwätz ist nur ein Bluff", schnarrte Vientofrio. Anthelia lächelte.

"Gut, wenn du in zwei Tagen noch immer frei herumlaufen kannst weißt du es. Aber ich denke eher, der alte Riese wird dann eher von einer besonders schönen, mit seinen Felsen verwachsenen Statue geschmückt, die entweder einen großen drachen oder einen kleinen, armseligen Kerl mit Raubvogelgesicht darstellt."

"So, und warum meinst du, mir derartig drohen zu dürfen. Was willst du überhaupt von mir?"

"Das gleiche, was der Waisenknabe Riddle von dir bekommen hat, und was du ihm wieder weggenommen hast, das Schwert des großen Yanxothar. Du hast es, ich will es. So einfach ist es. Erhalte ich es nicht, gehörst du der großen Mutter Erde und verwächst mit ihrer Haut. Erlange ich es, spreche ich dich von dem Zauber los und schenke dir dein Leben. Da ich denke, daß du das Schwert in einem Feuerberg versteckt hast wirst du es von dort holen und mir überlassen. Behalten wirst du es jedenfalls nicht. Denn bringst du es mir nicht, wirst du deine armselige Existenz der großen, alle und alles gebärenden Mutter zurückgeben, und dein inneres Selbst wird auf ewig im Gestein gefangenbleiben. Du wirst bald erkennen, daß ich nicht bluffe. In einem halben Tag werde ich hierher zurückkehren und wissen, ob du das Schwert für mich geholt hast oder nicht. Bis dahin gehabe dich wohl, Diego Vientofrio, Meister der peruanischen Feuerdrachen!" Anthelia verneigte sich kurz und disapparierte, ohne eine Antwort Vientofrios abzuwarten. Dieser schleuderte vor Wut einen Todesfluch an die Stelle, wo Anthelia gestanden hatte. Doch wo sie war wußte er nicht. Ob das mit dem Stein stimmte wußte er auch nicht. Falls doch, dann konnte er den doch ganz einfach loswerden, indem er sich den Finger in den Hals steckte und damit den Brechreiz auslöste.

Als er dieses versuchte glaubte er, ersticken zu müssen. Denn etwas großes klemmte ihn für einige Sekunden die Luft ab, bis er es mühsam wieder hinunterschluckte. Er hörte es förmlich in seinem Magen landen und fühlte etwas von innen gegen die Bauchdecke prallen. Er versuchte noch einmal, als Drache zu fliegen und möglicherweise den Fremdkörper loszuwerden. Doch es gelang nicht. Zwar gelang die Verwandlung. Doch als er mehr als eine Minute im freien Flug unterwegs war, fühlte er diese unglaubliche Trägheit wiederkehren. Trotz der starken, magischen Konstitution eines Drachens sog ihm irgendwas kraft aus dem Körper. Als er dann wieder gelandet war, fühlte er es so schwer in seinem Bauch, als habe er mehrere große Ziegelsteine verschluckt. Er konnte sich zwar noch gut bewegen, fühlte dabei aber, daß er bei jedem Schritt ein leichtes Übergewicht nach vorne bekam. Sowas ähnliches hatte seine Gefährtin in der Drachenwelt immer gefühlt, wenn sie kurz vor der Eiablage gestanden hatte. Seine Gefährtin, seine Frau. Von ihr und den gemeinsamen Kindern waren nur noch harte, zähe Hüllen übrig. Er sah die fehlgegangenen Münzen. Er wußte, wie sie bezaubert waren. Denn er hatte es gehört, daß eine Hexe damit mehrere Drachen in Europa getötet hatte. Hatte die, die sich Goorammaya Naaneavargia genannt hatte, dieses Wissen von jener Hexe oder jener Hexe dieses Wissen vermittelt? Letzthin war es völlig egal, weil seine halbe Familie tot war, ausgelöscht in wenigen Minuten, von einem Weib, daß wie er zu einer Bestie werden konnte. Er fühlte noch die Schmerzen in den Kiefern. Er hatte sie nicht zermalmen können. Und sie wollte das Schwert. Sie wußte, daß er es hatte und nur er es dort fortholen konnte wo es versteckt war. Das mit dem Stein in seinem Bauch stimmte. Daß er nicht weit und lange von der Erde fort konnte leider auch. Doch er wußte auch, daß dem Schwert etwas innewohnte. Er hatte es gefühlt, als er es Voldemort weggenommen hatte. Irgendwas oder irgendwer war mit dem Schwert verbunden. Was war, wenn dieses Etwas wütend war, daß er, Vientofrio, das Schwert seinem Besitzer weggenommen hatte? Doch was passierte, wenn es kein Bluff war und er versteinerte? 107 Jahre war er alt geworden und war schon einmal dem Tod begegnet. Genau deshalb hatte ihm dieses verboten schöne Weib ihm diesen Stein eingebrockt, weil er es gewagt hatte, einen Drachen mit sich zu verschmelzen. Aber welchen Wert hatte dieses Leben für ihn noch, wenn er keine Gefährtin, keine in der Nähe lebende Familie hatte. Der Locattractus-Zauber war zerstört. Wenn diese Hexe es rumerzählte, daß ein schwerer Erdbeben- oder Erdverschiebungszauber den geknackt hatte, würden bald wieder die Drachenjäger zum Gigante Viejo kommen. Da konnte er sich wohl keine Gefährtin mehr erkämpfen.

Dieses Weib hatte ihn nicht aufgefordert, ihr zu zeigen oder zu verraten, wo das Schwert war. Er sollte es ihr holen und ihr hier aushändigen. Dann dachte er an Freunde von ihm, die den dunklen Künsten verbunden waren. Die hatte er zwar seit mehr als sieben Jahren nicht mehr getroffen, seitdem sie wußten, welches Leben er führte. Doch womöglich konnten sie ihm helfen, den verfluchten Stein aus seinen Leib zu holen.

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Die "Golden Hope" lief mit voller Kraft voraus über die aufgewühlte Dünung der karibischen See. Clifford Braxton blickte auf die Anzeige des satellitengestützten Navigationssystems. Gerade waren sie in die von ihm vorgemerkte Zone eingedrungen, in der die "Lady Amber" mit großer Wahrscheinlichkeit gesunken war. In den letzten Tagen und Wochen hatte er immer wieder überlegt, ob er der richtigen Spur nachging. Das mit Blackbeards Kindheit hatte er als Ausrede benutzt, um vom wahren Motiv seiner Fahrt abzulenken. Denn ihm ging es wahrhaftig um die Ladung der "Lady Amber". Eine ihm vor einem Jahr in die Hände geratene Handschrift eines Piraten namens Jack Blond hatte ihm verraten, daß dessen Kapitän, den er als "Sohn der Hölle" bezeichnet hatte, die Ladung nicht an sich bringen konnte. Es sei vielmehr so gewesen, daß die "Lady Amber" durch die Lecks und einen plötzlichen Wassereinbruch versunken war, noch ehe die Seeräuber alles wertvolle herausholen konnten. Dabei sollte ein gewisser Willy Oneear mit dem Schiff untergegangen sein. Natürlich hatte es dann geheißen, das Schiff oder dessen Ladung sei verflucht. Im Zusammenspiel mit einem Piraten, der angeblich seine Haare flambieren konnte, ohne sich den Skalp vom Kopf zu brennen, war das eine grandiose Behauptung. Ein anderes Manuskript aus dem Jahre 1690 von einem Diener namens Hoskins behauptete, es habe bei den Teachs einen besonderen Krug gegeben, der immer mit klarem Wasser gefüllt war, das jedoch niemand trinken durfte. Dieser Krug sollte die Fracht der "Lady Amber" sein. Außer seinen beiden Verwandten und höchsten Vertrauten wußte niemand von dieser Handschrift. Aber wie waren dann die Presseleute darauf gekommen, daß er diesem angeblich verfluchten Schatz nachjagte? Zumindest wurden sie nicht verfolgt. Zwar tauchten immer wieder Schiffe auf dem Radar auf und näherten sich manchmal bis auf vier Seemeilen. Doch Braxton hatte sie gut auf Abstand gehalten. Was ihn Sorgen machte waren mögliche Spionagesatelliten, die seine "Golden Hope" ausmachen und an ihre Bodenstationen weitermelden mochten. Solange man ihn für einen ruhmsüchtigen Spinner hielt, der nur nach irgendwelchen Informationen suchte, würde ihn keiner behelligen. Aber wehe, wenn herauskam, daß er doch einem Schatz nachjagte!

"Was sagt das TPS?" Wollte Clifford von seinem Schwager wissen, der vor der farbigen Anzeige eines speziellen Echolotes saß.

"Was schon: Ping-ping-ping, Cliff", erwiderte Myron McKartney. Die Antwort bekam Clifford immer von Myron. Das war schon eine Art Dauerwitz zwischen den beiden. Dabei waren die Schallimpulse des Tripulssonars überhaupt nicht zu hören, höchstens für Meeressäuger und ultraschallempfindliche Fische. Drei scharf gebündelte Ultraschallimpulse auf unterschiedlicher Frequenz wurden zeitversetzt so abgestrahlt, daß sie ein gleichseitiges Dreieck aus drei sich berührenden Kreisen nachzeichneten. Die zurückkehrenden Echos wurden von einem kleinen Computer in dreidimensionale Bilder umgerechnet. Durch die Überschneidung der Ausfallswinkel der zurückgeworfenen Impulse konnten räumliche Darstellungen in weniger als zwei Sekunden errechnet werden, die auf zehn Zentimeter genau die Beschaffenheit des Meeresbodens wiedergaben. Cliffords Studienfreund Victor Childers hatte dieses neue Präzisionsecholot erfunden und patentieren lassen. Allerdings mochte es wegen der aufwändigen Ausrichtung und Berechnungssoftware noch Jahre dauern, bis es serienmäßig auf Marine- und Forschungsschiffen oder in den Praxen von Internisten und Gynäkologen zur Anwendung kommen mochte. Allerdings müßte für die darauf hoffenden Fachärzte wohl noch ein großer Schritt zur Miniaturisierung vollzogen werden.

"Es dauert wohl noch zwei Wochen, bis wir das Gebiet komplett abgetastet haben, Myron. Hoffentlich kommt uns kein anderer zuvor."

"Vor allem dürfen wir in keine Hoheitsgewässer reinrutschen, Cliff. Sonst könnte doch wer finden, wir hätten nähere Angaben zu unserer kleinen Kreuzfahrt zu machen", grummelte Myron und blickte auf die Anzeige des Tripulssonars. Clifford nickte und warf noch einmal einen Blick auf die Koordinaten. Dann tippte er in den Steuerautomaten einen anderen Kurs ein. Der eingeschaltete Autopilot übernahm die neuen Werte und legte das Ruder entsprechend um. Die "Golden Hope" drehte nach Backbord auf Kurs 254. Myron drückte die Vormeldetaste auf dem TPS-Gerät, damit dieses bei nicht natürlichen Formationen Alarm gab. Er wollte nicht dauernd auf die Flüssigkristallanzeige starren, auch wenn die Überquerung des mittelatlantischen Rückens eine faszinierende Gebirgslandschaft gezeigt hatte. Abgesehen davon lief eine gewaltige, vor große Auslenkungen und Erschütterungen geschützte Festplatte mit, die alle TPS-Daten speicherte. Unter Umständen konnten diese Daten irgendwann mal wichtig werden.

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Diego Vientofrio lag auf einem hölzernen Tisch auf mehreren Lagen weißer Tücher. Anastasio Rioverde, ein Freund, der sich auf die Körperkunde bei Menschen und Tieren verstand wie sonst nur ein Heiler oder Zaubertierexperte, prüfte mit einer Nadel, ob Vientofrio wahrhaftig keine Schmerzen mehr empfand. Der Drachenmann hatte sich dagegen ausgesprochen, einen Betäubungstrank einzunehmen, der ihn völlig bewußtlos werden ließ. So hatte es ein starkes Schmerzmittel sein müssen. Anastasio blickte den bloßgelegten Bauch des Drachenmannes an und führte einige Zauber darüber aus. "Du hattest echt recht, Diego. In deinem Ranzen kullert was großes, hartes herum. Das weder durch den Darmeingang paßt noch auf dem umgekehrten Weg rauskommt. Das muß unbedingt raus. Jetzt gut stillhalten." Vientofrio schloß die Augen. Er hörte nur die leise gemurmelten Zauberwörter "Obducio Abdominem!" und fühlte ein leichtes Kribbeln, während er meinte, etwas leise ratschendes zu hören. Doch er wollte es nicht mit ansehen. Sonst hätte er sich wieder bewegt. Er hörte ein leises Spritzen und schmatzen. Dann, nach zehn Sekunden, vernahm er die Zauberworte "Fugite Germines" und "Claudetur Abdomen". Dann hörte er nichts mehr von seinem Freund. Eine Minute verging. Dann noch eine Minute. Diego öffnete die Augen und sah sich um. Er fühlte sich ein wenig Matt, und die Tischtücher waren mit Blut durchtränkt. Dann sah er seinen Freund, der starr auf der Stelle stand, seine ganze Kleidung wie eingefroren, Gesicht und Körper grau wie Fels. In der linken Hand hielt er einen großen, runden gegenstand, der scheinbar fest mit seiner Hand verwachsen war. Da ahnte Vientofrio, was passiert war. Der Fluch des Steines hatte seinen Freund erwischt und ihn mit sich und dem Felsen unterhalb des kleinen Hauses im Urwald von Peru vereint. Vientofrio blickte erschrocken auf seine Bauchdecke. Sie war geschlossen aber noch nicht vom ausgetretenen Blut gereinigt. Er stand auf und wankte zu seinen abgelegten Sachen. Mit seinem Zauberstab sprühte er sich solange mit wasser ab, bis er sicher war, daß er wieder sauber genug für die Außenwelt war. Er zog sich an und sah noch einmal auf seinen versteinerten Freund. Vielleicht war er mit Alraunentrank wiederzubeleben. Doch das konnte dann jemand anderes tun. Er, Vientofrio, hatte was er wollte. Besser, er hatte nicht mehr, was er loswerden wollte. Er ging zur Tür und verließ den Arbeitsraum seines Freundes. Er durchwanderte das Haus und verließ es. Draußen blickte er sich noch einmal um. Dann disapparierte er.

Er erreichte seinen Heimatberg und lachte überlegen. Doch da fühlte er, wie etwas schweres in seinem Magen verrutschte und hörte eine innere Stimme: "Du gehörst mir, Vientofrio. Der Frevler wurde bestraft, und deine Zeit verrinnt." Der Drachenmann wollte es nicht glauben. Doch als er in Drachengestalt wieder einige Minuten geflogen war, schwanden seine Kräfte. Der verfluchte Stein war wieder in ihn zurückgekehrt, offenbar, als er disappariert war. So wurde er ihn also nicht los. Er fühlte, wie er immer schwächer wurde und landete. Sofort ging es ihm wieder besser. Er wurde den Stein nicht los, und er hatte mit ansehen müssen, wie dessen gewaltsame Entnahme den mit dem Fluch erwischt hatte, der ihn in nicht einmal vierzehn Stunden treffen sollte. Er fragte sich, ob ihm Alraunentrank helfen konnte. Doch dann wurde ihm bewußt, daß er mit diesem überschweren Brocken im Magen verwachsen würde. Nur Menschen, auf die durch einen Trank oder durch einen Zauber von außen ein Fluch gelegt wurde, konnten durch den Alraunentrank wiederbelebt werden. Was mit einem von innen her dauerhaft wirksamen Artefakt war, wußte keiner. Er war ausgeliefert. Dieses Weib Goorammaya Naaneavargia hatte ihn in der Hand. Er fühlte den Haß und die Angst im gleichen Maße aufsteigen. Er wollte doch noch nicht sterben. Drachen konnten Jahrhunderte alt werden. Sie waren mächtig und überlegen. Das konnte und durfte doch nicht alles von diesem einen Stein zerstört werden. Dann dachte er wieder an das Schwert. Wenn dem wirklich etwas lebendiges innewohnte, dann konnte er es vielleicht nicht bergen. Und wenn er es konnte, dann konnte dieses Hexenweib es vielleicht nicht gebrauchen oder wurde von dem Etwas im Schwert grausam bestraft, weil sie seinen Erlanger gezwungen hatte, es ihr zu beschaffen. Was hatte sie ihm prophezeit? Er werde es so oder so nicht behalten. Nun, dann wollte er es ihr geben und zusehen, ob es sie tötete.

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Er mußte bis an den Krater apparieren. Denn sonst hätte ihn diese dunkle Kraft wieder gelähmt und vom Himmel fallen lassen. Er dachte daran, daß Lava eine Ausprägung der Elemente Erde und Feuer zugleich war. Würde er sich in Drachengestalt sicher im Vulkanschlot bewegen können ohne zu versinken? Er kniete vor dem gewaltigen Schlot nieder, aus dessen Tiefe es blubberte, brodelte, zischte und fauchte. Er dachte einige Sekunden an die Feuergötttin Pele, in deren Obhut er vor bald zweieinhalb Jahren dieses Feuerschwert gelegt hatte und daß Voldemort damit Vulkane hatte ausbrechen und Drachen seine Befehle ausführen lassen. Wenn die Fremde, die ihn verflucht hatte die Macht über das Schwert besaß, die Voldemort besessen hatte, konnte sie womöglich ihn und jeden anderen Drachen unterwerfen. Ihn wohl eher nicht, weil er sich schon einmal gegen die Kraft des Schwertes hatte stemmen können. Doch wenn sie in ihrer Gier nach der Waffe versäumt hatte, sich darüber schlau zu machen, würde sie der Macht des Schwertes unterliegen und dann erledigt sein. So trat er in die Verwandlung zu einem peruanischen Viperzahn ein. Er wuchs an, bekam Schuppen, Flügel und Schweif. Als er seine Endform erreicht hatte, brüllte er laut in den von vulkanischem Rauch und Dampf getrübten Himmel hinauf. Dann holte er so tief Luft, wie er konnte und warf sich kopfüber hinein in die höllisch heiße, brodelnde Glut. Glühende Tropfen sprühten um ihn herum auf, als er mit eigener Kraft so gut es ging in die rotglühende Tiefe tauchte.

Die Wände hatten sich leicht verändert. Die Lava hatte sich an einigen Stellen angesetzt und war an einer anderen Stelle abgeschmolzen. Offenbar passierte es im Minutentakt. Laut rumorend stieg eine Gasblase an Vientofrio vorbei und zerplatzte an der Oberfläche des Lavasees mit dumfem Knall. Überhaupt war dieser unwirtliche Ort erfüllt von dumpfem Rumoren, Gluckern und Rumpeln.

Er sah das Schwert aus der glutroten Wand ragen. Es sah noch genauso aus wie er es hier zurückgelassen hatte. Womöglich war es in noch heißerem Feuer geschmiedet worden oder bestand selbst aus gefrorenem Feuer. Er kannte Feuereis. Doch das hielt hohen Lufttemperaturen nicht lange Stand und verlor seine Haltbarkeit in der Nähe starker Zauber. Also konnte das Schwert nicht aus diesem Stoff bestehen. Es machte jedoch einen erhabenen Eindruck auf ihn, die Waffe eines überirdischen Helden. Er kannte die alten Geschichten von den Engeln mit den Flammenschwertern, die nach der Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies dessen Eingänge bewachten. Konnte es sein, daß dieses Schwert den Aufhänger für diese und andere Geschichten mit Feuer und Flammenschwertern geliefert hatte? Egal! Er mußte jetzt das Schwert aus der Wand ziehen und zum Gigante Viejo zurück. Er tauchte auf das Schwert zu und packte den für ihn winzig wirkenden Griff mit seinen Vorderzähnen. Da fühlte er, wie sich im Schwertgriff etwas regte, nach ihm tastete und ihn dann unvermittelt fortriß, hinein in einen golden leuchtenden Schacht.

Als Vientofrio sich nach rasendem Flug in einer weiten, orangeroten Halle wiederfand, hörte er ein schallendes Lachen. "Ich war mir sicher, daß du tolldreister Mischling es wagen würdest, mich noch einmal zu ergreifen", sprach eine Stimme. Vientofrio erkannte, daß er sich verwandelt hatte. Er war zu einer rot leuchtenden Erscheinung geworden, deren Unterleib der eines Drachen mit Hintertatzen und Schwanz war und dessen Oberkörper der eines Mannes war. Und jetzt erkannte er vor sich einen riesigen Mann, der aus leuchtendem Gold zu bestehen schien. Er wirkte hager und machte ein sehr fröhliches Gesicht. Beide schwebten aufeinander zu.

"Wer bist du?" Fragte Vientofrio.

"Der Hüter des Schwertes und Meister aller Feuer und Feuerwesen", antwortete der Riese. Dann sah er Vientofrio an und lächelte: "Ich weiß, daß du das Schwert nicht für dich willst und ich bin neugierig, wer sich hinter der Fremden verbirgt, die eine schwarze Spinne sein kann und sich Naaneavargia nennt. Denn ich kannte eine, die so hieß. Doch die schläft in der Festung meines alten Kampfgefährten und behütet sein Vermächtnis. So bring ihr das Schwert, auf daß ich sie prüfen kann. Ist sie es und schafft es nicht, die Prüfung zu bestehen, so werde ich wohl das letzte Opfer des finsteren Fürsten erlösen können. Bring ihr mein Schwert!" Der Befehl halte als ständiges Echo wider, während Vientofrio von einem gewaltigen Sog ergriffen und davongerissen wurde, zurück durch den goldenen Schacht. Als er wieder bei Sinnen war hielt er den Schwertgriff zwischen den Vorderzähnen seines Drachenmauls. Er zog daran und löste die Klinge aus der weichen Wand. Er ruderte mit seinen Beinen und dem kräftigen Schwanz gegen die sirupartige Glut an. Doch weil er leichter war als die von ihm verdrängte Lava besaß er einen guten Auftrieb. Mit dem Schwert zwischen den Zähnen durchbrach er die feurige Oberfläche und entstieg ihr, von blauen und roten Flämmchen umzüngelt, mit weit ausschwingenden Flügeln. Womöglich würde dieser verfluchte Stein in seinem Leib ihn wieder peinigen. Doch er flog über den Kraterrand, segelte einige Dutzend Meter in die Tiefe und landete auf einem Plateau. Dort schüttelte er die flüssige Lava von sich wie ein Hund das Regenwasser. Er brauchte einige Zeit, bis er jedes Bröckchen des vulkanischen Inneren von seinem Drachenkörper abbekommen hatte. Dann besah er sich das Schwert. Es glühte nicht, obwohl es doch eben noch in der Glut gesteckt hatte. Es schimmerte jedoch auch nicht so, wie er es in Voldemorts Händen gesehen hatte. ein schwarzer Überzug aus schlagartig erstarrter Lava haftete ihm an. Vientofrio wußte, daß seine Auftraggeberin wider seinen Willen das Schwert nicht als solches anerkennen würde, wenn er es nicht von der Lava freibekam. So legte er das Schwert vor sich auf den Boden und holte tief Atem. Laut fauchend blies er aus nächster Nähe seinen Feuerstrahl gegen die Klinge. Der schwarze Überzug qualmte. Dann glühte er rot auf und lief in einem kleinen Rinnsal ab. Der Drache sah, wie auch der Boden rot glühte und war stolz auf seine heiße Flamme. Wie gerne würde er dieses Weib damit einäschern, bevor es sich in eine Spinne verwandeln konnte?

Um auch die andere Seite vom schwarzen Belag zu befreien drehte er das Schwert um und blies ihm erneut aus nächster Nähe Feuer dagegen. Auch dieser Überzug löste sich und rann davon. Der Drachenmann wartete, bis er sicher war, daß das Schwert nun normale Temperatur hatte. Er verwandelte sich in seine menschliche Erscheinungsform zurück. Jetzt war das Schwert für ihn so lang wie sein Arm. Er nahm es in die linke Hand und fühlte das sachte Pulsieren. Der Wächter des Schwertes lauerte. Und er würde es derjenigen Bringen, die ihn dazu gezwungen hatte, es aus dem Krater zu holen. Einen Moment dachte er daran, daß Voldemort ihn womöglich auch hätte zwingen können. doch entweder hatte der damals andere Sorgen gehabt oder hatte nicht die Macht, ihm zu widerstehen und ihn obendrein mit einem verheerenden Fluch zu belegen. So nahm er das Schwert und disapparierte.

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Anthelia apparierte eine halbe Stunde nach Vientofrios Rückkehr auf dem Gigante Viejo. Sie wirkte entschlossen, wenn auch nicht so selbstsicher wie vorher. Vientofrio zeigte auf das Schwert, daß ein lauernder Drache zwischen den Zähnen hielt. "Wenn du das haben willst mußt du mir vorher diesen verfluchten Stein rausnehmen", kam er gleich auf den Punkt.

"Ich werde dich erst davon freisprechen, wenn ich das Schwert für mich gewonnen habe, Diego", erwiderte Anthelia. "Und falls du bluffst, bleibt das echte Schwert eben wo es ist."

"Das ist das echte Schwert, du elende Hure. Ich habe es aus einem Vulkan geholt, in dem ich es versteckt habe. Kennst du das echte Schwert überhaupt?"

"Ja, ich kenne es gut. Denn ich habe es zweimal gesehen. Einmal in meiner Heimat Altaxarroi, das ihr heute Atlantis nennt, und in den Erinnerungen einer Hexe, die mir zur Freiheit verholfen hat", erwiderte Anthelia, nun ganz in der Rolle der Naaneavargia. "Aber der wahre Echtheitsbeweis ist nur dem vergönnt, der es wagt, es in die Hände zu nehmen." Vientofrio stutzte. Dann forderte er wieder, daß sie ihn von diesem Stein lossprechen solle.

"Ich spreche dich erst von ihm los, wenn ich diese Probe gemacht habe", widersprach Anthelia. "Ich muß das Schwert jetzt noch nicht haben. Ich kann auf deinen Tod warten und deinem Gesellen da das Schwert fortnehmen. Und den Zauberstab läßt du besser wo er ist!" Den letzten Satz hatte sie unmißverständlich laut ausgesprochen. Vientofrio sprang auf sie zu. Da flog ihm von zwei Seiten Geröll an den Kopf. Er stolperte und schlug hin.

"Ich kann und ich werde dem Stein in deinem Wanst befehlen, dein Ende zu beschleunigen, wenn du noch einmal versuchst, mich anzugreifen. Ein Wort genügt."

"Blas sie um!" Rief Vientofrio. Anthelia verstand, daß damit der Drache gemeint war und schleuderte ihm einen Eisball entgegen. Der Drache ließ das Schwert aus dem Maul fallen und sperrte den Rachen so weit auf er konnte. Anthelia Disapparierte in dem Moment. Laut fauchend schlug der Flammenstrahl gegen den weißen Schnee, der zu wehenden Dampfwolken verging. Anthelia stand nun fünfhundert Meter weiter fort und rief Vientofrio ein magisches Wort zu, das dieser noch nie gehört hatte. Da war ihm, als hielten ihn starke Hände an den Füßen fest. Gleichzeitig wurden seine Beine steif. Er blickte an sich hinunter. Seine Beine wurden von einer grauen Schicht überzogen, die langsam von unten nach oben wuchs. Er fühlte ein Pulsieren in seiner Magengrube. Es schmerzte sehr. Er erkannte, daß der Umwandlungsprozeß im Gang war. Er rief Anthelia zu, er wolle ihr das Schwert lassen.

"Dann schick deinen feuerspeienden Schoßhund ganz weit weg, Diego!" Rief die Führerin des Spinnenordens. Vientofrio sah den Drachen an, der aufgeflogen war und rief ihm zu, in seine Höhle zurückzufliegen. Da hörte er ein anderes Zauberwort von der ihm wohl überlegenen Hexe. Der Versteinerungsvorgang kehrte sich um. Vientofrio kam frei. Er stakste auf das am Boden liegende Schwert zu und sah zu Anthelia, die erst den Abflug des Drachens beobachtete, bevor sie durch Kurzstreckenapparition zu ihm zurückkehrte. Resignierend hielt er ihr den Griff des rotgolden schimmernden Schwertes entgegen. Wenn dem Wächter nicht gefiel, wer es nahm, würde er wohl gerade noch sieben Stunden länger leben als die Hexe.

Anthelia/Naaneavargia wußte zu gut, was ihr jetzt bevorstand. Sie konnte die Schwertseele nicht erspüren wie ihren eigenen Bruder. Aber sie fühlte das Lauern Vientofrios, das mit einer gewissen Hoffnungslosigkeit gepaart war. Offenbar hatten Yanxothar und Vientofrio abgemacht, daß der Drachenmann der Spinnenfrau das Schwert gab, damit der Feuermagier und die Schwester Ailanorars miteinander in Kontakt treten konnten. Jetzt war es soweit. Sie ergriff das Schwert fest mit beiden Händen. Vientofrio ließ von der Klinge ab und starrte auf die Hexe. Noch passierte nichts. Dann erstarrte sie, als sei sie selbst versteinert. Um sie herum flimmerte die Luft. Vientofrio schloß mit seinem Leben ab. Gleich würde dieses Weib wie eine Fackel verbrennen, dachte er.

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Anthelia meinte, durch einen goldenen Schacht zu stürzen. Als dieser zu ende war trieb sie in einer riesenhaften, orangeroten Sphäre, die bestimmt zweihundert Altaxarroinlängen entsprach. Sie fühlte keine weitere Geschwindigkeit. Sie wußte, sie war in der Seelensphäre, in der Yanxothar sein Selbst eingebettet hatte. Sie rief laut: "Yanxothar, ich bin da!"

Ein leises, unverständliches Murmeln drang aus der Ferne an ihre Ohren. Anthelia stellte fest, daß sie völlig nackt war. Doch ihr Körper war der aus der Vereinigung hervorgegangene. Dann sah sie den goldenen Risen, mindestens vier Längen hoch, der mit einem leichten Grinsen auf die Herausforderin herabblickte.

"Ich wollte es diesem niederen Wicht nicht glauben, als er mit den Erinnerungen an dich zu mir kam. Doch ich muß erkennen, daß du wahrlich freigekommen und sogar erstarkt bist, Naaneavargia. So hat dich jemand aus dem Kerker deines Bruders befreit?"

"Ja, mit einem Zauber der Lichthüter und mit einem Zauber dunkler Verschlingung. Jetzt bin ich Anthelia und Naaneavargia, Yanxothar, und ich will die Erbschaft des alten Reiches antreten, bevor unser gemeinsamer Feind Iaxathan, der das endgültige Eindringen in meinen Körper nicht bis zum Ende genießen wollte und lieber in seinem eigenen Kerker verschwand, genau wie du in deinem Kerker verschwunden bist."

"Du hast ihn, Iaxathan ...? Ich sehe es in deinen Erinnerungen, und ich sehe die Erinnerungen Anthelias. Ich kann unmöglich zulassen, das du mit ihrem Wissen und Wollen an mein Schwert und den Krug Aiondaras rührt. Die Stimme deines Bruders wurde benutzt, um die verdorbenen Würmer Skyllians zu vernichten. Aber wenn du mein Schwert bekommst wirst du die Welt damit in Brand setzen. So werde ich den Letzten Dienst an deinem Bruder tun und dir endgültige Erlösung vom dunklen Los Iaxathans und aus der Gefangenschaft im Sein Anthelias verschaffen. Danach soll der Drachenmann das Schwert wieder dort verstecken, wo er es herholte."

"War mir klar, daß du meinst, mich sofort einverleiben und zu deinemSeelenteil machen zu wollen. Du bist doch nur auf meine Erlebnisse mit allen berühmten Männern unserer Zeit aus. Aber ich werde das Schwert mit zu mir nehmen und es als meinen rechtmäßigen Erwerb hüten und benutzen, wie es Not tut."

"Darxandria hätte diesem jungen Zauberer niemals Zugang zu unseren Worten der Macht gestatten dürfen. Zweimal bist du mit Kräften des Guten vor verdientem Schicksal errettet worden. Meine Pflicht ist es, dich von weiteren Taten abzuhalten und den Leib zu zerstören, der durch widernatürliche, dunkle Zeugung entstand."

"Das denkst du nur", sagte Anthelia/Naaneavargia, als Yanxothar auf sie zustürzte. Sie warf sich zur Seite und dachte an ihre Zweitgestalt. Der Feuermagier griff ins Leere. Anthelia ließ sich nach unten sinken, weil sie daran dachte, auf festem Boden stehen zu wollen. Der Feuermagier folgte ihr in die Tiefe. Dabei erkannte Anthelia, daß sie nicht zur schwarzen Spinne werden konnte. Ihr rein menschliches Selbst war in dieser Daseinswelt die einzig gültige Daseinsform.

"Ich nehme dich auf und gebe dir den ewigen Frieden!" Rief Yanxothar und ließ seine Arme immer länger wachsen. Anthelia dachte an eine Mauer aus Granit und sang die entsprechende Zauberformel ihrer Heimat, während sie in die Tiefe stürzte. Tatsächlich formte sich eine massive, dunkelgraue Wand zwischen ihr und Yanxothar. Dann fühlte sie harten Boden unter den Füßen. Sie sah den Wächter des Schwertes, wie er über die ihm im Weg stehende Mauer hinwegsprang. Seine überlangen Arme tasteten nach Anthelia, die gerade einen neuen Abwehransatz machte.

"Mutter Erde halt ihn fest, bis er mir die Freiheit läßt!" Rief sie. Das war ein Vorläufer des Impersecutio-Zaubers. Allerdings wurde jemand damit regelrecht an der Erdoberfläche festgebacken, bis der Anwender des Zaubers die große Erdmutter anrief, den Gebannten freizugeben. Yanxothar lachte. Die Erde wollte das Feuer festhalten? Lächerlich. Da umschloß ihn ein immer höher wachsender Ringwall. Er versuchte, darüber zu steigen. Doch der Wall umschloß ihn schon bis zur Brust. ER konnte sich nicht befreien, weil Anthelia nun ihrerseits an den Zauber des Feuerrückhalters dachte, eine nichtstoffliche Umgrenzung offener Feuerstellen, die zwar Licht und Wärme nach außen entweichen ließ, aber keine Flamme auf etwas anderes überspringen ließ. Diese Kombination aus einem uralten und einem relativ neuen Zauber kristallisierte sich nun um Yanxothar, der sich selbst nur dem Element Feuer verbunden hatte. der aus puren Gedanken und Wünschen gebildete Steinzylinder wuchs über Yanxothar, der gerade zu einer blauen Flammensäule wurde. Doch da unterbrach die tiefgraue Säule den Blickkontakt zu Anthelia/Naaneavargia. Die Höchste der Spinnenschwestern sah noch ein blaues Flackern, bevor die Säule mehr als Fünf Meter aufragte. Sie sprach die Formel weiter und weiter, während es in der Säule rumorte, fauchte und krachte. Sie wurde langsam rotglühend. "Das Feuer kommt aus allem frei!" Hörte sie Yanxotahrs nun alles andere als fröhliche oder selbstsichere Stimme. Doch Anthelia war es gleich. Sie schloß die Säule in zehn Metern Höhe ab und dachte dann an ein Erdbeben, wobei sie die stärksten Formeln dachte, die ihr bekannt waren. Die Säule stürzte in einen Riß im roten Boden und verschwand darin. Anthelia sah jedoch, daß sie schon die ersten Sprünge bekam. Da dachte sie an dunkles Eis, etwas, daß die Zaubererwelt erst im fünfzehnten Jahrhundert zu beherrschen gelernt hatte. Alle Wassermagier davor hatten bei Versuchen, es zu formen einen hohen Preis bezahlt. Jetzt überzog eine Schicht aus tiefblau flimmerndem harten Etwas die Spalte, in der die von Anthelia umgekippte Säule versunken war. Jetzt dachte Anthelia an ihre Rückkehr in ihren heißgeliebten Körper. Sie stellte sich vor, wieder in ihm zu stecken und damit sich und willigen Liebhabern herrliche Stunden zu bereiten. Vielleicht holte sie sich José noch mal auf ein Wonnelager. Bei dem Gedanken fühlte sie, wie ihr Herz pochte. Ihr Atem war zu hören. Sie sah nach oben und entdeckte einen goldenen Schacht. "Du verlottertes Geschöpf!" Brüllte es wie aus einem tief unter ihr liegenden Keller. "Ich erwische dich gleich und zerstöre deinen verdorbenen Leib!" Doch da sprang Anthelia schon in den Schacht. Sie dachte an ihre letzten Eroberungen, an ihre Aufgabe, Nyx und die Abgrundsschwestern zu besiegen, an den blonden Jüngling Julius, der aus Zuwendung zu einer vielleicht ebenso brauchbaren Liebeskünstlerin wie sie selbst eine war deren Nachnamen angenommen hatte. Sie hörte noch Yanxothars lauter werdenden Ruf: "Komm zurück, du Betrügerin. Ich bin der Herr des Schwertes."

"Dann wird es Zeit für eine Herrin!" Rief Anthelia und warf sich nach vorne, wünschte sich nichts sehnlicher, als wieder eins mit ihrem Körper zu sein. Da durchfuhr sie ein Stoß wie ein Blitzschlag. Sie riß den Mund auf und sog gierig Luft ein. Sie stand wie vorhin, das Schwert in der Hand, das wild pulsierte und dann mit einem Ruck ganz ruhig in ihrer Hand lag. Sie hob es vorsichtig an. Sie wog es, um seine Gewichtsverteilung zu fühlen, Ja, diese Waffe war schon gut ausbalanciert. Sie vernahm noch einen gequälten Aufschrei in ihrem Kopf. Dann war Ruhe. Yanxothar hatte sie nicht halten können. Jetzt hielt sie das Schwert und damit durfte er sie nicht mehr angreifen. Nun hielt sie die Waffe in Händen, von der sie zuerst aus dem Buch von Pacidenyus erfahren hatte. Doch eigentlich kannte sie die Klinge ja schon seit dem alten Reich. Deshalb wußte sie auch, wie sie ihre Unterwerfung entgültig bestätigen konnte.

"Faianshaitargesh!" Rief Anthelia aus. Die kleinen und großen flammenförmigen Verzierungen auf der neunzig Zentimeter langen Klinge glühten auf und erwachten fauchend zum Leben. Als wäre die Klinge eine einzige lodernde Flamme, stach das dornenspitze Ende der Klinge nun noch einmal sechzig Zentimeter weit in die Luft. Anthelia sah Vientofrio, der gerade erst begriff, daß Anthelia wieder zu sich gekommen war. Sie rief auf Parsel: "Knie nieder, Diego Vientofrio!" Der Drachenmann bebte. Er wollte nicht schon wieder der Unterworfene sein. Er stemmte sich gegen den Befehl. Da sagte Anthelia ein altaxarroisches Wort und noch einmal in Schlangensprache: "Ich heiße dich, vor mir niederzuknien, wenn dir dein Leben und dein Feuer lieb sind!" Vientofrio wand und krümmte sich. Er versuchte, nicht nur den Befehl zu verweigern, sondern das genaue Gegenteil davon zu tun. Doch die unbändige Macht, die aus der lodernden Klinge strahlte, drängte seinen Willen immer weiter zurück. Er wankte und schwankte. Dann sackte er ächzend auf die Knie. Seine menschliche Willenskraft hatte für diesen Unterwerfungszwang nicht gereicht. Was war das für ein Wort, daß die Macht des Schwertes verstärkt hatte. Anthelia senkte die Waffe wieder und löschte die Klingenflammen mit einem einzigen gedachten Wort. Jetzt hielt sie nur noch ein zwar sehr wertvoll aussehendes, aber nicht groß magisch wirkendes, zweischneidiges Schwert in Händen. Sie nickte und schob das Schwert in einen extra dafür erworbenen Schwertgürtel, den sie in einem Antikwaffenladen in New York gekauft hatte, wo sich Fans des Mittelalters oder der alten Römer mit Zierwaffen eindeckten. Womöglich würde sie dort demnächst noch einmal vorsprechen, um eine passende Schwertscheide mit Schulterriemen zu kaufen, damit sie die erkämpfte Klinge nicht links oder rechts frei baumeln lassen mußte. Sie fühlte, wie die Euphorie sie zu übermannen drohte. Nein, sie mußte genauso beherrscht bleiben wie damals, als sie durch einen Jahrtausendzufall Daianiras Leib enthoben wurde. So sagte sie zu dem immer noch knienden Drachen:

"Riddle war ein törichter, nur nach Gewalt über Menschen und nach der Macht über den Tod gierender Tropf. Aber eine gute Tat hat er doch vollbracht. Er hat mir gezeigt, daß du nicht lange zu führen bist, Vientofrio. Deshalb werde ich dich nicht in meinen Dienst nehmen, zumal du für das, was ich von einem Mann verlange eh schon zu alt und als Mensch zu schwächlich bist. Ich versprach dir, dein Leben zu erhalten. Doch wirst du dich nicht mehr daran erinnern, mich getroffen und dieses Schwert aus dem Vulkankrater geholt zu haben. Aldargandar Madrash Xaboratir Diego Vientoofrio Arbaranor!" Die letzten Worte galten dem Fluch, den Anthelia in einem Stein eingeschlossen und auf Diego Vientofrio gelegt hatte. Ein leises Knirschen war zu hören, und Diego mußte auf einmal sehr stark aufstoßen, wobei ihm eine blaßblaue Dunstwolke aus dem Mund entfuhr. Das brachte ihn wieder zur Besinnung. Er hatte das Schwert aus dem Krater geholt. Eine innere Wächterseele hatte ihm gesagt, es dieser Hexe da auszuliefern. Diese Hexe da, Anthelia/Naaneavargia, hob jedoch gerade den Zauberstab und rief: "Obleviate!" Eine halbe Minute lang fegte Anthelia sämtliche Erinnerungen an die Begegnung und die Übergabe des Schwertes hinfort. Das mit dem Locattractus-Zauber ließ sie ihn so erinnern, daß mehrere Drachenjäger angerückt und den Zauber mit vereinter Erdbebenkraft gebrochen hatten, bevor sie mehrere Drachen mit den Drachentöterdisken vom Himmel geholt hatten. Als sie fertig war disapparierte sie. Zurück in der Daggers-Villa gab sie sich endlich der großen Glückseligkeit hin. Sie hatte endlich das Schwert Yanxothars. Doch ihr war klar, daß sie es nicht andauernd einsetzen durfte. Es würde sich zu schnell herumsprechen. Dann würde der Gedächtniszauber an Diego Vientofrio nichts bringen. Alicia Montesalvaje würde sie erzählen, daß der Drache ihr das Schwert verweigert hatte. Doch dann fiel ihr ein, daß Diego einen Freund aufgesucht hatte, um den Stein loszuwerden. Also apparierte sie noch einmal in Peru und suchte das Haus von Rioverde auf. Denn mit der Entmachtung des Steines wich auch die Versteinerung von Rioverde. Das wäre sie zwar auch, wenn der Drachenmann seine Frist überschritten hätte. Anthelia wollte möglichst wenige Mitwisser haben. So trieb sie dem Zauberer jede Erinnerung an den verfluchten Stein aus und auch, daß er wohl selbst dem Fluch unterworfen worden war. Dann kehrte sie in ihr Hauptquartier zurück. Das Schwert war ihr nun sicher. Ob sie den Krug bekommen würde, von dem sie damals schon gehört hatte, würde sich demnächst entscheiden.

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Tim Abrahams erhielt eine Eule aus Frankreich. Sie kam von Madame Nathalie Grandchapeau, die in Paris den gleichen beruf hatte wie er in London. Deshalb wunderte er sich nicht über den höchstamtlichen Tonfall des Schreibens:

Sehr geehrter Mr. Abrahams,

in Folge einer von Ihrer Behörde an meine Dienststelle ergangenen Mitteilung im Bezug auf eine Gruppe US-amerikanischer Schatzsucher aus der nichtmagischen Welt wurde mir seitens meiner Mitarbeiterin Mme. Martha Eauvive mitgeteilt, daß diese Gruppe sich wohl vorzugsweise im Zuständigkeitsquadrat um die zu Frankreich gehörende Insel martinique betätigen wird, um Verbleib und Zustand eines am 12.08.1692 gesunkenen Schiffes mit Namen "Lady Amber" zu untersuchen. Wegen eines Mitreisenden aus der englischen Zaubererwelt, sowie einer nicht näher dokumentierten, mutmaßlich hochpotent magischen Fracht war es sehr vorausschauend von Ihnen, uns, das zuständige Zaubereiministerium, über diese Forschungsreise in Kenntnis zu setzen. Hiermit frage ich höflich an, ob Sie am 1.03.1999 um 10 Uhr vormittags mitteleuropäischer Zeit in meinem Büro in der Rue de Camouflage zu Paris im direkten Gespräch mit mir die Vorgehensweise in dieser Angelegenheit abstimmen mögen. Betrachten Sie diese anfrage auch als Anfrage um Freistellung durch Ihren obersten Dienstherren, Herrn Zaubereiminister Kingsley Shacklebolt für erbetenen Zeitpunkt!

In der berechtigten Hoffnung, Sie bald persönlich begrüßen zu dürfen verbleibe ich

hochachtungsvoll

Nathalie Grandchapeau

Leiterin der Verbindungsbehörde zwischen der magischen und nichtmagischen Gemeinschaft Frankreichs

Tim hatte den Brief sofort Minister Shacklebolt vorgelegt und ihm erklärt, daß damit wohl klar sei, daß das Zaubereiministerium in Paris dafür zuständig sei, wenn die Besatzung der "Golden Hope" wahrhaftig etwas magisches fand oder mit magischen Wesen in Berührung kam.

"Cartridge könnte wegen der Ihnen sicher sehr bekannten internationalen Übereinkunft zur Festlegung der Zuständigkeiten bei magischen Vorkommnissen außerhalb von Staatsgrenzen einwenden, es betreffe Bürger der USA und damit Bürger des seinem Ministerium obliegenden Landes." Tim nickte. Außer einer Übereinkunft, daß Vorkommnisse in einem Gebiet das zwischen der Küste eines Landes oder einer Insel und dem nächsten ganzzahligen Längen- und Breitengrad um ein Außengebiet eines Landes herum das für dieses Land zuständige Zaubereiministerium einschreiten durfte, galt diese Berechtigung auch bei Vorkommnissen in internationalen Gewässern, wenn magische und/oder nichtmagische Bürger eines Landes mit magischen Ereignissen zu tun hatten, die Auswirkungen auf die ggesamte Welt haben konnten. Martinique gehörte zu Frankreich. Somit konnten sich die Franzosen für alles zuständig erklären, was im Umkreis von 100 bis 111 Kilometern um das Eiland herum vorfiel. Andererseits konnten sowol die Briten wegen der Herkunft des Schiffes und der Ladung sich damit befassen oder die US-Amerikaner, weil alle Besatzungsmitglieder der "Golden Hope" Bürger der vereinigten Staaten von Amerika waren. Offenbar hatte Madame Grandchapeaus Dienstherr und Ehemann in Personalunion das schon geklärt oder würde es tun, wenn die beiden europäischen Zaubereiministerien eine gemeinsame Vorgehensweise abgesteckt hatten. Somit war es keine Frage, daß Tim die Einladung annehmen mußte.

Er war froh, daß er nach seiner Zeit in Hogwarts noch die Sprachen Französisch, Deutsch und ein wenig Spanisch gelernt hatte. Doch zu seiner großen Erleichterung sprach Madame Grandchapeau akzentfreies Englisch, als sie ihn begrüßte. Er gebot ihr aber die Höflichkeit, mit ihr danach weiter auf Französisch zu sprechen, weil er ja Gast in ihrem Land sei. Die Hexe mit der dunkelblonden Haartracht hatte in ihrem mit Blumen und Bildern geschmückten Büro auch ein großes Familienfoto, daß sie, ihren Mann und die Familie ihrer einzigen Tochter zeigte. Ein Jahr war die Enkeltochter der Grandchapeaus bereits alt. Auf dem Bild mochte sie gerade einige Wochen oder Monate alt sein.

Er unterhielt sich mit Madame Grandchapeau über die "Golden Hope", die bisherigen Erfolge oder Vorhaben des Schatztrios, erläuterte den in den Pressemitteilungen erwähnten Begriff "Indiana Jones" und merkte an, daß er aus der Chronik seiner Schwiegerfamilie erfahren habe, daß es kein Gerücht gewesen sei, daß an Bord der "Lady Amber" ein Krug mit mächtiger Wasserelementarbezauberung und starken Abwehrflüchen transportiert worden sei. Auch sei die Existenz von Keneth Teachs Geist und den des von McDarwish enthaupteten Piraten bezeugt. So äußerte er die Vermutung, daß die beiden Gespenster jeden, der es schaffe, an den Krug heranzukommen und keine Zauber gegen Geisterwesen ausführen könne, durch telekinetische Manipulationen umbringen mochten.

"Das hat mein Kollege von der Geisterbehörde auch angedeutet und mir eine Liste von Mordtaten vorgelegt, die von Geistern verübt worden waren. Insofern schon sehr dringend, daß wir uns der Sache annehmen. Denn meine Mitarbeiterin, Madame Eauvive, konnte ermitteln, daß sich das Schiff bereits im Zuständigkeitsbereich um Martinique aufhält, obwohl sie noch einige dringlichere Untersuchungen anstellt."

"Huch, wie kam sie denn an die Informationen?" Fragte Tim.

"Das wollte sie mir nicht genau erklären. Tatsache ist, daß die "Golden Hope" bereits in jenem Gebiet kreuzt, in dem die "Lady Amber" untergegangen sein mag. Dank der damals ungenauen Navigation dürfte das Schiff noch einige Tage brauchen, um den exakten Punkt zu erreichen."

"Ich habe auch die Meeresströmungen in diesem Gebiet berücksichtigt und hochrechnen lassen, ob die "Lady Amber" im Lauf der vergangenen dreihundert Jahre von ihrem ursprünglichen Platz abgerückt ist", sagte Tim Abrahams und legte eine Karte des Gebietes mit Meerestiefenangaben und Strömungsverläufen vor, auf der einige farbige Striche ein mögliches Verrücken des Wracks bezeichneten. Den Ort mit der höchsten Wahrscheinlichkeit bezeichnete ein signalroter Kreis fünfzig Seemeilen Ostsüdöstlich von Martinique. Radargeräte auf der Insel konnten das Schiff also orten, wenn es dort langsamer fuhr oder gar vor Anker ging. Spätestens dann mochten die nichtmagischen Seeüberwachungsbehörden von Martinique argwöhnisch werden, wenn sie auch nicht eingreifen würden, solange niemand SOS funkte. Nur dann mochte es womöglich für die Besatzung zu spät sein. Tim Abrahams besprach also mit der Leiterin des Muggelweltkontaktbüros, wie es weitergehen sollte. Tim erwähnte, daß die "Golden Hope" mit zwei kleinen Tauchbooten und zwei kleinen Tauchrobotern, unbemannten Tauchfahrzeugen, ausgerüstet sei. Um ein Tauchboot mit Besatzung zu Wasser zu lassen dauerte es schon einige Minuten. Tim schlug vor, daß ein gegen Radarortung abgeschirmtes, mit Tarnzauber belegtes Boot am errechneten Zielpunkt patrouillieren sollte. In diesem sollte jemand sitzen, der oder die wirksame Geisterabwehrzauber beherrschte. Madame Grandchapeau nickte und notierte sich diese Angaben.

Eine halbe Stunde später hatten die beiden Ressortleiter aus Großbritannien und Frankreich einen Aktionsplan ausgearbeitet. Diesem nach wurde Tim offiziell gebeten, die kleine Expedition zur errechneten Ruhestatt der "Lady Amber" zu begleiten. Mit an Bord sollte der Ministeriumsbevollmächtigte Marco Clopin und ein Mitarbeiter aus der Geisterbehörde von Paris sein, der auf aggressive Geisterwesen spezialisiert war. Da die "Golden Hope" schon im Zielgebiet fuhr drängte die Zeit. Tim holte sich per Blitzeule die Genehmigung von Minister Shacklebolt und schickte seiner Frau noch einen Gruß.

Hallo Gally!

Wegen der Sache mit dem Schiff muß ich sehr kurzfristig in die Karibik. Das französische Zaubereiministerium hat mich gebeten, als Muggelweltseefahrtsexperte mitzukommen, zumal das versunkene Schiff ja aus England stammte und unser Ministerium also auch zuständig sein mag, habe ich von Minister Shacklebolt die Genehmigung bekommen. Ich hoffe, in spätestens zwei Wochen wieder zu Hause zu sein.

gib dem Kleinen einen der Gutenachtküsse mit, die ich dir mitschicke!

Tim

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"Erwischt", flötete Myron McKartney, als sie am zweiten März über etwas hinweggefahren waren, daß das TPS-Gerät als versunkenes Segelschiff mit zwei Masten abgebildet hatte. Ein Vergleich mit allen erhaltenen Daten über die "Lady Amber" mit dem Sonarbild gab eine Wahrscheinlichkeit über 90 %, daß es sich um das gesuchte Schiff handelte. Das Sonar konnte sogar zwei geöffnete Ladeluken und an die zwölf Einschüsse nachweisen. Der Computer hatte das Ergebnis mit einem grünen Blinken und einem melodischen Dreiklanggong untermalt.

"Bleiben wir direkt über ihr oder rücken wir besser noch einige hundert Meter weiter?" Fragte Judith McKartney, die gerade den Steuerknüppel für die elektronische Ruderanlage in der Hand hielt. Ihr Bruder Clifford deutete statt einer Antwort mit der Hand durch das Steuerbordfenster der Brücke. Judith verstand und steuerte die "Golden Hope" neunzig Grad Steuerbord. Erst als Ihr Bruder den Arm ruckartig sinken ließ, stoppte sie die langsame Fahrt. Clifford befahl der Besatzung, den Anker auszuwerfen. Als der Anker sicheren Halt fand und die "Golden Hope" mit einem leichten Ruck stoppte, rief Clifford seinen Freund und Elektronikspezialisten Victor Childers zu sich.

"Wir schicken erst die Medusa runter, um zu gucken, ob wir schon was interessantes finden. Ist da mehr als ein leeres Schiff können Mac und ich mit der "Calypso" runter", sagte er. Victor, ein Mitvierziger mit sichtbarem Bauchansatz und dunkelbraunem Haar, nickte und ging daran, die Funktionen des zylinderförmigen Tauchroboters Medusa zu überprüfen. Die gelbe Stahlkonstruktion mit den vier mechanischen Armen, die jeder mit einem anderen Ende bestückt waren, konnte über in System aus vier rechtwinklich angeordneten Kameras einen vollständigen Rundumblick auf das umgebende Meer aufnehmen. Starke, schwenkbare Scheinwerfer konnten das Zielgebiet bis zu einer Entfernung von einhundert Metern ausleuchten.

"Die Medusa ist klar, Cliff. Wann soll sie runter?"

"Am besten gleich, Vick! Wir wissen nicht, wann wer meint, uns aufsuchen zu müssen, weil wir gerade still vor Martinique herumliegen", sagte Clifford.

"Wir wurden schon angefunkt, Cliff", hörte der Leiter der Expedition aus dem Brückenhaus. "Max wurde gefragt, ob wir hilfe bräuchten. Der Anrufer soll Englisch mit heftigem französischen Dialekt gesprochen haben. Natürlich hat er sich für die Anfrage bedankt und bestätigt, daß wir keine hilfe bräuchten."

"Wir sind viermal weiter von denen weg als ihr Zuständigkeitsgebiet reicht. Die sollen bloß von uns wegbleiben", knurrte Clifford, während er seinem Kranführer Zeichen machte, den Roboter Medusa an die Haltetrosse zu hängen. Victor prüfte noch einmal das Daten- und Steuerkabel, die elektronische Nabelschnur des knapp einen Meter hohen Roboters.

Fünf Minuten später saß das komplette Schatztrio zusammen mit Victor Childers in der schalldichten und fensterlosen Kabine, von der aus die Unterwasserroboter gelenkt wurden. ein großer Bildschirm zeigte die Frontalansicht des Roboters. Die Scheinwerfer erhellten das Meer, das beim Tauchen immer dunkler wurde. Dort, in vierhundertfünfzig Metern Tiefe, herrschten eine kalte, ewige Nacht und ein Druck von 45 Bar oder 4,5 Megapascal. Der Roboter konnte jedoch bis 5000 Meter hinabtauchen. Ähnlich tief kamen die beiden Tauchboote "Calypso" und "Arielle".

"Die Medusa ist jetzt in der Nähe. Kann die beiden Masten genau sehen", stellte Clifford fest. Victor gab entsprechende Kommandos mit dem kleinen, einem Steuerknüppel wie bei einer Computerspielekonsole ähnelndem Hebel die entsprechenden Kommandos weiter. Die beiden kleinen, schwenkbaren und kraftvollen Elektromotoren der Maschine manövrierten diese näher an die Mastspitzen heran. Die Takelage hatte sich im Lauf der Jahrhunderte der Schwerkraft beugen müssen und war abgerissen. Doch sonst befand sich das Wrack noch in einem bemerkenswerten Zustand. Keine Muscheln, Schnecken, Seesterne oder anderen Meerestiere hatten es gewagt, sich an der Bordwand oder auf den Decksplanken anzusiedeln. Das erstaunte Judith, die einen Doktor in Meeresbiologie hatte und ließ sie argwöhnen, daß irgendwas giftiges in dem Schiff sein mochte, daß die Besiedlung durch Meerestiere verhindere. "Gut, daß wir erst mit einem der Roboter an das Ding rangehen", sagte sie noch.

"Schon komisch, daß die alte Dame noch so nackt ist. Nicht daß da echt was in der schlummert, was fies krank macht", sagte Myron. Clifford starrte seinen Schwager finster an und fauchte ihm die Frage zu, ob er echt an einen Fluch glaube.

"Radioaktivität gibt's nicht erst seit Marie Curie, Cliff. Könnte sein, daß die zufällig was mit hohem Uran- oder Plutoniumanteil gefunden haben und deshalb zusehen mußten, es loszuwerden, weil es Leute krank gemacht hat. Das könnte auch dafür sprechen, daß an dem Wrack keine Tiere dranhängen. Und hast du im Umkreis von hundert Metern noch Fische gesehen?" Cliff kratzte sich am Kopf. Wahrhaftig waren die Fischschwärme ab vierhundert Metern Tauchtiefe verschwunden. Doch an böse Zauber wollte keiner glauben. Selbst wenn sie die Möglichkeit, daß sie irgendwann mal außerirdische Hinterlassenschaften vorfinden mochten nicht ausschließen wollten. Victor ließ den Roboter Medusa mit dem eingebauten Sonar nach Hohlräumen und anderen für das Auge unsichtbaren Unregelmäßigkeiten suchen. Tatsächlich konnte der Roboter auf diese Weise ergründen, daß das Schiff zwei durch eine Wand abgetrennte Laderäume besaß. Im Achterschiff befand sich sogar ein mit besonders hartem Holz ausgekleideter Raum, in den die Schallwellen nicht hineindrangen, um näheres darin zu erfassen.

"Was sagt der Geigerzähler?" Fragte Judith Victor. Dieser rief das Strahlenmessungsunterprogramm auf, Die beiden Roboter führten Geiger-Müller-Zähler mit, falls sie doch mal auf versenkten Atommüll oder ein unbemerkt abgesoffenes Atom-U-Boot stoßen sollten. Einige Minuten lang führte er den Roboter um das versunkene Schiff herum und sagte dann: "Keine überhöhte Strahlung."

"Dann muß da doch was giftiges sein. Laß die kleine, dicke Tante eine Wasserprobe aus dem hinteren Laderaum ziehen!" Kommandierte Clifford. Victor Childers nickte und führte den Roboter nun nahe an das Schiff heran. Als die Maschine nur noch zehn Meter über dem Verdeck schwebte, huschten winzige blaue und rote Funken durch das Bild. Als der Roboter nur noch fünf Meter über dem Deck war huschten Schlieren über die Bildschirme. Victor machte ein leicht überraschtes Gesicht und las die Statusanzeigen des Roboters ab. Dann drückte er schnell einige Tasten an der Befehlsübermittlungskonsole. Das Bild wurde ein wenig besser. Dann tauchte Medusa in den achterlichen Laderaum ein. Die Scheinwerfer beschienen für einen winzigen Moment einen Gang, von dessen Ende etwas das Licht der Scheinwerfer rotgolden zurückwarf wie ein eingetrübter Spiegel. Dann fiel das Bild schlagartig aus. Es Pingelte, und Victor stieß eine halblaute Verwünschung aus. "Kompletter Systemzusammenbruch, Cliff. Trotzdem ich das Backup-System zugeschaltet habe, um die schon auftretenden Fehler zu konpensieren. Himmel, Arsch und Wolkenbruch!"

"Na, nicht solche Wörter vor den Ohren einer Dame", feixte Myron McKartney. Victor zerrte derweil am Steuerknüppel. Doch Medusa wollte sich nicht berappeln.

"Also Strahlung ist da keine. Elektromagnetische Felder auch nicht, oder?" Fragte Myron.

"Dann hätte der Magnetkompaß in der Kleinen schon Twist getanzt, Myron. Neh, das war eine massive Störung aller elektronischen Komponenten auf einmal, als wenn Medusa eine Stubenfliege wäre und jemand ihr mit einem Pantoffel voll eins übergezogen hätte."

"Mach keine Witze, Medusa steckt Drücke bis fünfzig Megapascal, Temperaturen zwischen null und vierhundert Grad Celsius und einen PH-Wert bis 1,2 über eine Stunde locker weg. Stromschläge wie von einem Zitteraal reichen nicht aus, um sie außer Gefecht zu setzen", knurrte Clifford. Victor fauchte zurück, daß sein Freund und Expeditionschef ihm mal was neues erzählen solle. Dann griff er zu einem anderen Steuerknüppel und bewegte ihn behutsam zurück. Jetzt lief die Seilwinde an, die mit der Trosse des Roboters verbunden war. Immerhin lief die noch einwandfrei.

"Versuch sie noch mal aufzuwecken, Vick!" Bestand Clifford auf eine Fortführung der Untersuchung. Victor gab die entsprechenden Befehle ein. Tatsächlich starteten alle Systeme des Roboters neu. jetzt war er wieder zwanzig Meter von der "Lady Amber" entfernt. Er ließ ihn noch mal in den Laderaum Tauchen, wobei wieder ein wildes Schlierenmuster auf den Bildschirmen wirkte. Dann fielen die Systeme komplett aus. Victor holte nun die Trosse mit dem Roboter ein. Er wollte die Maschine an Bord der "Golden Hope" direkt überprüfren. Leise surrend spulte die Winde Datenkabel und Stahltrosse auf. Er ahnte nicht, daß er damit jemandem zeigte, wo ihr Schiff lag, der alles andere als einverstanden war, daß die "Lady Amber" besucht wurde.

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Patricia Straton flog in zweitausend Metern über den Wogen der karibischen See. Aus dieser höhe spiegelte das Wasser das auftreffende Sonnenlicht als azurblauer Teppich. Patricia vertraute auf die Tarnung des Harvey-Besens. Um genauer beobachten zu können führte sie ein magisches Teleskop mit, das außer der Funktion, zweitausend Meter ferne Objekte heranzuholen noch eine weitere, neue Funktion besaß, die von den Zauberkunsthandwerkern und Zauberstabkundlern Ruben und Samantha Dexter entwickelt worden war, der Durchblickmodus. Damit war es möglich, ein gasförmiges oder flüssiges Sichthindernis komplett auszufiltern, um gestochen scharf zu sehen, was dahinter war. Außerdem konnte man mit diesem Durchblickfernrohr im Lichtumkehrmodus beobachten, was hieß, daß alles dunkle hell und alles helle dunkel zu sehen war, wobei die Helligkeitsumkehr so abgestimmt war, daß ein stockdunkles Objekt nicht als blendende, heller als die Sonne erscheinende Ansicht wahrgenommen wurde. Patricia blickte zur Probe mit dem Fernrohr mit Hilfe dieser beiden Funktionen in den Himmel. Er wirkte mitternachtsblau, mit grauschwarzen Wolkenfetzen. Die Sonne sah aus, wie ein pechschwarzes, in den Himmel gebranntes Loch mit einem feuerroten Strahlenkranz darum herum. Den hatte Patricia bisher nie so wahrgenommen, wußte aber, worum es sich handelte. Sie dachte daran, daß Marga und andere Mitschwestern im August eine Sonnenfinsternis beobachten wollten. Mit diesem Fernrohr war die nicht mehr nötig, um die wesentlich dunkler als die glühende Scheibe erscheinende Sonnencorona zu beobachten. Jetzt erkannte sie sogar tiefblaue Punkte in der für sie pechschwarzen Sonnenscheibe. Das waren die Sonnenflecken. Der Durchblickmodus filterte die Störungen durch die zwischen ihr und dem Weltraum wabernden Luftschichten aus. Klarer konnte selbst ein Beobachter im freien Raum die Gestirne nicht sehen. Schon ein tolles Spielzeug, nicht nur für Jungen, dachte sich die versteckte Mitschwester Anthelias. Doch eigentlich sollte sie das Fernrohr und seine neuen Funktionen dazu benutzen, in die Tiefe des Meeres zu sehen und nicht dazu, nach Sonne, Mond und Sternen zu schauen. Aber die Lichtumkehrfunktion war schon genial für alle, die mit Astronomie zu tun hatten. Wußte oder hatte Peggy Swann dieses Wunderrohr schon? Warum dachte Patricia ausgerechnet jetzt an Peggy Swann, die von irgendwem unbekannten eine Tochter bekommen hatte? Womöglich nur wegen der Astronomie.

"Na, wo bist du denn, Hope?" dachte Patricia und suchte nun ohne die zwei neuen Zusatzfunktionen die Meeresoberfläche ab. Irgendwo mußte sie herumkreuzen, die "Golden Hope". Schon seit einigen Stunden flog sie auf dem unsichtbaren Besen im östlichen Meeresabschnitt um die Insel Martinique herum. Sie verdrängte die Neugier, bis auf hundert Meter über der Wasseroberfläche abzusinken und mit ihrem neuen Weit- und Durchblickfernrohr den Meeresboden abzusuchen. Doch Anthelias Auftrag war eindeutig. Sie mußte das Schatzsucherschiff aufspüren, ihm folgen und beobachten, was geschah. Anthelia hatte ihre Gründe dafür. "Wenn die mir in meinem ersten Leben zugetragenen Berichte stimmen könnte das gesunkene Schiff von zwei Gespenstern bewacht werden. Ich möchte wissen, ob dies stimmt und falls ja, wie die beiden Geister auf die Schatzsucher reagieren", hatte die höchste Schwester ihr eingeschärft. So blieb Patricia weit genug über dem Meer, um einen ausreichenden Rundblick zu erhalten. Sie konnte im Südwesten die Küstenlinie Martiniques sehen, obwohl das Eiland knapp fünfzig Seemeilen entfernt war. Dann erspähte sie am östlichen Horizont eine haardünne, dunkle Rauchfahne. Die Trägerin des Medaillons der Inka richtete das Fernrohr auf die neue Erscheinung und erkannte, daß der Rauch gerade über den Horizont stieg. Dann, langsam aber unverkennbar, konnte sie den Schornstein eines Schiffes erkennen. Sie änderte ihre Flugrichtung und steuerte genau auf das gesichtete Schiff zu. Als sie nahe genug heran war sah sie am Flaggenmast die weißen Sterne auf Blauem Feld mit roten Streifen im Wind wehen. Dann konnte sie auch den Schiffsnamen am Bug lesen: GOLDEN HOPE. Sie hatte das richtige Schiff entdeckt.

"Höchste Schwester, das Schiff kommt", mentiloquierte Patricia Anthelia. Diese weilte seit dem 25. Februar auf Martinique, um schnell vor Ort zu sein, wenn was anstand.

"Gut, gib weiterhin scharf Obacht! Französisches Zaubereiministerium auch auf der Spur der "Lady Amber"", erfolgte Anthelias Antwort. Patricia pfiff durch die Zähne. Das konnte Probleme geben, wenn die Spinnenschwestern unmittelbar eingreifen wollten. Nachher kamen noch welche vom amerikanischen Zaubereiministerium, weil Schiff und Besatzung aus den Staaten stammten. Oder die Engländer schickten welche von ihrem Zaubereiministerium, weil das versunkene Schiff englisches Eigentum gewesen war. Das konnte noch was geben. Sie fragte Anthelia auf gedanklichem Weg, woher sie das wußte und wer genau vom Zaubereiministerium an der Suche beteiligt war. "Habe einige Informanten auf der Insel gefunden. Zwei Mann des Magieministeriums Paris und ein Mitarbeiter des Zaubereiministeriums London mit Propulsus-Boot an Suche beteiligt."

"Gut, werde nur beobachten", schickte Patricia zurück und überflog das Schiff, um dann mit einer gekonnten Punktwende dem weißschäumenden Kielwasser des Schiffes zu folgen. Sie schnüffelte und nahm die leichte Rauchspur wahr. Bis hier oben bliesen die beiden Maschinen ihren Qualm. Die Trägerin von Intis Beistand kümmerte es im Moment nicht. Wo sie zur Zeit wohnte war die Luft dauernd von den Rauchausstößen der Motorwagen erfüllt.

Patricia nutzte die Verfolgung mit relativ langsamer Fluggeschwindigkeit aus, um in die Tiefe des Meeres zu blicken. Sie sank auf einhundert Meter ab. Jetzt konnte sie auch die Gedanken der Besatzung auffangen, die zwar eher ein Durcheinander in ihrem Bewußtsein boten, aber doch klar zeigten, daß sie alle angespannt waren. Offenbar hatten sie ihr Ziel noch nicht gefunden. Sie schwenkte das Fernrohr und warf immer wieder einen Blick hindurch in die Meerestiefe, die mit der Lichtumkehrfunktion nun strahlendweiß wirkte, wie eine Winterlandschaft. Die Beschaffenheit des Grundes lag so deutlich unter ihr, als flöge sie über ein Gebirge auf dem Festland oder die Eislandschaft am Nord- oder Südpol. Sie hörte noch rechtzeitig, daß sie der Meeresoberfläche zu nahe kam und zog den Besen etwas höher. Sie bekam noch Gischtspritzer ab, als sie dabei knapp zehn Meter hinter dem Heck der "Golden Hope" anlangte. Dann erspürte sie eine helle Aufregung und konzentrierte sich auf die Quelle dieser Ausstrahlung. Sie erfaßte die Gedanken Clifford Braxtons und seiner Kameraden und erfuhr, daß sie mit ihrem Echolot das gesuchte Schiffswrack entdeckt hatten. Sie dachten, es sei schlau, nicht genau über diesem Wrack liegen zu bleiben und fuhren noch einhundert Meter weiter. Patricia nahm sich Zeit, um den Meeresboden zu überprüfen, der hier gerade 450 Meter Tief war. Da konnte sie es sehen, das Schiff mit den zwei Masten. Sie erkannte an jeder Seite sechs Kanonenrohre und sah auch die weit offenen Falltüren im Verdeck. Die Beschreibung paßte, und die Leute der "Golden Hope" hatten es mit einem Vergleichsprogramm ihres Bordrechners auch ermittelt, daß dies die "Lady Amber" war. Sie meldete es Anthelia weiter. Diese gab ihr den Befehl, nach den beiden Gespenstern zu suchen. Patricia wußte jedoch nicht, ob das Fernrohr die beiden Geister nicht wie eine Wasserverwirbelung oder flimmernde Luft ausfilterte. Als sie nach einer halben Stunde noch immer keine auf Gespenster deutende Beobachtung machen konnte, erhielt sie den Auftrag, die Schiffsbesatzung zu beobachten. Dabei bekam sie mit, wie das Schiff ein ferngesteuertes Untersuchungsgerät, einen Tauchroboter aussetzte. Amüsiert mentiloquierte sie den Namen der Maschine an Anthelia weiter.

"Was ist daran so erheiternd, Schwester Patricia. In vielen Sprachen der Welt heißt eine Qualle Medusa, so auch in meiner erhabenen Muttersprache, La Méduse", belehrte sie Anthelia über die beachtliche Entfernung zwischen ihr und Patricia hinweg. Patricia schickte zurück, daß die beiden Roboter dann nach Meerestieren oder Meeresgöttern benannt waren. Sie beobachtete mit ihrem Fernrohr den Tauchgang der Medusa, die Patricia den Gefallen tat, ihren Weg zu erleuchten, so daß sie nun ohne Lichtumkehrfunktion in die Tiefe blicken konnte.

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Marco Clopin sah aus, wie sich Tim einen Südseeinsulaner, der einen europäischen und einen eingeborenen Elternteil hatte vorgestellt hatte. kaffeebraun, nachtschwarzes Kraushaar und walnußbraune Augen. Er war sicher schon über fünfzig Jahre auf der Welt. Seine Frau Amélie war eine kleine, runde, schwarzhaarige Hexe mit hellblauen Augen. Tim Abrahams hatte nach den überwältigenden Eindrücken seiner ersten Reisesphärenreise überhaupt gleich guten Kontakt zu Clopin bekommen. Dieser hatte auch schon ein Boot bereitliegen und seinen Kollegen Nicholas Montbleu zum Liegeplatz der "Reine dela Tempête", der Sturmkönigin, hinbestellt. Die "Reine de la Tempête" war ein wolkengraues Kabienenboot mit wasserblauem Dach. Es konnte laut Clopin 30 Knoten erreichen, dies allerdings nur über sieben Stunden durchhalten, weil in ihrem Rumpf noch Zauber gegen überhohen Seegang, ein für drei Stunden vorhaltender Unsichtbarkeitszauber, als auch ein Wasserabweisezauber und ein Selbstreparaturzauber eingewirkt waren. So war der Propulsus-Zauber nicht besonders ausdauernd. Tim hatte Clopin und Montbleu erläutert, daß sie, wenn sie von jemanden gesehen wurden, vorgeben sollten, ein neuartiges Boot mit Solarantrieb zu haben und zauberte aus Silberfolien scheinbare Solarpaddel, die er aber nur im Notfall ausklappen wollte. Clopin steuerte das schnittige Boot hinaus aufs Meer und tippte den Mittelpunkt einer aus vier konzentrischen Kreidekreisen bestehenden Markierung mit dem Zauberstab an. Das Boot nahm Fahrt auf und erreichte bald die von Clopin erwähnte Reisegeschwindigkeit. Unterwegs frischte der europäischstämmige Geisterexperte Montbleu das Wissen der beiden Begleiter über die Natur von Gespenstern auf und erwähnte, daß Geister meistens nur durch telekinetische Manipulationen wie das herabstürzen von schweren Gegenständen, umwerfen von Schränken oder fortreißen von Teppichen Menschen körperlich schaden konnten. Zwar sei es einem Geist möglich, durch Auflegen seiner Hände einen Menschen an den Rand des Erfrierens zu treiben. Doch die dem Menschen innewohnende Lebensenergie überwog die ektoplasmatische Beschaffenheit eines Geistes. menschen konnten durch Geister hindurchgehen. Doch Geister konnten nur dann in menschliche Körper hineingreifen, wenn sie bereits als Lebende Zauber zur Manipulation von Körper und Geist erlernt und diese quasi zu Eigenschaften ihrer postmortalen Existenz gemacht hätten. "Es gab beziehungsweise gibt Geister, die Menschen das Herz im Leibe einfrieren, indem sie einfach in den Brustkorb hineingreifen und es umfaßt halten. Aber die müssen wie erwähnt schon als Lebende Zauber zur Schädigung von Körpern oder den Decorporis-Fluch erlernt und verwendet haben", schloß Montbleu seinen Bericht. Tim wollte wissen, ob in die Geisterform übernommene Waffen wie Schwerter oder Säbel Menschen körperlichen Schaden zufügen konnten.

"Die Aplikationsprojektion, wie wir Phantasmologen diese Beiwerke nennen, können lebenden nichts anhaben, nicht körperlich. Was immer schon ein totes Ding war kann in der Geisterprojektion keinem lebenden was tun. Allerdings kann ein Geist einen Zerstörungswunsch auf die mitgeführte Waffe übertragen und damit einen unbelebten Körper beschädigen. Sie vermuten, daß einer der Geister bewaffnet ist?"

"Ja, mit einem Claymore, einem zweihändig geführten Schwert", gab Tim unverzüglich Auskunft. Montbleu pfiff durch die Zähne. Sein Beruf verlangte von ihm, sich mit allen möglichen Waffen auszukennen, da es ja doch viele bewaffnete Zauberer erwischt hatte, die nach der Entscheidung, als Abdruck ihres Seins im Diesseits zu verbleiben, mit den Sachen herumspuken mußten, die sie im Augenblick des Todes am Leib und in Händen trugen. So spukte in der Nähe von Avignon ein kopfloser Kutscher herum, der in den Neumondnächten immer peitschenknallend und Kommandos rufend durch den Wald lief, in dem ihn Räuber enthauptet hatten.

"Was machen wir, wenn wir das Schiff sehen?" Wollte Clopin wissen. Tim erwähnte, daß sie es erst einmal aus sicherer Entfernung beobachten wollten. Sollten sie wirklich die "Lady Amber" gefunden haben, so galt es, zum einen die Geister darran zu hindern, die Besatzung umzubringen und zum anderen den Muggeln per Gedächtniszauber einzutrichtern, sie hätten das Schiff schon untersucht und nichts erwähnens- oder Verkaufenswertes vorgefunden. Dann wollten sie den Liegeplatz der "Lady Amber" mit einer unsichtbaren Boje markieren, die einen sehr starken Muggelabwehrzauber trug, um zukünftig niemanden mehr in die Nähe des versunkenen Schiffes zu lassen.

Die Sonne war bereits eine Handbreit über der westlichen Kimm, wie der Horizont bei den Seeleuten hieß, wenn sie auf hoher See waren. Da konnte Tim mit seinem weitreichenden Fernrohr den Radarmast eines kleineren Schiffes erkennen. Clopin tippte eine Markierung an Steuerrad an. Um sie herum flimmerte die Luft. Dann konnten sich die Bootsinsassen ebensowenig sehen wie das Boot, in dem sie saßen. Tim mußte per leise Stimmkommandos die Richtungen vorgeben und führte Clopin damit bis auf einen Kilometer an das Schiffheran. Tim konnte neben dem Radarmast noch einen Flaggenmast erkennen, an dessen Top das Sternenbanner im böigen Nordostwind flatterte. Als er dann noch die beiden Schriftzüge GOLDEN HOPE an Bug und Heck lesen konnte, wußte er, daß sie ihr Ziel erreicht hatten. Er spähte durch sein Fernrohr und erkannte ein fingerdickes Kabel, das ins Meer führte und sich langsam von einer gewaltigen Spule abwickelte. Offenbar hatten sie bereits ein Tauchfahrzeug im Wasser. Er dachte daran, daß sie je zwei Zwei-Mann-Tauchboote und zwei Tauchroboter mitführten. Er sah jedoch nur eine unverkennbare Kugel eines Tauchbootes. Die Roboter waren sicher unter Deck gelagert. Er machte vier Männer aus, die an der Kabelwinde standen und konnte durch die Panzerglasscheiben der Kommandobrücke eine Frau mit rotblondem Haarschopf und einen Mann in Seemannskluft sehen. Er holte den Mann auf der Brücke näher heran, weil das Fernrohr ja Sachen bis zwei Kilometern Entfernung so nahe betrachten ließ wie direkt vor dem Betrachter stehend. Der Mann auf der Brücke hielt einen Telefonhörer in der rechten Hand und sprach hinein. Laut den Bildern, die er aus dem Internet gezogen hatte war das Myron McKartney. Die Frau neben ihm war demnach seine Ehefrau Judith, die zugleich die Schwester von Clifford Braxton war. Wo war der dritte des Schatztrios? Tim beschlich ein selten gefühltes Unbehagen. Das letzte dieser Art hatte er verspürt, als er fast von Umbridges Bluthunden überwältigt worden war. Er gab schnell weiter, daß wohl zwei Mann von der Besatzung mit einem Tauchboot unterwegs waren und erwähnte das kleine Boot auf dem Achterschiff, auf dessen blaßblauem Leib in schneeweißer Schrift der Name "Arielle" auflackiert war. Also hatte man die "Calypso" zu Wasser gelassen. Clifford war ganz sicher als erster mit dem Boot unterwegs. Er fragte die beiden Begleiter, ob sie Dianthuskraut mithätten. Sie verneinten es. Das Zeug brauchten sie auf Martinique nicht. Tim knurrte, daß gerade auf einer Insel Zauber oder Zauberkräuter zum Tauchen nötig seien und verwünschte seine Kurzsichtigkeit, nicht in England oder Paris schon daran gedacht zu haben, daß er möglicherweise tauchen mußte. Die einzige Möglichkeit, dem anderen Tauchboot noch nachzufahren war das zweite Tauchboot. Doch wie konnte er das anstellen, ohne den Imperius-Fluch zu wirken. Denn ohne die Besatzung würde er das Boot nicht zu Wasser lassen können. Wie man sowas dann fuhr wußte er auch nicht. Ohne dieses wissen war alle erlernte Zauberei nutzlos. Er hatte gelesen, daß Victor Krum sich beim trimagischen Turnier einen Haifischkopf mit Kiemen auf den Hals gehext hatte. Mit Selbstverwandlungen hatte Tim es nicht. So fragte er seine Begleiter, ob sie Teilverwandlungen beherrschten. Clopin konnte sich nur vollständig verwandeln. Montbleu hatte Verwandlung nach den ZAGs nicht weitermachen können, weil die damals gerade zwei Jahre unterrichtende Professeur Faucon nur Schüler mit einem E-ZAG weiterunterrichten wollte. Dann kam ihm noch ein Gedanke:

"Vielsaft-Trank, haben Sie den mit?"

"Nicht im Boot, weil wir ja nur für wenige Minuten mit der Besatzung Berührung haben sollten", sagte Clopin. Tim hätte fast vor Wut aufgestampft. Ein Geheimkommando und keine Ahnung von Verwandlungen und keinen Vielsaft-Trank. Dann blieb wirklich nur die Radikalmethode, sich den Leuten da drüben zu offenbaren und das zweite Tauchboot zu beschlagnahmen.

"Wir müssen jetzt schon auf das Schiff, Marco. Erst einige Kilometer weiter weg, dann Tarnung Aufheben und dann bitte hinfahren", sagte Tim ruhig genug, um nicht zu bestimmerisch rüberzukommen. Clopin bejahte es jedoch und wendete das Boot. Er ließ es ungefähr zehn Kilometer weit fortfahren, dann hob er die Tarnung auf und steuerte mit höchstgeschwindigkeit in Richtung des Schatzsucherschiffes. Sie würden sich als Forscherteam vorstellen, das das neue Solarboot aus einer neuartigen Karbonfaser testen würde. Tim würde das reden übernehmen, weil er die richtigen Begriffe kannte. Die "Reine de la Tempête" glitt lautlos über das Meer. Tim hielt Ausschau nach der "Golden Hope". Die Sonne färbte sich bereits rot, als sie an der Position vorbeikamen, wo sie gelegen hatte. Doch sie war bereits abgefahren. Tim konnte sie weiter östlich ausmachen und sah, daß das Schiff noch Fahrt machte. Er bat darum, hinzufahren.

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"Wir haben es gleich", sagte Clifford Braxton über die Telefonverbindung mit der "Golden Hope". Myron nickte und riet ihm noch einmal, nicht zu nahe an das Wrack heranzutauchen, da Victor immer noch nicht geklärt hatte, ob der mehrmalige Ausfall des Roboters an der Maschine selbst oder an einer äußeren Störquelle lag.

"Da ist bestimmt ein Wackler oder eine Wanze in der Programmierung. Kann sein, daß Medusa nicht gerne in fremde Laderäume taucht", scherzte Clifford. Mac, sein Copilot, würde sicherheitshalber einen kleinen C4-Sprengsatz mit Ultraschallfernzündung auf dem Verdeck anbringen. War das weggesprengt konnten sie das glänzende Etwas mit den mechanischen Armen bergen und hochbringen. Zehn Einzelbilder vor dem ersten Systemausfall hatten eine vielversprechende Entdeckung gezeigt. In dem Laderaum im Achterschiff der "Lady Amber" stand eine art flacher Krug, wie eine große Muschel auf einem sockelartigen Fuß. Erst hatten sie gedacht, es mit Gold zu tun zu haben. Doch der leicht rosige Farbton in einer Aufnahme sprach dagegen. Aus purem Scherz hatte Mac, der Metallurge und Tauchbootpilot behauptet, es könne Orichalk, das legendäre Metall aus Atlantis gewesen sein. Das hatte Clifford erst recht angeheizt, dieses Etwas zu Bergen. Jetzt waren sie auch schon nahe genug an der "Lady Amber". Myron beobachtete die Bildübertragung. Sie hatten es riskiert, das Boot ohne Sicherheitstrosse auszusetzen. Auch wenn sie einen Kilometer von dem Liegeplatz waren, wollte Clifford nur mit der Glasfaserverbindung zur Verständigung und Datenübermittlung am Schiff hängen.

"Okay, Mac bringt jetzt die Sprengladung aus. Stimmt der Code für die Zündung, Myron?"

"Sieben zwo drei neun hat Vick vorprogrammiert", bestätigte Myron.

"Wiederhole: Sieben zwo drei neun", gab Clifford noch mal den Zündcode durch, der mit einem Ultraschallsender in entsprechende Impulse umgewandelt wurde. Mac betätigte gerade die Steuerung für den Steuerbordgreifarm. Der konnte bis zu sieben Metern ausgefahren werden. An ihm hing die Sprengladung mit Initialzünder, der durch die Ultraschallimpulse ausgelöst werden sollte. Sie näherten sich der kritischen Nähe zum Laderaum. Tatsächlich ruckelte das Boot ein wenig, und der mechanische Arm schwenkte nach vorne und achtern. Mac wollte die Ladung besser auskklinken, bevor vielleicht das ganze Boot ausfiel, als sie beide etwas sahen, was sie zu tiefst erschreckte und kein Wort mehr herausbringen ließ. die Fernzündung hob ab. Dann wurden die Knöpfe mit der Beschriftung 7, 2, 3 und 9 langsam hintereinander eingedrückt, ohne daß einer der Männer das Gerät in der Hand hielt. Da der Zünder schon auf der "Golden Hope" scharfgemacht worden war, fing er die mit den Tasten abgeschickten Ultraschallimpulse auf, registrierte sie als die vorgegebenen für die Zündung und erfüllte seine einmalige Funktion.

Mit lautem Donnerschlag detonierte die Sprengladung, die eigentlich das Verdeck der "Lady Amber" hatte aufreißen sollen. Ein gleißender Blitz brach durch die Steuerbordsektion der Sichtscheibe. Die Wucht schleuderte das Tauchboot nach Backbord auf den Meeresboden. Doch das schlimmste kam noch. Durch die Detonation war ein Riß in der Sichtscheibe entstanden. Der hohe Wasserdruck drückte unerbittlich dagegen, erweiterte ihn. Mit einem Mal knallte es, und laut pfeifend schossen millimeterdicke Wasserstrahlen in das Tauchboot hinein. Durch den hohen Druck und die damit erzielte Durchströmungsgeschwindigkeit waren sie so stark und scharf wie Laserstrahlen. Clifford und Mac sahen für eine Hundertstelsekunde noch die auf sie zurasenden Wasserklingen. Dann bohrten sich diese in ihre Köpfe hinein und löschten innerhalb einer Sekunde das Leben der beiden Schatzzsucher aus. Das ersparte ihnen den Schrecken, der nun folgte. Keine Sekunde nach Einbruch des Wassers platzte die beschädigte Sichtscheibe nach innen weg. Mit einem überlauten Donnerschlag brach das Wasser in die Kugelzelle, riß die Sichtscheibe völlig auf und flutete in einem Sekundenbruchteil das Boot. Alles darin wurde zerquetscht. Die verdrängte Luft brach als komprimierte Blase aus der zerstörten Sichtscheibe und trudelte nach oben.

Die Wucht, mit der das Wasser in das verflixte Boot hineingeschossen war hatte ihn auch erschreckt. Denn es hatte ihn mit einer Brutalität durch die nachgebende Wand des Bootes geschleudert, die selbst ihm eine gehörige Angst einjagte. Die Unfähigen hatten ihn nicht sehen können. Aber sie hatten ihm freundlicherweise gezeigt, wie dieser Zünder ging. Diese Kerle hatten in den dreihundertsieben Jahren, die er schon in dieser Daseinsform bestand, viele Tricks gelernt, mußte er zugeben. Sie konnten Dinge, wofür er früher Magie verwendet hatte, sogar fliegen und mit fernen Menschen reden. Doch den Krug der Aiondara sollten die nicht auch noch kriegen. Der machte irgendwas, daß ihr gelbes Monstrum davon beeinträchtigt worden war. Und jetzt hatte er diesen Gierhals Clifford Braxton erledigt. Doch dabei hatte er einen winzigen Moment gedacht, das in das Boot brechende Wasser würde ihn zerreißen, ihn zersetzen, wie ein Schluck Vitriol Fleisch zerfraß. Doch die Wand hatte ihn wieder zusammengefügt, ihn passieren lassen und den Wasserdruck von ihm genommen. Er sah zu, wie das tauchende Boot mehr und mehr zusammengedrückt wurde. Er hörte die Knälle von Implosionen, wenn Geräte und Vorräte unter dem mörderischen Druck zerquetscht wurden und sah trotz der ewigen Finsternis in dieser kalten, auch für ihn unwirtlichen Welt das Blut der Getöteten, wie es sich verflüchtigte. Sein Teil der Vernichtung war erledigt. Den Rest würde Redhead erledigen. Dafür hatte er ihn an seine Seite geholt.

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Patricia hatte das Kabinenboot gesehen, das jedoch kein sich kräuselndes Kielwasser hinterließ, sondern nur eine rasch verwirbelnde Spur. Außerdem rauchte kein Abgasrohr. Sofort überprüfte sie das Boot aus sicherer Distanz und erkannte drei Männer in seetauglicher Kleidung. Einer von ihnen hatte gerade ein Fernrohr vor den Augen, das Patricia verdächtig nach einem magischen Teleskop aussah. Als sie es wagte, bis auf Reichweite ihres Gedankenspürsinnes heranzufliegen erfuhr sie, wer die drei waren. Tim Abrahams, Marco Clopin und Nicholas Montbleu. Sie meldete es weiter und erhielt den Auftrag, sofort auf Abstand zu gehen und das Schiff nur noch aus zweitausend Metern Höhe zu beobachten, da dies die Namen der ihr gemeldeten Ministeriumsleute seien. Patricia befolgte die Anweisung und hielt sich über der "Golden Hope", bis sie Zeugin eines grauenhaften Vorgangs wurde.

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Die Aufregung an Bord der "Golden Hope" war groß. Die zu früh erfolgte Sprengung war von der Datenüberwachung registriert worden. Dabei riß die Glasfaserkabelverbindung, was in Myrons Telefonhörer als lautes Krachen und Knacksen und auf dem Bildschirm als bunter Blitz gefolgt von fast schwarzer grauer Fläche dargestellt wurde. Myron sah seine Frau an. Diese starrte kreidebleich auf den Bildschirm. Die Anzeigen fielen auf null. Ein rotes Licht blinkte auf, und auf dem Statusdisplay stand unerbittlich der Satz: "Boot implodiert! Besatzung verstorben!" Myron wußte, er mußte die Gewißheit haben. Er mußte wissen, daß die "Calypso" wirklich zerstört und Cliff und Mac tot waren. Er gab den Befehl, den Anker zu lichten und das Telefonkabel einzuholen. Letzteres ließ sich so leicht erledigen, daß kein Zweifel bestand, daß an dieser Verbindung kein tonnenschweres Tauchfahrzeug mehr hing.

Die "Golden Hope" nahm Fahrt auf und lief mit beiden Maschinen auf volle Kraft voraus auf den markierten Punkt zu, an den das Tauchboot hinabgeglitten War. Victor Childers bezog Stellung hinter der Anzeige des TPS-Gerätes. Dieses zeigte nach einem Kilometer Fahrt, was Myron und er befürchten mußten. Neben dem sich klar vom übrigen Meeresgrund abzeichnenden Wrack der "Lady Amber" zeigte das Tripulssonar zahlreiche Trümmerstücke an, die wegen ihrer starken Echos eindeutig künstlichen Ursprungs waren. Damit war die winzigste Hoffnung zerstört, das Tauchboot und seine Besatzung unversehrt vorzufinden. Myron wollte das Schiff stoppen, um an der Stelle, die nun auch das Grab seines langjährigen Freundes und Schwagers geworden war, einige Minuten der Trauer und Rückbesinnung einzulegen. Doch dazu kam es nicht mehr.

Judith McKartney schrie laut auf. Erst dachte Myron, es wäre wegen Cliffords Tod in der Tiefsee. Doch dann sah er es. Der Schlüssel für die Tür zur Brücke glitt aus dem Schloß und schwebte einige Sekunden frei in der Luft. Dann flog die Tür auf. Der Schlüssel schwirrte wie geworfen hinaus über das Deck hinweg. Gleichzeitig krachte die Tür wieder zu. Sie alle hörten das eindeutige Klicken, als die Tür verriegelt wurde. Myron stand und starrte wie vom Donner gerührt. Judith schluchzte: "Der Fluch der "Lady Amber" erwischt uns." Myron rannte zur Tür und hieb auf die Klinke. Doch die Tür war wahrhaftig verschlossen. Er rannte zum Kommandopult, über das er nicht nur das Schiff steuern, sondern auch Durchsagen machen konnte. Da krachte es, und wie von einem unsichtbaren Fallbeil getroffen zerfiel das Kommandopult funkensprühend in zwei Teile. Ein kurzes, protestierendes Brummen in den Lautsprechern, ein lauter Knall, und die gesamte Brückenelektronik versagte ihren Dienst. Victor blickte auf das Geschehen. Wie konnte das passieren? Dafür gab es zwar eine Vermutung, aber keine echt und seriös aufrechtzuerhaltende Erklärung. Judith hatte von diesem Fluch gejammert. Doch Victor lehnte die Existenz der schwarzen Magie, des Teufels und aller seiner Dämonen ab. Ebenso glaubte er nicht an Spukerscheinungen wie Todesfeen oder Geister. Dabei war dies die ganze und einzige Wahrheit. Judith schrie auf, als zwischen den zwei Teilen des zertrümmerten Kommandopultes kleine Flammen hervorzüngelten. Der Funkenstrom hatte Feuer ausgelöst. Dann hörten und fühlten sie, wie unvermittelt die Maschinen auf Touren kamen. Offenbar hatte der Bordingenieur befunden, beide Maschinen mit äußerster Kraft voraus laufen zu lassen. Myron sah erst das sich weiter ausbreitende Feuer, roch den Qualm aus durchgeschmorten Kabeln und wußte, daß er nur noch eine Minute oder weniger hatte, um dem sich entwickelndem Brand zu entkommen. Doch die Brückenzugangstür war aus feuerfestem und bruchsicherem Stahl, damit im Falle eines Brandes an Bord die Schiffsführung gewährleistet werden konnte. Aber was, wenn das Feuer genau im Brückenhaus ausbrach und die Tür versperrt war? Die Motoren jagten das Schiff derweil AK voraus vom Liegeplatz des betauchten Schiffswracks davon. Doch damit war es nicht genug. Sie hörten ein metallisches Schaben und Knirschen, als schneide jemand durch ein Stück eisen hindurch. Dann krachte es, und das Schiff neigte sich leicht nach vorne, wobei es ein wenig der äußersten Fahrt von 70 Knoten, die es im Falle einer Gefahr für zehn Minuten durchhalten konnte verlor. Die Motoren brüllten gegen diese Abbremsung an. Dann knirschte es erneut, diesmal weiter achtern. Myron hörte, wie die schweren Schotten zuschlugen. Das passierte nur bei Wassereinbruch und war von der Brücke unabhängig. Der Brand erfaßte derweil die vordere Steuersektion. Myron und Victor sprangen zur Tür und hieben mit den Fäusten dagegen. Sie riefen so laut sie konnten um Hilfe. Doch die Besatzung schien gerade mit anderen Dingen zu tun zu haben.

Der Bordingenieur hörte die zuschlagende und sich verriegelnde Tür zum Maschinenraum und blickte hektisch zu seinen zwei Gehilfen an den mannshohen Motorblöcken. Da sah er das Warnlicht, das zeigte, daß die Steuerverbindung von der Brücke her ausgefallen war. Zwar konnte er die Maschinen noch von hier aus steuern. Aber wieso war die Brücke ausgefallen? Dann sah er mit Schrecken, wie die Hebel für die Motorenleistung mit Schwung in die Stellung "AK voraus" schnellten und die Motoren sofort mit wildem Brüllen auf Höchstleistung hochfuhren. Dann hörten sie vom Vorderschiff her lautes Schaben und fühlten die bugwärtige Neigung des Schiffes. Sogleich glomm ein weiteres rotes Warnlicht auf: "Warnung! Wassereinbruch kielseits Vorderschiff. Schotten schließen!" Der Chefingenieur blickte auf die Statusanzeigen und las, daß die automatische Abschottung funktionierte. Dann hörten sie das befremdliche Geräusch in ihrer Nähe und vernahmen nach nur zehn Sekunden ein wildes Gurgeln, das noch lauter war als die mit Höchstleistung arbeitenden Motoren. Die Kopflastigkeit ließ ein wenig nach. Doch für den LI war das eher ein böses als ein gutes Zeichen. Die Statusanzeige bestätigte seine schlimme Ahnung. Sie hatten jetzt auch ein Leck im Kielbereich des Achterschiffes. Wie auch immer es möglich war, jemand hatte ohne Explosion oder sonstige abrupten Mittel Große Lecks in das eigentlich solide Unterschiff geschlagen. Dann knirschte es wieder, und zwar mittschiffs. Jetzt fühlten die Männer im Maschinenraum es deutlich, wie das Schiff immer schwerer im Wasser lag und wie es langsam und unerbittlich in die Tiefe glitt. Nur die Motoren lieferten noch einen gewissen Auftrieb. Doch je tiefer der Schiffskörper der "Golden Hope" sank, desto langsamer fuhr sie noch. Auch wenn sich die Schrauben mit aller Macht gegen den immer größeren Wasserwiderstand und die gnadenlose Gewichtszunahme stemmten, es würde sinnlos sein. Der LI griff zum Bordtelefon, um auf der Brücke anzurufen. Doch er hörte kein Signal. Wieder klang das schabende Geräusch. Und diesmal sah er es genau, was passierte. Etwas schnitt genau im Maschinenraum wie mit einem gigantischen, unsichtbaren Trennschleifer in die Decksplatten ein und trennte ein mehr als zwei Meter langes und anderthalb Meter breites Rechteck heraus. Die Maschinenmannschaft konnte nicht erkennen, wie das ging. Sie erkannte jedoch, wenn auch zu spät, daß jemand gezielt Lecks in den Schiffskörper schlug, um es zu versenken. Als das angefangene Rechteck restlos aus den Decksplatten herausgetrennt war, wurde es vom darunter lauenden Wasser nach oben getragen. Sofort füllte sich der Maschinenraum mit karibischem Seewasser. die drei Mann Maschinenraumbesatzung stürzten in wilder Panik zur Tür. Doch die war wahrhaftig verschlossen. Das Wasser stieg und staute die Luft. Sie fühlten die kalten Fluten an ihren Beinen hinaufgleiten, in ihre feuerfesten Hosenbeine eindringen und fühlten den zunehmenden Druck in ihren Ohren. Die Luft konnte nicht so schnell ausweichen, wie das Wasser in den Raum einbrach. Es war nur noch eine Frage von gerade einer Minute, bis die beiden Motoren Salzwasser abbekamen und dann sicher komplett ausfallen würden. Doch was spielte das für eine Rolle, wo die drei Maschinenführer ihrem eigenen Untergang entgegenblickten, und das im wahrsten Wortsinn. Pfeifend quetschte sich die vom Wasser verdrängte Luft durch die Abluftschlitze ins Freie. Das Wasser stieg und stieg. Der Bordingenieur und seine beiden Helfer wußten, daß sie hier nicht mehr herauskamen. Schon umspülte die steigende Flut ihre Hüften und stieg weiter. Sie dachten an Clifford, Myron und Judith. Clifford war im Tauchboot verunglückt. Und jetzt drohte der "Golden Hope" das nasse Grab. Das war doch kein Zufall. Das Wasser stieg und stieg und stieg. Das Schiff wand sich schwerfällig nach vorne, nach achtern, Backbord und Steuerbord. Das außer im Maschinenraum noch anderswo diese unheimliche Kraft Lecks schlug, ja sogar die oberen Deckplatten durchlöcherte, um der verdrängten Luft einen Weg zum Entweichen zu verschaffen, bekamen die drei nicht mehr mit. Daß im Brückenhaus gerade Myron, Judith und Vick Childers einer anderen Hölle entgegenbangten erfuhren sie auch nicht mehr.

Jeder, der an Bord etwas zu tun gehabt hatte, war von der unsichtbaren Macht in Räumen eingesperrt worden. Den Rest erledigten die automatischen Schotten, die Niedergänge abriegelten. Rollin Redhead genoß es sichtlich, seine klare Vorstellung, sein Schwert sei noch aus fester Materie in die glasartig durchsichtige Klinge seines Claymores zu konzentrieren, so daß diese wahrhaftig die härtesten Stahlplatten wie ein heißes Messer durch einen Fettklumpen schneiden konnte. Er schlug der "Golden Hope" sechs große Lecks. Dagegen konnten dann auch die Schotten nichts mehr ausrichten. Das Schiff der überneugierigen Maschinenanbeter war erledigt. Rollin kletterte auf den Radarmast und schwenkte sein brennendes Haupt zum Triumph, während das Schiff unter ihm wegsank. Noch liefen die Motoren. Doch es würde nicht mehr lange dauern, bis diese Rollin mißfallenden Kraftkästen nicht mehr laufen konnten.

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"Höchste Schwester! Schif wird von zwei Geistern Versenkt! ins Wasser gelassenes Tieftauchboot wahrscheinlich als erstes zerstört!" Meldete Patricia ihrer Anführerin sehr aufgeregt und bekam die Anweisung, genauer zu berichten. Dabei erfuhr Anthelia auch, daß die Ministeriumsleute ihr Boot getarnt hatten und nun hinter dem von den Geistern auf höchste Geschwindigkeit hochgetriebenem Schiff herfuhren. Patricia konnte einen Geist erkennen, dessen Kopf von silbernem Feuer umlodert wurde. So ein Gespenst hatte sie in ihrem Leben noch nicht gesehen. Der geisterhafte Gast hieb mit einem mächtigen Schwert in die Metallplatten des Decks, die wie Butter von einem heißen Messer durchtrennt wurden. Das Schiff kippte langsam nach vorne, bevor das Heck ebenfalls tiefer und tiefer im Wasser versank. Das Ministeriumsbot hatte sich mit einem Tarnzauber umgeben. Patricia erschauerte, als sie kurz auf Gedankenspürsinnsreichweite herankam und die hellorange lodernden Flammen im Brückenhaus sah. Die Mannschaft war von diesem Schwertschwinger und Feuerkopf in den Kabinen oder den Speisesaal eingesperrt worden. Die Führungsmannschaft blickte gerade der Hölle eines qualvollen Feuertodes ins Gesicht. Die Maschinenführer würden genauso ertrinken wie der Rest der Mannschaft. Sie empfing die Gedanken Tim Abrahams', der den Geist des Schwertkämpfers auf dem Mast mit dem drehbaren Ding sah, das sie Radarantenne nannten. Sie stieg wieder aus der Reichweite ihres besonderen Spürsinns und erschauerte. Sie hatte die Geister gesehen, wie sie über die Seilverbindung des Tauchroboters nach oben geglitten waren und das Forschungsschiff umkreist und betreten hatten. Doch weil da dieses Ministeriumsboot in der Nähe war hatte sie nicht eingreifen können, um die Geister mit von ihrer Mutter erlernten Geisterbannzaubern außer Gefecht zu setzen. Jetzt versank das Schatzsucherschiff in den Fluten, und die beiden Gespenster würden sich wieder wie lauernde Katzen in der Nähe der "Lady Amber" zurückziehen. Auch wenn Wasserströmungen Geister gegen deren Willen bewegen konnten hatten die beiden Gespenster kein Problem mit der Tiefe. Nachtsicht war bei Geistern quasi Grundausstattung, und der massive Druck unter Wasser konnte Erscheinungen, die durch die dicksten Mauern und Böden wie durch Luft gleiten konnten nichts anhaben. Patricia erhielt den Auftrag, sich mit Anthelia auf Martinique zu treffen, selbst wenn sie dabei nicht näher als zwanzig Meter aneinander herankommen konnten.

"Gut, deine Aufgabe ist erfüllt, Schwester", hörte Patricia Anthelia mit schwer beherrschter Stimme sagen. "Kehre in deine Wohnstatt zurück und überlasse das weitere Vorgehen mir und kundigen Schwestern!"

"Wenn du den Meerfrauentrank Sarah Redwoods brauen möchtest wäre es da nicht besser, ich käme mit?"

"Nein, ich werde jemanden mitnehmen, die sich mit nichtmagischen Bergungsmethoden auskennt. Der Schatz der "Lady Amber" darf nicht mit bloßen Händen berührt werden und widersteht jeder magischen Ortsversetzung ohne Körperkontakt zu einem Magier. Kehre nun heim in dein Haus, Schwester Patricia!"

"Um mir Virginias Liebeskummer anzuhören", grummelte Patricia. Ihre Gastgeberin hatte sich vorgenommen, bis zu ihrem nächsten "Geburtstag" mit einem jungen Biologen namens Herbert Marschal zusammenzukommen, und das in jeder Hinsicht. Offenbar wollte sich Dr. Hencock endlich den seit der Kindheit gehegten Wunsch erfüllen, ein eigenes Kind zu bekommen. Anthelia gab Patricia einen Gruß für die Gastgeberin mit, daß sie ihr Glück bei diesem Unterfangen wünsche, jedoch gerne diesen Auserwählten vorher prüfen wolle, da Virginia ja immer noch Anthelias Kundschafterin war und somit jeder, mit dem sie nähere bis allernächste Beziehungen pflegte auf seine Absichten und seine Verläßlichkeit prüfte. Patricia nickte und verschwand aus dem Weinkeller der Daggers-Villa.

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Tim sah, wie das Schatzsucherschiff vor ihnen davonlief. Es machte auf einmal mehr als 30 Knoten Fahrt. Das konnte nur mit äußerster Kraft voraus gehen. Aber vor wem oder was mußte das Schiff flüchten? Tim schätzte den immer größer werdenden Abstand ein und erkannte, daß die "Golden Hope" mit wohl 60 Knoten lief. Das brachte sie in jeder Minute von der ihr mit magischer Höchstgeschwindigkeit nachlaufenden "Reine de la Tempête" fort. Tim hielt das davonfahrende Schatzsucherschiff solange mit seinem Fernrohr im Blick, wie es ging. Er meinte, daß es langsam aber sicher immer tiefer sank. Ja, es wurde auch immer langsamer. Jetzt schmolz der Abstand zwischen ihm und dem magischen Boot dahin. Er konnte ein silbernes Flackern auf der Radarmastspitze ausmachen. Jetzt konnte er mit der Nahbetrachtungsfunktion des Fernrohres auch sehen, was es war und erschauerte. Etwas zu lesen und etwas mit eigenen Sinnen zu erfassen waren eben doch zwei Welten, dachte er. Denn auf der Mastspitze thronte die durchsichtige Erscheinungsform eines Mannes im Schottenrock, die ein wie aus Glas gearbeitetes Zweihandschwert schwenkte und wohl schallend lachte. Um den Kopf der Erscheinung loderten silberweiße Flammenzungen, und der Schädel drehte sich locker und leicht wie ein Ball auf einer Stange auf dem Hals hin und her. Das war er also, der Geist des Piratenkapitäns Rollin Redhead McFusty. Er lachte über seinen Sieg, über seine Taten. Das Schiff unter ihm sank mit jedem Meter tiefer ein. Die Maschinen drückten es zwar weiter voran. Doch Tiefgang und Gewicht verzögerten es mehr und mehr. Dann sprudelte Wasser aus undichten Stellen an Deck und überspülte die Deckplatten. Mit einem letzten Aufbäumen der Motoren wurde das Schiff nach vorne geschoben. Dann sackte es durch und verschwand innerhalb weniger Sekunden unter der graugrünen Dünung. Als der Radarmast sank, ging auch der Geist mit loderndem Schädel unter. Tim sah die silbernen Flammen noch für einen winzigen Moment aus den Wellen glimmen. Dann waren die "Golden Hope" und ihr Vernichter nicht mehr zu sehen.

"Verdammt!" Fluchte Tim in seiner Muttersprache. Seine Begleiter sahen ihn nur ratlos an. Dann sagte Clopin zu Montbleu: "Legen Sie eine Geistersicherung um uns, bevor dieses flammende Phantom uns auch noch angreift!" Der Geisterbehördenzauberer ging sofort daran, mit silberner Tinte und Tim unvertrauten Zauberformeln wirksame Geisterabwehrzauber aufzubauen, um von dem in der Tiefe verschwundenen Gespenst nicht behelligt zu werden. Erst als die magischen Symbole und Linien unter dem letzten Zauberspruch blau aufleuchteten und dann völlig unsichtbar wurden sagte Tim:

"Wir müssen leider davon ausgehen, daß auch das ausgesetzte Tauchboot vernichtet und dessen Besatzung getötet wurde. Wir müssen die Stelle sichern, wo die "Lady Amber" liegt, bevor noch einmal wer meint, sie genauer untersuchen zu müssen." Clopin nickte und wendete die "Reine de la Tempête".

Da die "Golden Hope nicht unmittelbar über dem Wrack der "Lady Amber" gewesen war, dauerte es Stunden, bis die Zauberer mit einem in die Tiefe reichenden Fernrohr die Mastspitzen des alten Schiffes erkannten. Dann sahen sie die beiden Geister, die gerade über der Wasseroberfläche schwebten und ihren Sieg über die Menschen feierten. Als sie die Zauberer sahen stürzten sie sich in die Tiefe und bezogen eine Wartestellung über dem versunkenen Schiff. Clopin und Montbleu bezauberten eine Boje mit Anker so, daß sie einen eine Meile ausbreitenden Muggelabwehrzauber entfaltete. Dieser würde jedoch nur einen Monat vorhalten. Außerdem könnten Schiffe, die in Seenot gerieten vielleicht nicht aus der abgesicherten Zone heraus. Dann würde niemand ihnen helfen können. Also mußten sie eine andere Lösung finden. Sie würden sich was einfallen lassen, um die Geister in eine Falle zu locken oder die "Lady Amber" und ihre Fracht an einen für Muggel unerreichbaren Ort zu verlegen.

Als Tim Abrahams seinem Chef Shaklebolt einen Bericht über seine traurig beendete Mission ablieferte, meinte der dunkelhäutige Experte für dunkles Zauberwerk: "Die Muggel werden das versunkene Schiff suchen und womöglich wieder in die Nähe des alten Schiffes geraten. Aber mehr Sorgen machen mir überneugierige Zauberer und Hexen, die nun finden könnten, das Wrack zu besuchen. Sorgen Sie dafür, daß zumindest die Muggel das Interesse an der "Lady Amber" verlieren!" Tim nickte und ging daran, einen umfassenden Plan zur Desinformation der nichtmagischen Welt umzusetzen.

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Es war Mitte März. Diesen Monat liebte Camille Dusoleil sehr. Denn nun begann ihre Jahreszeit. Wenn im Frühling die magischen und nichtmagischen Pflanzen zu neuem Leben erwachten, blühte auch die Hüterin der Gärten und Baumbestände von Millemerveilles sichtlich auf. Sie hatte viel in der grünen Gasse zu tun und freute sich, wenn Genevièves Schulkinder die häufiger werdenden Sonnentage nutzten, um sich Pflanzen aus dem Mittelmeerraum anzusehen, die als Heil-, Würz- und Zierpflanzen genutzt werden konnten. Die Grüne Gasse wurde von Familien mit Kindern unterhalb des Beauxbatonsalters besucht, und das Jubiläum stand mal wieder an. Zwar nicht so pompös wie vor zwei Jahren, aber doch immer ein Grund zum Feiern.

"Hallo Camille, darf mein kleiner Sonnenprinz schon in die Goldblütenkammer?" Fragte Eleonore Delamontagne, die ihren Sohn Baudouin an der linken Hand führte. Der fast auf den Tag genau zwei Jahre alte Junge war ein ähnlicher Wonneproppen wie seine Mutter und deren Mutter. Das strohblonde Haar war kurzgeschnitten und glänzte im Schein der Sonne.

"Das bringt euch noch nichts, Eleonore. Die Goldblüten wollen dieses Jahr noch nicht so früh aufgehen. Aber die Regenbogensträucher sind schon mit den ersten Blüten nach der Winterruhe zu sehen."

"Danke, Camille. Komm, sag auch Danke, Baubau", wandte sich Eleonore mit unverkennbarer Strenge an ihren Sohn.

"Danke Madm Düßoli", brabbelte der kleine Junge. Die nicht ganz richtig ausgesprochene Hexe lächelte und nickte. Dann sah sie Eleonore nach, wie sie mit dem Jungen zu den Regenbogensträuchern ging.

"Hallo, Maman, dürfen wir drei uns von den Zuckerzwiebeln welche holen?" Fragte Jeanne, deren baldige Mutterschaft nun gut zu erkennen war.

"Die hatte ich ab der dritten Woche mit dir, Claire und Chloé auch so nötig", lachte Camille. "Wundere mich, daß du jetzt erst auf den Geschmack kommst. Mit was ißt du die denn?"

"Caros Maman hat die leckeren Lachstörtchen mit Senfcremefüllung im Angebot. Dazu werfe ich für mich und die Kleinen die Zuckerzwiebeln ein."

"Dann nimm am besten noch von den Rotbeergurken welche mit. Die konnte ich mit dir unterm Magen auch faßweise wegfuttern", lachte Camille.

"Jau, die spendiere ich Brunos und meinem Nachwuchs dann mit Würstchen im Brautkleid", freute sich Jeanne.

"Kannst du das Rezept jetzt richtig gut? Wird Oma Aurélie sicher freuen, daß ihre abgehobensten Umstandsrezepte auch noch in der dritten Generation nachgekocht werden", lachte Camille. Jeanne griff nach ihrer Handtasche. Ihre Mutter schüttelte den Kopf. "Auch wenn du gerade meine beiden nächsten Enkel trägst gilt für dich wie für alle Familienangehörigen, daß du für Sachen, die du zu nehmen erlaubt bekommst nichts bezahlen mußt, Mädchen", schnarrte Camille. "Schon schlimm genug, daß ich das aus Martha und Julius nicht rausbekommen kann. Aber in dich muß ich das nicht erst reinlassen."

"Gut, die Kleinen kennen dich ja noch nicht, Maman", scherzte Jeanne. Was jetzt kommen mußte wußte sie und wollte es auch so.

"Was dir Oma Aurélie erzählt hat gilt auch für mich und deine kleinen Mitatmer. Als ich dich trug, waren die beiden auch schon in meiner behaglichen Wartestube. Also kennen die mich schon. Beruhigt?"

"Im wahrsten Sinne voll und ganz, Maman", erwiderte Jeanne und marschierte los zum Gemüsehaus, wo besondere Gemüsearten gezogen, ausgestellt und verkauft wurden. "Würstchen im Brautkleid", dachte Camille. "Krakauer Würstchen leicht angebraten und dann in süßer Schlagsahne und Weißkohl gewälzt und in Blätterteig eingeschlagen und außenseitig mit weißem Glasurzucker bestreut und dann in den Ofen, bis der Zucker karamellisiert ist. Sowas kann auch nur einer weltreisenden Mutter mit Umstandsbauch einfallen."

In der Nacht zum siebzehnten März träumte Camille Dusoleil, sie stehe auf einem großen Bauernhof. Rechts von ihr stand eine Erscheinung, die von den Gesichtszügen, Augenform und Har ihre Schwester hätte sein mögen. Doch sie leuchtete in einem rotgoldenen Glanz und war völlig unbekleidet. Camille kannte diese Erscheinung. Doch was suchten sie beide hier auf Barbara Latierres Hof?

"Es ist was eingetreten, was zu einer großen Katastrophe führen kann oder die Welt vor Schaden bewahren kann", sagte die leuchtende Frauengestalt, die wegen ihrer Entstehung Ammayamiria, Jungfrau und Mutter hieß.

"Welcher Schaden, Ammayamiria? Droht Julius wieder irgendwas aus dem alten Reich oder von einem, der keine Muggel mag?" Fragte Camille besorgt.

"Diesmal kann Julius nichts dafür oder dagegen, Camille", sprach Ammayamiria mit einem Hang zu der Betonung, die Camille von ihrer Mutter kannte. "Diesmal können nur Jeanne und du etwas ausrichten. Aber das sagt dir besser Temmie." Damit deutete sie in den Himmel, wo gerade mehrere weiße Körper scheinbar klein wie Mäuse herumflogen. Einer der Körper wuchs an. Besser, er kam näher. Camille verstand und folgte Ammayamiria auf eine Wise, die eigentlich mehrere hundert Meter entfernt lag, aber in dieser Daseinsform mit einem Schritt ohne Apparitionsstauchung erreicht werden konnte. Jetzt erschien das herabsinkende Flugwesen so groß wie ein deutscher Schäferhund. Als es dann gelandet war stand ein etwas größer als ein afrikanischer Elefantenbulle gewachsenes Ungetüm vor Camille, eine mit weißer Wolle überzogene, weit fortgeschritten trächtige, geflügelte Kuh, deren goldbraune Augen Camille anblickten und dabei einen Warmen Schauer durch ihren Brustkorb trieben. Camille sah für einen winzigen Moment das Licht unter ihrem meergrünen Hausumhang hervorblitzen.

"Ich freue mich", sprach die geflügelte Kuh mit tiefer, sanfter Stimme, "daß es möglich wurde, dich zu mir zu bringen, Camille, Tochter der Aurélie, Tochter der Claire, was klares, helles Licht heißt, nicht wahr. Ammayamiria und Camille nickten bestätigend. Sie kannten beide die gewaltige Kuh. Camille fragte nur in Gedanken, was sie für Artemis vom grünen Rain oder Darxandria tun konnte. Die gefragte sprach so dann: "Ein Geheimnis, daß seit der Zeit des alten Reiches, in dem viel helles wie dunkles entstand und verging, droht gegen seine Natur enthüllt und ergriffen zu werden. Die Stimme Aiondaras, der Muttermutter Darxandrias, hat sich durch das Gewebe der Kraft und des Geistes gemeldet. Sie ist wütend, weil jemand ihr Erbe ergreifen wollte, der dazu nicht berechtigt ist. Ammayamiria konnte sie in der Welt der hütenden genauso hören wie ich in meinem Schlafleben. Es ist möglich geworden, den unleerbaren Krug Aiondaras zu ergreifen, obwohl er in großer Tiefe und ewiger Nacht ruht. Gier und Herrschsucht haben ihn vor einer Zeit, wo meine Art noch nicht bestand, in diese Tiefe getrieben und damit vor ungebührlichem Zugriff geschützt. Doch nun ist die Zeit gekommen, wo ahnungslose wie auch machtgierige Menschen Mittel erfunden haben, um in diese Tiefen vorzudringen. Sowohl die Träger der Kraft als auch die damit nicht begüterten können in dieses für sie so lebensfeindliche Reich vorstoßen. Julius kennt diese Vorrichtungen, mit denen Menschen nun an die tiefsten Punkte der Weltmeere hinabtauchen können. Damit oder mit Mitteln der Kraft, die Menschen befähigt, in solche Gefilde einzudringen oder dort natürlich vorkommende Lebewesen aus der Ferne zu lenken, wurde der unleerbare Krug Aiondaras berührt. Die Hüterin selbst konnte einem der es versuchte nur eine Warnung zurufen. Aber eine, die aus einer langen Gefangenschaft freikam und alle ihr anhaftenden Fesseln abschütteln konnte, wird nicht Ruhe geben, den Krug zu bekommen. Denn sie sucht sicher nach den alten Hinterlassenschaften meines und auch ihres Volkes. Es ist richtig, daß dein Angetrauter, Florymont, eine besondere Kleidung erdacht hat, die jemanden befähigt, in die Tiefe eines Meeres genauso einzutauchen wie in den Schlund eines feurigen Berges?" Camille schrak zusammen. Das mit dem neuen Anzug wußten außer ihrem Mann, Julius Latierre und seiner Frau Mildrid nur noch drei hochrangige Ministeriumsbeamte. Selbst Jeanne hatte er bisher nichts erzählt, und sie selbst war auch besorgt, wohin diese Erfindung ihn und andere treiben konnte. Temmie alias Darxandria hatte diese Sorge noch verstärkt.

"Soll ich meinem Mann sagen, er soll die Erfindung nicht bekanntmachen und am besten alle bereits geschaffenen Exemplare zerstören und die Herstellungspläne gleich mit?" Fragte Camille. Ammayamiria schüttelte den Kopf. Temmie schnaufte einmal. Dann sagte sie einen Satz, den Camille nicht sofort begriff:

"Du allein kannst ihn nehmen." Camille fragte, ob sie damit den magischen Krug meine. "Der Krug stammt von meiner Muttermutter, einer großen Meisterin des Wassers, eine Rivalin der weißen Mutter, deren Turm wir ja schon mal besucht haben. Sie formte aus der Schale einer besonders großen Muschel und einem Fuß aus Korallenstein und dem die Kraft am besten aufnehmenden und leitenden Erz des Himmelsberges im Zentrum meiner früheren Heimat einen Krug, in dem sie all ihr Wissen über die Kräfte des Wassers und all seiner Geschöpfe einlagerte und auf Dauer bewahrte. Damit konnte sie die Mittel der Kraft, die das Wasser bändigen, lenken oder rufen zwanzigmal stärker oder leichter rufen und lenken als ohne dieses Mittel. Als ihr Körper dann ermüdete und ihr inneres Selbst freigab verband dieses sich vollends mit dem Krug, an dem bereits ein Teil ihres inneren Selbst gebunden war. Von da an wachte sie über ihr Erbe und hielt es nur denen bereit, die von ihr stammten und sich anderen Gegenüber nicht als große Herrscher aufspielen wollten. Mehr wußte ich nicht, bis ihre Stimme erklang. Sie sucht nun nur noch eine mit der Kraft begüterte Frau, die aus ihrer langen Ahnenlinie stammt und selbst schon mindestens eine Tochter geboren hat. Da wir, wie du weißt, über Ashtaria miteinander verbunden sind und du und Jeanne somit Nachfahren von mir und damit von Aiondara seid, seid ihr beiden die einzigen, die den Krug und seine Hüterin fragen dürft, ob ihr ihn ergreifen und anderswo verbergen könnt, wo ihr ihn zwar findet, wo ihn aber sonst keiner suchen kann, der nur Macht und Herrschsucht kennt und von Dunkelheit durchdrungen ist."

"Jeanne kann das nicht, wie immer es gehen soll. Sie trägt gerade zwei Kinder", wandte Camille ein. Ammayamiria nickte bestätigend. Temmie alias Darxandria erwiderte:

"Ja, das wußte ich. Aber die Hüterin des unleerbaren Kruges kann dies nicht wissen. Sie hofft nur, daß es eine würdige Nachfahrin gibt."

"Du sagtest, der Krug sei in Tiefe und ewiger Nacht, also irgendwo tief unten im Meer. Wo da genau?" Fragte Camille.

"Der Ort ist mir nicht verraten worden. Ich hörte die Stimme nur aus einer Richtung, die zwischen Mittag und Abend liegt", sprach Temmie. Ammayamiria erläuterte, daß damit Süden und Westen gemeint seien. Camille bedankte sich und fragte sie, ob sie die Richtung oder den Standort dieses Rufes bestimmen könne.

"Es ist nicht für Menschen vorstellbar zu beschreiben, wie das Reich beschaffen ist, in dem ich wohne, Camille, Mutter und Tochter. Aber soetwas wie Richtungen und Entfernungen gelten dort nichts. Es gelten nur Gedanken, Erinnerungen und Gefühle, um mit den zu hütenden in Kontakt zu treten. Da ich nun eine Bewohnerin der Welt der Hüter bin kann ich den Krug nicht ergreifen, selbst wenn ich zum Teil eine Mutter einer Tochter aus der Ahnenlinie von Ashtaria bin. Den Krug muß eine Nachfahrin aus deiner Welt sein, die atmet, ein schlagendes Herz im Leib, Hunger und Durst kennend ist. Jeanne kann es nicht sein. Da es zwar noch eine Tochter Ashtarias gibt, diese jedoch nur die Kraft sehen aber nicht wirken kann, vermagst nur du diesen Krug zu bergen und sei es, ihn an einem abgelegenen Ort ohne weiteren Personen was davon zu erzählen versteckst. Aber er muß von dort weg, wo er ist." Temmie bestätigte es.

"Dann soll ich Florymont nicht darum bitten, die neue Erfindung wieder zu vergessen?" Wollte Camille wissen.

"Das machst du besser nur, wenn du willst, daß er dich, Jeanne, Denise und Chloé für immer verläßt und anderswo weitererfindet", erwiderte Ammayamiria, jetzt deutlich wie Claire klingend. "Ich denke eher, Camille, daß du genau diese Erfindung benötigen wirst, um an den unleerbaren Krug heranzukommen."

"Ihr seid lustig. Die eine brütet gerade ihr erstes Kind aus und die andre hat selbst zwei Kinder geboren und sechs Enkelkinder ankommen sehen dürfen. Ihr wißt doch, daß ich gerade eine kleine Tochter habe, die ich gerade erst entwöhnt habe, die aber doch nicht bei Florymont alleine bleiben soll. Ist das denn nicht gefährlich, ins tiefe Meer zu tauchen und da einfach so einen uralten, von einer eingelagerten Wächterin gehüteten Krug anzufassen? Nachher stimmt das nicht, daß ich die Erlaubnis dazu habe und fange mir einen üblen Fluch zur Bestrafung ein. Und dann?"

"Nun, dann bleibt immer noch, die Verwendung von Florymonts Erfindung zu beschränken und sicherzustellen, daß nur ausgewiesene Leute sie haben, Camille", klang Ammayamirias Antwort, nun wieder wie Camilles Mutter Aurélie betont. "Abgesehen davon steht wohl fest, daß sie keinen Zauberer mehr dulden wird. Aber die große Widersacherin ist nun mal eine Hexe."

"Ihr meint Anthelia. Aber die ist doch angeblich an den Folgen der Strahlenkrankheit gestorben, nachdem sie diesen Vampirfürsten Volakin vernichtet hat", wandte Camille ein. Temmie erwähnte dann, daß es Anthelia gelungen sei, sich mit einer anderen, mächtigen Magierin aus dem alten Reich zu einer einzigen Person zu verschmelzen, ähnlich wie Ammayamiria, jedoch nicht durch die Kraft der über den Tod hinausreichenden Liebe, sondern durch die Kraft der Angst vor dem Tod und der Gier nach Macht und Wissen. Camille fragte, ob diese neue Hexe schon etwas angestoßen habe, was auf das alte Reich hindeutete.

"Sie sucht, Camille. Sie sucht die Hinterlassenschaften der großen Meister meiner alten Heimat. Jede davon wird von einem inneren Wächter gehütet. Doch es ist nicht ausgeschlossen, daß sie den einen oder anderen Gegenstand erobern kann, falls der innere Wächter nicht siegt und sie dabei restlos vernichtet", erwiderte Temmie. Camille nickte. War es vorher nur Sardonias Vermächtnis, kam nun die Idee dazu, mit den Sachen aus Atlantis oder Altaxarroi eine göttergleiche Macht zu erringen, womöglich zum achso guten Zweck, das alte Erbe zur Ordnung der chaotischen Menschheit und Herstellung der Einheit zwischen Magiern und Muggeln. Das reichte Camille als die begründung schlechthin aus, um im nächsten Moment zu verkünden:

"Ich werde den Krug suchen und da wegholen, wo er ist. Und sollte ich dabei mein eigenes Leben verlieren, so muß Chloé eben mit Philemon zusammen bei Uranie aufwachsen."

"Du wirst nicht sterben oder von Aiondara auf ewig gefangengehalten werden, wenn du das Zeichen unserer gemeinsamen Urmutter Ashtaria mitnimmst, Camille", sprach Ammayamiria ihrer Mutter und Tochter Mut zu. Camille nickte und versprach, ihre Möglichkeiten zu nutzen, um diese neue Hexe nicht an den Krug gelangen zu lassen, wenn sie schon mal dazu die Macht hatte. Mit gewissem Grauen dachte sie daran, daß eben diese Hexe mit dem Duotectus-Anzug Florymonts eine geniale Möglichkeit bekommen mochte, sich dieses Artefakt zu holen. Besser war es, wenn sie zuerst danach suchte. Mit diesem Entschluß verabschiedeten sich Temmie und Ammayamiria von Camille Dusoleil. Diese sah die trächtige Latierre-Kuh noch einmal an und fragte sie, ob Julius davon erfahren solle. Doch Temmie verneinte es. "An den Krug darf er nicht dran. Nimm du ihn besser! Er muß es erst wissen, wenn es für ihn wichtig ist, es zu wissen. Vorher nicht. Er weiß, daß es den Krug gibt. Aber wo er jetzt ist muß er nicht wissen, wenn du ihn an dich nimmst." Das sah Camille ein. So hatte sie jetzt eine Aufgabe, herauszufinden wo der Krug war, ohne die, die sie fragen mußte mit der Nase darauf zu stoßen. Da wartete Ammayamiria mit einer überraschenden Antwort auf:

"Frage den, der den Krug schon berührt und ihren Ruf vernommen hat. Es ist ein englischer Muggelstämmiger, der im Zaubereiministerium arbeitet. Er weiß, wo der Krug ist. frage ihn, Tim Abrahams, einfach nach dem Liegeplatz der "Lady Amber"!" Camille wollte noch was erwidern, erwachte dann aber. Sie lag neben Florymont, der tief und selig schlief. Träumte der vielleicht auch mal von Ammayamiria? Camille fühlte sich zumindest gerade so, als wäre dies vielleicht die letzte Nacht im Jardin du Soleil. Da quängelte Chloé. Das ließ sie daran denken, für was es sich zu leben und zu sterben lohnte. Chloé kam in dem Moment zur Welt, als in Hogwarts der dunkle Erzmagier mit dem gefürchteten Namen seinen letzten Schlag führte und selbst davon niedergestreckt wurde. Chloé war das Kind einer neuen Zeit. Sie war die neue Zeit. Diese durfte nicht durch Anthelia und eine ihr namentlich nicht vorgestellte Magierin aus dem alten Reich zerstört werden. Sie wollte, daß Chloé eines Tages selbst Kinder haben konnte. Das ging nur, wenn es bis dahin noch eine Welt gab, in der Kinder leben konnten.

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Sophia Whitesand blickte den neuen Chef des Büros für die Koexistenz von Muggeln und Magiern über ihre halbmondförmigen Brillengläser an. So ähnlich hatte ihr Cousin Albus Dumbledore immer geschaut, wenn er etwas klarstellen oder genauer wissen wollte, dachte Tim Abrahams. Dann fragte die Herrin von Whitesand Valley ihn: "Ist Ihnen der Ritualzauber Weg der Fische bekannt, Tim?" Der Besucher schüttelte den Kopf. Mit astrologie hatte er es nie gehabt. Das sagte er seiner Gastgeberin auch. Diese nickte und erläuterte ihm, daß es sich um einen mächtigen Astralzauber handelte, also einen, der die Verbindung zwischen der Kraft der Gestirne oder Sternbilder zu den Menschen herstellte und sie auf bestimmte Auswirkungen ausrichtete. In diesem Fall handele es sich um einen Zauber, der in Verknüpfung mit dem Sternbild der Fische Macht über im Wasser lebende Tiere verlieh. Während eines der Tierkreismonate, die in der Astrologie mit dem Element Wasser in Beziehung gesetzt wurden, wirke dieser Zauber viermal leichter, könne aber auch in allen anderen Monaten des Jahres verwendet werden. In jedem Fall koste seine Anwendung jedoch das dreifache der Ausdauer pro Zeiteinheit, die eine andere körperliche oder geistige Tätigkeit fordere. Tim ahnte, warum sie ihm das erzählte. Da sagte sie auch schon: "Falls Sie es sich zutrauen, es von mir zu erlernen, werde ich es Ihnen genauso zuverlässig beibringen, wie die Widerstandskraft gegen den Imperius-Fluch. Denn ich benötige einen Zauberer, der mit mir das Wrack der "Lady Amber" unbetretbar macht oder an einen Ort verschiebt, an dem sie keiner mehr sucht. Ich muß nämlich davon ausgehen, daß es jemanden innerhalb des englischen, französischen oder US-Amerikanischen Zaubereiministeriums gibt, der den Liegeplatz der "Lady Amber" weitermeldet und es jemanden gibt, der oder die andere Muggel dazu bringen kann, mit Tieftauchautomata das Wrack aufzubrechen und den Krug zu erbeuten, ja selbst das Ritual ausführen kann. Da wir jetzt März haben, also den Monat der Fische, könnte der oder die es sehr leicht ausführen und uns zuvorkommen. Daher zählt jeder Tag, vielleicht sogar jede Stunde."

"Ich kann mich nicht so einfach zurückziehen, ohne daß es auffällt", sagte Tim Abrahams. "Das würde auffallen", fügte er noch hinzu. Sophia Whitesand nickte. Doch die altehrwürdige Hexe hatte schon eine Lösung parat:

"Nachdem Ihre Schwiegermutter die Familien derer an die Strafverfolgung ausgeliefert hat, die versucht haben, ihre drei Töchter gegen deren Willen zu verheiraten, ist Ihre Schwägerin Brigid nur noch als niedergelassene Heilerin tätig, nicht wahr?" Tim Nickte. "Nun, dann kann sie sicherlich für die Zeit, die wir beide mit dem Ritual und der damit zu bewältigenden Mission zubringen Ihre Vertretung übernehmen. Alles was wir dazu brauchen ist genug Haar von Ihrem Kopf."

"Vielsaft-Trank?" Fragte Tim, obwohl er die Antwort schon kannte. Seine Gastgeberin nickte. "Sie verlangen eine Menge von meiner Familie und mir, werte Dame. meine Frau ist froh, daß sie wieder mit mir im selben Zimmer schlafen darf, obwohl Garwin uns jede Nacht zweimal weckt. Die wird doch nicht wollen, daß ihre eigene Schwester neben ihr im Bett liegt."

"Abgesehen davon, daß Galatea in ihrer frühesten Kindheit häufiger bei ihren älteren Schwestern im Bett mitgeschlafen hat muß Brigid ja nicht das Bett mit ihr teilen. Sie muß lediglich lange genug Ihre Rolle spielen, um im Ministerium zu arbeiten."

"Sie wollen das ausnutzen, daß dort noch immer kein wirksamer Vielsaft-Trank-Erkennungszauber wirkt", knurrte Tim, der diese gefährliche Schwachstelle kannte. Sophia nickte. Dann fragte sie ihn, ob er die angefangene Mission, die durch die Versenkung der "Golden Hope" einen solchen Rückschlag erhalten hatte, doch noch zu einem für alle günstigen Ausgang führen wolle oder es lieber sähe, wenn andere Zauberer und Hexen die beiden Wächter überwältigten und sich den mächtigen Krug aus dem alten Reich anzueignen versuchten. Ob sie es schaffen würden war zwar fraglich, aber leider nicht ganz auszuschließen. Tim dachte einige Zeit darüber nach. Es war ihm mulmig, sich vorzustellen, daß Brigid seine Kleider trug, mit seiner Stimme, seinem Gesicht und seinem Namen herumlief und überhaupt jemand seine Rolle spielte. Hätte er das umgekehrt auf sich genommen, Gestalt und Geschlecht zu wechseln, um jemandem genug Zeit für heimliche Aktionen zu verschaffen? Er war sich sicher, daß Ceridwen Barley und ihre Töchter von Sophia Whitesand den Befehl erhalten konnten, alles zu tun, was ohne einem Menschen zu schaden getan werden mußte. Offen hatte dies ihm niemand eingestanden. Doch er war sich sicher, daß Sophia Whitesand, die Cousine des wohl jetzt wirklich in Frieden ruhenden Albus Dumbledore, die Anführerin der britischen Gruppe der Sororitas Silenciosa war. Dann dachte er an deren Gegenspielerinnen, vor allem die Erbin Sardonias. Wenn sie das Ritual vom Weg der Fische kannte, so war die womöglich durch ihre Spione in den Ministerien schon darauf gebracht worden, die "Lady Amber" zu suchen. Je weniger wußten, daß das Schiff eine gefährliche Fracht barg desto besser. Er überlegte noch einmal und sagte dann zu. Er durfte dann noch einmal nach Hause und sich von seiner Frau verabschieden.

"Willst dich nur um deine Vaterpflichten herummogeln", grinste Gally. "Schon sehr gewöhnungsbedürftig, daß ausgerechnet Giddy als du rumlaufen soll. Aber ich darf das ja nicht, weil ich als stillende Mutter keine Aktionen ausführen darf, die mich an der Versorgung unseres Kindes hindern können." Tim wagte keinen Kommentar. Statt dessen küßte er seine Frau noch einmal zum Abschied und sagte: "Jetzt weiß ich, warum ich ganz sicher wieder zu dir zurückkommen will, Gally."

"Gib meiner Mutter genug Haare von deinem Kopf, damit Giddy lange genug in deinen Sachen rumlaufen kann. Hoffentlich kriegt sie während der Zeit keinen Einsatz."

"Tja, da kann ich jetzt nicht dran drehen", sagte Tim. Er schnitt sich mit einer Schere sämtliche haare vom Kopf, rasierte sich alle Haare von Schultern und Brustkorb und übergab sie seiner Schwiegermutter, der Zaubertrankexpertin. Diese wünschte ihm viel Glück für die Mission und daß er ja wiederkommen solle. "Paß auf, daß die gute Sophia dich nicht herumkriegt, wo wir jetzt wissen, daß du gesunde Kinder auf den Weg bringen kannst, Timothy", scherzte sie noch. Doch Tim überhörte diese derbe Bemerkung geflissentlich. Dann kehrte er per Portschlüssel nach Whitesand Valley Zurück.

Am nächsten morgen verließ Brigid Barley, die sich schon längst einen Urlaub für drei Wochen hatte genehmigen lassen, mit einem gewissen Unbehagen den Hof Hühnergrund. Niemand argwöhnte, daß der Zauberer, der wie Tim Abrahams aussah, sprach und handelte, in wirklichkeit eine Hexe war.

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"Was ist das? Ein Meerfrauentrank?" Fragte Tyche Lennox, als Anthelia ihr zwei Wochen nach Patricias Bericht eine bauchige Flasche mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit zeigte. Anthelia hatte ihr erzählt, daß sie einen Trank brauen könne, der Menschen für eine gewisse Zeit die Eigenschaften gleichgeschlechtlicher Meermenschen verlieh.

"Ich mußte sehr behutsam sein, um die dafür notwendigen Ingredentien zu beschaffen", entgegnete Anthelia. "Ich wollte es nicht mit mehr als einer weiteren Schwester durchführen, was ich nun vorhabe."

"Mit wem sonst und was genau? Falls ich dies fragen und wissen darf, höchste Schwester", erkundigte sich Tyche mit gewissem Unbehagen.

"Nun, außer uns beiden ist nur noch Schwester Patricia in die Unternehmung einbezogen, wenn auch bereits mit ihrer Aufgabe fertig", erwiderte Anthelia und sagte dann nur: "Du wirst zum Wrack des Schiffes "Lady Amber tauchen, die dort wachenden Geister zweier wegen dieses Schiffes getöteter Zauberer mit einer Geisterfessel lange genug bannen und dann mit einer nicht direkt auf ihn wirkenden Magie und einem irgendwie möglichen Hilfsmittel einen Krug aus einem Laderaum bergen, Schwester Tyche. Der Krug darf nicht mit den Händen berührt werden, ob mit Handschuhen oder barhändig. Denn ihm wohnt eine übermächtige Zauberkraft inne, die nur wenige überstehen und überwinden können. Da der Krug aus Naaneavargias Heimat stammt, bin ich mir sicher, zu diesen wenigen Personen zählen zu dürfen."

"Hmm, und was macht die Macht, wenn jemand den Krug anfaßt?" Wollte Tyche wissen.

"Wenn du ihr nicht gefällst und ihr nicht zu widerstehen vermagst macht die Macht dich mausetot, Schwester Tyche. Hinzukommt, daß du dann nicht einmal in die Nachwelt übertreten kannst, weil der Krug und die ihm innewohnende Kraft dich dort gefangenhält wie Marie Laveaus Geist den des entkörperten Totentänzers gefangengesetzt hat", rückte Anthelia mit einer für Tyche lebenswichtigen Erläuterung heraus. Die muggelstämmige Mitschwester, die die Geburt der neuen Anthelia miterlebt hatte und wußte, was sie nun alles konnte, erbleichte. Dann nickte sie und schlug vor, von der Wasseroberfläche her ein Seil mit großem Haken in die Tiefe zu bringen, an dem der Krug dann eingehängt und hochgehievt werden konnte. Anthelia schüttelte den Kopf.

"Das französische und das britische Zaubereiministerium kennen den Ort, an dem das Schiff liegt und könnten an der Wasseroberfläche Beobachtungsposten errichtet haben. In die Tiefe kommen sie noch nicht. Aber ich hörte, daß im April eine neuartige Erfindung an das Ministerium und Erforscher der Gewässer und Extremgebiete ausgeliefert werden kann. Womöglich ist es eine Art Schutzbekleidung wie ein Drachenhautpanzer, sofern dieser Erfinder es nicht wagt, die Maschinen der Muggel eins zu eins nachzuempfinden, bis auf den Antrieb natürlich. So drängt die Zeit."

"Hmm, warum dann jetzt erst?" Fragte Tyche.

"Weil, wie ich denke, erst genug Zeit vergehen mußte, um den Fund der "Lady Amber" sowohl vor den Nachrichtenverbreitern der Muggel wie der Zaubererwelt unwichtig genug werden zu lassen. Zudem haben die Ministerien jetzt mehr Probleme mit Nyx und ihrem Wunschtraum von einem Vampirreich ohne Landesgrenzen. Da ich auch ein sehr starkes Interesse hege, dieses Reich nicht erblühen zu lassen, brauche ich diesen Krug. Du hast die große Ehre, ihn mir zu beschaffen."

"Du kannst keinen Verwandlungstrank mehr nehmen", erwähnte Tyche leise etwas, was sie ja schon längst wußte. "Bei den Muggeln gilt der Grundsatz, niemals alleine zu tauchen, höchste Schwester. Wäre es da nicht besser, mir Patricia als Begleiterin mitzugeben, wenn du selbst mich nicht begleiten kannst?"

"Patricia brauche ich für den direkten Kampf gegen Nyx, da sie etwas besitzt, was sehr wirkungsvoll ist und ich nicht riskieren möchte, daß sie es unter Wasser verliert", erwiderte Anthelia zwischen Lüge und Wahrheit. Einerseits stimmte es, daß Patricias Medaillon die Kräfte der Sonne und damit die natürliche Hauptfeindin der meisten Vampire bündeln konnte. Andererseits konnte sie wegen Dairons dunkler Erbschaft, die sie in ihren dritten Körper mitgenommen hatte, nicht näher als zwanzig Meter an Patricia Straton heran, ohne große bis höllische Schmerzen zu erleiden. Bei einem Ausflug ähnlich dem Tauchgang zu Madrash Ghedons Erbschaft würden sie aber nur fünf bis sechs Meter voneinander entfernt bleiben. Zudem kam noch, daß Anthelia wohl wußte, daß Patricia sich durch diese Machtkonstellation den übrigen verbliebenen Schwestern überlegen fühlte und Anthelia es irgendwann zeigen würde, ob diese noch ihre unbestrittene Anführerin war. Denn Anthelia war nicht so naiv zu glauben, daß intelligente Hexen sie immer ohne Druck akzeptieren würden. Ihre Entomanthropenzucht hatte bei vielen doch leise bis erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der Gefolgschaft geweckt. Doch das wiederum mußte Tyche nicht kümmern, sofern die sich nicht schon längst ähnliche Gedanken gemacht hatte.

"Verstehe, wie ihr zwei damals Nyx vom Zaubereiministerium verjagt habt", erwiderte Tyche auf Anthelias Erläuterung. "Aber trotzdem sollte ich da nicht alleine runtergehen", fügte sie noch hinzu.

"Ich würde dich zu gerne begleiten. Doch du hast es ja schon erwähnt, daß ich keinen Trank mehr einnehmen kann", grummelte Anthelia. "Aber ich werde dich exosensorisch überwachen", fügte sie noch hinzu. Das beruhigte Tyche Lennox. "Du mußt dann noch eines deiner Hare in die Phiole geben, so daß die Meermenschenessenz auf dich abgestimmt wird. Außerdem verbleiben dir nach dem Trinken des Trankes nur ganze zwölf Stunden Zeit. Hast du es bis dahin nicht geschafft, das Wasser zu verlassen und kannst freie Luft atmen, so wird die Verwandlung in eine Meerfrau vollendet und du verlierst alle magischen Kräfte, die du als Hexe hattest", wies Anthelia Tyche noch an. Diese machte schon anstalten, den Auftrag abzulehnen. Doch der unerbittlich fordernde Blick der blaugrünen Augen der höchsten Schwester verwährte jeden Widerspruch. Tyche nickte, daß sie alles verstanden hatte.

Einen Tag später verließ ein kleines, unauffälliges Ruderboot die Insel Martinique. Anthelia hatte es mit Unaufspürbarkeitszaubern gegen die Funkmeßgeräte der Muggel abgeschirmt und mit dem Propulsus-Zauber auf eine beachtliche Geschwindigkeit gebracht. knapp drei Stunden später erreichten sie den von Patricia ausgerechneten Punkt. Tyche atmete kurz durch, ergriff dann die verkorkte Phiole und öffnete diese. Mit einem todesverachtenden Gesicht schluckte sie das klare, golden schimmernde Gebräu hinunter. Sie schlüpfte aus dem Unterteil ihres marineblauen Bikinis und verzog das Gesicht, als ihre nun nackten Beine wie von der Beinklammer zusammengeschlagen wurden. Sie keuchte, ächzte und wimmerte, während ihre Beine und ihr Unterleib zerflossen und sich wie von unsichtbaren Händen geformt zum hinteren Teil eines Fischkörpers umbildeten. Silbergrüne Schuppen, wie sie Meermenschen in der Nordsee besaßen, sprossen aus dem sich gänzlich zum Fischschwanz ausformenden Hinterleib. Auch an den von dem ohnehin sehr textilsparenden Bikinioberteil freigelassenen Hautpartien wuchsen silbergrüne Schuppen. Ihr Wachstum endete jedoch genau unter dem Kinn Tyche Lennox'.

"Mann, tat das Weh! Hast du eine Wöchnerin um ihre Zutaten gebracht, höchste Schwester?" Fragte Tyche mit einer nun merkwürdig sphärischen Stimme, als streiche jemand ein hauchzartes Glas mit nassem Finger über den Rand an.

"Die Fortpflanzung der Meerleute ähnelt nur in wenigen Punkten der unseren. Aber du möchtest sicherlich keinen Meermann zum Vater deiner Kinder machen, oder?" Erwiderte Anthelia leicht verdrossen. Tyche verneinte es. Dann nahm sie ihre Ausrüstung, den Gummisack und eine silberne Scheibe, die Anthelia kurz antippte. "Deine Zeit, Tyche. Jeder leuchtende Punkt zeigt eine verbleibende halbe Stunde deiner Zeit an. Erlischt er, ist diese halbe Stunde unwiederbringlich vergangen. Viel Erfolg!"

Tyche nickte. Ihr Kopf war noch derselbe wie vor dem Trank. Anthelia hatte sie noch einmal über die Meermenschen und ihre Fähigkeiten informiert, weil Tyche keine Zauberwesen in Thorntails kennengelernt hatte. Die verwandelte Mitschwester glitt mit einem Schwung über Bord und klatschte in die tropischen Fluten. Es dauerte einige Sekunden, bis sie es ansatzweise heraushatte, ihren neuen Körper im Wasser zu bewegen. Dann verschwand sie unter Wasser.

Anthelia konnte sehen, wie das Wasser aufgewirbelt wurde. Die "Lady Amber" lag zwanzig Kilometer von ihrer jetzigen Position entfernt, zu weit, um sie mit dem Fernrohr zu beobachten, daß Patricia Straton ihr nach ihrer Mission zurückgegeben hatte. So blieb nur der Exosenso-Zauber. Anthelia versuchte ihn. Doch als wenn jemand sie zurückstieß verlor sie sofort die Verbindung zu Tyche. Hatte diese Närrin etwa einen Gegenzauber auf sich gelegt? Noch einmal versuchte sie es. Wieder prallte sie auf eine Barriere, ohne Tyches Wahrnehmung überhaupt erreicht zu haben. Noch einmal versuchte Anthelia es. Doch erneut prallte sie auf unachgiebigen Widerstand. Dann fiel ihr mit schmerzhafter heftigkeit ein, daß nur magische und nichtmagische Menschen sowie unmagische Tiere mit diesem Zauber überwacht werden konnten, als nehme der Zauberkundige die Sinne des überwachten Wesens wahr. Bei Zaubertieren wie Knieseln, Nogschwänzen oder Volpertingern, aber auch und vor allem bei Zauberwesen wie Hauselfen, Kobolden, Sabberhexen, Vampiren und wohl auch Meerleuten traf er auf einen angeborenen Widerstand. Offenbar hatte Tyche diesen Schutz mit dem Zaubertrank zu sich genommen. Anthelia ärgerte sich über ihre eigene Kurzsichtigkeit. Sie, die immer und überall alles genau unter Kontrolle haben wollte, hatte aus purer Unbedachtheit Tyche in eine von ihr nicht mehr zu überwachende Lage getrieben. Sollte sie mit dem Boot zu der "Lady Amber" hinfahren und sie mit dem Fernrohr überwachen? Soweit sie wußte hatte das Französische Zaubereiministerium nach dem Untergang des Schatzsucherschiffes verbreitet, daß dieses hundert Kilometer weiter östlich wegen einer Sprengstoffexplosion gesunken sei. Dort war das Meer etliche hundert Meter tiefer und die Besatzung damit nicht zu bergen, sofern Haie und andere Raubfische etwas bergbares von ihr übrigließen. Die Zone, wo das Wrack selbst lag war von einem einen Kilometer durchmessenden Muggelabwehrzauber umgeben. Also konnte sie dort hinein vordringen. Dann verwarf sie diese Idee wieder. Denn sie müßte dann mit Tyche einen neuen Treffpunkt ausmachen. Das würde Tyche jedoch verraten, daß die Überwachung nicht klappte. Dann würde Tyche wohl unverrichteter Dinge zurückkehren. Bisher hatte sie keinen anderen als den Treuefluch als zum Gehorsam zwingenden Zauber auf eine Mitschwester angewandt. Wollte sie dann wirklich den Imperius-Fluch benutzen? Nein, so unangenehm es ihr war, sie wollte es lieber riskieren, daß Tyche unüberwacht blieb und ihre Mission in der Gewißheit, daß Anthelia sie überwachte durchführen.

Die Zeit verging träge wie ein langsam fließender Lavastrom. Anthelia hielt immer wieder die Umgebung im Auge. Da erfaßte sie Gedanken des Zorns und der Angriffslust, die von unten her auf sie zukamen. Es waren mehrere denkende Lebewesen. Meerleute! Anthelia kannte es noch zu gut, wie schnell Wasserkrieger angreifen konnten. Doch was jetzt? Sie konnte Tyche nicht allein lassen. So hob sie den leichteren Verankerungszauber auf und hieb mit dem Zauberstab auf den Bug des Bootes ein. Die ihr entgegensteigenden Wasserkrieger mochten noch einhundert Meter unter ihr sein. Sie jagte das Boot mit dem Propulsus-Zauber los, hart nach rechts oder auch Steuerbord und dann gerade aus. Die wütenden Meerleute stießen gerade mit ihren Nesselgiftspeeren aus dem Wasser, wo das Boot vor zwei Sekunden noch war.

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Sophia Whitesand hätte auch eine exzellente Lehrerin und Schuldirektorin von Hogwarts sein können, fand Tim, als er nach zwei Wochen Intensivem Studium des astralmagischen Rituals Weg der Fische und mehreren Fehlversuchen durch den Atlantik schwamm. Eigentlich war es ein Delphin, in dessen Sinneswelt und Körperbeherrschung er sich mit dem über eine Viertelstunde dauerndem Ritual eingefunden hatte. Die verspielte Art und den Hunger auf rohen Fisch in seinem Kopf mußte Tim aufpassen, sich nicht komplett in der fast fremden Daseinsform zu bewegen. Die Fähigkeit, mit Ultraschallklicklauten ein hörbares Bild der Umgebung zu erfahren, das Schwimmen mit Flossen, das merkwürdige Gefühl, keine frei beweglichen Beine mehr zu haben und die Leichtigkeit, länger als er es früher konnte unter Wasser dahinzugleiten und über Wasser höher als er selbst war zu springen überwältigten ihn fast. Neben ihm schwamm eine stattliche Delphinkuh, die Matriarchin einer als Schule bezeichneten Gruppe, die gerade noch in der immensen Reichweite der hohen bis ultrahohen Rufe entfernt war. Sophia hatte ihm erläutert, daß sich zwei den Weg der Fische gehende, die noch dazu Wasserwesen derselben Art übernahmen, durch vereinfachten Mentiloquismus verständigen konnten. So war es für Tim, der die neue Erfahrungswelt erst einmal verkraften mußte, eine große Hilfe, die große, für Menschenaugen grau-weiße Delphinkuh neben sich zu haben.

"Du darst dich nicht in der Sinneswelt des anderen Körpers verlieren, Tim. Sonst kommst du nicht mehr aus ihr frei. Das ist wie in diesem Muggelmärchen von dem Kalif und seinem Großwesir, die sich in Störche verwandelt haben", hörte er ihre Stimme in seinem Geist, der von den gehörten Bildern der Umgebung sichtlich ergriffen war. Offenbar hatte sie das gemerkt, daß sein Verhalten sich immer mehr dem des Geisteswirtskörpers anglich. Ja, er hatte Hunger. Ja, er wollte schnell schwimmen und zum Imponieren des neben ihm schwimmenden Weibchens ein paar Sprünge vollführen. Doch er war kein Delphin, und seine Begleiterin würde wohl auch was dagegenhaben, wenn er die geborgte Erscheinung benutzte, um sich mit ihm verbotener Spiele hinzugeben. So konzentrierte er sich und erwiderte gedanklich:

"Das mit dem Zauberwort "Mutabor", ich werde mich verwandeln, richtig?"

"Genau das", erhielt er zur Antwort, während die Delphinin mit kräftigen Schlägen der waagerechten Schwanzflosse, bei Meeressäugern Fluke genannt, vor ihm davonschwamm. Er folgte ihr locker. Das wäre doch gelacht. Sein Wirtskörper war wesentlich jünger als die grau-weiße Dame da vor ihm, die schon sieben Töchter und zwölf Enkeltöchter zu Stande gebracht hatte. Er jagte sie. Sie jagte ihn. Sie tauchten tief und sprangen weit über die Wasseroberfläche. Tim fühlte sich so frei und stark wie vorher im ganzen Leben nicht. Er dachte daran, daß die Kriegsmarinen verschiedener Länder Delphine und Wale abzurichten versuchten, um als Spähtrupp, Minenleger oder Bergungskommando eingesetzt zu werden. Hoffentlich geriet er nicht in die Fänge solcher Militärdompteure.

Nach einer halben Stunde gebot Sophia Whitesand ihm, die Rückkehrformeln zu denken, die seinen Geist aus der fremden Hülle lösten und dem Delphin seine Freiheit zurückgaben. Es klappte nicht im ersten Ansatz. Doch der zweite führte zum Erfolg. Keuchend erwachte Tim neben Sophia Whitesand an Bord eines kleinen bootes, in dem auch Patience Moonriver saß und die beiden überwachte.

"Oma Sophia, du bist noch sehr gut in Form", lobte Patience ihre Großmutter, als diese ihren eigenen Körper wieder fühlte und bewegte. "Mann, als hätte ich eine Stunde Joggen oder drei Stunden Schach hinter mir", erwiderte Tim, der ein leichtes Brummen unter seiner Schädeldecke fühlte.

"Jedenfalls hast du es jetzt richtig heraus. Die Leichtigkeit der Mond-Fische-Konsteellation und die Fokussierung der astralen Energien funktioniert. Morgen werden wir in sicherem Abstand zur "Lady Amber" zwei Meeresbewohner ausborgen, die uns helfen, das Schiff entweder umzuwerfen oder im Sand zu begraben", setzte Sophia Whitesand fest. tim nickte. Der Zeitplan war durch die anfänglichen Schwierigkeiten, sich mit den Besonderheiten der Astralmagie anzufreunden, ein wenig in Bedrängnis geraten. Hoffentlich hatte niemand die Zeit genutzt und war ihnen zuvorgekommen.

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Es war ein herrliches Gefühl, leicht und schnell in dieser wundervollen Landschaft dahinzugleiten. Tyche hatte in ihrem bisherigen Leben nichts erlebt, daß annähernd an diese Erfahrung gerade eben heranreichte. Vielleicht war Sex noch etwas, daß dieses Erlebnis übertraf. Aber das konnte sie nicht mit Bestimmtheit sagen, da sie bisher keinen getroffen hatte, mit dem sie körperliche Liebe erleben wollte. Insofern war sie gerade eine wahrhaftige Meerjungfrau. Elf Stunden und ein paar davonblinkende Minuten hatte sie Zeit, um dieses Erlebnis auszukosten und dann an Bord des gestohlenen Ruderbootes zurückzukehren. Doch der Auftrag kam zuerst dran. Nachher würde Anthelia sie nicht mehr ins Boot lassen, weil sie den Krug nicht mitbrachte. Dann konnte sie ihr ganzes Leben lang mit diesem kräftigen Fischschwanz herumschwimmen. Da wollte sie doch lieber eine Hexe sein, die fliegen, zaubern und apparieren konnte, eine junge Frau, die im Internet surfte und in hübschen Kleidern zu Partys ging, allerdings, ohne sich da mit Alkohol zuzuschütten.

Tyche dachte daran, ob Anthelia jetzt jede Bewegung und alles von ihr gesehene mitbekam. Sie wollte sie schließlich mit dem Exosenso-Zauber überwachen. Sie ging jetzt einfach einmal davon aus.

Jetzt sah sie die Masten des Segelschiffes vor sich. Da schwamm ihr etwas entgegen, das sie erst für ein Trugbild hielt: Feuer unter Wasser und ein leuchtendes, längliches Etwas. Dann erkannte sie die bläulich wabernden Umrisse eines Mannes, dessen Kopf in Flammen zu stehen schien. Da wußte sie, wen sie vor sich hatte. Sie richtete ihren Zauberstab auf den nicht so gut durch das tiefe Wasser vorankommenden Geist und rief: "Arresto Animam in Fundo!" Der Schwertträger flammte in einem hellen Blitz auf und stürzte wie ein schwerer Stein zu Boden, wo er wie von einer Tonnenlast niedergestoßen und plattgedrückt wurde. Sofort sah sich die falsche Meerjungfrau um und sah gerade noch rechtzeitig den zweiten Geist auf sich zuschwimmen, wobei dessen Gestalt zerfloß und sich immer wieder neu zusammenfügte. Das sah schon gruselig genug aus. Doch sie wollte sich bestimmt nicht von diesem Dunstmann mit eiskalten Fingern erwürgen oder sonst wie umbringen lassen. Sie wiederholzauberte ihren Bann von gerade eben. Er wirkte schneller und klatschte den zweiten Geist wie ein nasses Blatt Papier auf den Boden. Die beiden waren jetzt erst einmal kampfunfähig. So konnte sie nun auf das Schiff zuschwimmen und ihren Auftrag ausführen.

Doch was war das? Ein gigantischer Körper schwamm auf sie zu.

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Er war imposant. Mindestens 17 Meter lang und mehr als 40 Tonnen schwer glitt der Pottwalbulle durch das Meer. Keiner konnte ihm von außen ansehen, daß er nicht aus reinen Instinkten auf das Ziel in einem Kilometer Entfernung zuschwamm, sondern weil ein anderer Wille ihn leitete. Tim Abrahams hatte mindestens eine Stunde gebraucht, um das gigantische Tier gut genug zu fühlen und zu steuern, ohne sich dessen Sinnes- und Gefühlswelt auszuliefern. Jetzt bewegte sich der Pottwalbulle auf das im Dunkeln der ewigen Nacht der Tiefsee liegende Wrack zu, daß gerade mal doppelt so groß war wie er selbst. Durch die Übungen mit Delphinen auf die Erkennung von Sonarechos trainiert, ortete Tim mit Hilfe seines geborgten Körpers die Masten der "Lady Amber". Er konnte sogar die etwas heftigeren Echos unterscheiden, die von den ausgefahrenen Kanonen widerhallten. Es war ihm, als sähe er das Schiff mit den Augen vor sich, als eine grau-weiße, klar erkennbare Gestalt, wobei das weiße die herausragenden Geschütze waren.

Tim wußte nicht, wo genau seine Missionspartnerin Sophia Whitesand war. Sie wollte sich einen größeren Fisch als Leihkörper ausborgen, und mindestens zwei Stunden lang das Wrack beobachten. Seine Aufgabe war, das Wrack anzusteuern und falls möglich hochzustemmen und etliche Hundert Meter weiter zu schieben, dann umzuwerfen und mit Sand und Gestein zuzuschütten, daß niemand es mehr erkennen konnte.

Jetzt näherte er sich dem Heck des Schiffes. Da empfing er das Schallbild eines Wesens, das er erst für einen schnell voranschwimmenen Fisch hielt. Doch dann kristallisierte sich die Erscheinungsform deutlich in seinem Verstand. Es war ein Wesen, dessen hinterer Leib der eines Fisches mit senkrechter Schwanzflosse war. Doch der vordere Körper zeichnete sich als der eines Menschen ab, eines eindeutig weiblichen Menschens. Eine Meerfrau, hier in der Gegend? Was wollte die hier? Dann sah er das Licht, daß hier unten nicht hinzupassen schien. Es glühte in der Richtung, aus der die Meerfrau auf ihn zukam. Jetzt erfaßte er auch das längliche, feste Etwas, das die Meerfrau in der rechten Hand hielt. Er sah einen Zauberstab vor dem geistigen Auge. Eine Meerfrau, die einen Zauberstab verwenden konnte? Abgesehen davon, daß keine Zauberwesen außer Hexen und Zauberern Zauberstäbe verwenden durften, konnten Meerleute damit nichts anfangen. Ihre Magie wirkte über ihre Stimme und über ihre überragende Konstitution. Also was oder wer war das? Er schwamm auf das Schiff zu, genau wie die Meerfrau. Dabei empfing er die Echobilder eines großen Fisches, den er sofort als Tigerhai wiedererkannte. War das Sophia Whitesand?

"Die falsche Meerfrau, Tim", hörte er eine Warnung in seinem Geist und wußte, daß der Hai wirklich Sophias Leihkörper war. "Wirf das Schiff um!" Empfing er noch den dringend wirkenden Befehl. Sofort legte er einige Flukenschläge pro Minute zu und stieß auf das Wrack zu. Wo waren die beiden gespenstischen Aufpasser? Er schickte weitere Sonarklicks los und vermeinte, verschwommene Flecken im Wasser zu finden, als wenn etwas darin herumwühlte. Dann erkannte er erst richtig, was Sophia ihm mitteilen wollte. Das da vorne war keine Meerfrau, sondern jemand, die es angestellt hatte, wie eine auszusehen, eine Hexe mit Fischschwanz. Aber das ging doch auch nicht. Menschen konnten sich nur in gewöhnliche Tiere oder Pflanzen verwandeln, höchstens in Nebel oder Wasser auflösen und feste Gegenstände darstellen. Zaubertiere und Mischwesen wie Zentauren oder Meermenschen konnten sie nicht werden. Doch er mußte es zumindest akzeptieren, daß die falsche Meerfrau gerade den Zauberstab schwang und auf die von ihm als verschwommene Wasserbewegungen aufgefangenen Gestalten zielte, die gerade ansetzten, sie frontal anzugreifen. Die beiden Wasserbewegungen wirbelten mit hoher Geschwindigkeit davon. Jetzt konnte Tim im Licht des Zauberstabes auch erkennen, daß es perlweiße Gestalten waren, die wie in die Länge gezogen wurden und sich auf dem Meeresgrund ausbreiteten, bis er meinte, zwei bleiche Tücher auf dem Boden zu sehen. Geisterbinder, fiel es ihm ein. Ein Zauber, um einen Geist eine volle Stunde bewegungsunfähig am Boden zu halten. Montbleu hatte ihm das erklärt. Also hingen die beiden Mordgespenster gerade wie am Meeresboden aufgeklebte Abziehbilder fest und konnten die falsche Meerfrau nicht behelligen. Natürlich war diese auf das Schiff und dessen Inhalt scharf, wußte Tim und drängte seinen Leihkörper dazu, den Rumpf umzuwerfen. Die Meerfrau mit dem Zauberstab schoß auf ihn zu. Tim hatte die Backbordwand fast erreicht und war bereit, die Zähne des Wales hineinzutreiben und es umzuwerfen, als die falsche Meerfrau auf ihn zielte. "Stupor" Hörte er wie aus einem auf untere Frequenzen eingestellten Lautsprecher. Da jagte ein Gefühl großer Taubheit durch seine Bauchdecke. Er konnte sich nicht mehr richtig bewegen und glitt fast kraftlos über das Schiff hinweg. Da sein Tauchregulierungssystem im Kopf und Körper bereits wieder genug unverdichtetes Fett ausgebildet hatte, um ihn ohne sein Zutun nach oben zu bringen, glitt er dabei auch sachte in die Höhe. Doch er war noch bei Sinnen. Der Schocker hatte sich nicht so ausgewirkt wie bei Menschen. Tims Leihkörper war einfach zu groß dafür. Und noch etwas merkte er. Die Lähmung ließ von Pulsschlag zu Pulsschlag wieder nach. Doch erst langsam bekam er wieder Gewalt über die im Verhältnis zum Körper kurzen Brustflossen oder Flipper und die kräftige Fluke. als er sich wieder frei bewegen und durch reine Körperhaltung und Kraftausrichtung wieder nach unten sank, konnte er mehrmals das Wort "Reducto!" hören. Jedem Ausruf folgte ein in den Gehörgängen des Wales schmerzhaftes Krachen und knirschen. Er erfaßte es auch wie ein Bild von wild wirbelnden Blitzen und Stichflammen. Er fühlte die Angst seines Leihkörpers. Das von ihm geborgte Tier wollte fliehen. Seine Instinkte trieben es an. Seine eigene Intelligenz drängte die sie kontrollierende Intelligenz langsam zurück. Wenn Tim nicht aufpaßte, mochte er sich in der Empfindung des fremden Körpers verlieren und damit in diesem gefangenbleiben, bis sein rechtmäßiger Körper starb. Denn genau das war die größte Gefahr, die der Anwender des magischen Rituals Weg der Fische riskierte. Er rief sich in Gedanken die Wörter des Verweilens und Führens aus dem Ritual ins Bewußtsein und schaffte es, die ihn drängende Angst zu überwinden und seinem geliehenen Körper damit wieder seinem Willen zu unterwerfen. Doch als er sich dem Schiff näherte und mit seinem Sonar abhorchte, erkannte er, daß die falsche Meerfrau bereits das Verdeck aufgesprengt hatte. Er sah den Krug förmlich, weil er die harten Echos hörte, die von ihm ausgingen. Ja, genau so hatte Rollin ihn beschrieben, wenn er auch die Farbe nicht wahrnahm. Er sah ihn jedoch im Widerschein des Zauberstablichtes. "Sophia, wir kommen zu spät. Hilf mir bitte!"

"Ich komme", hörte er die Gedankenstimme seiner Missionspartnerin. Da empfing er auch schon die Echos, die von dem Hai widerhallten und die des von ihm verdrängten und nach hinten weggeschlagenen Wassers. Er schwamm auf das Schiff zu, in das die falsche Meerfrau gerade etwas großes, weiches hineinzulegen versuchte. Da griff der Hai sie an. Die Meerfrau warf sich herum und rief "Stupor!" Der Hai zielte mit dem aufgerissenen Maul auf den Zauberstab und bekam den Schocker voll hinein. Tim schlug vor Schreck mit der Fluke und schoß dadurch über die Masten der "Lady Amber" hinweg. Er rief in Gedanken nach Sophia Whitesand. Doch er bekam keine Antwort. Sophia hatte ihm erzählt, daß es für einen Ausborger übel ausgehen konnte, wenn der geliehene Körper getötet wurde. Denn dadurch konnte der Ausborger selbst unrettbar geschädigt werden. Was bei einem Schockzauber passierte wußte er nicht. Doch als Sohn eines Marineoffiziers wußte er, daß die Mission immer Vorrang hatte, auch wenn Kameraden fielen. Gerade um den Tod der Kameraden nicht sinnlos werden zu lassen mußte die Mission weitergeführt werden, bis sie beendet war oder nicht mehr beendet werden konnte. So warf er sich herum und jagte wieder auf das Wrack zu, während der geschockte Hai im Wasser dahintrieb. Die falsche Meerfrau beachtete ihn erst, als er über ihr schwamm. Sie hatte gerade etwas großes, weiches um den freigelegten Krug ausgebreitet und schwang ihren Zauberstab sehr träge durchs Wasser. Da empfing Tim das Echobild einer sich ausdehnenden Kugel, die etwas unter sich nach oben zog. Er hörte durch eine Abdämpfung hindurch das Echobild des magischen Kruges. Dann hörte er wieder "Stupor" und bekam den Schockzauber voll in den Bauch. Wieder hing er für einige Sekunden halbgelähmt im Wasser. Dann erst kehrte seine Bewegungsfreiheit zurück. Die Falsche Meerfrau schnellte vor ihm nach oben. Er bekam wieder Gefühl in Flippern und Fluke und stieß hinterher. Die gewaltige Welle, die er dabei machte warf die Meerfrau aus ihrer Bahn. Er schaffte es, sie zu überholen und näherte sich dem langgezogenen etwas, das ihn entfernt an einen Ballon mit Gondel denken ließ. Er vermutete, daß die falsche Meermaid entweder das in der Hülle eingesperrte Wasser verdampfen ließ, was bei der Wassertiefe und dem Druck schon sehr schwierig war, oder schlicht das eingesperrte Wasser mit einem Centigravitus-Zauber belegt hatte, daß es ebenfalls wie Ballongas Hülle und Traglast nach oben zog. Bestimmt wartete über der "Lady Amber" ein Schiff mit Zauberern oder Hexen auf diese Sendung aus der Tiefe des Meeres. Das durfte nicht sein. Er fühlte den Schockzauber wieder wirken, diesmal an der Fluke. Doch er erreichte durch den aufgebauten Schwung doch noch die abenteuerliche Konstruktion und schnappte mit seinem Gebiß nach dem unteren Ende. Es gab ein lautes Reißen und Schwappen, als die elastische Hülle auseinanderflog. Er erfaßte etwas sich schnell ausbreitendes, das sofort restlos zerstreut wurde. Gasblasen waren es nicht. Die hätten Geräusche verursacht. Dann erkannte er, daß er den Krug fassen mußte, bevor die Meerfrau ihn erwischte. Er riß das Maul auf und umschloß den Rest der Gummihülle und den Krug. Reflexartig würgte er das elastische Zeug hinunter. Dann berührte seine Zunge den Krug. Da überkam ihn etwas, womit er nicht gerechnet hatte.

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Anthelia hatte keinen Grund zu frohlocken. Denn die Meerkrieger setzten ihr nach, als ihr Überraschungsangriff nicht ins Wasser fiel, aber aus dem Wasser heraus in leerer Luft verpuffte. Das Boot glitt zwar schnell über die Wogen. Doch es schaukelte dabei auch hin und her. Die Meerkrieger waren exzellente Schwimmer, die jedem Delphin davonschwimmen mochten. Sie hoben ihre mit Nesselfadengift imprägnierten Speere an. Antehlia grinste. Gift machte ihr nichts mehr aus, seitdem die Tränen der Ewigkeit in ihr wirkten. Aber die Spitzen konnten ihr böse Verletzungen beibringen. Sie streckte den Zauberstab von sich und wirbelte damit herum. "Flammanulus Altissimus!" Rief sie. Unverzüglich loderte um sie herum ein heller Ring aus Zauberfeuer, das zwar so heiß und verzehrend war wie normales Feuer, jedoch ohne Brennmaterial auskam. Da hhörte sie auch schon das laute Knallen und Prasseln im Feuerring zerplatzender Speere. Selbst wenn diese feucht von den Meerestiefen waren, nützte ihnen das nichts. Denn die hellblauen Flammen, die bis zu zehn Meter über die Wasseroberfläche ragten, verbrannten alles wie Zunder.

"Euch mordlüsternen Makrelen werde ich heimleuchten, mich anzugreifen", knurrte Anthelia.

Der Feuerring verfehlte seine Wirkung nicht. Die Meerkrieger scheuten davor zurück. Dann fiel jedoch einem ein, darunter hindurchzutauchen. Doch Anthelias Boot war noch zu schnell. Die Hexenlady merkte jedoch, daß die beiden Zauber, der Vortriebszauber und der Feuerring, einander Kraft entzogen. Denn weil der Flammenring über Wasser wanderte und immer genau um Anthelia errichtet bleiben mußte, schluckte er immer wieder etwas von der Kraft des Propulsus-Zaubers, der wiederum Kraft aus dem Feuerring sog, um Magie in Fortbewegungskraft umzuwandeln. Anthelia erkannte, daß sie dabei war, eine Pattsituation herzustellen. Irgendwann würde das Boot langsam genug sein, daß die Wasserkrieger daruntertauchen und es mit vereinter Kraft zum kentern bringen konnten. War sie einmal im Wasser war sie diesen aufgepeitschten Meermännern ausgeliefert. Sie hatte beim Stoß aus dem Wasser mindestens zwanzig gezählt.

"Abolesceto Flammanule!" Rief Anthelia. Fauchend fiel der Feuerring in sich zusammen und hinterließ nur eine weiße Dampfwolke, die sich in alle Richtungen ausbreitete und dabei zerfaserte. Jetzt sprang das Boot förmlich nach vorne, weil der es bremsende Zauber verflogen war. Die Meerleute, die bereits unter Wasser lauerten, fielen wieder zurück. Anthelia wollte nicht einfach nur vor ihnen Flüchten. So holte sie nur einen ausreichend großen Vorsprung heraus, um mindestens zwei Minuten Zeit zu haben. Sie schüttelte die Meerleute ab, was sie an den Gedankenausstrahlungen merkte, die immer schwächer wurden und schließlich erloschen. Sie fuhr noch eine Minute lang mit Höchstgeschwindigkeit. Dann notierte sie auf dem mitgeführten Naviskop die zurückgelegte Entfernung vom markierten Punkt. Dann blickte sie sich um, was sie benutzen konnte. außer den nötigen Sachen wie Naviskop, Schlafzaubertrank und Lebensmittel für Anthelia und Tyche hatte das Boot nur die fest angebundenen Ruder und die vier hölzernen Rollsitze. Sie nahm erst die Ruder und warf sie über Bord. Als die nützlichen fortbewegungshilfen alle acht im Wasser lagen, vollführte Antehlia achtmal hintereinander eine Invivo-ad-Vivo-Verwandlung. Aus den Rudern wurden große Schwertwale, auch berühmt wie gefürchtet unter dem Namen Orca. Die vier Rollsitze machte sie zu Seeleoparden, die eigentlich im Südpolarmeer zu Hause waren. Sie fühlte schon die Annäherung der Hescher, die offenbar noch nicht aufgegeben hatten. Mit dem Imperius-Fluch jagte sie jedem herbeigezauberten Geschöpf den unbändigen Trieb ein, alles anzugreifen, was hinter dem Boot herschwamm und Fischschwänze besaß. Anthelia konnte nur hoffen, daß die Meermänner ihre Giftspeere beim ersten Angriff alle verschleudert hatten. Doch der Schrecken, von zwölf der gefährlichsten, räuberischen Meeressäuger attackiert zu werden mochte selbst diese zu allem entschlossenen Krieger das Fürchten lehren. Alleine die acht Orcas waren eine Streitmacht für sich, mit der sich kein tauchendes Lebewesen freiwillig anlegen würde. Die Vier räuberischen Robben jagten schon los, und die acht Schwertwale tauchten ihnen nach. Denn sie hatten die Flossenschläge anderer Wasserwesen gehört. Da trafen die beiden Wasserstreitmächte auch schon aufeinander.

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Das waren nie im Leben richtige Meerestiere, dachte Tyche. Ein Pottwal, der vom Heck her auf sie losgeschwommen war und dann noch ein Tigerhai, der jedoch keine tierhaften Gedanken ausgestoßen hatte, wie Anthelia ihr über die kaltblütigen Meerestiere berichtet hatte. Dann hatte sie die beiden Meerestiere auf Abstand bringen können und das Schiffsdeck zertrümmert. Danach wollte sie eigentlich den Krug im verschlossenen Gummisack mit dem Centigravitus-Zauber wie einen Ballon aufsteigen lassen. Doch dieser verflucht große Wal hatte sich von dem Schockzauber erholt, sie mit seiner Bugwelle aus der Bahn gefegt und einfach am unteren Ende des Leichtwasserballons gezerrt und die Hülle zerrissen. Dann hatte dieser Koloß den Krug ins Maul genommen, hatte einige Sekunden lang stocksteif im Meer gelegen und den Krug dann mit einem lauten Schrei ausgespuckt, so daß er weit fort trieb. Dann war der Wal in wilder Panik heftig mit der waagerechten Schwanzflosse austeilend davongeschossen, unberechenbare Wellen schlagend. Tyche konnte nur darauf achten, nicht auf den Meeresboden gedrückt zu werden. Die Wogen warfen sie wie eine Plastikente in der Badewanne herum. Den Wellen folgte der Sog des zurückdrängenden Wassers. Erst nach einer ganzen Minute hatte sich das Wasser wieder soweit beruhigt, daß Tyche kontrolliert schwimmen konnte. Sie sah den Krug, der gerade auf den Meeresboden sank. Sie hatte die klare Anweisung und Warnung, ihn nicht anzufassen. Den Gummisack konnte sie vergessen. Den hatte der abgedrehte Wal auf dem Gewissen. Oder war es vielleicht ein Animagus. Aber dann hätte der laut Anthelia den Krug behalten können oder sterben müssen. Und so panisch, wie das Ungetüm davongeschwommen war sprach auch für ein Tier, das mit einer völlig unbeherrschbaren und Angst bereitenden Situation konfrontiert wurde. Alle Walarten galten als sehr intelligent und neugierig. Doch wie Menschen wurden auch Meeressäuger zu Opfern unbändiger Angst, wenn sie etwas in Bedrängnis brachte. Sie sah noch den von ihr geschockten Hai irgendwo davontreiben. Den Krug konnte sie nicht so bergen. Sie mentiloquierte deshalb zu Anthelia: "Hast du es mitbekommen? Ich kann den Krug nicht hochbringen." Keine Antwort. Tyche versuchte es noch einmal. Wieder keine Antwort. Doch dann, nach der dritten Melo-Botschaft, erhielt sie eine Antwort.

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Es war kein Stromschlag oder Hitzeschock, kein Vereisungsschauer oder Schockzauber, sondern das Gefühl, in die Tiefe zu stürzen, in einem blauen Schacht dahinzurasen und dann in einer Halle zu schweben, die ihm vorkam wie zu einer mächtigen Blase geformter Himmel. Er sah vor sich den aus unendlicher Tiefe emporsteigenden Oberkörper einer Frau und hörte wie dröhnendes Glockengeläut ihre Stimme von überall klingen:

"Auch dieser Weg verhilft dir nicht zu meiner Gunst, verwegener Träger der Kraft. Sei zurückgeschicktt in deinen angeborenen Leib und verbleibe dort. Denn nur eine wahre Tochter meines Blutes, welche selbst schon einer Tochter Leben gab, darf um meine Gunst streiten." Dann hörte er noch ein lautes Schrillen, sah einen grellen, blauen Lichtvorhang vor seine Augen fallen und dann ... Dunkelheit und Schwärze umfingen ihn. Als er wieder aufwachte sah er Patience Moonrivers Gesicht über sich und fühlte, wie etwas belebendes ihm durch den Bauchnabel in den Leib drang und sich warm und anregend in seinem Körper verteilte. Dann fühlte er die Spitze eines Zauberstabes in seinem Bauchnabel und erkannte, daß er wieder in seiner angeborenen Wahrnehmungs- und Bewegungswelt lebte und daß er wohl gerade völlig nackt war, wo er das Ritual in seiner züchtigen Kleidung eingeleitet hatte. "Hallo, wer sind Sie?" Hörte er eine Frage der Heilerin wie durch Watte gefiltert. Dann klärten sich seine Sinne ganz und er röchelte: "Tim Abrahams, Leiter des Büros zur Sicherung der friedlichen Koexistenz magischer und nichtmagischer Menschen. Dienstnummer habe ich keine, Ms. Moonriver."

"Immerhin wissen sie auch noch, wer Sie sind und wer ich bin", entgegnete die Heilerin. Dann zog sie den zauberstab behutsam zurück.

"Sie haben mir die Sachen ausgezogen?" Fragte Tim, als seine erste Annahme zur Gewißheit geworden war.

"Genieren Sie sich vor Hexen?" Fragte Patience Moonriver. Neben sich hörte Tim eine ältere Frau verhalten kichern. "Ich mußte den Stimumbilicus-Zauber anwenden, und der geht merkwürdigerweise nur, wenn der patient nichts totes am Leib trägt. Zehrt ziemlich aus, aber erfüllt seinen Zweck."

"Madam Whitesand? Sie sind auch da?" Fragte er. Die genannte tätschelte ihm den Arm. Er wandte seinen Kopf nach rechts und schloß schnell die Augen wieder, weil er die neben ihm liegende Hexe nicht länger ansehen wollte.

"Das ist aber kein Kompliment, Junger Mann", lachte Madam Whitesand und zog ihm am rechten Ohr. "Seh ich denn wirklich schon so abstoßend alt aus?"

"Höflichkeit, Sophia. Ich wollte Sie nicht ungebührlich anstarren."

"Soso", lachte Madam Whitesand. "Patience, deck uns beide besser zu oder gib uns unsere Kleidung wieder!" Sagte die ältere Hexe.

"Ihr schlaft jetzt erst einmal richtig durch. War schon nahe am Exitus, wie ihr beide die Verbindung verloren habt. Da werde ich euch vor zwölf Stunden nicht mehr freigeben", stellte Patience Moonriver klar.

"Wir müssen aber noch mal da runter, junges Fräulein", schnarrte Madam Whitesand ihre Enkelin an. "Nicht, daß dieses falsche Meerweib ihrer Herrin den Krug besorgen kann."

"Ich kenne deine genauen Geburtstdaten, Oma Sophia. Und wenn die Minute nicht stimmt kannst du gerne mein Pflegling Nummer vier werden", drohte Patience. Tim wollte was sagen, da sprach Patience weiter: "Und wenn Sie noch meinen, sofort da runter zu gehen wachsen Sie mit meiner Oma zusammen als Geschwisterpaar auf und steigen mit Ihrem Sohn in den Hogwarts-Express."

"Patience, dieses falsche Meerweib könnte den Krug seiner Herrin ausliefern, wenn die das macht, was ich noch gesehen habe", schnarrte Sophia. Tim schritt ein und sagte schnell: "Neh, ich habe die Gummihülle oder wo sie ihn eingeschlossen hat kaputtgebissen und den Krug rausgezogen. Allerdings hat der mich dann wohl heftig abgestraft, weil ich den im Maul hatte. Irgendeine Geisterfrau in einer blauen Leuchtblase hat mir überlaut verdeutlicht, daß sie nur von denen was will, die ihre nachgeborenen Töchter sind und selbst schon eine Tochter bekommen haben. Ich glaube nicht, daß dieses Meermädel eine ist, sonst hätte die den Krug ja gleich anfassen können."

"Gut, dann haben wir Zeit. Patience, sei so lieb und deck uns nur zu. Du mußt uns zwei nicht neu großziehen. Halte deine Ammenkünste besser für richtige Säuglinge warm, die nichts dafür können, so klein und hilflos zu sein!"

"Dann trinkt bitte den Sanasomnius-Trank, Oma Sophia und Mr. Tim Abrahams!" Befahl die Heilerin und gab den beiden Becher mit Purpurner Schlaflösung. Tim kippte den Inhalt auf ex hinunter, während Sophia andächtig trank, bis der erholsame Schlaf sie beide übermannte. Patience deckte die beiden Fischwegler, wie sie sie in Gedanken genannt hatte, wieder zu. Langsam erschien ihr die Abenteuerlust ihrer Großmutter doch ein wenig bedenklich. Dann fragte sie sich, ob ihr dabei was passiert wäre, wenn sie ihre ranghöchste Mitschwester infanticorporisiert hätte. Nachher wäre ihr das höchst übel bekommen.

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Anthelia beobachtete und belauschte den Kampf der echten und falschen Meereskämpfer. Die zwanzig Krieger hatten noch einige Speere. Doch die sie attackierenden Seeleoparden waren zu schnell und griffen nach den Fehlwürfen an. Die Orcas trieben die nun mit Korallendolchen kämpfenden Meerleute auseinander, bissen in die Schwanzflossen und warfen die Meermänner aus dem Wasser hoch, um ihnen beim herunterfallen mit geöffneten Mäulern aufzulauern und mit aller von Menschen für Brutal angesehenen Gewalt die Gliedmaßen und das Genick zu zerfetzen. Anthelia überlegte, ob sie den Kampf als Ablenkungsmanöver nutzen und schnell zum Liegeplatz der "Lady Amber" fahren sollte, als sie die Gedankenausstrahlungen von anderen Meerleuten erspürte, die sich quer ab Backbord näherten. Anthelia schluckte eine Verwünschung hinunter. Statt dessen lächelte sie kalt. Zwar konnte sie jetzt keine künstlichen Kämpfer mehr losschicken. Aber diesen Meerleuten sollte der Spaß vergehen. Anthelia zirkelte mehrmals mit dem Zauberstab über dem Boot und sprach dabei eine altaxarroische Formel, die tote Dinge von einer Oberfläche abheben und in einem gewünschten Abstand mehrere Minuten oder Stunden verharren lassen konnte. Das Boot stieg mit Anthelia aus dem Wasser empor, zehn Meter, zwanzig Meter, dreißig Meter. Da zischten die ersten Nesselspeere an ihr vorbei und klatschten ins Meer zurück. Sie stieg noch einige Meter weiter, bis sie ein Kommandowort sprach, um den Aufstieg anzuhalten. Dann zielte sie auf die unter ihr lauernden Meerleute und jagte ihnen mit "Bollidius!" mehrere Feuerbälle auf die wie geschlossene Haifischmäuler aussehenden Muschelschalenhelme. Den Flammenbällen konnten die da unten nichts entgegensetzen. Viele von ihnen zerplatzten regelrecht im losgelassenen Feuer. Andere erlitten qualvolle Verbrennungen, sofern sie nur die Ausläufer der explodierenden Flammenbälle abbekamen. Nach zehn Sekunden konnte Anthelia keinen Meermann mehr erfassen. Zwei hatten sich noch absetzen können, als die erste Gruppe erwischt wurde. Die würden entweder zusehen, sich bei ihrem General oder König nicht mehr blicken zu lassen oder meldeten einen überlegenen Feind. Sie wartete noch einige Sekunden und nahm den Zauber der unsichtbaren Tragsäulen zurück, der das Boot über dem Wasser gehalten hatte. Als es platschend wasserte, erspürte sie, daß von der ersten Angriffswelle nur noch vier Mann lebten. Von ihren künstlichen Hilfstuppen gab es noch sechs Orcas und zwei Seeleoparden. Da würde sie wohl dem unbekannten Verleiher des Ruderbootes zwei neue Rollsitze und dito Ruder beschaffen müssen. Dann gaben auch die vier verbliebenen Meermenschen ihre Geister auf. Anthelia beließ ihre herbeigehexten Helfer im Wasser und überlegte, wieso die Meerleute sie angegriffen hatten. Das Blut und die Schuppen für Tyches Essenz hatte sie nicht in der Karibik, sondern in der Nordsee bei Helgoland erbeutet, wo Meerkönig Graunöck V. regierte. Da hörte sie schwach Tyches Gedankenruf. Sie lauschte, verstand aber erst nichts. Konnte Tyche nicht mehr mentiloquieren? Dann hörte sie die Nachricht noch einmal und diesmal klar genug. Sie stieß eine Verwünschung aus. Dann mentiloquierte sie Tyche an, in der Nähe des Kruges zu bleiben, bis Anthelia sie aufsuchte.

Als Anthelia mit dem Boot unterwegs war erkannte sie, daß die verbliebenen Raubsäuger hinter ihr herschwammen. Wenn die Tyche witterten oder mit ihren feinen Sinnen wahrnahmen würden sie sie angreifen. Das mußte sie verhindern. Sie steuerte jedes der gezauberten Tiere an und kehrte die Verwandlung um. Die so wiedergewonnenen Teile des Ruderbootes holte sie mit ihrer Telekinese an Bord zurück. Jetzt konnte sie zu Tyche hinfahren.

Als sie in die Nähe des freigelegten Kruges gelangt war, sah sie die beiden Geister in der Lichtumkehrwirkung wie schwarzes Pergament am Meeresboden kleben. Dann sah sie auch Tyche Lennox, die wie befohlen zwanzig Meter vom Krug entfernt wartete. "Ich bin über dir, komm hoch!" Mentiloquierte Anthelia ihrer Helferin. Tyche verstand den Gedankenruf und begann mit dem Aufstieg. Sie schlug mit ihrer Schwanzflosse so ungestüm, daß sie in einer Sekunde zehn Meter nach oben getrieben wurde. "Nicht so wild und schnell. Unsere Gegner könnten dich hören!" Warnte Anthelia ihre tauchende Mitschwester. Sie konnte nicht ahnen, daß die Warnung schon zu spät kam. Erst als sie mit dem Fernrohr die Umgebung Tyches absuchte, um sicherzustellen, daß niemand des Unterwasservolkes sie behelligen würde, erkannte sie einen Ring aus Haien. Das war schon so schlimm genug. Doch daß die großen Raubfische in Viererformationen schwammen und zwischen sich starke Tangnetze ausgespannt hatten jagte selbst Anthelia große Angst ein. Das Manöver war zu eindeutig.

"Tyche, Haie mit Fangnetzen um dich herum. Direkt nach oben!" Schickte sie ihrer treuen Mitschwester noch zu. Diese reagierte, wohl auch, weil sie die Gefahr schon gespürt hatte. Sie richtete sich so senkrecht zum Meeresgrund aus wie sie konnte und schwamm mit Armen und Schwanzflosse um ihr Leben. Doch da rückten auch von oben her Haiformationen mit ausgespannten Netzen auf sie zu. Anthelia sah die Fische, die eine Meerfrau fischen wolten. Tyche war bereits zu schnell, um den Kurs zu ändern. Zwar jagte sie den Fischen noch elektrische Schläge auf den Leib, was die meisten von ihnen heftig zurückscheuen ließ. Doch als sie nur noch einhundert Meter unter der Wasseroberfläche war, verfing sich ihre Schwanzflosse in einem Tangnetz. Anthelia schickte sich an, den Kopfblasenzauber zu wirken. Doch da sah sie die Rudel von Haien, mindestens hundert Stück, die alle zwischen ihr und Tyche heranrückten. Tyche wurde von vier noch nicht elektrisch gepiesackten Haien in ein Netz gehüllt, das sie nach unten zogen und dann, wie auf Kommando, umeinander herumschwammen und das Fangnetz damit festzogen. Tyche war jetzt unfähig, sich zu befreien. Zwar versuchte sie noch, ihre Schwanzflosse freizuschütteln und bekam es noch hin, einen Hai mit ihrem Zauberstab einen Stromstoß zu versetzen, der die in Ausrichtung des Stabes lauernden Haie sichtlich davonjagen ließ. Auch die vier Haie, die sie eingewickelt hatten wurden von der Elektrizität beeinträchtigt. Sie schlingerten fast besinnungslos davon. Allerdings waren die Zugtaue des Netzes fest hinter ihren Rückenflossen um die Körper geschlungen, so daß Tyche sich trotz ihres bedeutungslosen Erfolges nicht befreien konnte. Während dessen verlegten die netzlosen Haie Anthelia den Weg in die Tiefe. Ihr war klar, daß die Fische von den Meerleuten ferngelenkt oder instruiert worden waren. Aber warum griffen sie selbst nicht an? Das konnte sich Anthelia nicht erklären. Sie erfaßte, wie die Haie wieder zu sich kamen und dann mit immer größerer Geschwindigkeit nach Südosten schwammen. Anthelia folgte mit dem Boot und mentiloquierte an Tyche, sie nicht im Stich zu lassen. Diese konnte nicht antworten. Die wilde Furcht, nicht mehr freizukommen und damit die ihr gesetzte Frist zu überschreiten, mochte ihre Konzentration stören. Außerdem wußte Anthelia nicht, wie sie ihrer Mitschwester helfen konnte. Was hatte Louisette ihr erzählt? Das Ministerium würde bald mehrere Spezialartefakte erhalten, mit denen die tiefsten Meere, Die kalte Leere des Alls oder brodelnde Lava nichts mehr ausmachten, sofern die Erprobungsphase zu einhundert Prozent erfolgreich verlief. Was immer es war, jetzt hätte sie es bitternötig. Zum Schwert Yanxothars hatte sie einen Drachen schicken können. Wenn ein Pottwal den Krug ins Maul nahm überstand der das offenbar nur wenige Sekunden. Immerhin überlebte er das. Pottwale konnten von Meerleuten nicht unterworfen werden, weil sie Warmblüter waren. Also mußte jemand anderes den Wal gelenkt haben. Denn ein Animagus wäre bei der Berührung mit dem Krug vor Aiondaras Seele zitiert worden um sich des Kruges würdig zu erweisen oder zu sterben.

Sie folgte dem paradoxen Rudel fischender Haie. Tyche versuchte immer wieder, den Zauberstab anzuwenden. Anthelia überlegte, wie sie alle Haie ausschalten konnte. Doch was auch immer ihr einfiel, sie kam einfach nicht in diese tiefen Regionen hinunter. Der Meerfrauentrank schlug bei ihr nicht an, und auch wenn Tyche jetzt mit Relaschio und Diffindo das sie festhaltende Netz zerstörte nützte es nicht viel. Denn über ihr lauerten die anderen Haie ohne Netze. Zwar konnte Tyche sich befreien und einige Meter aufsteigen. Doch die anderen Haie schnappten nach ihr, trieben sie zurück in die Tiefe, bis sie erneut eingeschnürt wurde. Anthelia fühlte die unbändige Hilflosigkeit. So hilflos hatte sie sich selbst in Daianiras Bauch nicht gefühlt wie jetzt, wo sie mit ansehen konnte, ja ansehen mußte, wie eine ihrer treuesten und wichtigsten Mitschwestern von ferngelenkten Haien verschleppt wurde oder bei weiteren Fluchtversuchen getötet und zerrissen werden mochte. Auch dachte sie an Naaneavargias Erlebnisse. Sie hatte sich auch nie so unfähig gefühlt, irgendwas zu unternehmen. Selbst wenn sie die verbliebenen Ruder und Sitze wieder in Orcas und andere Schwertwale verwandelte würden die bei dieser Übermacht nichts ausrichten. Irgendwo hatte irgend ein Unterwasservolk einen Riesenstall von abgerichteten Haien aufgemacht und diese Fische gegen die vermeintliche Konkurrentin ausgeschickt. Konkurrentin? Vielleicht eher Frevlerin! Anthelia kam die Erkenntnis so heftig wie ein Blitz in der Nacht. Sie hatte einen gewaltigen Fehler begangen. Dieser rächte sich nun mit aller möglichen Grausamkeit. Sie hatte versäumt, sich nach hier wohnhaften Meeresstämmen zu erkundigen und in Erfahrung zu bringen, ob diese Völker vielleicht bestimmte Tabus hatten, beispielsweise, nicht in ein bestimmtes Wassergebiet einzudringen, weil da vielleicht was lag, was Macht über die Wasserwesen hatte. In dreihundert Jahren seit demUntergang der "Lady Amber" konnte sich daraus eine echte Religion entwickelt haben. Mochte es sein, daß die beiden Gespenster die Propheten dieser Religion gewesen waren. Dann waren sie alle in eine riesengroße Falle gegangen. Die Muggel und ihre Maschinen waren von den Geistern vernichtet worden. Doch als eine Meerfrau in das verdammte oder auch heilige Gebiet eintauchte, war für die Paladine dieser Unterwasserreligion das Maß voll. Jetzt verstand Anthelia die ganzen Ereignisse der gerade mal zwei Stunden. Sie erkannte, daß es doch besser gewesen wäre, unmittelbar über dem Wrack der "Lady Amber" abzutauchen. Womöglich wäre Tyche dann in der Lage gewesen, unbehelligt von den Meerleuten und dem ferngelenkten Wal an den Krug zu kommen, ihn wie geplant aufsteigen zu lassen und dann für sie sicherzustellen. Jetzt wurde Tyche immer tiefer und tiefer in die karibische See verschleppt, unerreichbar für Hexen, Zauberer und Muggel. Würde man sie am Leben lassen? Würde man sie vielleicht zurückschicken, wenn herauskam, daß sie keine echte Meerfrau war? Noch hatte sie etwa neuneinhahlb Stunden Zeit. Dann erkannte Anthelia, daß alle Hoffnung vergeblich war. Denn gerade tauchten unterhalb des gewaltigen Hairudels Meerkrieger mit Speeren und Netzen auf. Auch auf Anthelias Boot schwammen Krieger zu. Offenbar konnten diese Wesen ein magisch fahrendes Boot irgendwie aufspüren. Das mochte einfach am Unterschied liegen, ob etwas einfach über das Wasser glitt oder mit Rudern, Schrauben oder knarrenden Segeln Antriebskraft aufbrachte. Anthelia erkannte, daß sie der Arroganz vieler Zauberer und Hexen zum Opfer fiel, die magischen Mitgeschöpfe nicht so hoch einzuschätzen wie sich selbst. Welch ein Hohn für die große Anthelia, daß diese Fehleinschätzung ihr wortwörtlich vor Augen geführt wurde.

Doch nun galt es, der drohenden Gefahr zu entfliehen. Die Meerleute griffen sie nun von mehreren Seiten her an. Anthelia schickte noch eine letzte Gedankenbotschaft an Tyche Lennox: "Ich kann dir nicht mehr beistehen und bedauere dies sehr. Wenn du kannst lebe wohl. Ich werde dich und was du für uns warst niemals vergessen. Auch wenn du es als Heuchelei ansiehst, ich verdanke dir zweimal mein Leben. Nimm meinen Dank mit in das, was dich erwartet und sei dir gewiß, es war nicht umsonst." Sie hörte den schwachen Nachhall ihrer Botschaft in ihrem Geist. Sie hatte die Schwester erreicht. Tatsächlich bekam sie noch eine Antwort: "Lasse meine Eltern bitte vergessen, daß es mich gab, höchste Schwester!" Anthelia schickte ein "Das tue ich" zurück. Doch dann fühlte sie die heranstürmenden Gedanken voller Zorn und Vernichtungswillen. Sie sprang auf, zündete das Boot an und disapparierte in dem Moment, als die Flammen aufloderten. Zwei Sekunden später brachen über fünfzig muschelbehelmte und mit Speeren bewaffnete Meerkrieger aus den Fluten und warfen sich auf das brennende Boot. Doch niemand war mehr da.

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"Sie sind weg", keuchte Keneth Teach, als der Bann ihn endlich freigab. "Sie haben die Abtrünnige gefangen. War schon gut, daß wir zwei dem König damals geraten haben, niemals in dieses Gebiet zu schwimmen, nicht wahr?"

"Du Dreiauge hast das doch gesehen, daß das keine echte Nixe war. Typisch Landratte", schnaubte der Geist des Piratenkapitäns Rollin McFusty. "Oder können Meermädchen neuerdings mit Zauberstäben umgehen, ey?"

"Du weißt das, ich weiß das", knurrte Keneths Geist. "Aber die Untertanen von Königin Mèribelle wissen das nicht und wenn ist sie trotzdem eine Ketzerin", frohlockte Keneth. Rollin meinte dazu nur, daß man sie dafür aber wohl kaum auf einem Scheiterhaufen verbrennen würde. Keneth lachte und erwiderte:

"Dreiteilen geht aber noch, du alter Halsabschneider und Frauenschänder. Mèribelle hat es mir erzählt, bevor ich endlich Gelegenheit hatte, dich zu mir zu holen. Aber vielleicht kehrt sich der halbe Verwandlungszauber um, und sie erleidet nur den Tod durch Ertrinken."

"Ich hieß dich Haufen Möwenscheiße schon immer, mich nicht als Frauenschänder zu bezeichnen. Ich habe nie eine Frau mit Gewalt genommen. Meine Männer vor ihrer Heuerzeit womöglich. Aber die Frauen, die ich wollte, ließen mich immer ran, ob Hure, Jungfrau, Edeldame oder Königstochter. Aber ich fand es richtig spaßig, daß dein Mugglerneffe deine Hilfe damit gedankt hat, daß er mich als Piratenfürst der Karibik beerbt hat. Was ein paar Schwimmstunden so bewirken können."

"Du warst und bleibst ein Aufschneider und Halunke. Aber dafür bist du auf ewig dazu verdammt, mit mir in dieser Dunkelheit den Krug der Wasserkönigin zu hüten. Die Nachwelt wird dich nimmer empfangen."

"Wofür der Teufel wohl deinen ganzen Clan verflucht hat, Ken, weil du meine Seele nicht zu ihm in die Hölle gelassen hast. Aber das sage ich dir altem Trockenfisch ja schon seit den ganzen Jahrhunderten, die wir hier absitzen."

"Der Krug liegt frei auf dem Boden. Komm, wir müssen ihn vergraben", forderte Keneth Teach seinen unfreiwilligen Wachkameraden auf. Dieser nahm den flammenden Kopf ab und winkte damit. Dann setzte er seinen lodernden Schädel wieder auf und folgte Keneth.

Die beiden Geister konzentrierten sich darauf, den Krug mit ihrer Geisterkraft anzuheben und fortzutragen. Rollin fragte noch einmal, ob ihnen der Krug was anhaben könne. Keneth beteuerte, daß nur lebende Probleme mit ihm haben würden, weil der Krug Leben aussauge, das nicht würdig war. So umschlossen sie die Henkel des Kruges mit ihren durchsichtigen Händen. Da hörten sie eine erboste Frauenstimme, die aus dem Krug scholl und gleichzeitig aus allen Richtungen widerhallte: "Ihr unwürdigen, erbärmlichen Schurken! Das werdet ihr sogleich bitter büßen, eure fleischlosen Klauen um mein Erbe zu krallen. So verleibe ich euch ein, auf daß ihr endlich aus dieser Welt verschwindet." Sofort ließen die beiden Gespenster los und kämpften sich durch das Wasser. Hinter sich verdrängte reines Süßwasser das salzige Naß des Ozeans. "Ihr seid mein, sollt in mir verschlossen sein!" Hörten sie die wütende Frauenstimme. Rollin schimpfte Keneth aus, daß er ihn und sich jetzt doch zur Hölle befördern würde. Doch er wollte nicht aus der Welt verschwinden. Dreihundertsieben Jahre hatte er auf dieser Welt überstanden, hatte die Entwicklung der Seefahrt mitbekommen und mit Keneth übermütige Schatzsucher zur Raison gebracht. Da wollte er sich bestimmt nicht von einem nur in einem Krug hausenden Weibsbild verputzen lassen wie ein Hering von einem Haifisch.

Sie schafften es gerade bis zum Rand der Sichtweite. Dann trafen sie auf eine mächtige Strömung, einen Strudel, der sie zu packen trachtete. Sie kämpften dagegen an. Als Geister kannten sie keine körperliche Erschöpfung. Doch sie kamen nicht weiter von dem Krug fort. Er zog sie an sich, Zoll um Zoll, Fuß um Fuß. "Gebt euer ruchloses Selbst freiwillig in meine Macht! Dies erspart euch unnötiges Leiden", hörten sie die Stimme der Wächterin, die sie alle, Meerleute und Geister, überflügeln konnte. Sie schafften es nicht, dem immer wilder kreisenden Süßwasserstrudel zu entrinnen. Erbarmungslos wurden sie auf den Krug zugetrieben.

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Anthelia wartete die neun Stunden in einem anderen Boot außer Reichweite der Speere über dem Krug Aiondaras, ob Tyche vielleicht noch einmal mit ihr mentiloquieren oder womöglich doch die Flucht schaffen konnte. Dabei beobachtete sie, wie die beiden Wächtergeister in einer immer engeren Spirale auf den frei daliegenden Krug zutrieben. Sie meinte, kurz das Brodeln siedenden Wassers zu sehen. Offenbar trieben die Geister, von einer starken Macht immer weiter angezogen auf den Krug zu. Noch wehrten sie sich gegen diese Macht. Doch Anthelia konnte sehen, daß dieser Kampf aussichtslos verlaufen würde. Es mochte nur noch eine Frage von Stunden, vielleicht auch nur Minuten sein. Sie sah einige größere Raubfische, die um den krug herumschwammen. Aber Tyche blieb verschwunden. Sie mentiloquierte nicht mehr und tauchte auch nicht mehr in der Nähe des Kruges auf. Anthelia zählte die verbliebenen Sekunden bis zum Ablauf der Umkehrfrist herunter. Als sie bei null ankam seufzte sie. Dann tröstete sie sich damit, daß Tyche womöglich von den fanatischen Meerkriegern getötet worden war und mit dem Bewußtsein, einer großen Sache gedient zu haben aus dem Leben geschieden war.

Als sie den Krug betrachtete schwor sie ihm: "Denk nicht, daß du dort unten bleibst, Aiondara. Deine fleischlichen Wächter hüten dich zwar gut und deine gespenstischen Wächter hast du wohl bestrafen müssen. Aber ich werde dich heben und deine Macht mein werden lassen. Wenn ich jenes Artefakt gewinne, mit dem die tiefsten Meere keine Grenze mehr sind, werde ich dich holen kommen. Dies schwöre ich bei der großen Mutter Erde, beim großen Vater Himmelsfeuer und den Mächten der großen Zeit, der du entstammst und der ein Teil von mir entstammt." Dann brachte sie das Boot wieder auf das Wasser und ließ es mit höchster magischer Beschleunigung nach Martinique zurücklaufen. Sie ahnte nicht, daß jenes Artefakt, das ihr die letzte Hoffnung auf Aiondaras Krug gab, ihr großes Verhängnis werden sollte.

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Einen Tag nach der abgebrochenen Mission steuerten Sophia Whitesand und Tim Abrahams je einen Tigerhai zum Liegeplatz der "Lady Amber". Der Krug lag etwa fünfzig Meter weit entfernt daneben. Die beiden konnten zwei Schemen im Wasser erkennen, die es wild aufwühlten und damit eine starke elektrische Spannung erzeugten. Auch hörten sie Rufe um Gnade und Freilassung. Die Schemen glitten in einer immer enger werdenden Spirale um den Krug herum, als befänden sie sich auf einer trichterförmigen Rutschbahn. "Die Geister der Wächter", hörte Tim Sophias Gedankenstimme. Dann bekamen sie mit, wie die beiden gespenstischen Schemen im Zentrum des Kruges verschwanden. Tim meinte noch, einen kurzen Aufschrei von zwei Männern zu hören. Dann hörten die Bewegungen auf. "Die Seele der Aiondara hat die beiden Wächter an sich gerissen und einverleibt", kommentierte Sophia Whitesand. "Womöglich hat sie sie dafür bestraft, daß sie den Krug nicht vor Fremden schützen konnten."

"Sie wurden immer schneller und in einer immer engeren Spirale reingezogen. Schon fies", erwiderte Tim in Gedanken.

"Du kannst heilfroh sein, Junge, daß du nicht mit deinem wirklichen Körper diesen vermaledeiten Krug berührt hast", schickte ihm Sophia zurück. "Komm, wir kehren zurück. Niemand wird diesen Krug hier an sich bringen können, der seiner unwürdig ist." Tim bejahte es und dachte die Worte der Loslösung, um sich sanft und ohne schmerzen aus der fremden Wahrnehmung zu befreien.

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"Und die hätte dich echt zum Baby zurückgeflucht?" Fragte Galatea, als Tim wieder zu Hause war. Tim bejahte es voller Unbehagen.

"Das hätte Brigid ihr aber nicht verziehen, weil sie dann deinen Abgang aus der Welt hätte inszenieren müssen. Aber ich finde dich als erwachsenen besser für mich geeignet als als Zwilling meines Sohnes."

"Häh, nur deiner?" Fragte Tim. Da mußten beide lachen. Der kleine Garwin gluckste erheitert, weil seine Eltern lachten.

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Camille fiel ein, daß Tim Abrahams derjenige Zauberer war, der selbst vor dieser höchstfragwürdigen Kommission für Muggelstämmige hatte fliehen und sich verstecken müssen. Er hatte Martha bei der Fluchthilfe geholfen, für die Florymont die Antisonden hergestellt hatte. Somit hatte sie einen genialen Ausgangspunkt, um mit dem jungen Zauberer in Verbindung zu treten. Allerdings mußte sie wohl oder übel Florymont und ihre Schwägerin Uranie einweihen. Denn zum einen brauchte sie einen dieser Schutzanzüge, die Florymont erfunden hatte. Zum anderen mußte sie an Chloé denken. Sollte ihr was zustoßen, was sie davon abhielt, sich weiter um ihre jüngste Tochter zu kümmern, so wollte sie Uranie als Patin darum bitten, Chloé als Vorbild für eine gute Hexe zu dienen. Sie erkannte, daß diese Aussprache anstrengender sein mochte als die Suche nach dem Krug der Aiondara.

"Wie weit bist du mit deiner neuen Erfindung, Florymont?" Fragte Camille ihren Mann, als Denise auf dem Weg zur Schule war. Florymont sah Chloé, die in der kleinen Wiege mit dem Pentagrammsymbol schlummerte, als wolle er nicht, daß sie zuhöre. Camille fragte sich, was das sollte, bis ihr einfiel, daß selbst ein Säugling schon Dinge in sein Gedächtnis aufnehmen konnte, die Jahre später wieder daraus hervorgeholt werden konnten. Sie nickte ihrem Mann zu und fragte Uranie, ob der kleine Philemon auch gerade versorgt sei.

"Ich habe mir das mit den alle vier bis sechs Stunden vollen Windeln nicht mehr antun wollen, weißt du ja. Hunger hat er im Moment keinen. Die Reisewindel ist auch erst in drei Tagen fällig, und er ist gerade müde genug, um zu schlafen", sagte Uranie Dusoleil. So schlug Camille ihren erwachsenen Verwandten vor, sich in das Musikzimmer zurückzuziehen, da dies ein Dauerklangkerker war. Wenn Chloé was wollte würde sie laut genug schreien.

Als die drei Dusoleils in dem Raum mit dem Spinnett und den Schränken mit kleineren Musikinstrumenten und Notenheften saßen mußte Camille erst einmal tief durchatmen. Dann schilderte sie Florymont und seiner Schwester ihren Traum von Ammayamiria. Von Temmie alias Darxandria sagte sie nichts. Sie stellte es so hin, als habe die transvitale Entität ihrer Mutter und ihrer Tochter ihr die entsprechenden Informationen gegeben. Florymont erbleichte, als er hörte, daß er der Wiederkehrerin, die nicht gestorben war, womöglich den Schlüssel zu vielen Gegenständen aus dem alten Reich in die Hand spielen mochte. Er erinnerte sich noch an die Diskussionen in der französischen Zauberkunstzunft, ob die Gerüchte von einem Flammenschwert, das alle Feuerquellen beeinflussen und Drachen unterwerfen konnte, auf glaubhaften Zaubereiprinzipien fußen mochten. Er kapierte, daß die alten Magier damals eine Menge gefunden und hervorgebracht hatten. Dann sprach Camille davon, daß Ammayamiria davon ausging, daß sie diesen Wasserkrug an sich bringen dürfe, weil sie eine direkte Nachfahrin Ashtarias sei, die wiederum eine über viele Generationen zurückreichende Ahnenlinie besaß, in der jene Aiondara vorkam. Sie erwähnte auch die zweite Tochter Ashtarias, die laut Ammayamiria jedoch nur magisches sehen und hören, aber nicht von sich aus bewirken konnte. Natürlich war sie neugierig und würde gerne wissen, wer diese Frau war. Doch das hatte jetzt untergeordnete Bedeutung.

"Und du willst diesen Krug suchen gehen und dann riskieren, daß der dich unterwirft, tötet oder sonst wie aus der Welt schafft, womöglich wie Aurélie und Claire?" Fragte Florymont sehr ungehalten klingend. Camille hatte mit dieser Reaktion gerechnet und erwiderte gefaßt:

"Die andere Möglichkeit wäre, daß du deine Erfindung nicht frei zur Verfügung stellst und am besten auch alle Herstellungspläne vernichtest und mit Hilfe eines Gedächtniszaubers vergißt, daß du sie erfunden hast. Ich meine, wir haben uns beide Sorgen gemacht, als du diesen Duotectus-Anzug ausprobiert hast. Du hast ja noch in Erinnerung, daß der Vulkan, in den du dich auf Island abgeseilt hast kurz nach deiner Abreise eine Stunde lang Feuer und Gestein ausgespuckt hat. Da hätte dich dein Anzug nicht vor geschützt. Und als du meintest, einen luftdichten Metallkasten zu bauen, den du luftleer gepumpt hast um darin zu apparieren habe ich auch gedacht, es könnte deine letzte Tat sein."

"Ich höre und sehe es, daß sie dich überzeugt hat. Offenbar geht sie wirklich davon aus, daß dir nichts passieren kann, außer daß mein Anzug versagt", seufzte Florymont. Uranie fragte, was und wo genau dieses Artefakt denn sei. Camille erwiderte, daß sie das nicht wisse, aber einen Hinweis erhalten habe, wen sie fragen müsse, der bereits eingeweiht war. Dann sprach sie von Tim Abrahams. Florymont erinnerte sich. er bemerkte dazu:

"Das wäre mal eine Gelegenheit, ihm die Hand zu schütteln und zu sagen, daß es mich sehr gefreut hat, dem Unnennbaren einen gehörigen Streich zu spielen. Weißt du denn, wo er wohnt? Ich meine, Großbritannien ist zwar eine Insel, aber doch schon eine ziemlich große."

"Das kannst du Martha fragen, Florymont. Die weiß das ganz sicher. Du kannst ihr ja sagen, daß du dich mit ihm über die gelungene Zusammenarbeit unterhalten und noch was über Maschinen und Verkehrsmittel der Muggel wissen möchtest", schlug Camille vor. Uranie glubschte sie und dann ihren Bruder verdrossen an. Dieser verzog zwar auch erst das gesicht, nickte dann jedoch einverstanden.

"Und du möchtest dann, falls du bei diesem Drachenritt dein Leben läßt, daß ich als Chloés Patin deine Tochter zusammen mit Philemon großziehe, richtig?" Erkundigte sich Uranie Dusoleil. Camille nickte. Florymont sah seine Schwester und dann seine Frau kritisch an und sagte:

"Zum einen sorgen wir dafür, daß mein Teil des Unternehmens gefahrlos abläuft. Zum anderen bin ich dann wohl auch noch da, Camille und Uranie."

"Hat auch keiner bezweifelt, sofern du nicht meinst, deiner Frau beim hochheben dieses vermaledeiten Kruges zu helfen", schnarrte Uranie ihren Bruder an. "Camille will halt nur, daß Chloé von einer Hexe lernt, wie eine Hexe lebt. Richtig?" Camille bejahte das. So blieb Florymont nur, einmal zu seufzen und dann zu sagen:

"Ich weiß, Camille, du hast dir immer mehr Sorgen um mich machen müssen als ich mir um dich. Deshalb bin ich wohl der allerletzte auf dieser Welt, der dir davon abraten kann, Ammayamirias Auftrag auszuführen. Da sie dich zweifach liebt hoffe ich, daß sie dich wirklich nicht in Schwierigkeiten bringt, woher sie das mit diesem Krug auch immer weiß." Camille brachte Ammayamirias Antwort auf die Frage an, ob diese die Richtung des geheimnisvollen Rufes gehört habe. Florymont konnte nur verhalten nicken. Dann erklärte er sich einverstanden, seiner Frau bei diesem Unternehmen zu helfen. Er erörterte mit ihr, wie sie an die Stelle reisen konnten, ohne das Zaubereiministerium einzubeziehen. Uranie wies darauf hin, daß es Haie im Meer gäbe und der Anzug vielleicht nicht gegen scharfe Zähne schütze. Florymont grinste jedoch jungenhaft.

"Haie sind wie Blitzerfische. Sie spüren elektrische Kraftfelder und Ströme. Da kann ich die locker mit meiner Blitzwalze auf Abstand halten."

"Ähm, Moment, Florymont. Du sagst das so, als wenn du mit Camille da runtertauchen willst, wo das auch immer ist", bemerkte Uranie. Florymont nickte heftig und erwiderte noch:

"Denkst du, ich lasse meine Frau, die Mutter meiner Kinder, da ganz alleine runtergehen. Ich habe bei meinen Tauchversuchen mit dem Anzug gelernt, daß es besser ist, nicht alleine zu tauchen."

"Das gilt dann wohl auch bei Vulkanen, Brüderchen", knurrte Uranie und ernttete Camilles volle Zustimmung. Florymont errötete ein wenig und räumte ein, da zu sehr auf Geheimhaltung als auf Sicherheit beharrt zu haben. Uranie seufzte nun und sah ihre Schwägerin an. Dann sagte sie leicht ungehalten:

"Verstehe, ihr zwei wollt das jetzt durchziehen, damit Florymont ein ruhiges Gewissen hat, dieser Wiederkehrerin nicht durch seine Spielzeuge was mächtiges in die Hand zu spielen, und du Camille fühlst dich berufen, dieses alte Gefäß sicherzustellen, weil euer gemeinsamer Schutzgeist der Meinung ist, du wärest dazu berufen und daher ungefährdet. Da ich euch beiden das also nicht ausreden kann, macht das. Aber kommt bitte beide wieder!"

"Ich will meine Enkelsöhne noch ankommen und aufwachsen sehen", grummelte Florymont.

"Nachdem Jeanne meine beiden Enkeltöchter geboren hat, Florymont", mußte Camille dazu einwerfen.

"Bruno ist nicht wie ich. Der kriegt auch Jungs hin", grummelte Florymont. Seine Frau glubschte ihn dafür verbittert an und fauchte:

"Laß dich von deinem Vater nicht dumm schwätzen, weil der zu gerne einen Enkelsohn von dir hätte. Deine Töchter lieben dich alle, ich liebe dich. Das allein zählt." Uranie sah die beiden nur finster an. Dann entspannte sie sich wieder. Sie wünschte den beiden alles Glück und den verdienten Erfolg.

Am Abend kontaktfeuerte Florymont mit Martha Eauvive. Camille hörte sie wie aus einem Brunnenschacht auf Florymonts Fragen nach Tim Abrahams antworten und dann zum Abschluß sagen:

"Nathalie ist langsam genervt, weil Geneviève ihr jeden dritten Tag eine Eule schickt, daß mein Wissen bei euch in Millemerveilles besser gewürdigt würde als im Ministerium. Vielleicht sollte ich mir was außerhalb von Frankreich suchen, wo Julius jetzt eine eigene Wohnung und eigene Auswahl der Schule hat, in die er gehen möchte."

"Beharrlichkeit, Geduld und ständige Wiederholung des nötigen zeichnen einen guten Lehrer und eine gute Schulleiterin aus, Martha", hörte Camille ihren Mann antworten. "Sei besser stolz, daß du bei Geneviève so viele Galleonen im Umhang hast!"

"Huch, der Ausdruck ist mir noch neu, obwohl ich im letzten Jahr lange genug bei euch gewohnt habe. Aber ich verstehe, wie du das meinst. Wir sagen dann "Bei jemanden einen Stein im Brett haben", woher dieser Ausspruch auch immer kommt."

"Klingt auch nett", erwiderte Florymont. Dann bedankte er sich bei Martha für die Auskunft und wünschte ihr noch einen schönen Abend.

"Hast noch Glück, daß du mich erwischt hast. Madeleine will gleich noch bei mir vorbei und noch was für die ZAGs mit mir durchgehen."

"Dann auf jeden Fall viel Erfolg! Wenn du die packst holt die gute Geneviève dich demnächst persönlich nach Millemerveilles."

"Das wäre was wie Schanghaien, Florymont. Und das traue ich ihr dann doch nicht zu", entgegnete Martha. Florymont wollte sich dann noch diesen Begriff erklären lassen. Doch Martha verwies ihn an Tim Abrahams, weil der mit diesem Begriff wohl vom Elternhaus her vertraut sei.

"Er wohnt auf dem Hof Hühnergrund, einem Gehöft in Mittelengland", gab Florymont noch einmal die Adresse weiter. Camille nickte und schickte ihre eigene Posteule als Blitzboten zu dieser Adresse, der sie einen kurzen Brief mitgab, in dem sie erwähnte, daß sie von Verwandtschaftsseite her auf einen Fluch angesprochen worden sei, der die Ladung eines Schiffes namens "Lady Amber" beträfe und daß sie womöglich helfen könne, diesen Fluch zu lösen, aber um eine Direkte Unterredung bitte.

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Florymont und Camille beglückwünschten Tim Abrahams zu seinem Sohn Garwin und sprachen erst einige Minuten über die Erfahrungen als Eltern. Dann bat Tim die beiden in ein Dauerklangkerker-Arbeitszimmer. Er wirkte angespannt. Als er den beiden französischen Gästen Plätze angeboten hatte sagte er langsam genug, daß sie es verstanden:

"Nun, Sie haben mir mit Ihrer Eule einen Heidenschreck eingejagt, Madame Dusoleil. Denn von der "Lady Amber" wissen außer dem englischen Zaubereiministerium nur Ihr Zaubereiminister, seine Frau und zwei Herren auf einer Karibikinsel etwas näheres." Er verschwieg Camille, daß noch jemand genaueres wußte, die jedoch unerwähnt bleiben wollte. Er fragte, was Camille über das Schiff wisse. Camille erwähnte, daß dessen Ladung wohl ein hochpotentes, magisches Gefäß sei, das früher einer Aiondara gehört habe, die womöglich weit vor den alten Ägyptern gelebt habe. Tim wirkte angespannt. Als Camille dann erwähnte, daß sie über nicht näher zu erwähnende Verbindungen gehört habe, daß eine Nachfahrin Aiondaras, die selbst schon Mutter einer Tochter wurde, diesen Krug ergreifen dürfe schluckte er. Dann entspannte er sich und erwiderte ruhig:

"Ja, das trifft wohl zu. Ich habe diesen Krug nicht mit eigenen Händen berührt und daher wohl Glück gehabt. Aber diese Botschaft, die Sie erwähnt haben habe ich gehört." Florymont fragte dann, wo genau das Schiff läge.

"Fünfzig Seemeilen östlich der Insel Martinique, also noch im räumlichen Zuständigkeitsbereich Ihres Zaubereiministeriums. Womöglich müssen wir das einweihen, daß Sie nach diesem Artefakt suchen, obwohl mein Ministerium und Ihres vereinbart haben, darüber Stillschweigen zu bewahren."

"Wie war das genau, als sie den Krug gesucht haben? Konnten sie da ganz alleine dran, oder brauchten Sie hilfe?" Fragte Camille ihn. Tim überlegte einige Sekunden. Dannantwortete er:

"Ich bin da mit jemanden hingetaucht, dessen Namen ich Dritten gegenüber nicht nennen möchte. Da Sie Ihre Quellen nicht aufdecken möchtten denke ich, daß sie diese Antwort akzeptieren mögen." Die Dusoleils nickten bestätigend.

"Es ist vielleicht nicht so günstig, Ihr und unser Zaubereiministerium noch mal damit zu behelligen, weil wir nicht wollen, daß das doch auffliegt, daß jemand den Krug erreichen kann", sagte Florymont. Camille stimmte wortlos zu. "Wir dürfren nicht ausschließen, daß in Ihrem wie unserem Ministerium Spione feindlich gesinnter Gruppen sitzen, die das weitermelden, sofern Sie Ihren Ausflug nicht schon weitergemeldet haben und nun ihrerseits versuchen, an den Krug zu gelangen. Das wirkte auf Tim wie ein Schlag in die Magengrube. Er keuchte und wurde bleich. Dann stieß er aus:

"Natürlich, konnte ja nichts anderes sein als Verrat." Dann erwähnte er, daß er einer Meerfrau mit Zauberstab begegnet sei und diese wohl versucht haben mochte, an diesen Krug zu gelangen, aber eindeutig nicht die von dieser inneren Hüterin erwünschte Person sein konnte, weil sie sich davor gehütet habe, ihn anzufassen. Damit war für die Dusoleils klar, daß die Zeit gegen sie lief, und daß Ammayamirias dringliche Bitte berechtigt war. Florymont wandte ein, daß Meerfrauen keinen Zauberstab benutzen könnten. Tim vermutete eine ihm unbekannte Verwandlungsart und räumte ein, daß dieser Trick beim nächsten Mal womöglich erfolg haben mochte. Dann erwähnte er noch die beiden Geisterwächter, von denen er einen hatte sehen können, einen Schwertträger mit abnehmbaren, ständig in Flammen stehenden Kopf. Diese seien jedoch von Aiondaras Krug angezogen und verschlungen worden. Florymont sah seine Frau fragend an. Sie schwieg jedoch dazu. So waren sie drei sich einig, daß sie keinem aus dem Ministerium Frankreichs oder Großbritanniens erzählten, was sie vorhatten. Was die Ausrüstung anging, so konnten sie ein gewöhnliches Schlauchboot der Muggelwelt benutzen und mit Motorkraft hinausfahren.

"Sie können sowas fahren?" Fragte Florymont höchstinteressiert. Tim bejahte es. So war es abgemacht, daß sie am nächsten Tag, dem zwanzigsten März, in den von den Dusoleils kurzfristig eingeschobenen Kurzurlaub aufbrechen würden.

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Um das GPS-Gerät des ausgeborgten Zodiac-Bootes nicht zu stören hatten Florymont und Camille ihre magische Ausrüstung weit genug davon fort abgelegt. Camille, die fürchten mußte, daß ihr silberner Talisman die elektronischen Geräte stören konnte, hielt sich in der Nähe des Bugs auf. Tim jagte das große Schlauchboot hinaus aufs Meer. Florymont hatte mit dem Verleiher auf Martinique ausgemacht, erst in vier Stunden zurückzukehren, weil sie die Zeit nutzen wollten, um die Unterwasserwelt der Tropen zu genießen. Als der Bootsverleiher dann fragte, ob sie einem Schatz nachjagten hatte Camille mädchenhaft grinsend geantwortet, daß sie ihhren Schatz schon längst gefunden habe und nicht mehr hergeben würde. Dabei hatte sie ihrem Mann zugezwinkert.

"Wollen wir hoffen, daß unsere Gegenspieler nur nach Zauberern und Hexen suchen, die was wissen können", sagte Tim, während er das außen weiße und am hölzernen Einlegeboden wasserblaue Zodiac mit voller Außenborderkraft auf den richtigen Kurs steuerte.

"Hmm, ist ziemlich spät, aber will ich doch mal fragen", druckste Florymont ein wenig herum, bevor er seine Frage stellte: "Ist Ihnen bekannt, ob es ein Reich von Meermenschen in diesem Teil des Ozeans gibt? Es könnte nämlich durchaus sein, daß die was dagegen haben, wenn wir noch einmal zu dem Wrack fahren."

"Da kommst du aber früh drauf", knurrte Camille. Tim nickte. Doch dann erwiderte er: "Meerwesen mögen keine lauten Geräusche und keinen Ultraschall. Ich schalte mal das Echolot ein. Das wird sie auf Abstand halten." Florymont sah den Zauberer aus dem Muggelverbindungsbüro inLondon an und grinste. Camille erinnerte sich daran, daß ihre Mutter ähnliches über die Wassermenschen behauptet hatte. "Alle nicht von ihnen selbst erzeugten Töne und Geräusche sind ihnen lästig, wenn sie eine bestimmte Lautstärke und/oder Tonhöhe übersteigen", hatte Aurélie erzählt. Jetzt war sich Camille auch sicher, warum Ammayamiria davon ausging, ihr drohe keine andere Gefahr als der Druck des Meeres und das Ertrinken, sofern Florymonts Anzüge nichts taugten.

"Ultraschall", sagte Florymont nachdenklich. "Danke für den wichtigen Hinweis!" Er griff zu seiner großen Tragetasche und holte einen Kasten heraus, in dem er immer einige Kleinteile mitführte, die er aus Laune heraus zu irgendwelchen Experimenten in freier Natur verwenden konnte. Er suchte ein Rohr und einen kleinen Trichter heraus, den er gerne für Schallversuche benutzte. Er verband Rohr und Trichter durch einen Verschweißungszauber, der Tim an einen bläulich ausblühenden Laserstrahl denken machte. Dann gravierte er mit Zauberkraft und Geschick mehrere spiralförmig um das Rohr verlaufende Runen und wartete eine Minute. Dann malte er mit silberner Zaubertinte die Gravuren an und begann danach einige Zaubersprüche zu murmeln oder zauberte ungesagt. Was genau er machte hörten Camille und Tim über das gleichmäßige Röhren des Außenborders und das Plätschern des aufgewühlten Wassers nicht. Sie sahen nur, wie die Konstruktion auf einmal hellblau aufleuchtete, dann silbern schimmerte und dann rot erstrahlte. Dann erlosch die magische Glut wieder. Die silberne Tinte war nun in die Runen eingeschmolzen.

"Huh, war doch nicht so einfach, wie ich dachte. Aber ich denke, es tut, was ich will", sagte Florymont.

"Und was soll es tun?" Fragte Tim den französischen Zauberschmied.

"Wenn es mit Meerwasser gefüllt wird erzeugt es eine Säule aus ultrahoch schwingendem Wasser, die sich vom Trichter weg ausbreitet und hoffentlich hundert Meter weit reicht."

"Hoffentlich brauchen wir das Ding nicht schon im Boot", unkte Tim. Dann grinste er. "Hatte echt größere Fische, die im Schwarm von unten hochkamen, aber dann sehr schnell das weite suchten. Ich kann das Echolot auch anlassen, wenn Sie tauchen. Es wird ja gerade vom Motor auf Betriebsspannung gehalten, und der kann noch sechs Stunden laufen." Florymont deutete auf den Auspuff des Motors und erwähnte, daß er das nur dann wollte, wenn das gerade mal eben gebaute Gerät nicht funktionieren sollte.

Als sie zu den Koordinaten kamen, die Tim sich ausgerechnet hatte, fuhr er vorsichtige Spiralen, bis er mit dem Echolot etwas festes auf dem Meeresgrund ortete, das zwei dünne aber hohe Auswüchse nach oben besaß. Dann erfaßte er mit dem Sonargerät noch einen kleineren, aber massiven Gegenstand, der gerade einen oder zwei Meter groß sein mochte. Er fuhr das Objekt vorsichtig ab. "Der Krug liegt immer noch frei, knapp fünfzig Meter vom Wrack entfernt. Dann wollen wir mal vor Anker gehen." Florymont und er hievten den Anker über Bord und gaben so viel Kette, bis diese schlaffer wurde. Dann fuhr Tim einige Dutzend Meter weiter, bis das Boot mit einem Ruck abgestoppt wurde. Der Bug war zur Windabgewandten Seite hin ausgerichtet. "Die paar hundert Franc haben sich also gelohnt. Das Boot kann doch auf offener See ankern", sagte Tim. "Das Sonar geht noch zwei Stunden ohne vom Motor aufgeladen zu werden", sagte er noch. "Falls Ihre Ultraschalltröte nicht trötet kann ich mit den Impulsen Ihren Weg nach unten absichern." Camille bedankte sich, obwohl Florymont leicht grummelte.

Jetzt schlüpften die Dusoleils aus den orangeroten Schwimmwesten, legten ihre muggelmäßige Oberbekleidung ab und standen einen Moment in Badesachen da. Camille trug einen meergrünen Zweiteiler mit Ärmeln und Beinlingen. Als Ihr Mann aus einer Tragetasche etwas wie einen Metallring mit vier schlaffen Auswüchsen in tiefblauer Farbe holte, guckte Tim genauer hin. Dadurch entging ihm, daß Camille eine Kette vom Hals nahm, an der ein silbernes Schmuckstück in Form eines fünfstrahligen Sterns mit abgerundeten Spitzen hing. Erst als sie ein ähnliches Teil nahm, wie das, was Florymont aus seiner Tasche geholt hatte, nur daß ihre Version ebenso meergrün war wie ihr Badeanzug, sah er den silbernen Talisman, der auf dem Boden lag. Er wagte jedoch nicht, sie danach zu fragen, ob er sich das Schmuckstück näher besehen durfte. Als sie in die unteren Ausstülpungen des zihharmonikaartig zusammengefalteten Kleidungsstückes geschlüpft war, erkannte er, daß die Beinlinge in fest aussehenden Füßlingen ausliefen, die wie angeklebte Gummischuhe wirkten. Leise raschelnd zogen die Dusoleils die Ziehharmonikakonstruktion auseinander, bis sie mit den Armen in den Ärmeln verschwinden konnten. Dann schloß sich von alleine der dünne Metallring um die Hälse der Träger, und leise zischend entwich die Luft zwischen Körper und Anzug, bis dieser hauteng anlag. Florymont gab Camille noch letzte Anweisungen. Sie befestigten Riemen mit je einer weißen und einer Schwarzen Muschel um ihre Köpfe. Dann setzten sie die Nachtsichtbrillen auf. Danach berührten sie Markierungen am Halsring, worauf aus einer Ausbeulung im Nacken eine art Silberfolie entfaltet wurde, die sich um die Köpfe legte und dann zu einer massiven Glaskugel wurde.

"Ähm, sie haben nicht zufällig Weltraumgeschichten gelesen, daß Sie sowas nachgebaut haben?" Fragte Tim. Florymont antwortete wie aus einem Teekessel klingend, daß er nicht zufällig, sondern ganz bewußt solche Geschichten gelesen hatte und der Anzug auch Weltraumtüchtig sei, sofern es noch gelang, vier Schutzfunktionen zugleich aufzurufen, die gegen Unterdruck und Luftmangel, die gegen Kälte, eine gegen unsichtbare Strahlung und die gegen Hitze. Im Moment gingen nur zwei Funktionen zeitgleich. Camille streifte sich derweil ihre Halskette mit dem silbernen Talisman über. Tim mußte sich arg beherrschen. So ein schöner Stern. Und irgendwas strahlte er aus, was ihm seltsam aber nicht bedrohlich vorkam. Dann nahmen die Dusoleils ihre Zauberstäbe und noch ein walzenförmiges Ding, das Florymont auf den Rücken schnallte. Sie nickten Tim mit ihren kristallumhüllten Köpfen zu. Dann überstiegen sie den breiten Schlauch des Zodiacs und glitten platschend ins Wasser.

"Der Stern hat bestimmt eine ganz wichtige Funktion", dachte Tim Abrahams.

__________

Das neue Ultraschallartefakt vibrierte in Florymonts Hand. er schwenkte es immer herum, während er neben seiner Frau in die Tiefe glitt.

"Das ist wunderschön hier", sagte Camille. Ihre schwarze Mithörmuschel übertrug es an Florymont. Dieser sprach ihr über seine Kombination durch die weiße Mithörmuschel ins rechte Ohr:

"Genau deshalb wollte ich das, einen Tauchanzug, wie ihn die Zukunftsdichter der Muggel immer wieder erwähnt haben. Wie du weißt war ich damit bis auf dreitausend Metern Tiefe runter, ohne zu ersticken oder vom Druck zerquetscht zu werden. Und das Auftauchen ging auch ohne Belastung. Dachte schon, die in Unterwasserabenteuern so gefürchtete Taucherkrankheit abzukriegen. Aber Hera hat bestätigt, daß ich mir nichts dergleichen eingefangen habe. Guck dir mal die Fische an!"

"Mit der Nachtsichtbrille sind die alle irgendwie einfarbig", erwiderte Camille. "Hätten doch besser Zauberstablicht machen sollen."

"Moment, der Fisch da hinten ist ein bißchen zu groß für mich", sagte Florymont und führte den Zauberstab gegen die Walze auf seinem Rücken. Sie erzitterte und flackerte hell auf. Der große Fisch, der noch eben auf die beiden zugeschwommen war, stoppte wie gegen eine unsichtbare Mauer geprallt und zog sich zurück.

"Klappt also auch. Kann ich demnächst in der Zauberkunstrundschau veröffentlichen, daß die Blitzerwalze Haie auf Abstand hält. Und der Bursche war nicht alleine." Er deutete nach links und rechts. In mehr als hundert Metern Abstand schwammen weitere große Raubfische an, zuckten zurück wie gegen eine Wand geprallt und drehten ab.

"Das Ding macht helles Licht. Kriegst du keinen elektrischen Schlag ab?" Fragte Camille besorgt.

"Zwischen der Walze und dem Anzug ist ein hitzefestes Gummikissen. Gummi schirmt gegen elektrischen Strom ab", beruhigte Florymont seine Frau.

Die selbständig zu Schwimmflossen mutierten Füßlinge erlaubten es den beiden, schnell voran und nach unten zu kommen. So dauerte es nur zwanzig Minuten, bis sie den Meeresgrund sahen. Immer wieder tauchten Haie über ihnen, unter ihnen, links rechts vor oder hinter ihnen auf, schwammen schnell auf sie zu und prallten dann auf das unsichtbare Hindernis, das die starken elektrischen Entladungen der Walze bildeten. Es war eindeutig zu sehen, daß die Raubfische wütend waren. Offenbar wollten sie in genau den Bereich, in dem sich das Ehepaar aus Millemerveilles aufhielt. Camille dachte an Mr. Abrahams. Würden die Haie ihn angreifen? Doch nun hatten sie erst einmal mit sich selbst genug zu tun. Sie schwammen knapp zwei Meter über dem Grund dahin, bis sie auf dem dunklen Boden etwas helles sahen. Das Etwas maß bestimmt einen Meter in der Höhe und mehr als anderthalb Meter im Durchmesser. Es besaß zwei ausladende Henkel und stand sicher auf dem gerölligen Meeresboden. Das war er also, der Krug.

"Camille, du willst es wirklich tun?" Erkundigte sich Florymont. "Ich meine, wir könnten das Ding auch mit Sand und Geröll zuschütten, es tief genug im Meeresboden vergraben, daß es keiner mehr findet."

"Nein, ich will es wagen, Florymont, für dich, Jeanne, Denise, Chloé, Viviane Aurélie und deren ungeborene Geschwister. Irgendwann könnte irgendwer doch auf die Idee kommen, ihn auszugraben und doch wegzutragen."

"Wie du meinst", entgegnete Florymont, der bereits davon ausging, Camilles letzte Minuten mitzuerleben. Doch sie hatte alle die Menschen aufgezählt, die sie beide am meisten liebten. Diese hatten ein Recht, in einer ungefährlicheren Welt aufzuwachsen oder Kinder großzuziehen. Wenn es wirklich an Camille war, dann mußte er ihr diese Chance lassen. So ließ er seine Frau nach vorne, schwenkte noch einmal mit dem Ultraschallrohr die Gegend ab und sah Camille kurz vor dem Krug auf den Grund sinken. "Flory, wenn ich, nachdem ich den Krug angefaßt habe, innerhalb einer Minute keine Reaktion zeige, drücke meinen Heilsstern gegen den Krug!" Florymont bestätigte diese Bitte und näherte sich seiner Frau, die nun den Zauberstab in eine Außentasche schob und beide Hände vorstreckte. Sie senkte sie sachte auf den rechten Henkel des Kruges herab. Dann schlossen sich ihre Finger um das gebogene Metall. Florymont hielt den Atem an. Camille erstarrte unvermittelt wie versteinert. Er schwamm auf sie zu und sprach auf sie ein. Doch sie hörte ihn nicht. Dann zählte er laut los. "Null! Eins! Zwei! ..."

________

Camille meinte, durch einen himmelblauen Schacht in eine ebenso blaue, gewaltige Halle zu rasen. Als sie sich wieder einigermaßen zurechtfand erkannte sie, daß sie in einer mehr als hundert Meter durchmessenden Blase unter Wasser schwamm. Das sie umfließende Wasser war nicht warm und nicht kalt. Es war kristallklar wie Bergquellwasser, so das sie die sie umwölbende Wand der Sphäre sehen konnte. Dann erkannte sie, wie sich aus dem Wasser erst schillernde Tropfen und dann eine tiefblaue, riesige Kugel bildete, die dann, mit einem Ruck, zu einer riesenhaften Gestalt von gut und gerne zwanzig Metern Höhe wurde. Camille erkannte, daß es eine aus sich selbst hellblau leuchtende, völlig unbekleidete Frau mit langen, wie Lichtfäden von ihrem Kopf hängenden Haaren war. Das Gesicht der leuchtenden Riesin war lang mit rundem Kinn und einer schlanken Nase und hohen Wangenknochen. Die Erscheinung breitete ihre Arme aus und beugte sich zu Camille herab.

"Du bist eine, die ich würdig finden mag, Heilkraut von der Sonne", sprach die Unbekannte mit einer schönen, weithallenden Stimme. "Du entstammst meinen Nachfahren. Und du trugst bereits vier Töchter in die Welt und bist daher eine Mutter der Vier. Du hast von meiner alten Heimat gehört und sprachst mit meiner Tochtertochter Darxandria, die wegen eines von ihr erwählten Erben in die Welt zurückkam, um im Körper eines durch die Kraft gezeugten Nutztieres ein zweites Leben zu führen. Doch obgleich sie dir sagte, daß du meinen Krug nun nehmen und verwenden kannst wie du willst, darf ich dich nicht einfach zurückschicken in deine Welt. Du mußt dich mir aus eigener Kraft entwinden. Denn nur wer etwas hat, wofür es sich zu leben lohnt und wohin er oder sie zurückwill, kann meiner großen Höhle der Lebensquelle entgehen."

"Du bist Aiondara, meine Vorfahrin", sprach Camille, während die Erscheinung langsam auf sie zuschritt. "Mir wurde gesagt, daß eine andere, eine die die dunklen Kräfte schätzt, dich ebenfalls sucht. Ich bitte dich darum, deinen Krug an einen sicheren Ort zu bringen, damit dort niemand an ihn herankommt. Mehr möchte ich von dir und deinem Erbe nicht, hochverehrte Ahnin."

"Das kannst du tun, wenn du mir entrinnen kannst, Heilkraut von der Sonne. Du brauchst nur meinen Armen oder meinem Leib auszuweichen. Gelingt es mir aber, dich damit zu umschließen, so kehrst du ein in mein Sein und wirst darin geborgen sein. Da du der Liebe und dem Leben zugetan bist, wirst du dann in Frieden und Freude geborgen sein und eins mit meinem Geist und Wissen. Viele unwürdige kamen. Sie müssen nun auf ewig in meiner Obhut verbleiben und mir all ihr Wissen und Können überlassen. Wenn du dies nicht willst, weil draußen mehr für dich zu lohnen scheint, so entgehe mir aus eigener Kraft. Von mir aus werde ich dich nicht zurücklassen. Wer in diese Halle kommt gehört mir, bis er oder sie sie wieder verläßt."

"Ich habe eine Familie, die mich braucht, eine Arbeit und eine Erfüllung, für die es sich zu leben lohnt", erwiderte Camille kampfeslustig, mußte dann aber schnell zurück, weil die Beine der gigantischen Erscheinung schon bedrohlich nahe waren. Camille erkannte, daß sie durch Weglaufen nicht viel gewann. Hier war sie in einer anderen Zustandsform, in der körperliche bewegung nicht half. Doch sie lief. Sie schwamm und zog sich schnell voran, während Aiondara hinter ihr herrlief und immer wieder ihre riesigen Hände nach unten schnellen ließ. Camille konnte den zugreifenden Fingern gerade so entwischen und schwamm schneller. Dabei dachte sie an Chloé, Denise und Jeanne. Sie brauchten sie doch. Auch wenn Jeanne bereits zum zweiten Mal Mutter wurde brauchte sie ihre Mutter doch noch. Florymont brauchte eine verständige, aber auch sacht führende Frau im Haus, die ihm seinen Sinn außerhalb der Arbeit gab. Das durfte sie nicht aufgeben. Aiondara sang nun auf sie ein, wollte sie wohl einlullen.

"Das Wasser ist des Lebens Quelle.
In ihm geborgen wachsen wir.
In uns fließt es an jeder Stelle.
Es trägt uns auch weit fort von hier."

Camille fühlte, wie die Melodie und die Worte sie erlahmen ließen. Sie mußte sich konzentrieren, auf ihre Familie und Freunde, auf Florymont, ihre Töchter, auf die grüne Gasse, auf Julius und Mildrid, mit denen sie verwandt war. Da berührte die Hand Aiondaras sie und hob sie an, um sie auf ihren nun durchsichtigen Leib zuzuziehen. Camille fühlte die Angst, nicht mehr zu ihren Verwandten zurückzukehren. Da erleuchtete das Wasser um sie herum in einem hellen, goldenen Ton und begann zu brodeln. Auf einmal durchströmte Camille neue Hoffnung, Zuversicht und der Wille, ihren Weg zurückzufinden. Dann rief sie jene Formel aus, die sie von Ammayamiria gelernt und mit der sie die Macht des schützenden Sterns Ashtarias entfalten konnte. Ihre Worte hallten wie Echos von hohen Felswänden wider, umflogen sie und umgaben sie wie schützende Helfer. Als die Formel ganz ausgesprochen war, und Camille nur noch Zentimeter vom Unterleib Aiondaras entfernt war, erstrahlte das Wasser völlig weiß. Camille fühlte die Kraft in sich einschießen, die nötig war, sich freizustrampeln und davonzuschwimmen. Nein, sie schwamm nicht. Sie flog.

"Ich erkenne, du hast eine starke Helferin. Aber du wirst mein sein!" Rief Aiondara verzweifelt. Doch Camille hörte nicht mehr darauf. Sie flog auf einen Wirbel aus Gold zu, wünschte sich dort hinein und stürzte laut schreiend in den leuchtenden Strudel, der sie aufsog und durch einen goldenen Schacht schleuderte, bis sie wie unter einem den Körper durchbrausenden Hitzeschwall zusammenfuhr ... und sich kniend vor dem großen Krug befand. Sie hielt eine Hand am Henkel. Das im Krug befindliche Wasser kochte und wallte wild nach oben. Vor sich sah sie Ashtarias Stern, der hell pulsierte und dann erlosch, als sie ihn ansah und fast von seinem Licht geblendet wurde. Florymonts Zeigefinger drückte den Stern an den Henkel.

"Hui, kannst ihn wieder zurückfallen lassen, Flory", keuchte Camille, die ihr Herz wie eine große Pauke in den Ohren hämmern hörte. Florymont ließ von dem Talisman ab, der gegen Camilles Brustkorb zurückschwang und bei der Berührung einen Wärmestoß durch ihren Körper jagte, der über ihre Arme in den Henkel zurückfloß, den sie immer noch umklammert hielt. Das Wasser im Krug bildete eine hohe Säule, die sich zu einer Erscheinung aus wirbelndem Wasser formte, die Camille gerade noch gesehen hatte. Dann hörte sie in ihrem Geist die Stimme Aiondaras sprechen.

"So sei es, daß du das von dir errungene und erstrebte Leben fortsetzen und den unleerbaren Krug, mein Erbe nutzen magst. Da du eine meiner wahren Töchter bist kann ich dich lehren, die schaffenden und raffenden Kräfte meines Kruges zu nutzen. Doch verwahre ihn an einem Ort, an dem die von Dunkelheit erfüllten ihn nicht ergreifen können, selbst wenn sie nicht jene Kraft zur Seite stehen haben, die dir half, mir zu entgehen. Nur soviel für den Anfang, da ich erspüre, daß Nachfahren der fünf großen Familien der Meere darauf lauern, euch auf dem Weg zurück ans trockene Land niederzumachen: Wenn du von dem Wasser des Kruges so viel trinkst, wie viermal in deinen Mund paßt, so bist du einen Tag lang fähig, alle dem Wasser verwachsenen Kräfte und Wesen zu beherrschen, die Worte und Bewegungen des Wassers mit dem nichts und zwei Zehnern der dir bisher vertrauten Wirkung zu nutzen. Ist der Tag vorüber, so erlischt diese Macht, bis du erneut vier Münder voll aus dem Krug trinkst. Doch sei gewarnt, daß ständiges Trinken des ewigen Wassers dich dazu bringen, die nicht dem Wasser eigenen Kräfte und Fähigkeiten zu verlieren. Gönne dem Krug und dir jedoch mindestens einen oder unendlich viele Tage Pause zwischen den stärkenden Trünken, so behältst du die dir unterwiesenen Kräfte und Fähigkeiten und kannst sie nutzen. Nun khere mit dem dir angetrauten zurück, dessen Liebe und Zuverlässigkeit dir half, dich mir zu entwinden und mein Erbe zu erobern!" Die aus Wasser gebildete Erscheinung löste sich auf, zerfloß im umgebenden Meerwasser.

"Was war das denn?" Fragte Florymont, der zumindest das Gebilde aus Wasser gesehen hatte.

"Das war eine Nachbildung der Hüterin und Schöpferin des Kruges, Florymont. Wir haben es geschafft. Der Krug darf jetzt von mir benutzt werden. Aber fasse ihn besser nicht an!"

"Du bist lustig. Wie kriegen wir ihn dann nach oben?"

"Wir hängen den Krug an den Anker. Ich denke, ich kann ihn zumindest durch das Wasser bewegen", sagte Camille und ergriff erneut den Henkel. Diesmal passierte nichts. Sie duckte sich und umschlang den Fuß mit ihrem linken Arm. Florymont wollte schon mit anpacken. Doch Camille warnte ihn noch einmal, den Krug nicht anzufassen, weil Aiondara ihn dann in ihren leuchtenden Leib einsaugen und dort gefangenhalten würde. Dem fügte sie noch eine höchst intime Bemerkung hinzu:

"Da möchte ich lieber die jenige sein, die dich oder zumindest etwas in meinem Körper spürt, Flory."

"Ist mir auch lieber, Cherie", erwiderte Florymont mit einer gewissen Begierde in der Stimme.

Camille schaffte es wahrhaftig, den Krug, der nicht so schwer war wie seine glitzernde Erscheinung vermuten ließ, bis zum eingegrabenen Anker zu bringen und ihn dort mit einem Henkel einzuhängen. Dann tauchten sie schnell wieder nach oben, wobei die Blitzerwalze weiterhin die Haie auf Abstand hielt und Florymont mit der Ultraschalltröte für Meerleute unerträgliche Lärmsalven in die Umgebung schickte.

"Aiondara hat mich gewarnt, daß irgendwelche Abkömmlinge der fünf großen Meeresfamilien uns auf dem Nachhauseweg angreifen wollen. Womöglich meint sie Meerleute damit, Florymont. Die haben uns wohl bisher nichts getan, weil wir sie mit dem Ultraschall nach unten weg auf Abstand gehalten haben. Aber das muß nicht so bleiben", sagte Camille ihrem Mann. "Deshalb müssen wir uns beeilen."

"Dann sind das von denen beherrschte Biester, diese Haie", schnaubte Florymont.

"Denke ich auch. Nur die elektrischen Kräfte hindern sie, uns anzugreifen", keuchte Camille, die sich beeilte, mit ihrem Mann schritt zu halten. Der abnehmende Wasserdruck war nicht zu spüren. Doch sie erkannten, daß es mit jedem zehnten Meter näher an der Oberfläche etwas leichter ging, das Wasser zu durchstoßen. Sie sahen das Licht über sich flackern. Sie waren bestimmt noch über zweihundert Meter unter dem Meer.

"Hoffentlich brennen uns deine Brillen nicht die Augen aus", unkte Camille.

"Das ist die neue Generation mit Gleitlichtgläsern. Die passen sich der Umgebungshelligkeit so an, daß du alles angenehm hell und klar sehen kannst. Allerdings erschöpft sich beim Blicken in Sonnenlicht der Nachtsicht- und Wärmesichtzauber innerhalb einer stunde und muß durch Lagern im Dunkeln einen Tag lang aufgefrischt werden, solange wie er beim Aufsetzen ununterbrochen hält", erklärte Florymont. "Der Vater deines Sohnes ist kein Typ, der sich mit einem Erfolg zufrieden gibt, wenn noch was besseres drin ist."

"Hast du nicht vor einigen Tagen behauptet, du bekämst nur Töchter hin?" Fragte Camille amüsiert.

"Hmm, Da reden wir besser noch mal drüber, wenn Chloé anständig Papa sagen kann."

"Maman meinst du wohl", erwiderte Florymonts Frau mit harter Betonung.

"Papa ist schwerer zu sprechen. Deshalb ist das das wahre erste Wort", hielt ihr Mann ihr entgegen.

"Wir haben vier gesunde Töchter hinbekommen. Wenn du meinst, daß da in mir noch dein Sohn oder zwei Söhne schlummern, dann sieh aber zu, daß du deren Geburt noch erleben kannst, Süßer. Der Anzug ist zwar alles Geld wert, was du dafür haben möchtest. Aber ihn zu erproben war und ist nicht ungefährlich."

"Ja, aber ohne meine gefährlichen Versuche hättest du diesen Krug nicht anfassen können, Herzblatt", wußte Florymont die passende Antwort. Doch weil ihm damit alle Argumente ausgegangen waren schwieg er.

Als sie auftauchten sagte Florymont noch: "Du kletterst bitte schon mal rein. Ich halte das bissige Viehzeug und deren Halter auf Abstand, bis der Anker mit dem Krug im Boot ist." Camille sah ein, daß es so am besten war und zog sich am Schlauch auf der Steuerbordseite des Zodiacs hoch. Tim kam ihr zu hilfe, umarmte sie und hob sie kraftvoll hinüber. Er hielt sie noch zwei Sekunden über dem Boden, bevor er sie abließ.

"Sie sind aber einer, Monsieur", sagte Camille verlegen. Dann mußte sie grinsen. "Das zeigt mir aber, daß ich mein Gewicht wieder auf annehmbare Größe runterbekommen habe."

"Meine Frau ist im moment etwas molliger, weil Garwin nicht alles mitgegessen hat, was sie für ihn in sich hineingestopft hat."

"Das trinkt er dann, Monsieur Abrahams. Glauben Sie mir das. Ich habe das viermal hinbekommen und mich über jedes einzelne gefreut."

"Ähm, bleiben Sie noch im Anzug. Ähm, ich meine, wollen sie den erst ablegen, wenn Ihr Mann wieder an Bord ist?" Wollte Tim Abrahams wissen, dem eine gewisse Röte im Gesicht stand.

"Ich lege den schon mal ab, weil ich einen dringenden Hinweis erhalten habe, daß ich gleich meinen Mund freihaben muß", sagte Camille und ging zu ihren abgelegten Kleidungsstücken. Sie tippte die Runen für Sicher und Öffnen an, wie ihr Mann es mit ihr geübt hatte. Sie zog die Kette mit dem Stern über den Kopf, während sich die gläserne Schutzkugel in die silberne Folie zurückverwandelte und in ihrer aufbewahrungstasche zusammenrollte. Dann löste sich der Halsring. Leise zischend strömte Luft in den Anzug, der nun wie von selbst herunterglitt. Camille zog nur die Arme frei und befreite ihre Beine aus den Beinlingen. Dann hängte sie sich die Kette wieder um. Tim starrte auf die Hexe, die da gerade in ihrem Badeanzug stand. Sie sah trotz oder gerade wegen ihrer gewissen Leibesfülle sehr attraktiv aus mit der kaffeebraunen Haut und dem langen, schwarzen Haar, das gerade trocken und in sanften Wellen über ihre Schultern hinabfiel. "Ich wollte sie nicht anglotzen, Madame. Das habe ich echt nicht nötig. Ich staunte nur, daß sie offenbar keinen Tropfen Wasser abbekommen haben."

"Wäre auch schlecht gewesen, Monsieur Abra'ams", erwiderte Camille und legte den nun wieder kleingefalteten Anzug in die große Tragetasche. Dann half sie Tim, den bereits gelösten Anker einzuholen. Als dieser nach oben kam warnte sie Tim, den Krug nicht anzufassen. Sie ergriff ihn mit beiden Händen, löste ihn von der Ankerflunke und stellte ihn in den Bugbogen des Schlauchbootes. Da machte es Peng. Dann knisterte es, und eine Wolke Funken schwirrte aus den elektronischen geräten des Bootes.

"Jupiduh, da hat es das GPS, das Sonar und den Funk zerlegt", flötete Tim Abrahams. "Dieser Trinknapf muß ja eine heftige Ausstrahlung haben."

"Ist ja auch eine mächtige Magie oder ein Bündel mächtiger Zauber auf einmal drin", sagte Camille. Da tauchte ihr Mann von grellen Blitzen umsprüht aus dem Meer auf. Als er die Blitzerwalze aus dem Wasser streckte, pifften und pafften bläuliche und rötliche Entladungen von ihm fort. Schnell hielt Florymont den Zauberstab an die Längsachse der Walze. Sofort hörte das elektrische Feuerwerk auf.

"Eine Elmsfeuerdose", staunte Tim Abrahams. "Ich fürchte aber, wir sollten jetzt irgendwie ganz schnell von hier wegfahren. Das Reiseandenken Ihrer Frau hat mir gerade die Elektronik zerbröselt. Und Ohne Echolot könnten uns vielleicht doch ein paar Flossenpiraten eins überbraten oder gar bei Freund Hein anmustern lassen. Das würde mir Galatea nicht verzeihen."

"Was, das Echogerät ist kaputt. Vielleicht kann ich es reparieren", bot Florymont an. Seine Frau schlüpfte inzwischen mit dem Schnellankleidezauber in ihre abgelegten Sachen und fiel wie ein durstiges Kamel über den von ihr geborgenen Krug her. Florymont wollte schon fragen, ob das nicht gefährlich sei, als sie die Backen aufbließ und kräftig Schluckte. Das wiederholte sie noch dreimal. Dann sah sie beide Begleiter an.

"Fahren Sie Los. Wenn wir angegriffen werden sollen werde ich uns hoffentlich freien Abzug verschaffen können."

"Ich kann die Ultratröte so ans Vorderende des Bootes hängen, daß immer genug Wasser drin ist, um sie in Schwung zu halten", schlug Florymont vor.

"Der Motor macht dreißig Knoten, wenn ich den überhaupt ankriege", sagte Tim. "Da würde Ihre Ultraschalltröte locker abgerissen und für immer da unten rumtröten." Florymont kapierte es.

Der Motor erwachte zum Leben und brüllte los. Da Tim auch am Sonnenstand und seiner Armbanduhr mit Zeigern die richtige Richtung ermitteln konnte dauerte es keine fünf Sekunden, bis das Boot mit schäumender Bugwelle und weiß schäumendem Kielwasser davonbrauste.

Camille sah die dreieckigen Rückenflossen der Haie, die unvermittelt um das Boot herum schwammen. Sie hielt ihren Zauberstab an den Kehlkopf und murmelte: "Sonorus!" Dann rief sie weit hallend: "Verschwindet, ihr Haie. Marsch dahin zurück, wo ihr hergekommen seid!" Sie fühlte eine solche Kraft in sich prickeln, als wäre sie eine randvolle Champagnerflasche. Sie sah, wie die Flossen noch einmal in ihre Richtung gedreht wurden und dann unter Wasser verschwanden.

"Das Wer-ist-Wer der heftigsten Haie", knurrte Tim. "Tigerhai, Hammerhai und mindestens zwei große weiße. "Wieso so viele?"

"Meerleute, Tim. Sie können alle Fische und Kraken mit ihren Worten steuern wie mit dem Imperius-Fluch", erwiderte Florymont. Dann sah er seine Frau an und meinte: "Deshalb hast du aus dem vollen Krug getrunken, weil du dann Haie fortjagen kannst?"

Camille sagte nichts. Denn sie fühlte etwas von unten heraufkommen und durch die Oberfläche brechen. Da erkannte sie die Meerleute mit seetangbraunen Haaren und smaragdgrünen Fischschwänzen. Solche gab es im Mittelmeer auch. Doch was jetzt wichtig war, sie fühlte die Angriffslust dieser Wesen, die zwar nicht mit dem Boot mithielten, aber ihre Speere anhoben. Da rief sie noch immer mit Hilfe des Sonorus-Zaubers: "Im Namen Aiondaras, laßt uns drei in Frieden ziehen! Greift uns nicht an! Kehrt in eure Siedlungen zurück! Im Namen Aiondaras, laßt uns in Frieden und kehrt in eure Siedlungen zurück!" Sie hörte, wie ihre Worte weit hallten. Ein schwach geworfener Speer klatschte knapp einen Meter hinter der Außenborderschraube ins Wasser. Da versanken die Meermänner wie schwere Steine unter die Wellen. Camille fühlte den aufkommenden Rausch einer Macht, die sie bis dahin nie zu fühlen gedacht hätte. Dann erkannte sie, daß sie aufpassen mußte, sich diesem Rausch nicht hinzugeben. Was hatte Aiondara gesagt? Wer von dem Wasser immer wieder trank verlor dann alle anderen Fähigkeiten außer denen, das Wasser zu beeinflussen.

"Was war denn das für eine Sprache?" Wunderte sich Florymont. "Seit wann kannst du Meerisch?"

"Häh, ich habe doch Französisch gesprochen oder?" wunderte sich Camille. Tim erwiderte, daß sie jene Laute von sich gegeben habe, die Meerleute über der Wasseroberfläche ausstießen. "Hat wie ein Symphonieorchester Kreissägen und rhythmisch quietschenden Zugbremsen geklungen. Uh, meine Ohren."

"Ja, war schon laut. Hoffentlich haben die Mördernöcks das alle gehört", grummelte Florymont. Camille blickte sich noch einmal um. Da sah sie weit voraus wieder Meerleute. Sie streckte sich über den Bug und befahl ihnen auch, sie unbehelligt davonfahren zu lassen. Da tauchten die Meerleute mit ihren Muschelhelmen und Speeren wieder ab und waren verschwunden.

"Waren das jetzt echt alle?" Fragte Tim verbittert. Camille nahm den Sonorus-Zauber von ihrer Stimme und sagte, daß es ihr leid tue, wenn den beiden die Ohren klingelten. Aber besser als von hundert Meerkriegern auf einmal angegriffen zu werden.

"Ich denke, das spricht sich jetzt eh bei denen rum, daß jemand den Krug hat", bemerkte Tim. "Haben Sie was über die Geister erfahren, Madame Dusoleil?"

"Darüber habe ich nichts erfahren", antwortete Camille Dusoleil.

"Sie legten Hand an den Krug und wurden zur Strafe von mir verschlungen", wisperte Aiondaras Stimme in Camilles Geist. Obwohl sie den krug nicht berührte, stand sie mit der alten Magierin in Kontakt? "Solange du mit dem Wasser des Kruges angefüllt bist kann ich zu dir sprechen und dir helfen, wie gerade eben, um die Gefahren aus dem Wasser zu vertreiben", hörte sie die Antwort. Camille schwieg über diese eingeflüsterte Erkenntnis. Das mußte wirklich nicht jeder wissen. So sagte sie auch zu Tim, daß er das bitte nicht im Ministerium oder auf Partys herumgehen lassen solle, was er gerade miterlebt habe. Er dürfe es wohl nur deshalb wissen, weil er ja schon vorher mit dem Krug zu tun gehabt hatte. Tim verstand, was Camille damit meinte.

Als sie in die Nähe der Insel Kamen packte Camille den Krug in einen gefütterten Sack, den sie auf Ammayamirias Weisung hin mitgenommen hatte.

"Ich will ja nicht gemein sein. Aber wie erkläre ich das dem Bootsverleiher mit der Bordelektronik?" Fragte Tim die Dusoleils.

"Kurzschluß durch Seewassereinfall wegen überhoher Welle", sagte Florymont und schöpfte einen Eimer Seewasser aus dem Meer und kippte ihn über die ohnehin schon kaputten Geräte aus.

"gut, daß ich eine gescheite Haftpflichtversicherung habe", stöhnte Tim. Doch was half es. Bei jeder Mission konnte es Opfer geben. Da war ein Sachschaden immer noch besser als ein gefallener Kamerad.

Er verabschiedete sich von den Dusoleils, als diese mit ihrem Gepäck an Land waren und wünschte ihnen eine ruhige Zeit mit ihrer kleinen Tochter. Florymont scherzte, daß sie noch nicht alle Hoffnung aufgegeben hätten, auch noch einen Sohn zu kriegen. Dann apparierten die Dusoleils in die Nähe des Ausgangskreises. In fünf Stunden würde der zuständige Zauberer aus dem Einreiseüberwachungsbüro hier eintrudeln, um sie nach Paris zurückzubringen. Von da an würden sie dann apparieren. Immerhin ließ sich der Krug von Camille auf den zeitlosen Weg mitnehmen.

"Das wird teuer, das Hochsicherheitsverließ", grummelte Florymont, als er seiner sperrig bepackten Frau hinterherlief um das weiße Marmorgebäude von Gringotts Millemerveilles zu betreten. für besondere Anlässe gab es sechs Hochsicherheitsverliese, die von bretonischen Blauen bewacht wurden. Allerdings kostete das Verlies zweihundert Galleonen im Jahr. Doch nur in Gringotts, unter der schützenden Glocke von Millemerveilles, konnten sie sich sicher sein, daß ihr Reiseandenken aus Martinique vor Leuten wie Anthelia oder Nyx wirklich sicher war.

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Patricia verfolgte schon aus eigener Neugier, wie die Öffentlichkeit von der Katastrophe der "Golden Hope" erfuhr und bewunderte, wie Gründlich eine Explosion auf hoher See als Unglücksursache durch die elektronischen Medien ging. Den Berichten nach war das private Forschungsschiff an einer Stelle gesunken, an der das Mehr über viertausend Meter tief war. Die Wrackteile mochten über mehrere Quadratkilometer verteilt liegen. Es würde sich also nicht lohnen, Tiefseetauchexpeditionen danach suchen zu lassen. Die drei Abenteurer und ihre Mannschaft wurden in verschiedenen Nachrufen in den amerikanischen Zeitungen und im Internet gewürdigt. Zeitgleich wurde davor gewarnt, der Neugier unbefangen nachzugeben, weil dies irgendwann einen hohen Preis fordere. "Neugier ist der Tod der Katze", brachte ein Internetnutzer einen uralten Spruch an. "Womöglich gibt es Sachen, von denen wir besser die Finger lassen sollten, solange wir sie nicht kapieren." Patricia stimmte dem mit "Stargazer" firmierenden Schreiber wortlos zu. Womöglich sollte man von bestimmten Sachen besser die Finger lassen. Sie dachte an Tyche Lennox und daß Anthelia ihren Eltern zwei Tage nach dem Ausflug mit ihr die Erinnerungen an ihre Tochter genommen und alle physischen Hinterlassenschaften von ihr fortgezaubert hatte. Patricia war heilfroh, nicht auf diese verhängnisvolle Reise geschickt worden zu sein. Denn sie mochte sich ausmalen, daß Anthelia es gerne gesehen hätte, wenn Intis Beistand, das Sonnenmedaillon der Inkas, für immer und ewig aus der Welt verschwunden wäre. Patricia wußte jedoch auch, daß dieses hochpotente Artefakt eine der wichtigsten Waffen gegen die neue, große Bedrohung war: Nocturnia, das Reich ohne Grenzen.

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Als er aus einem Gewirr von Bildern, Geräuschen, Dunkelheit und Stille erwachte, wunderte er sich. Er hatte damit gerechnet, längst in einer Wiege zu liegen oder bereits die ersten Schritte zu tun. Doch als er das rhythmische Pochen und Wummern, das Fauchen und das unregelmäßige Gluckern hörte, sich in Dunkelheit treiben fühlte und beim schwerfälligen Ausstrecken der Arme und Beine auf weichen Widerstand traf, erkannte der ehemalige Zaubereiminister der USA, daß er noch nicht geboren war. Wieso konnte er schon denken? Wieso schützte ihn dieser verflixte Zauber, den seine Tante und er hatten machen müssen, um ihn nicht sterben zu lassen, nicht vor den Eindrücken dieser beengenden Umgebung? Womöglich wäre es doch besser gewesen, wenn er sich lange vor seinem Abschied aus der Welt über die Wirkung des Iterapartio-Zaubers informiert hätte. Einerseits fühlte er sich sicher. Das pulsierende Etwas, das in seinem Bauchnabel steckte, flößte ihm Nahrung und Leben ein. Jene, in deren innerster Obhut er sich gerade befand, wollte ihn als ihren Sohn haben. Das wollte sie wohl schon, als er ihrer Schwester geboren worden war. Sie hatte ihn als Geliebten gewonnen, kultiviert und drangsaliert. Jetzt war er ihr ausgeliefert. Er erfaßte, wie sehr er ihr ausgeliefert war. Diese Hexe, die im Moment wie ein lebender Kerker um ihn herum existierte, hatte ihn gänzlich abhängig von sich werden lassen. und er hatte es auch noch akzeptiert, nur um weiterhin leben zu können. Wenn er gewußt hätte, daß er womöglich noch Wochen oder Monate in dieser immer enger werdenden Behausung bewußt erleben, ja die Tortur der Geburt mit allen wachen Sinnen durchleiden mußte, hätte er vielleicht doch besser den Tod in Kauf genommen. Doch jetzt war es zu spät.

Er hörte, wie die, die sich darauf freute, seine Mutter zu werden, mit einer Heilerin im Honestus-Powell-Krankenhaus sprach und erschrak innerlich: "... können wir damit rechnen, daß Sie Ihren Sohn wie vorausberechnet am 26. Mai zur Welt bringen können, also in neun Wochen von heute an. Sie wollen ihn in Ihrem Haus gebären?" Hörte er die Stimme der Heilerin wie durch dicke Wände gefiltert schwach über das Konzert der Körperklänge hinweg. Dann erfolgte die für ihn laute und dumpfe Stimme seiner künftigen Mutter:

"Nun, warum soll er nicht dort zur Welt kommen, wo ich mit seinem Vater die glücklichsten Jahre verbracht habe, Ms. Gladfoot. Ich bleibe bei meinem Entschluß."

"Gut, dann nehmen Sie bitte diesen Wehenwarner mit, der mich alarmieren kann, wenn es doch früher als erwartet bei Ihnen losgehen sollte! Ansonsten befolgen Sie weiterhin die gebotenen Verhaltens- und Ernährungsregeln! Klang die Stimme der Heilerin zu ihm durch, ein Gruß aus einer anderen Welt, die in Wirklichkeit nur ein paar Zentimeter weit entfernt lag und dennoch für ihn so weit fort war wie die Erde von der Sonne.

"Natürlich werde ich mich daran halten, Ms. Gladfoot. Ich will Lucas' Sohn schließlich gesund auf die Welt bbringen", erfolgte die dröhnende Antwort Tracy Summerhills, die in seinem vergangenen Leben seine Tante und heimliche Geliebte gewesen war. Natürlich wollte sie ihn gesund zur Welt bringen - als seinen eigenen Sohn.

Er fühlte das Wiegen und Schaukeln, als seine Trägerin mit ihm davonging. Er versuchte, zu mentiloquieren. Im Moment war er noch wach genug. "Noch neun Wochen? Ich dachte, ich wäre schon draußen, wenn ich wach werde", stieß er einen gedankenruf an seine Verwandte aus. Diese empfing den Ruf wohl und hielt inne.

"Ah, du bist ja wirklich noch derselbe. Kannst es nicht abwarten", hörte er ihre Gedankenstimme. "Genieße es noch, Kleiner. Mom Tracy paßt gut auf dich auf. Genieße es, denn wenn du erst mal nach draußen gekrabbelt bist, wirst du es vermissen."

"Ich weiß, daß du dich wohl jetzt ganz glücklich fühlst", gedankenschnarrte der zum zweiten Mal zur Welt kommende zurück. Seine Trägerin erwiderte mentiloquistisch:

"Natürlich. Denn so, wie du jetzt bei mir bist, wolte ich dich schon immer haben. Also genieße es so wie ich!"

"Wenn du nicht gerade Quodpot spielst oder wilde Sprünge machst vielleicht schon", schickte er noch zurück. Doch er merkte, daß sein gerade erst neuentwickeltes Gehirn diese Anstrengung nicht lange durchhalten konnte. So beließ er es bei diesem ersten Zeichen seines neuerwachten Daseins.

ENDE

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