AN MEHREREN FRONTEN

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

E-Mail: hpfan@thorsten-oberbossel.de
http://www.thorsten-oberbossel.de

Copyright © 2010 by Thorsten Oberbossel

__________

Vorige Story

P R O L O G

Es geht weiterhin Turbulent zu, nachdem der dunkle Erzmagier Voldemort endgültig entmachtet wurde. Anthelia kann ihre wiedergewonnene Freiheit nicht lange feiern. Zum einen schafft es der in seinem versilberten Skelett gefangene Geist des dunklen Voodoomagiers Ruben Coal, in den lebenden Körper seines Nachfahren Gordon Stillwell einzudringen, wodurch er sehr mächtig wird und eine Armee von echten Zombies gegen die Nachfahren der früheren Sklavenhalter aufstellen will. Zum anderen trachtet der durch den Genuß radioaktiv verseuchten Blutes veränderte Vampirfürst Volakin danach, die Herrschaft über Vampire und Menschen zu erringen. Zudem gerät der Bruder Richard Andrews' bei einer Urlaubsreise in Spanien in die Falle der wachen Abgrundstochter Itoluhila, die sich ihm und ihren Abhängigen gegenüber Loli nennt. Sie schafft es, auch ihn zu einem ihrer Abhängigen zu machen, um mit seiner Hilfe mehr Macht zu erringen. Anthelia, die wegen des angeblichen Mordes an Zaubereiminister Lucas Wishbone zur meistgesuchten Hexe der Staaten wird, überwältigt den in Wirklichkeit nur versteckten Zaubereiminister und verflucht ihn so schwer, daß ihm und seiner Tante Tracy nur die Rettung im Iterapartio-Zauber möglich erscheint. Anthelia hört von osteuropäischen und französischen Bundesschwestern von Volakin und stellt sich ihm entgegen. Sie begräbt ihn unter einer mächtigen Flutwelle, als Volakin sich mit der auf ihn wütenden Itoluhila duelliert. Volakin stirbt und setzt dabei eine Menge Strahlung frei, die Anthelia an den Rand des zweiten körperlichen Todes treibt. Sie sieht nur noch eine mögliche Rettung: Sie muß ergründen, was es mit einer menschengroßen Spinne auf sich hat, die in Australien ihr Unwesen treibt. Als sie mit ihrer Mitschwester Tyche Lennox aufbricht fordert Hyneria Swordgrinder Donata Archstone, die Anthelias Getreue in den Reihen der nordamerikanischen Nachtfraktionsschwestern ist, zum Entmachtungskampf auf Leben und Tod. Sie gewinnt. Danach schließt sie mit einem nebelhaften Zauber alle ihr untreuen Hexen in eine grüne Kristallform ein und trachtet danach, die unter dem Namen Lysithea Greensporn wiedergeborene Daianira Hemlock aus dem Weg zu schaffen. Sie verwendet eine schwarzmagische Vorrichtung, die darin eingeschlossenen innerhalb von Minuten alle verbliebenen Lebensjahre entzieht. Doch dabei kommt es zu einer unerwarteten Reaktion, bei der die Vorrichtung zerstört wird und alle um sie herum zu Säuglingen verjüngt werden. Die in der Vorrichtung gefangene Daianira findet sich im Körper einer gerade erwachsen gewordenen Frau wieder. Doch sie fragt sich, was eine Vision bedeutet, die sie während dieser Magieentladung erfuhr und in der Professeur Tourrecandide aus Frankreich mitspielt, deren Tochter sie beinahe hätte werden müssen. Tourrecandide spürt zeitgleich ihrer zur Vampirin gewordenen Schwester Voixdelalune und ihrem Blutgefährten nach, die zwei Muggelkinder entführt haben. Dabei trifft sie auf die wieder freigekommene Nyx und wird fast von den Vampiren gebissen, als sie in einem goldenen Licht verschwindet und dabei ihre Kleidung und Ausrüstung zurückläßt. Anthelia indes findet die schwarze Spinne und hofft, durch einen Entkörperungszauber ihr Geheimnis zu ergründen. Dabei kommt es wegen der alten Magie der Tränen der Ewigkeit zu einer vollständigen Fusion zwischen ihr und der als Spinnenfrau lebenden Naaneavargia. Dairons Zaubergegenstände zerstören sich danach, und die neu entstandene Hexe kehrt in ihr Hauptquartier zurück, wo sie erfährt, daß Donata und die ihr folgenden Hexen aus der Nachtfraktion tot oder handlungsunfähig sind.

__________

Die Stille war feierlich. Sie kam sich vor wie in einer risigen, gläsernen Kathedrale. Über sich sah sie einen silbernen Stern am dunklen Himmel. Der Stern besaß fünf weit ausgreifende Strahlen, wie ein Stern aus einem Bilderbuch. Wie war sie hierhergekommen? Gerade eben noch hatte sie diese Hexe, Almadora Fuentes Celestes, mit einem magischen Lied in einen tiefen Schlaf gesungen. Und jetzt stand sie in diesem imposanten Kristallbau, der ihr ein Gefühl von Schutz und Unangreifbarkeit vermittelte. Die Landschaft außerhalb des Glasdoms lag im Dunkeln. Sie konnte jedoch im silbernen Licht des einzigen Gestirns, das Sonne und Mond zugleich sein mochte, einige Berge erkennen. War das die Auswirkung des magischen Schlafes? Oder war sie in Wirklichkeit tot, und dies hier war der Vorraum zum Himmel? Sie tastete sich ab und erkannte, daß sie nackt war. Kein einziger Fetzen irdischen Stoffes hing an ihr. "Nackt werden wir geboren. Nackt verlassen wir die Welt", dachte sie an das, was ihre Großmutter väterlicherseits einmal gesagt hatte.

Das Licht wurde heller. Sie sah nach oben und erkannte, wie von jenem Silberstern ein feiner Strahl senkrecht nach unten fiel und genau im Zentrum dessen auf den Boden traf, was sie als gläsernen Dom empfand. Irgendwas an diesem silbernen Verbindungsstrahl schien sie ohne Worte zu rufen. Gleichermaßen fühlte sie Wärme in ihrem Körper, die sich von unterhalb des Bauchnabels ausbreitete. Langsam schritt sie auf den silbernen Lichthof zu, der sich mehr und mehr zu einer immer breiteren Säule erweiterte. Das Licht rief sie lautlos zu sich. Sie fühlte keine Angst. Nein, es war das Gefühl, nach langer Reise endlich nach Hause zu kommen. Dort, wo der immer breitere Lichtstrahl wie eine unendlich hohe Säule aufragte, herrschte Frieden und Ruhe, Wärme und Geborgenheit, Liebe und Vertrauen. War dies die Leiter zum Himmel? Sie sah noch einmal nach oben. Der silberne Stern veränderte sich mit der Breite der von ihm erschaffenen Säule. Seine fünf Strahlen verformten sich zu vier Enden, die durch zwei quer zueinander vereinigten Balken gebildet wurden. Die silberne Säule wurde in dieser Zeit so breit, daß drei Menschen bequem in ihrem Inneren zusammenstehen konnten. Die Besucherin dieses überirdischen Ortes setzte ihre nackten Füße weiter Schritt um Schritt voran. Der Boden war nicht warm und nicht kalt. Er fühlte sich nur fest und sicher an, sonst nichts. Dann stand die einzige Frau an diesem friedvollen Ort kurz vor der breiten Säule. In ihrem Widerschein meinte sie, nicht mehr aus Fleisch, sondern versilbertem Glas zu bestehen. Sie sah an sich herunter und erkannte ihr schlagendes Herz und noch etwas, das in schnellen Rhythmen in ihrem Körper wirkte. Ein winziger Lichtpunkt blinkte, doch von ihm gingen sachte Wellen aus silbernen Funken aus, die sacht in ihr herumtrieben oder in den winzigen Punkt zurücktrieben. Die Frau vor der silbernen Lichtsäule richtete sich wieder auf, als sie spürte, daß sie noch einen Schritt zu gehen hatte, um ihr ziel zu erreichen. Sie streckte ihre Hände vor und ging den einen Schritt nach vorne. Sie berührte die Lichtsäule mit den Fingern. Sie fühlte sich wie ein warmer Windhauch an, flüchtig und doch fühlbar. Noch einmal blickte sie nach oben, wo die Quelle des breiten Lichtes endgültig die Form eines Kreuzes angenommen hatte. Dann trat sie selbst in den Lichtstrahl ein, um eins mit ihm zu werden, um von ihm getragen oder geleitet zu werden.

Als das silberne Licht um sie herum erglühte, fühlte sie, wie sie schwebte. Um sich herum sah sie nur dieses silberne Licht. Doch nun hörte sie etwas, das Schlagen ihres Herzens. Sie hatte das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Irgendwer war in ihrer Nähe, umgab sie oder stand direkt bei ihr. Sie flüsterte leise: "Ist da wer?" Dabei fiel ihr nicht auf, ob sie ihre Muttersprache benutzte oder die Sprache des landes, in dem sie den Großteil ihres körperlichen Lebens verbracht hatte. Doch das kümmerte sie in diesem Moment auch nicht. Denn sie erhielt eine Antwort: "Ja, meine Tochter, ich bin da. Öffne dein Herz und deinen Geist für mich, Trägerin meines Erbes!" Die Stimme war sanft gewesen und gehörte einer Frau. War dies die Stimme Gottes, oder die ihrer Namensgeberin, der Mutter Gottes? Warum sollte Gott bei der Begrüßung seiner Töchter nicht als Frau und Mutter erscheinen? "Ja, ich fühle dich. So sieh mich an, deine große Mutter!" Erklang die sanfte Frauenstimme erneut, und diesmal genau über ihr.

Sie hatte in ihrem Leben schon viele Abbildungen von Engeln gesehen, kitschige Weihnachtsengel mit Röcken und goldenen Flügeln, gütig dreinschauende Männer in weißen Gewändern, die einen Lichtkranz um ihre Köpfe trugen. Sie hatte sich immer vorzustellen versucht, wie ihre geliebte Großmutter Conchita zu solch einem Wesen geworden sein mochte. War sie es, die da wie aus goldenem Licht bestehend zu ihr herabschwebte? Das Gefühl der Liebe und Geborgenheit verstärkte sich. Doch noch ein Gefühl kam dazu, der Drang, selbst zu lieben und jemandem diese Geborgenheit zu geben, die sie selbst gerade erfuhr.

Als die Frau aus Licht genau auf ihrer Höhe schwebte, nackt und bloß wie sie selbst, sprach die überirdische zu ihr, der sich selbst im Reich der Toten wähnenden. "Es ist schön, dich im sicheren Schlaf zu sehen, meine Tochter. Doch dieser Schlaf darf nicht andauern. Denn du trägst neues Leben in dir, das Nahrung und Zuwendung braucht, um zu reifen und zu gedeihen. Daher mußte ich dich rufen, damit du die dir auferlegte Decke aus Zauberkraft von dir abstreifen und mein mütterliches Geschenk wieder an dich nehmen kannst, damit du und das in dir werdende Leben von mir beschützt seid und du deinem Kind die ihm zustehende Liebe und Sicherheit geben kannst. Denn der Schlaf verlangsamt deinen Körper und gefährdet das Kind, dessen Herz in deinem Leib zu schlagen begann, wenn er andauert. Erwache und kehre in die Welt der Wachen zurück!"

"Ich bin nicht tot?" Fragte die Angesprochene die Frau, die aus geformtem Sonnenlicht zu bestehen schien. "Wo bin ich dann? Wer bist du?"

"Du bist mit deinem inneren Selbst von mir berührt und in meine Gefilde getragen worden, wo ich solange weile, wie es Träger meines körperlichen und geistigen Erbes auf der Welt der Sterblichen gibt. Mein Name ist Ashtaria."

"Ashtaria? Dieser Name sagt mir nichts", erwiderte die Besucherin dieses ungewöhnlichen Ortes. Die Fremde aus goldenem Licht lächelte warmherzig und erwiderte:

"Ashtaria ist mein wahrer Name, den ich von meiner Mutter erhielt, weil ich im Mittagslicht der Sonne geboren wurde. Er bedeutet "die Sonnengeweihte". Doch die Menschen, die mich kennenlernten, als ich eine große Hüterin des Lichtes wurde, gaben mir die Namen ihrer Göttermütter. Für die Bewohner des Inselreiches am größten Meer bin ich sowohl Izanami wie Amaterasu. für die Völker zwischen den zwei großen Flüssen, die eine mächtige Stadt erbauten war ich Ishtar oder Astarte. Für jene, die am großen Strom lebten und ihren Toten dauerhafte Bauwerke errichteten war ich Isis, für die auf Inseln und Festland lebenden Nachfahren meines Urvolkes war ich Hera, für jene im eisigen Nordland Freya oder frigg. Die verehrer eines unsichtbaren Vatergottes verehren mich als jungfräuliche Mutter, deren Namen deine Vatermutter trug und den du selbst erhalten hast."

"Dann bist du eine Göttin?" Fragte die Besucherin.

"Ich war eine Sterbliche wie du. Doch die Gnade der höheren Mächte begüterte mich mit großer Kraft, die ich zum Wohl und Schutz meines Volkes erlernte, als Erbe einer großen Urahnin, die mit dem alten Land vor mehreren Tausend Sonnen im Meer versank. Durch die große Kraft vermochte ich, mein Sein mit dem Leben meiner Kinder zu vereinen, mit denen ich in gemeinsamer Liebe das Ende des körperlichen Lebens überwand und in dieser, von den meisten Menschen nicht zu erblickenden Welt zwischen den Lebenden und den weitergegangenen verweilen und euch behüten kann, die ihr meine Kinder seid. Du bist die Tochter einer langen Reihe von Töchtern, die aus diesem, meinem Schoß geboren wurden." Dabei deutete sie auf ihren Unterleib. "Die sieben Zeichen meines Schutzes und meiner Behütung wurden von je sechs meiner sieben Kinder je ein mächtiger Gegenstand erschaffen und dem jeweils zu beschenkenden übergeben. Fünf Söhne und zwei Töchter gebar ich. Von einer dieser Töchter stammst du in unterbrochener Folge von Töchtern ab."

"Fünf Zauberer und zwei Hexen?" Fragte die vor Ashtaria schwebende. Sie erhielt ein Nicken zur Antwort. "Dann stammt das Kreuz von deinen Kindern? Aber woher wußtet ihr damals, daß es das Zeichen des Heilands der Christenheit sein wird?"

"Niemand von uns wußte es. Doch wir dachten in Jahrtausenden. Uns war klar, daß die Erben von uns immer in ihrer Zeit als Träger eines Schutz- und Heilszeichens anerkannt werden müßten. Daher arbeiteten wir in die sieben Zeichen der Verbundenheit und des Schutzes eine Kraft ein, die das Zeichen eines Trägers in jenes Zeichen zu formen vermochte, das in seiner Umgebung als Zeichen des höchsten Heils und Schutzes anerkannt wurde. Bei den anderen Trägern meines Zeichens behielt jedes die ursprüngliche Form, die des fünfstrahligen Gestirns, daß für die fünf Stadien des Lebens und die fünf Kräfte der Natur und die fünf Ebenen des Seins steht. Bei meiner zehnten Tochtertochter, die zum Gefolge des Friedenspredigers gehörte, der von seinen Freunden und Schülern als Sohn des einen Gottes verehrt wurde, wandelte sich ihr Zeichen in das Kreuz, das durch den Opfertod des Predigers vom reinen Mordgerät zum Heilssymbol umgedeutet wurde. Es blieb in dieser Form und wurde als Zeichen der Güte und des friedlichen Auslebens dieses neuen Glaubens anerkannt und blieb bis heute. Nur wenn es eine Zeit erreicht, in der diese Bedeutung nicht mehr als Heils- und Schutzzeichen erkannt und verehrt wird, wird es sich erneut wandeln. Denn durch die unbeseelten Kräfte der Natur ist und bleibt es unverformbar und damit auch unzerstörbar. Seinem Ruf bist du gefolgt. Denn durch dieses Zeichen wache ich über dein Leben und das Leben jeder aus dir erwachsenen Tochter oder Sohnestochter. So erwache nun und ergreife das Zeichen unseres Bundes, der durch die Zeiten und Völker besteht und in die kommende Zeit hineinreichen mag, solange es erben des gleichen Geschlechtes gibt, dem der ursprüngliche, aus mir selbst erwachte Träger oder die Trägerin angehörte!"

"Moment, noch eine Frage habe ich. Ich habe ein Wesen voll böser Kraft getroffen, das mich als seine Cousine, also die Tochter seiner Tante bezeichnet hat. Wie kommt das?"

"Wahrlich, meine Schwester war nicht wie ich. Sie verfiel der Verlockung der Dunkelheit und Gier und verweigerte sich der ihr angeborenen Natur, die zur Erschaffung neuen Lebens Liebe und Zusammensein verlangt. Sie erschuf mit den Kräften dunkler Macht aus ihrem Leib und ihrer Seele neun Töchter, geboren mit dem Keim der ewigen Gier und des unerschöpflichen Bestehens, bis die neunte ihrer Töchter ihr alles Leben entriß und damit ihren Untergang herbeiführte. Sie wurde in der Glaubenswelt derer zwischen den beiden Strömen der Wüste als Verschlingerin oder Nachtgöttin bezeichnet und später mit mir gleichgesetzt zum Symbol der ungezügelten Weiblichkeit vereint. Ihre neun Töchter lebten lange, bis eine von ihnen ihren Leib verlor und ihrer Macht beraubt wurde. Sechs, darunter jene neunte, schlafen im langen Schlaf des Wartens. Zwei von ihnen sind immer noch unter den natürlichen Menschen und zehren von deren Lust und deren Lebenskraft. Einer von denen magst du begegnet sein, weshalb jene, die dir die Decke des langen Schlafes überstreifte, mit dir in Verbindung trat. Doch nun ist es Zeit." Mit diesen wie langer Nachhall verebbenden Worten löste sich die Erscheinung Ashtarias in silbernes Licht auf. Es begann sacht zu rotieren und gab die Besucherin dieses Ortes frei. Sie schwebte einen Moment. Dann fühlte sie, wie sie sachte auf einer weichen, sich ihrem Körper genau anschmiegenden Unterlage landete. Von dem mächtigen Lichtgebilde, in das sie vorhin eingetreten war, blieb jedoch ein fingerdicker Strahl, der genau aus der ihr gegenüberliegenden Wand hervordrang. Maria Purificacion Montes streckte Arme und Beine. Sie fühlte sich frisch und munter. Sie schlug die über ihr ausgebreitete Decke zurück und erhob sich. Sie ging zu einer Tür und berührte sie. Einen Moment lang sprang der aus der Wand dringende Silberstrahl zu ihr hinüber, hüllte sie in einen Hauch aus Licht ein. Da ging die Tür auf. Maria Montes verließ das Zimmer und folgte dem sie leitenden Lichtstrahl bis zu einer gläsernen Vitrine, in der sie ein silbernes Kreuz an einer Kette erkannte. Aus der Mitte des Kreuzes drang der silberne Strahl, der sie nun wieder einhüllte. Sie streckte die Hand aus und berührte die Vitrine, die mit leisem Klacken aufsprang. Sie griff hinein und berührte das leuchtende Heilssymbol der Christen mit ihrer rechten Hand. Wohlige Wärme durchflutete sie, während das ganze Schmuckstück für einen Moment erglühte, um dann zu erlöschen. Doch ein pulsierender Strom aus Wärme glitt in ihre Hand. Sie zog das kreuz aus der Vitrine heraus und streifte sich die Kette über den Kopf. Sie ließ das Kreuz vor ihrem Körper baumeln, worauf sie einen Moment lang meinte, in einem goldenen Lichtschein zu baden und das Schlagen zweier Herzen zu hören. Dann verwehten auch diese Sinneseindrücke.

"Das war es also", hörte sie die Stimme einer Frau hinter sich und wandte sich um. Da stand eine Frau mit braunen haaren und wasserblauen Augen, die einen hölzernen Gegenstand in der rechten Hand hielt, einen echten Zauberstab. Verwundert blickten sich beide Frauen an. Dann deutete Maria auf ihr Kreuz und sagte: "Es hat mich aufgeweckt, weil ich ein Kind von Enrique trage, das nicht verhungern darf oder sowas."

"Ich habe gemerkt, daß etwas mächtiges mein Haus erfüllt und sich gebündelt hat. Aber irgendwas hat mich abgehalten, mein Schlafzimmer zu verlassen", sagte die Hexe, die Almadora Fuentes Celestes hieß. "Ich ging davon aus, daß das Kreuz in diesem Kasten sicher verborgen sei, auch gegen böse Zauber und nur in der Hand oder durch Berührung seiner Trägerin seine Zauberkraft entfalten könne. Da lernt man doch jeden Tag was neues."

"Ich weiß nicht, ob es stimmt, was mir gesagt wurde. Aber wenn ich wach wurde, dann muß das ja seinen Grund haben", erwiderte Maria Montes. Almadora nickte. Dann bot sie an, ihre eigentlich schlafende Mitbewohnerin zu untersuchen. Sie kenne einige Heilerzauber, um eine Schwangerschaft nachzuweisen. Tatsächlich gab es eine Mixtur, die wie bei den magielosen Menschen auch durch von Schwangeren ausgeschütteten Wirkstoffen im Urin die Mutterschaft bestätigte. Als maria sich diesem Test unterzogen hatte stand es fest. Sie war in der mitte des zweiten Monats, in der fünften oder sechsten Woche.

"Also stimmt es doch, daß man schwangere Frauen nicht in Zauberschlaf versenken darf, weil der Schlafzauber nur die Mutter berührt aber nicht das Kind. Offenbar konnte sich das Ungeborene bis jetzt ohne zusätzliche Ernährung entwickeln. Doch nun, wo es wohl einen eigenen Herzschlag besitzt, mußt du für es mitessen und mitatmen, Maria. Das stellt uns vor eine kleine Schwierigkeit. Wir müssen dich irgendwie verborgen halten, damit niemand erfährt, daß du hier bei uns wohnst. Außerdem sollten wir für dich einen neuen Namen und eine neue Lebensgeschichte glaubhaft für die Muggel und die Magier ersinnen und dich mit dieser Geschichte vertraut machen. Denn ich ahne, daß wir eines Tages wieder auf dich angewiesen sein könnten", seufzte Almadora. Dann lächelte sie jedoch und fragte: "Dir wurde was gesagt. Hat das zufällig eine Frau die wie aus Licht aussieht getan?"

"Genau, eine Frau wie aus Sonnenlicht", erwiderte Maria Montes. Dann schilderte sie kurz, was ihr ihre überirdisch existierende Urmutter alles verraten hatte. Almadora nickte. Das deckte sich mit dem, was sie über Ashtaria erfahren hatte. Damit war auch geklärt, wieso Maria ein Kreuz trug, während Almadoras Bekannte Aurélie Odin einen fünfstrahligen Stern trug, der in der magischen Welt für Natur, Schutz und Lebendigkeit stand. Maria erwähnte, daß eine ihrer Vorfahren demzufolge Jesus Christus getroffen haben mochte. Almadora erwiderte darauf, daß selbst unter den Magiern diskutiert würde, wer dieser Zimmermannssohn gewesen sei und es einige gab, die behaupteten, er sei kein überirdisches Wesen sondern auch nur ein besonders mächtiger, gutartig seine Macht ausübender Zauberer gewesen, der der friedlichen Botschaft der jüdischen Religion folgte und die Vergeltungsgedanken der Thora zu Versöhnungsgedanken umformuliert habe. Daß er lieber den Tod am Kreuz hingenommen habe statt von seiner Magie gebrauch zu machen führten diese zaubereigelehrten darauf zurück, daß er wohl Angst vor der dunklen Seite gehabt habe und lieber den Tod hinnahm, als andere zu töten und dadurch für die Versuchung der dunklen Seite empfänglich zu werden. Doch sicher wüßten das die Magier auch nicht und es könne durchaus sein, daß sie den Gründer des Christentums nur deshalb als einen der ihren ansahen, weil sie einen Gegenpol der von der katholischen Kirche betriebenen Massenfurcht vor der magie und dem daraus entstandenen Hexenwahn bilden wollten, um einen Gegenschlag der echten Hexen und Zauberer zu verhindern.

"Ich denke, die Monate bis zur Geburt des Kindes werden hochinteressant", erwiderte Maria Montes darauf, die jedoch einräumte, daß sie wohl nicht jungfräulich empfangen habe wie ihre geheiligte Namensgeberin.

"Soweit ich es von meiner hochgeschätzten Bekannten weiß achtete und ehrte Ashtaria auch die durch Liebe bewirkte Zeugung", erwiderte Almadora. "Vielleicht lasse ich dich mit ihr zusammentreffen, wenn wir sicher sein können, daß aus deiner und meiner Welt niemand sonst von deinem Überleben weiß. Erst wenn es not tut, daß du Ashtarias Erbe in die Welt zurückbringst solltest du dieses Haus wieder verlassen. Ich möchte dich nicht eingesperrt halten. Aber in den Wochen seit dem Kampf in Espinados Burg ist einiges passiert. Die Schwester des hierzulande umgehenden Succubus wurde vernichtet." Maria Montes nickte. Das hatte ihr Ashtaria erzählt. "So könnte es sein, daß deren Schwestern nun alles und jeden jagen werden, der mit der Vernichtung der angeblich unausrottbaren Kreatur zu tun haben könnte."

"Das verstehe ich. Also müssen wir etwas tun, um mein Fortleben so lange es geht geheimzuhalten", erwiderte Maria Montes, die als langjährige FBI-Agentin wußte, wie gefährlich Zeugen leben konnten. Auch sie hatte schon dem einen oder dem anderen zu einem völlig neuen Leben verholfen, um vor den Angehörigen des organisierten Verbrechens so sicher es ging weiterleben zu können. Insofern sah sie es ohne wenn und aber ein, daß sie sich vorerst versteckt halten mußte. Denn Ashtarias Auftrag war klar. Sie sollte ihre Ahnenlinie verlängern, und das unter ihrem Herzen wachsende Kind mußte auf jeden Fall beschützt werden. .

__________

Teniente Dario Ortega fühlte die innere Anspannung steigen. Seit drei Stunden schon schob sich das gepanzerte Amphibienfahrzeug durch die Fluten des Río Caquetá. Links und rechts ragten die majestätischen Bäume des Dschungels in die Höhe. Ihre über achtzig Meter vom Erdboden entfernten, ausladenden Kronen beschirmten den Fluß wie mit einem dunkelgrünen, nur an wenigen Stellen für winzige Strahlen Sonnenlicht durchlässigem Dach. Der Offizier der regulären, kolumbianischen Streitkräfte war auf der Suche nach Rebellen der FARC, die in dieser Gegend ihr Versteck haben sollten. Zwar hatte der kürzlich vereidigte Präsident Pastrana Friedensverhandlungen angeboten. Doch Ortega glaubte genausowenig an einen Frieden mit den linksgerichteten Untergrundkämpfern wie seine Begleiter, die Sargentos Manuel Suárez und Vincente Cristobal. Ortega war noch jung, gerade vierundzwanzig. Er hatte bisher nur wenig im kolumbianischen Teil des gewaltigen Amazonasdschungels zu tun gehabt und da meistens nur aus Trainingsgründen. Seine beiden Begleiter waren da schon als altgedient zu betrachten, was Ortegas Anspannung nicht linderte. Denn er wußte nicht, ob er im Ernstfall die Autorität über sie durchsetzen konnte, die ihm die beiden Sterne auf der Uniform verliehen.

"zeit für die Routinemeldung, Sargento Suárez", bemerkte Ortega und blickte auf die hochmoderne Funkeinrichtung des Panzergefährts, das sowohl an Land wie zu Wasser operieren konnte. Manuel Suárez, ein drahtiger Mann halbindianischer Abstammung nickte dem Ranghöheren bestätigend zu und griff zum Mikrofon. "Charlie Quibec null drei für HQ. Keine besonderen Vorkommnisse!"

"HQ für Charlie Quibec null drei. Verstanden", drang es blechern und von Störgeräuschen durchsetzt aus dem Lautsprecher. Ortega dachte daran, wie gerne er jetzt eine Zigarette rauchen würde. Doch innerhalb des vollklimatisierten Spähfahrzeuges war das Rauchen verboten, und die Fenster ließen sich nicht öffnen. Er fragte Cristobal nach der Wassertiefe. Der zweite Unteroffizier blickte auf die Anzeige des eingeschalteten Echolots und gab den Wert "fünf Meter, Teniente Ortega" aus. "Wir kommen gleich in das Gebiet mit den Flußinseln. Besondere Wachsamkeit!" Befahl der Kommandant des Aufklärungstrios.

"Señor Teniente, wäre es nicht besser, jetzt auf dem Landweg weiterzufahren? Der Uferbereich ist jetzt flacher und besser zu bewältigen", schlug Sargento Cristobal vor. Ortega betrachtete die Ufer des Flusses, der in nicht einmal hundert Kilometern südöstlich die brasilianische Grenze überquerte. Bis dahin sollten und durften sie ihre Patrouillenfahrt fortsetzen, um dann wieder zurückzukehren. Wenn sie keine verdächtigen Aktivitäten feststellten blieb abzuwarten, ob die durch den Urwald patrouillierenden Kameraden mehr Erfolg hatten oder die Rebellen sich aus diesem Abschnitt zurückgezogen hatten.

"Rechts anlanden und mit Landantrieb Weiterfahren!" Befahl Teniente Ortega, als er einsah, daß sie auf dem Ufer etwas schneller vorankamen. So steuerte Cristobal das Amphibienfahrzeug ans rechte Ufer und gab gas, um den leicht gepanzerten Spähwagen sicher auf festes Land zu schieben. Dabei ließ er die kleine aber starke Schraube bereits in Ruhestellung umklappen und schaltete den Motor auf das Radgetriebe um. Von nun an glitt das Fahrzeug auf dem von Flußkieseln befestigten Ufer entlang. Dabei hielten die drei Soldaten genau ausschau in die Uferbereiche und den Fluß selbst. Sie hatten gehört, daß die Rebellen der FARC über Schlauchboote verfügen sollten. Die waren auf dem Fluß schneller als das wegen der Panzerung etwas schwergängigere Erkundungsfahrzeug.

"Vielleicht bringt deren Propagandasender was, was uns verrät, wo die Lumpen stecken", vermutete Suárez. Doch Ortega schüttelte den Kopf. Er wollte den von den Rebellen betriebenen Sender, den sie nach dem großen Freiheitskämpfer Simón Bolívar zu benennen gewagt hatten, nur dann als Informationsquelle anerkennen, wenn sie nichts entdeckten. Nur würden diese Kerle über ihren in unregelmäßigen Abständen sendenden Hetzkanal nicht gerade ihre Stellungen ausplaudern. Das sollte auch Suárez mit seinen zwanzig Jahren Diensterfahrung wissen.

Sie erreichten ein Gebiet mit mehreren im Fluß liegenden Felseninseln. Diese wurden in der Hauptregenzeit immer wieder überspült, was das Befahren des Flusses immer wieder zu einer riskanten Sache machte, auch ohne die lauernden Guerrilleros. Ortega spähte mit seinem Nachtsichtglas durch das dämmergrüne Licht auf die nächste der gerade blankliegenden Felseninseln, die gerade mal Platz für ein Fußballfeld bot. Da konnte sich niemand drauf verstecken. Es sei denn, er hatte sich ein Loch in die Insel gebohrt und einen wasserdichten Bunker eingerichtet. Doch für so gut ausgerüstet hielt der Teniente seine Gegner nicht. Er suchte deshalb die beiden anderen gerade sichtbaren Inseln nach Spuren von unerwünschter Besatzung ab und tastete mit seinem Nachtglas den linken Uferbereich ab, während Suárez den Urwald auf der rechten Seite überwachte. Cristobal, der am Steuer saß, hatte derweil das Echolot aus- und ein hochempfindliches Metallsuchgerät eingeschaltet, das den Bereich dreißig Meter vor dem Erkundungsfahrzeug überwachte. Es konnte immerhin sein, daß die Gegner eine Landmine im Boden vergraben hatten. Da wollten sie ganz sicher nicht drüberfahren.

"Also am Fluß lungern die nicht mehr rum", knurrte Suárez, der mit seinem Blick durch das Nachtglas zwischen die riesigen Urwaldpflanzen stocherte. "Die haben genug Kameraden von uns erledigt und schnell das Weite gesucht", fügte der Sargento noch hinzu, als Ortega durch einen scharfen Befehl den Kommentar abwürgte.

"Aufpassen!" Doch es war bereits zu spät. Aus dem Fluß heraus, bis zur allerletzten Sekunde vollkommen unbemerkt, schnellte das vordere Ende einer Panzerfaust aus der quirligen Wasseroberfläche hervor. Ortegas Warnung war noch nicht ganz verklungen, als auch schon das tödliche Geschoß zu ihnen unterwegs war. Keine Sekunde später traf das explosive Geschoß das linke Vorderrad des gepanzerten Amphibienfahrzeugs. Dumpf dröhnte die Detonation, die das Fahrzeug durchrüttelte. Fast warf die Druckwelle es nach rechts um. Doch Cristobal steuerte geschickt gegen. Doch das Vordere linke Rad brach weg, so daß der Erkunder knirschend mit der linken Vorderseite im Boden versank. Der kraftvolle Dieselmotor röhrte zornig dagegen an, daß das Erkundungsfahrzeug gerade seine Landbeweglichkeit eingebüßt hatte. Eigentlich ging Ortega davon aus, daß sie noch auf der linken Vorderfelge weiterfahren konnten, um ins Wasser zu gelangen. Doch das Geschoß mußte genau die Nahtstelle der Radaufhängung zerschlagen haben. Jedenfalls war ans Weiterfahren nicht mehr zu denken.

"Turm ausfahren! MGs schußbereit halten!" Befahl Ortega Cristobal. An Suárez gab er den Befehl aus: "Vereinbarten Notfallcode mit maximaler Sendeleistung absetzen! Bei Akustischer Rückfrage Situation erläutern!" Doch Suárez hatte bereits seine Finger am tastenblock und tippte die mit dem Hauptquartier vereinbarten Signalziffern ein. Er drückte auf "Positionsmitteilung" und "Wiederholung" und drehte den Leistungsregler für die Kurzwellensendeanlage auf Höchstwert. Nun schickte der Sender die codierte Meldung aus, daß sie von feindlichen Truppen beschossen wurden und ergänzte sie mit der aus dem GPS-Navigationssystem abgerufenen Positionsangabe. Es war schon eine technische Meisterleistung, daß sie mitten im Dschungel die Standortbestimmung über Satellit hinbekamen. Ohne dieses nützliche Hilfsmittel wären sie beinahe orientierungslos. Außerdem konnte das HQ dadurch mögliche Hilfstruppen an den genauen Standort bringen, wie und wann auch immer. Cristobal hatte indes den teleskopartig zusammenschiebbaren Geschützturm ausgefahren, und die drei darin eingebauten Maschinengewehre ausgeklappt. Sollten die Guerilleros es nicht bei diesem Streich mit der Panzerfaust belassen und direkt auf den lahmgeschossenen Gegner vorrücken, so konnte Cristobal sie gut auf abstand halten. Ortega fragte sich in dieser so plötzlich entstandenen Lage, wie es möglich war, daß aus dem Fluß heraus ein solcher Überraschungsangriff möglich war. Kein Boot war zu sehen gewesen. Hatten die Gegner einen Taucher mit einer wasserdichten Panzerfaust im Fluß stationiert? Aber der hätte doch lange warten können, bis eine Patrouille ihm vor das Rohr geriet. Kein Boot und nichts am linken Ufer verriet, woher dieser heimtückische Angriff gekommen war. Dann sah er noch etwas, was ihn fast vollständig verwirrte. Aus den Fluten des Flusses tauchten Köpfe von Männern auf. Es mußten fünfzig sein, erkannte der Teniente nach der ersten groben Zählung. Das wäre bei zu erwarteten Kampftauchern nicht so ungewöhnlich gewesen. Doch an den Köpfen hingen völlig unbekleidete Körper, Körper ohne irgendeine Taucherausrüstung. Die nackten Männer schwammen gegen die sie abtreibende Strömung an. Einige nutzten die Strömung auch aus, um von weiter flußaufwärts in die Nähe des Erkundungsfahrzeugs zu kommen. Die Fremden trugen außer Gürteln keine Kleidung. Wie hatten die so lange versteckt bleiben können? Wie konnten die unter Wasser schwimmen, ohne Luft zu benötigen? Ortega wollte gerade befehlen, die sich nähernde Truppe mit einer Salve Warnschüsse auf Abstand zu halten, als Suárez einen Warnruf ausstieß:"Gummistiefelträger von rechts!"

Ortega riß seinen Kopf nach rechts herum und erkannte, wie sich mehrere Dutzend Männer in Kampfanzügen wie Maulwürfe aus dem Boden wühlten. Sie trugen olivegrüne und schwarze Gummistiefel. Das waren eindeutig FARC-Guerrilleros. Im Gegensatz zu denen von links heranschwimmenden Männern trugen die aus der Dschungelerde hervorquellenden Gegner Waffen in wasserdichten Hüllen, die sie jedoch beim Auftauchen herabrissen. Es waren die berühmten wie weitverbreiteten Sturmgewehre vom Typ AK 47, von denen die linksgerichteten Rebellen sicher ein Riesenarsenal vom großen Bundesgenossen Sowjetunion erhalten haben mochten. Ortega befahl Cristobal, bei erkennbarer Angriffsabsicht ohne Vorwarnung gezieltes Feuer auf die anrückenden Feinde zu eröffnen. Da sah er, wie die Gegner sich aufrichteten und auf das Ufer zumarschierten. Er glaubte, eine Armee von Marionetten zu sehen, so steif und ungelenk staksten die Gegner auf sie zu. Womöglich trugen sie kugelsichere Schutzkleidung unter ihren Anzügen, die die Bewegungen erschwerten, dachte der Kommandant der Patrouillenführer. Da klang es aus dem Funkgerät heraus: "Geben Sie detaillierten Lagebericht, Charlie Quibec null drei!" Ortega riß Suárez das Mikrofon aus der Hand, meldete sich mit Dienstrang und Namen und berichtete von den aus dem Fluß und aus dem Urwaldboden aufgetauchten Gegnern und erwähnte, daß die flußseitig anrückenden Gegner völlig nackt waren und die von der Landseite vorrückenden Feinde eindeutig die olivegrünen oder schwarzen Gummistiefel der FARC trugen.

"Erlaubnis zur uneingeschränkten Selbstverteidigung erteilt!" Erklang die Antwort aus dem Funkgerät. Ortega grummelte, daß er darauf bestimmt nicht gewartet hätte. Doch eine gewisse Beruhigung bot diese Genehmigung schon. So fragte er nur, ob sie mindestens einen Gefangenen machen sollten. "Nur, wenn Sie dadurch nicht selbst Gefangene werden, Teniente", war die lapidare Antwort des Hauptquartiers. Ortega konnte sich denken, das Colonel Guzman Fuentes selbst im Funkraum sitzen mochte, nachdem der verschlüsselte Notruf eingegangen war.

"Die ersten machen sich schußbereit!" Rief Cristobal. Ortega blaffte zurück, daß er seine Befehle habe. "Zu Befehl, Señor Teniente!" Bestätigte Cristobal und hantierte an den Schaltungen der MGs. Diese legten sofort mit ihrem tödlichen Trommelwirbel los und bestrichen durch schnelles Schwenken den gesamten rechten Halbkreis um das Fahrzeug. Gleichzeitig sah Ortega, wie die anschwimmenden und sich dabei selbst eher durch Kraft als Gewandtheit auszeichnenden Männer mit eher roboterhaften Bewegungen eiförmige Gegenstände aus ihren Gürteln lösten. Handgranaten! Ortegas Blick huschte von rechts nach links und zurück. Er sah, wie die MG-Garben in die Reihen der Feinde hineinfuhren. Doch diese zeigten sich völlig unbeeindruckt. Auch die in ihre Köpfe einschlagenden Geschosse hinderten sie nicht daran, weiter vorzurücken. Sie eröffneten Gegenfeuer aus ihren Kalaschnikows. Mit zehn Schuß pro Sekunde trommelten die Salven der aus dem Urwald gekommenen gegen Panzerplatten und kugelsichere Fenster. Dann flog eines der explosiven Eier von links an und barst mit lautem Knall genau auf Höhe der Funkantenne, die mit häßlichem Knacklaut abgerissen und davongeschleudert wurde. "Hurensohn!" Schrie Suárez, der sah, wie das Funkgerät die entsprechende Fehlermeldung anzeigte. Da kullerten auch schon weitere Handgranaten unter das Fahrzeug und explodierten. Das Amphibienfahrzeug hüpfte wie ein Känguruh unter Aufputschdrogen auf und nieder, kippte mal nach links und mal nach rechts. Die Bodenpanzerung beulte sich ein. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie brechen würde. Die kugelsichere Verglasung der Fenster bekam erste Risse durch die Explosionen und das nicht abreißende Dauerfeuer der Gegner. Ortega ließ nun die von links anrückenden Angreifer unter Feuer nehmen, bevor diese ihre explosiven Eier unter seinen Erkunder legen konnten. Doch die nun auf die nackten Männer einwirkenden Salven warfen diese nicht um oder ließen sie tot in den Fluten des Flusses versinken. Er sah, wie die großkalibrigen Kugeln in die Körper der Schwimmer einschlugen. Doch diesen machte das nichts aus. Auch sah er, daß aus den gegenüberliegenden Austrittswunden kein Tropfen Blut drang. Normalerweise jagte ein durch einen ungeschützten Körper schlagendes Projektil beim Austritt eine wahre Blutfontäne heraus. Doch das passierte hier nicht. Ortega war kurz davor, seinen Augen nicht mehr zu trauen oder seinen Verstand zu verlieren.

"Die krepieren nicht!" Schrillte Suárez, der das unheimliche Schauspiel genauso bestaunen mußte wie sein Vorgesetzter. "Die stecken die Kugeln weg wie wandelnde Wachsfiguren!"

"Die leben nicht!" Rief Cristobal. "Das sind keine Menschen. Das sind Zombies!"

"Reden Sie keinen Unsinn!" Rief Ortega dazwischen. Doch er selbst wollte es nicht mehr ausschließen. Die Angreifer ließen sich durch das immer noch auf sie einwirkende Feuer nicht von ihrem Weg abdrängen. Zwar warfen die sie treffenden Kugeln sie kurz um. Doch sie erhoben sich wieder und marschierten weiter. Die Schwimmer warfen weitere Handgranaten. Einige verfehlten den Erkunder. Doch eine explodierte genau an der Basis des ausfahrbaren Geschützturmes und brach ihn ab. Damit erstarb die Offensivkraft des Amphibienpanzers.

"Das gibt es nicht!" Rief Suárez. Die Kalaschnikows ratterten weiter, nun wo die vom Dschungel her anrückenden ohne sie bestürmendes Gegenfeuer vorrücken konnten. Dann detonierte eine genau zur Explosionszeit auf die linke Tür treffende Handgranate. Die leichte Panzerung verzog sich und riß. Das kugelsichere Glas bekam einen häßlichen Sprung.

"Ihr seid erledigt!" Rief eine Stimme aus dem Urwald. Dann sahen die drei Armeesoldaten etwas, was sie endgültig an ihrem Verstand zweifeln ließ.

Aus dem Dschungel schwebte ein Mann, dessen Haut samtbraun war. Er besaß schwarzes, krauses Haar und blaue Augen. Er trug einen schnieken, dunkelblauen Anzug und eine Krawatte und die olivegrünen Gummistiefel, wie sie die Anhänger der FARC trugen. Er hielt in der linken Hand einen runden gegenstand und in der rechten zwei bleiche Stäbe. Ortega erkannte deutlich, das das bleiche, runde etwas ein bis zum Oberkiefer erhaltener Totenschädel war. Dort, wo der Unterkiefer hätte sein müssen, spannte sich eine fleischfarbene, pergamentartige Haut wie das Fell einer Trommel. Er sah auf dieser Bespannung dunkelrote Zeichen, wie er sie nur aus Beschreibungen von Ureinwohnern oder afrikanischstämmigen Medizinleuten kennen mochte. Das mochte ein Schamane oder sowas sein, ein Urwalddoktor, ein Medizinmann. Doch die Gesichtszüge waren negroid, als habe dieser Mann afrikanische Vorfahren. Doch die blauen Augen waren eindeutig das Erbe europäischer Ahnen. Doch das unheimlichste war, daß dieser Fremde zwanzig Zentimeter über dem Boden schwebte und so wirkte, als wäre er teilweise durchsichtig. Das war alles andere als natürlich. "Kommt aus eurer kaputten Sardinenbüchse!" Befahl der unheimliche im stark US-amerikanisch gefärbtem Spanisch. "meine Leute holen euch sonst raus", setzte er noch hinzu, während er noch näher heranschwebte.

"Das gibt es nicht", stöhnte Cristobal. Er hatte zwar von Dschungelzauberern gehört und von unheimlichen Ritualen und Drogen, die Menschen in einen völlig unbegreiflichen Zustand versetzen mochten. Doch was er hier sah und miterlebte überstieg sein geschultes Fassungsvermögen.

"Waffen anlegen! Fertig machen zum Ausstieg!" Kommandierte Ortega. Seine Besatzung ergriff die schweren Maschinenpistolen und steckte sich selbst noch einige Handgranaten zu. Die unbezwingbaren Guerrilleros bildeten eine Gasse für den Unheimlichen, der gespenstisch über dem Boden auf den manövrier- und gefechtsunfähigen Erkundungspanzer zuschwebte. Die durchlöcherten FARC-Kämpfer schlossen vom Land her einen Halbkreis um das Patrouillienfahrzeug. Vom Fluß her drängten die nackten Gefährten ans Ufer und begannen ihrerseits, einen Halbkreis zu bilden, um die Umzingelung abzuschließen.

"In zehn Sekunden Ausbruch zu beiden Seiten. Feuert auf den Anführer!" Befahl Ortega und war sich in diesem Moment sicher, daß dies der letzte überhaupt erteilte Befehl von ihm war. Still zählten die drei Soldaten die angewiesene Wartezeit herunter. Dann lösten Suárez und Cristobal die Türverriegelungen. Rechts kam Suárez sofort raus und jagte tief geduckt und mit losknatternder MP ins Freie. links mußte Cristobal die Notsprengvorrichtung betätigen, um die verzogene Tür aus dem Weg zu bekommen. Als er ebenfalls in die wie ein dicker warmer Vorhang gegen ihn wehende Urwaldluft ansprang und seine MP abfeuerte, gab es kein Gegenfeuer. Ortega tauchte Cristobal hinterher, sicherte nach rechts und links und gab beim Ausstieg mehrere Salven nach Rechts und Links ab. Dann waren alle drei draußen und rannten auf die Gegner zu, die dem Kugelhagel nicht auswichen. Der Anführer wurde von Suárez gezielt unter Feuer genommen. Doch die ihm geltenden Geschosse flogen durch ihn hindurch wie durch Rauch oder Nebel. Suárez erkannte, daß er da gerade ein echtes Gespenst attackierte. Der Unheimliche war ein Geist wie aus dem Gruselroman.

"Netter Versuch!" Lachte der Unheimliche und winkte seinen Leuten, die sich nun anschickten, die ausbrechende Panzerbesatzung ohne Schußwaffen anzugehen. "Ich will sie alle drei lebend!" Rief er seinen Gefolgsleuten zu. Da griff Suárez an seinen Waffengürtel und zog ein langes Buschmesser hervor, dessen Klinge so scharf wie die eines Rasiermessers war. Blitzschnell hieb er damit nach dem ihm nächsten Angreifer und trennte ihm mit einem Schlag den Kopf vom Rumpf. Der Enthauptete fiel um und blieb liegen. So ging es also, frohlockte Suárez und wurde zu einem Machetenberserker. Wie Getreide unter den Hieben einer Sense fielen die ihn anstürmenden Gegner. Daß sie sich nicht so schnell bewegen konnten wie der Sargento kam ihm zunächst zu Hilfe. Doch die Zahl der Gegner überwog diese Einschränkung nach wenigen Sekunden. Ortega, der gerade mit Cristobal von zehn auf ihn zutorkelnden Schwimmern angegriffen wurde, pustete diesen mehrere Garben aus der MP in die Brust. Doch das machte diesen Kreaturen nichts aus. Sie warfen sich gegen die beiden Soldaten und stürzten mit ihnen zu boden. Die MPs entfielen Ortega und Cristobal, und würgende Klauen klammerten sich wie Stahlzangen um ihre Hälse. Suárez schaffte es gerade noch, einen ihn anrempelnden Gegner zu köpfen. Doch da traf ihn ein Schlag in den Nacken und schmetterte ihn bewußtlos zu Boden.

"Fesseln und wegbringen!" Befahl der geisterhafte Anführer. Die Soldaten wurden geschultert und von den teils wankenden, teils steifbeinig einherschreitenden Gefolgsleuten fortgetragen. Der Anführer selbst senkte sich auf den Boden, wobei seine Erscheinung flimmerte und dunkler erschien. In Wirklichkeit wurde er nur undurchsichtig und fest. Das mußte er sein, um seinen nächsten Schritt auszuführen. Er tauchte in das innere des besiegten Erkundungsfahrzeugs ein und hantierte an der noch eingeschalteten Elektronik herum, bis er fand, was er suchte, die Schlüsselchips der Funkanlage. Mit einer ihm eigenen Gelassenheit entfernte er die so wertvollen Bauteile und legte eine scharfe Handgranate unter die Armaturen. Er zog den Ring ab und nahm innerhalb einer Sekunde wieder geisterhafte Erscheinungsform an. Da detonierte die gelegte Handgranate auch schon. Doch die von ihr erzeugte Splitterwolke fegte wirkungslos durch den gespenstischen Führer der unerschießbaren Truppe.

Wenige Minuten später kamen die Soldaten mitten im Dschungel wieder zu sich. Doch es war nur die letzte Gnadenfrist, die ihnen der Fremde gab. Denn er begann nun, auf seiner aus einem Totenschädel gebauten Trommel zu schlagen und tanzte dabei auf eine unheimliche Weise vor den dreien herum. Er sang mit kehliger Stimme in einer Sprache, die sie nicht kannten. Die Melodie lag außerhalb jeder europäischen Tonleiter. Die Wirkung war jedoch nach wenigen Takten spürbar. Den drei Soldaten schwand die Kraft. Sie glaubten, eisige Kälte ströme in sie hinein und vertreibe die Schwüle des Dschungels vollkommen. Bevor ihr Bewußtsein erneut und diesmal für immer schwand erkannte Ortega, daß sie in den Hinterhalt eines mächtigeren geraten waren, der die FARC-Guerrilleros zu seinen untoten Sklaven gemacht hatte.

Zwei Stunden später. Die unheimliche Guerrilla-Truppe hatte sich erneut auf die Lauer gelegt. Wieder waren welche von ihnen ins Wasser gestiegen und auf den schlammigen Flußgrund getaucht. Kein Tier im Fluß rührte sie an. Selbst die als besonders gefürchteten Piranhas, die sich zu weilen in den Caquetá verirrten, mieden die Eindringlinge. Denn die Tiere spürten die bösartige Kraft, die den zu unnatürlichem Leben erwachten innewohnte. So konnten die ohne Atemluft auskommenden Kämpfer sich bequem auf den Grund legen und auf die mit sicherheit eintreffende Hilfstruppe warten. Als diese kam, was der Anführer auf reinem Gedankenweg meldete, erfolgte der nächste Angriff. So gerieten weitere dreißig Soldaten trotz schwerer Gegenwehr in die Gewalt des Unheimlichen und wurden genauso durch dessen schwarzmagischen Tanz zu seinen Dienern wie die Aufklärungseinheit Ortegas.

Gordon Stillwell, der sich auch Ruben Coal oder auch Sohn von Baron Samedi nennen ließ, war zufrieden. Die störung der Funkfrequenzen und die Unterwerfung regulärer Soldaten war der letzte Schritt, um sich einen kleinen Militärflughafen in Kolumbien zu sichern, von dem aus er demnächst in die vereinigten Staaten zurückkehren würde. Zweitausend Mann hatte er zusammen, alles verstreute Untergrundkämpfer aus verschiedenen Ländern Südamerikas. Diese würde er auf zehn gekaperte Propellermaschinen verteilen und dann unter der Radarüberwachung hindurch in die südlichen Staaten der USA einschmuggeln. Ihn scherte nicht, daß er fünf der zehn großräumigen Propellermaschinen kolumbianischen Kokainbaronen abgejagt hatte und diese sich diese Frechheit nicht bieten ließen. Wer seinen unbedingt gehorsamen Dienern zu nahe kam konnte von Glück sprechen, wenn sie ihn erschossen und liegen ließen. Einen besonders rachsüchtigen Drogenbaron aus der Nähe von Bogota hatte Stillwell persönlich in seine Reihen aufgenommen, indem er ihm als Geisterwesen erschienen war und ihn und seine Leibwachen seinem Totentanz unterworfen hatte. So hatte er auch dessen vier heimliche Flugplätze sicher. Die Zeit der fälligen Abrechnung rückte unaufhaltsam näher.

__________

Sie war und blieb Anthelia. Doch sonst hatte sich alles verändert. Das ging mit ihrem Aussehen los. Ihre Haut schimmerte nun in einem blaßgoldenen Ton. Ihre Haare umspielten als dunkelblonder Schopf ihren Oberkörper, und ihre Augen leuchteten in einem blaugrünen Ton, heller als Türkis aber doch ähnlich gefärbt. Ihr Körperbau entsprach dem Schönheitsideal der alten und der neuen Zeit. Doch die größte Veränderung hatte in ihr stattgefunden. Ihre Persönlichkeit war mit der einer anderen zusammengewachsen. Hatten sich vorher zwei getrennte Gedankenströme gebildet, gab es jetzt nur noch diesen einen, diesen einen gemeinsamen Geist, der in diesem gemeinsamen Körper wohnte. Anthelia war auch Naaneavargia, die Schwester des Windmagiers Ailanorar aus dem alten Reich, die durch das Trinken der Tränen der Ewigkeit beinahe Unsterblich und unverwüstlich war. allerdings hatte dieser Trunk seinen Preis gefordert. Sie hatte Jahrtausende lang damit leben müssen, vordringlich eine menschengroße, schwarze Spinne zu sein. Erst diese von ihr, Anthelia, ausgelöste Verschmelzung hatte die Tiernatur zurückgedrängt. Doch sie war immer noch ein Teil von ihr. anthelias Ziele und Naaneavargias Bedürfnisse waren zu einem gemeinsamen Bestandteil ihrer Persönlichkeit geworden, wobei sich das nüchterne hinarbeiten auf das Ziel schwieriger darstellte, wenn der Leib, dem sie innewohnte seine Vorrechte einforderte. Anthelia hatte damit zu leben, daß sie wohl jede Woche einmal geschlechtlich mit einem Mann verkehren mußte. Als Naaneavargia noch für sich gelebt hatte, hatte diese manchmal fünf oder zehn Liebesakte am Tage vollzogen. Und was noch Naaneavargia an und in ihr war sah nicht ein, den Körper zu vernachlässigen, nur um das neue gemeinsame Ziel zu verwirklichen, die Errichtung einer Vorherrschaft der magischen Menschen unter Führung der Hexen, die in Naaneavargias Muttersprache Katiowamirian, die begüterten Lebensgeberinnen, geheißen hatten. Leben geben, daran dachte sie auch immer wieder. Jetzt, wo sie den Tribut der Tränen abgeschwächt hatte, konnte sie irgendwann auch Mutter werden. Sie dachte an Julius Latierre, der in der Erinnerung Naaneavargias als Erretter aus der Gefangenschaft eine Rolle spielte. Diesem hatte die Unersättliche angeboten, mit ihm Kinder zu haben, aber nur, wenn sie sie bei aufkommendem Überdruß wieder verspeisen konnte. Das was Anthelia in ihr war hatte jede Gier nach Menschenfleisch verdrängt. Sie war keine grüne Waldfrau. Sie war eine mächtige Magierin, die eine Aufgabe hatte.

nach der Rückkehr aus Australien überlegte die neue Hexenlady, wie sie ihre bisherigen Bundesschwestern weiterhin bei der Stange halten konnte. Mit der Vernichtung von Dairons Medaillon war das diesen auferlegte Joch zerfallen. Sie könnten nun jederzeit Verrat an ihr üben. Abgesehen davon war ihr Weg der Weg der Überzeugung und nicht der gnadenlosen Unterdrückung. Sicher, um sicherzustellen, daß ihr niemand in die Quere kam, hatte sie ihre Bundesschwestern mit dem Treuefluch belegt, aber auch und vor allem deshalb, um jeden Versuch zu bestrafen, daß man ihre Bundesschwestern gegen sie einsetzen mochte. Doch jetzt war alles anders oder doch nicht?

Nachdem Anthelia der ihr nun eingeflossenen Begierde nachgegeben und sich in Chicago und San Francisco mehrere Männer genommen und an diesen ihr Verlangen gestillt hatte, war sie in das Hauptquartier der Spinnenschwestern in der Nähe von Dropout zurückgekehrt, wo sie zunächst einen Blick auf das Regal der Geister geworfen hatte. Seitdem sie alle in diesem Haus zur ewigen Gefangenschaft verurteilten Seelen in leere Weinflaschen gezwungen und versperrt hatte fühlte sie sich richtig als Herrin dieses Hauses. Das mochte sie ihrer Beinahe-Mutter Daianira verdanken, weil diese ihr die Idee eingegeben hatte. Sie hörte das hohl klingende Klagen und lautstark klirrende Schimpfen der verkorkten Yankees und amüsierte sich über Stanley Daggers, der auf wenige Zentimeter verkleinert und nicht mehr durchscheinend in einer verstaubten Flasche hockte und wüsteste Drohungen gegen seine Peinigerin ausstieß. "Ich fürchte, du warst schon zu Lebzeiten kein starker Mann. Im Tod bist du es absolut nicht", spottete sie und hob die Flasche aus dem Regal und schwenkte sie. Daggers zeterte und tobte. Doch er konnte das ihn umfangende Glas nicht zerbrechen. Es klang nur wie ein leises Anklopfen. Durch den Einkerkerungszauber, der vorhielt, solange er nicht umgekehrt wurde, konnte der gefangene Sklaventreiber seinem gläsernen Gefängnis nicht mehr entwischen.

"Eines Tages wirst du zur Hölle fahren und selbst da am Spieß gebraten!" Schrie Daggers. Anthelia lachte nur und meinte, daß sie nun wohl nicht mehr in die Hölle käme, wo sie es geschafft habe, mit einer mächtigen aus der Zeit vor dem Teufel eins zu werden. Dann legte sie die Flasche mit dem früheren Landhausbesitzer zurück in das Regal. Hilfloses Geschrei und Geschimpf verfolgte sie noch, bis sie den als Klangkerker bezauberten Kellerraum verließ.

Einige Stunden lag sie auf ihrem Bett und sinnierte über ihre Möglichkeiten nach. Tränke konnte sie keine mehr zu sich nehmen. Denn sonst würde sie gleich einen gegen überstarke Begierden schlucken. Sie konnte nur noch als schwarze spinne oder Menschenfrau herumlaufen. Alle anderen Verwandlungen verpufften an ihr. Immerhin akzeptierte sie noch der Mantel Sardonias, der in ihr die rechtmäßige Erbin sah, vielleicht aber auch nur eine mächtige Hexe, die ihn zum Kampf für die Vorherrschaft der Hexen einsetzen mochte. Sie dachte daran, daß Donata gegen Hyneria das entscheidende Duell verloren hatte und alle ihre Bundesschwestern in den Reihen der Entschlossenen von Hyneria getötet oder in einen anderen Zustand der Ohnmacht versetzt worden waren. Das Donata gestorben und ihre Bundesschwestern handlungsunfähig geworden waren hatte sie auch nur erfahren, weil Donata ein Tagebuch angelegt hatte, in dem sie auch von dem bevorstehenden Duell erzählt hatte. sie, Anthelia, konnte nicht in die Versammlungshöhle der entschlossenen hinein. Sollte sie Patricia Straton bitten, für sie dorthin zu reisen und zu erkunden, was Hyneria vorhatte? Vielleicht war es aber auch einfacher, Hyneria heimzusuchen und sie für die Entmachtung Donatas zu bestrafen. Dabei hatte Anthelia erfahren müssen, daß Hyneria seit dem zwölften Oktober verschwunden war, ebenso wie eine ihrer Getreuen. Offenbar hatte sich da schon jemand gerächt. Sie dachte an Leda Greensporn und ihre Tochter. Anthelia dachte daran, daß es bald ein Jahr her war, daß sie sich mit Daianira Hemlock duelliert hatte. Vielleicht sollte sie der kleinen Lysithea ihre Aufwartung machen. Sie dachte an Cecil Wellington, den sie seit dem Zwischenfall im Haus der Stratons nicht mehr kontrollieren konnte. Konnte sie jetzt, wo Dairons Medaillon vernichtet war, wieder unangefochten in seine Nähe, womöglich auch wieder in seine Gedanken vorstoßen? Das würde sie demnächst versuchen, wenn sie wußte, ob sie auch wieder näher an Patricia Straton herankam, die das Sonnenmedaillon der Inkas trug, das sich als erklärter Feind des Seelenmedaillons herausgestellt hatte. Ganz zum Schluß dachte sie an Ailanorar und Julius Latierre. Ailanorars Stimme war wieder in ihrer fliegenden Festung, an die sie leider nicht herankam. Sie horchte zwar immer, wo sie war, mußte jedoch feststellen, daß die durch die Blutsbande bedingte Beziehung stark geschwächt worden war. Blieb also noch Julius Latierre. Wußte dieser mit großer Begabung begüterte Jüngling, was ihr, Anthelia, passiert war? Womöglich mochte er sich daran erfreuen, daß Anthelias Körper unter der Strahlung zerfiel oder wußte es schon, daß sie in Australien war, wenn sie auch nicht wußte, woher er das wissen sollte. Sicher konnte sie jetzt Kontakt mit ihm aufnehmen und sich bei ihm für die doppelte Rettung bedanken. Denn er hatte Tourrecandide den Zauber beigebracht, den diese gegen Daianira anwandte und mit dem er selbst Naaneavargia aus der Fessel des Schlafes der schnellen Jahre gelöst hatte. Ja, sie verdankte ihm ihr freies, unbeschränktes Leben, daß sie weder ein von Daianira abhängiges Wickelhexlein noch eine in einer Höhlenfestung schlafende Spinne geblieben war. Aber die, die ihn unterwiesen drängten ihm die Verachtung Sardonias und ihres Erbes auf. Sie müßte ihn dann schon unter den Imperius-Fluch nehmen, um ihn nicht angewidert vor ihr zurückschrecken oder gegen sie kämpfen zu lassen. Ein Schauer durchlief sie, als sie sich vorstellte, mit ihm die nächste Nähe zu finden, mit ihm an ihrer Seite eine Dynastie von neuen Herrscherinnen zu begründen und seine Ausbildung in alten Zaubern zu vervollständigen. Dann dachte sie daran, daß sie es viel mehr genießen würde, wenn sie ihn nicht dazu zwang, sondern er es von ihr erbat. Leider war dies im Moment mehr als unwahrscheinlich. So konnte sie nur beschließen, sein persönlicher Schutzengel zu sein, ihm zu helfen, wenn er sich wieder einmal mit zerstörungssüchtigen Subjekten wie Bokanowski oder Gierkelchen wie den Abgrundstöchtern anlegen zu müssen. Dabei mußte sie lächeln, wenn sie an Itoluhila dachte. Dieses Biest dachte doch sicher jetzt, sie sei gestorben. Das würde diesem, aus unbegnadetem Schoß geborenem Frauenzimmer sicher eine unerwartete Überraschung sein, wenn sie, Anthelia, ihr einmal wieder gegenübertrat. Doch dieser Auswurf einer einfältigen Kreatur hatte wohl gerade mehr mit Nyx zu tun, die ja auch wieder frei herumlaufen konnte, wo Volakin erledigt war. Was hatte sie durch Daianiras Bauchdecke noch mitbekommen? Nyx hatte eine magielose Methode ergattert, Vampire vor der vernichtenden Sonnenstrahlung zu schützen. Doch war Nyx das einzige Problem? Da gab es doch noch diesen Totentänzer. Der hatte sich zurückgezogen, ganz sicher, um eine Armee der Zombies zu gründen. Anthelia-Naaneavargia stellte sich vor, wie dieser Kerl eines Tages mit einer Truppe torkelnder Toter über die Grenze Mexikos in die Staaten einrücken mochte. Sie mußte herausfinden, wer er war, wieso er jetzt wieder existierte und ob es einen Weg gab, ihn zu erledigen, bevor sie am Ende noch mit einer lebenden Leiche ihren Glaxaomir, dem jeder Frau geschenktem Lebenskelch, auszufüllen hätte. Niemals! Dann könnte sie ja gleich wieder in den Geisterkeller gehen und sich an einem der eingekerkerten Geister schadlos halten. Nein, sie mußte die Zombieseuche stoppen, bevor sie richtig ausbrechen konnte. Anthelias erstes Leben war bereits davon geprägt, immer wieder gegen Pest und Choleraa, Schwindsucht und Typhus vorzugehen. Den Keim der rastlosen Leichname wollte sie nicht so grassieren lassen wie die unmagischen Seuchen von damals.

__________

"marisol, nicht so wild!" Rief die Mutter des nun anderthalb Jahre alten Mädchens, das gerade hinter einem katzenartigen Tier mit ockergelbem Fell mit erdbraunen Tupfen herlief. Das Wesen ließ es sich gefallen, daß die Kleine, die vom Gesicht her ihrer Mutter glich, jedoch die Augen seines Vaters geerbt hatte es einholte, sprang aber sofort vor ihm weg, bevor das Mädchen den buschigen Schwanz zu fassen bekam. Die Kleine plumpste hin und begann wie eine Heulboje zu wimmern. Doch weil seine Mutter nicht mehr hinsah hörte es schnell wieder auf und machte anstalten, das ockergelbe Tier weiterzujagen, das gerade auf einen Stuhl hüpfte und von da mit einem geschmeidigen Satz auf einen Tisch überwechselte. Dort blieb das Katzenwesen stehen und blickte die Kleine mit gelben Augen herausfordernd an.

"Rottatze hat die Kleine sehr gerne", sagte Almadora Fuentes Celestes erfreut. "Obwohl deine Tochter schon mehr als ein Jahr aus deinem Bauch heraus ist sieht er sie immer noch als zu beschützende und zu beschäftigende Spielkameradin an."

"Ich kann mich noch gut daran erinnern, daß mir dein Kater gerne auf dem Bauch gelegen und der Kleinen was vorgeschnurrt hat und wie er geschrien und an der Tür gekratzt hat, weil du ihn während Marisols Geburt nicht zu mir hineinlassen wolltest", erwiderte Maria, die ihren ersten Vornamen behalten hatte. Doch laut der durch behutsame Tricksereien in der Muggelwelt ergatterten Dokumente und Lebensläufe hieß sie nun Isabel Valdez mit vollem namen, war eine von 1990 bis 1996 in verdeckter Ermittlung tätige Interpol-Agentin aus Mexiko Stadt und hatte in den beiden letzten Jahren im Kronzeugenschutzprogramm zugebracht, bis einige schwere Jungs der kolumbianischen Drogenmafia entweder hinter Schloß und Riegel kamen oder gleich in frischer Friedhofserde versenkt wurden. Um diese umfangreiche Legende so wasserdicht zu machen, wie es nötig war, hatte Almadoras Bruder Vergilio seine Rangstellung im Zaubereiministerium Spaniens restlos ausgereizt. Alle drei waren froh, daß niemand dahintergekommen war, was Vergilio häufiger als beauftragt in die Muggelwelt getrieben hatte. Doch Phantomdaten mußten nun einmal sehr umfangreich verteilt werden, damit bei einer Nachfrage keine Verdachtsmomente aufkamen. Dazu gehörte auch, daß einige echte Interpol-Leute, einige Richter und einige einsitzende Verbrecher mit Gedächtniszaubern belegt worden waren, um sich an Ermittlungen und Gerichtsprozesse zu erinnern, bei denen Maria Valdez aufgetreten war. Das hatte fast so lange gedauert wie Marias Schwangerschaft. Und jetzt war sie als geheime Beraterin des Zaubereiministeriums Engagiert. Nicht mal der Zaubereiminister kannte ihren wahren Namen. Er wußte nur, daß in Mexiko eine Expertin für internationale Polizeiorganisationen arbeitete, die sich mit alten Hinterlassenschaften aus präkolumbianischer Zeit auskannte. Daß Maria Valdez die ganze Zeit im Hause der Geschwister Fuentes Celestes wohnte bekam keiner mit. Denn es stand zu befürchten, daß die in Spanien herumstrolchende Abgrundstochter irgendwann wieder von sich reden machen würde. Zwar wußte das Zaubereiministerium, daß sie als "der schwarze Engel" in Sevilla und Granada Bordell- und Straßendirnen betreute. Doch sie dingfest zu machen war gleichbedeutend mit Selbstmord. Noch bevor man Maria Valdez früher Montes hinzuholen konnte, hatte die Abgrundstochter den Kundschafter überwältigt und verschwinden lassen. Deshalb war weder bekannt, wer ihre lebenden Abhängigen waren, noch wo sie ihr Hauptquartier unterhielt. Sie war überall und nirgends.

Die kleine Marisol Virginia existierte offiziell nicht. Denn eine Interpol-Agentin, die kolumbianische Drogenhändler gejagt hatte, durfte kein Kind haben, daß ihr zum Verhängnis werden konnte. Auch sah Almadora die Kleine als die künftige Besitzerin des mächtigen Artefaktes, das maria Valdez über hunderte von Generationen hinweg von Ashtaria erhalten hatte.

"Ist gut jetzt, Marisol!" Rief Maria Valdez und sprang zu ihrer Tochter, die gerade Anstalten machte, auf den Stuhl zu klettern, von dem aus Rottatze auf den Tisch gehüpft war. Sie griff das kleine Mädchen unter den Armen und zog es an sich. Das Mädchen strampelte wie wild mit den Beinen um sich. Seine Mutter lachte. Da ploppte es außerhalb des großen Wohnzimmers. Dann ging die Tür auf, und Vergilio Fuentes Celestes trat ein. Er ähnelte von Haar und Augenfarbe her seiner Schwester Almadora und strahlte maria Valdez, ihre Tochter und Rottatze an, der gerade zum satten Sprung hinüber auf die Schulter von Marisols Mutter ansetzte.

"na ihr drei hübschen!" Rief er. "Ui, ist die Kleine noch nicht müde?"

"Die könnte stundenlang hinter eurem Kater herspringen", grummelte Maria Valdez. "Enrique hat ihr seine ganze Wildheit vererbt."

"Vielleicht sollte sie doch ein Junge werden", scherzte Vergilio und deutete von Marias Brustkorb zum nicht mehr gerundeten Bauch. maria erinnerte sich gut an die Diskussionen, ob sie nur deshalb eine Tochter trug, weil Ashtarias Magie sie im Mutterschoß verwandelt habe, um eine künftige Trägerin des Kreuzes sicherzustellen. Doch Almadora hatte immer dagegengehalten und erwähnt, daß Ashtaria keine körperliche Beeinflussung von Menschen geduldet habe. Leider war es zu jener Unterhaltung zwischen Maria Valdez und Aurélie Odin nicht mehr gekommen, weil diese im Oktober 1996 von einer magischen Bruderschaft umgebracht worden war, die angeblich der hellen Seite zugetan gewesen war und befürchtet hatte, sie könne den Keim für die Rückkehr eines dunklen Herrschers legen, der mächtiger sei als jener schwarze Magier, vor dem sich Europa bis zum Mai 1998 gefürchtet habe. So wußte bisher niemand außer den Fuentes Celestes, das die zweite Trägerin eines Symbols Ashtarias in Spanien lebte.

"Ich werde das Thema jetzt nicht mehr mit dir anfangen, Vergilio. Sie ist so oder so mein Kind, und ich glaube, daß Ashtaria gutartig ist und mir hilft, sie zu beschützen."

"Davon darfst du ausgehen", sagte Almadora beruhigt. "Alle bisherigen Erwähnungen dieser Urmutter und ihrer Nachkommen stehen mit gutartigem Zauberwerk in Beziehung. Insofern wird sie nichts mit dir oder der kleinen Marisol anstellen, was euch oder anderen bleibenden Schaden zufügt. War was besonderes, Vergilio?"

"Es wurde mal wieder versucht, Muggelgeld im großen Stil zu kopieren. Ich wurde gerufen, um die Kopiervorrichtung zu suchen. Außerdem hat sich ein Zauberer beim apparieren mitten auf den Ramblas wiedergefunden. Wir können froh sein, daß da immer so illuster kostümiertes Volk herumläuft. So war es nur nötig, die Apparition zu kaschieren. Aber hundert Zauberer mußten das erledigen, weil da eine Menge Touristen und Passanten unterwegs waren. Der Bursche wird wohl noch in vier Jahren an der Strafsumme arbeiten dürfen."

"Oha, das ist heftig." Maria Valdez kannte die berühmte Promenade in Barcelona, die vom Stadtzentrum bis zur Mittelmeerküste verlief und die Kolumbussäule passierte. Da tummelten sich gerade in den Nachmittags- und Abendstunden Gaukler und Straßenkünstler in unterschiedlicher Kostümierung, auch Hexen oder Zauberer. Insofern war es wohl harmloser, als wenn ein Zauberer in Umhang und Spitzhut mit erhobenem Zauberstab mitten in Madrid oder einer Diskothek auf Ibiza aufgetaucht wäre.

"Dann bist du wohl jetzt ziemlich erschöpft, Brüderchen", scherzte Almadora.

"Vor allem habe ich einen Wolfshunger", entgegnete Vergilio. Almadora lachte und wollte gerade alle zu Tisch bitten, als eine andere Frauenstimme aus dem Bilderrahmen erklang, der dem breiten Kamin gegenüberhing, in dem gerade ein munteres Feuer prasselte, das jedoch durch einen Wallzauber abgeschirmt war, so daß weder die kleine Marisol hineingeraten konnte noch irgendwer mit Hilfe des Flohnetzes aus dem Kamin entfahren konnte.

"Almadora, ich fürchte, wir haben ein Problem." Maria sah auf das Bild. Es zeigte das höchst lebendige Motiv einer Frau im wasserblauen Umhang, die von Haar und Augen her Almadora ähnelte und einen silbergrauen Kniesel mit goldenem Schweif auf der rechten Schulter trug. Es war Almadoras und Vergilios Urmutter Viviane Eauvive.

"Was für ein Problem. Ist die Wiederkehrerin doch wieder aufgetaucht, Viviane?" Fragte Almadora sehr besorgt.

"Noch wissen wir es nicht. Aber diese Abgrundstochter Itoluhila könnte einen sehr großen Fang gemacht haben."

__________

"Wird schon nichts gravierendes sein, Monica", meinte Charles Gilmore zu seiner Frau, als diese ihn drängte, mit ihr nach London zu fahren und nach ihrer Schwester Alison zu sehen, da eine Bridge-Freundin von der sie angerufen habe und sich über das nun öftere Ausbleiben Alisons besorgt erklärt hatte.

"Für Alison gibt es Drei Sachen: Gut aussehen, gut essen und Bridge. Die würde nicht auf ihre zwei Bridge-Abende pro Woche verzichten, genausowenig wie Claude auf seine zwei Golfpartien pro Woche", erwiderte Monica Gilmore. Charles überlegte. Dann sagte er zu, sie nach London zu bringen, um seiner Schwägerin einen kurzen Höflichkeitsbesuch abzustatten. Denn telefonisch war im Moment nichts zu machen. Die Leitung schien gestört zu sein, oder jemand hatte das schnurlose Telefon ausgestöpselt, um unerreichbar zu bleiben. Wieso das? Diese Frage beschäftigte auch Charles.

"Du hättest dir Claudes Handynummer geben lassen sollen, Mony", sagte er während der Fahrt von Birmingham nach London.

"Du weißt genau, daß Claude das nicht will, daß außer seiner Frau und seinem Kanzleipartner jemand seine Mobiltelefonnummer hat. Und nach der Froststimmung zwischen Alison und ihm wäre es wirklich das dümmste von ihr gewesen, uns oder sonstwem die Nummer zu geben."

"Wo Claude umgeht gefriert in letzter Zeit alles. Deshalb wird der Teufel dem das Tor vor der Nase zuknallen, damit dem nicht noch die Hölle zufriert", grummelte Charles. Seit einem wüsten Streit zwischen ihm, Monica und Claude Andrews, weil Charles sich mit der gemeinsamen Schwägerin Martha unterhalten hatte, herrschte zwischen Charles und Claude tiefste Eiszeit. Monica durfte auch nur in Abwesenheit Claudes mit ihrer Schwester sprechen und dann nur, wenn sie anrief. Seitdem Richard erst angeblich als Hurenmörder in den Schlagzeilen gewesen war und dann als Opfer einer Verbrecherbande rehabilitiert werden konnte und wegen eines Maulwurfs bei der Polizei im Zeugenschutzprogramm ermordet wurde war Claude für seine Verwandtschaft ungenießbar. Alison hatte das wohl über mehr als ein Jahr mitgemacht, bis sie merkte, wie sehr sie sich vom Rest der Verwandtschaft isoliert hatte. Aber gegen ihren Mann wollte oder konnte sie nicht aufbegehren, und Monica sah in Claude einen sehr günstigen Anwalt, wenn es um das Erbe ihrer Großeltern gehen würde, das jederzeit anstehen mochte. Charles hatte einigemale mit Martha Andrews telefoniert und sich nach ihr und seinem Neffen Julius erkundigt. Dabei hatte er erfahren, daß der Junge eine passable Zwischenprüfung in seiner Schule abgelegt hatte und ließ schön grüßen. Er hätte den Jungen gerne mal wieder direkt angesehen, um zu sehen, wie viel von Richard in ihm weiterlebte. Claude hatte es auf die radikale, besserwisserische Anwaltstour versucht und Martha unterstellt, sie habe seinen Bruder ja nur des sorglosen Einkommens wegen geheiratet und sich von ihm schwängern lassen. Dann war da noch dieses Gerücht über eine merkwürdige Sekte, in deren Fänge Julius in seiner ersten Oberschule fast geraten wäre. Martha hatte das abgestritten und eingewandt, daß Richard nur besorgt gewesen sei, weil es dort fast keine Fernverständigungstechnik gebe. Charles hatte sich zwar darüber gewundert, es aber als glaubhaft angenommen. Aber jetzt galt es erst einmal, Monica zu beruhigen, daß mit ihrer Schwester alles in Ordnung sei.

Der noble Stadtteil Mayfair glänzte durch den Verkehr namhafter Autos. Charles hatte seinen Neid auf die ganzen Akademiker vergessen, die vor allem in der Wirtschaft unverschämt viel Geld abräumten, daß einer von denen im einem Jahr mehr kassierte als Charles im ganzen Leben. Aber er war stolz auf seinen Beruf, der gebraucht wurde. Was nützte es einem Anwalt, wenn er keinen Strom für seinen Rechner hatte? Was brachte ein Atomkraftwerk, wenn sein umstrittener Strom keine Überlandleitung bekam, über die er transportiert werden konnte? Was nutzte einem Lord eine umfangreiche Festbeleuchtung ohne Starkstromleitung? Für sowas brauchte man einen wie Charlie Gilmore, den Starkstromklempner. Und wenn er es nur zu einem mittlerweile zwölf Jahre alten puderblauen Austin gebracht hatte schämte er sich nicht, mit zwei Rolls Royce, einem Bentley und vier Mercedes S-Klasse die Straße zu teilen. Der einzige Funke Neid in ihm kam auf, als er den rassigen Lamborghini sah, der sich zwischen den größeren Luxusbrummern hindurchschlängelte und von einer ebenso rassigen Rothaarigen gesteuert wurde.

"Viele viele teure Autos", kommentierte Charles das Wer-ist-Wer der herumfahrenden Kraftwagen. Dann sah er das Anwesen der Andrews', auf das selbst Richard neidisch gewesen war, der sich gerade mal ein halb so großes Grundstück hatte leisten können, als er noch keinen Direktorenposten innehatte. Er kannte die Videokamera über der in einer Metallbox sicher verwahrten Gegensprechanlage und wußte, daß es rund um den acht Meter hohen Stahlzaun noch weitere elektronische Augen gab, die auf Annäherung oder Unterbrechung von Infrarotschranken alles ins Visier nahmen, das sich bewegte. Tja, aber die brauchten Strom. Selbst wenn im Keller neben der Videoüberwachungszentrale ein leistungsstarker Notstromgenerator stand lieferte der gerade mal Saft für fünf Minuten. Kam dann kein frischer Strom vom Kraftwerk blieben die gläsernen Augen blind und die Lichtschranken erloschen.

"Sei nicht all zu enttäuscht, wenn uns Alison nicht reinläßt!" Riet Charles seiner Frau. Diese sagte jedoch nichts. Charles kurbelte sein Fenster herunter und drückte auf den Klingelknopf am Metallkasten. Eine Minute verging. Charles beugte sich aus dem Fenster und blickte in das Objektiv der Videokamera. Noch einmal drückte er auf die Klingel. Es dauerte einige weitere Sekunden. Da meldete sich eine barsche Stimme:

"Was habt ihr hier zu suchen?"

"ich weiß, daß du nicht mit mir reden willst, Herr Anwalt, aber meine Angetraute sorgt sich um das Wohl ihrer Schwester und möchte sie gerne besuchen", erwiderte Charles ganz gelassen.

"Alison ist unterwegs, und ich habe zu tun und will nicht gestört werden. Ihr hättet euch den Weg sparen können."

"Du weißt, wo wir herkommen, Claude? Das ist ein langer Weg von Birmingham nach London. Und ich fürchte, meine Frau wird nicht nach Hause wollen, bevor sie deine Frau nicht zumindest mal angesehen hat."

"Dann schick sie zu mir rein! Du kannst dich ja in London umsehen und sie wieder abholen, wenn sie nach Hause will."

"Ähm, jetzt darf ich nicht mal mehr meinen armen Starkstromklempnerfuß auf dein Grundstück setzen, Claude?" Fragte Charles verdrossen.

"Komm mir nicht wieder mit dieser künstlichen Selbstabwertung, Charlie! Du weißt genau, warum ich dich nicht mehr sehen will."

"Du sprichst also immer noch für Alison mit?" Fragte Charles.

"Wo sie nicht da ist schon", erwiderte die verärgerte Stimme aus dem Metallkasten.

"Mann, du stellst dich an wie ein bockiges Kindergartenkind", schrillte nun Monica, die sich zur rechten Seite hinbeugte, um ebenfalls mit ihrem Schwager zu sprechen. "Charlie hat sich extra freinehmen müssen, um mich herzufahren. Du läßt uns beide rein oder keinen. Aber dann warten wir hier draußen auf Alison und fragen sie, was dein Getue soll. Sie sagte sowas, daß du seit deinem nicht mit ihr abgestimmten Spanienurlaub wie ausgewechselt seist. Und gestern höre ich von Mrs. Wakefield aus ihrem Bridge-Club, ob es meiner Schwester nicht gut gehe, weil sie jetzt schon die vierte Runde versäumt hat. Euer Telefon geht nicht oder ist abgestellt. Was blieb mir da also übrig?"

"Okay, ihr seid in einer Minute aus dem Erfassungsbereich der Kameras oder ein Fall für Scotland Yard wegen versuchten Hausfriedensbruchs in Tateinheit mit Nötigung", klang Claudes Stimme aus der Sprechanlage. "Die Zeit läuft", schickte er noch nach.

"Dann sage uns zumindest, ob es meiner Schwester gut geht", schnarrte Monica.

"Jau, das .... ich meine, ihr ging es nie besser. Und das mit ihren Bridge-Freundinnen liegt daran, daß wir zwei uns wiedergefunden haben. Insofern war mein Urlaub das richtige, um sie und mich übereinander nachdenken zu lassen. Mehr ist nicht, war nicht und betrifft euch auch nicht. - Vierzig Sekunden."

"Tick-tack! Tick-tack!" Konnte Charlie Gilmore nur dazu einwerfen. Dann schupste er seine Frau auf den Beifahrersitz zurück und kurbelte das Fenster hoch. Dafür brauchte er zumindest keinen Batteriestrom wie die ganzen Luxusschaukeln, die auf der Straße dahinbrummten.Er legte den Rückwärtsgang ein und setzte vorsichtig zurück, um ohne viel Kurbeln auf die Fahrbahn einschwenken zu können.

"Du gibst diesem aufgeblasenen Kerl so leicht nach?" Fragte Monica.

"Nicht wirklich, Mony. Er wollte ja nur, daß wir aus dem Erfassungsbereich seiner Videoaugen rausfahren. Nicht mehr und nicht weniger mache ich."

"Die sind weitreichend, vor allem die Kamera in der Apfelbaumkrone", erwiderte Monica.

"Tja, aber um die Ecke oder durch Wände kann die auch nicht gucken. Wir fahren einfach den Weg soweit zurück, bis wir die Abzweigung in die nächste Hauptstraße erwischen. Dann suchen wir uns einen öffentlichen Parkplatz und schleichen uns von hinten ans Haus, ohne zu klingeln."

"Und wozu das?" Fragte Monica.

"Ich will sehen, ob Alisons Wagen in der Garage steht", sagte Charles. "Es kommt mir seltsam vor, daß Claude nicht diesen piekfeinen Mr. Perkins an die Sprechanlage geschickt hat. Außerdem hätte der heute bestimmt in der Kanzlei zu tun und dürfte nicht im gemütlichen Herrenhaus sitzen. Der hält mich also für bescheuert, daß ich das nicht komisch finden sollte. Wollen doch mal sehen, was da vorgeht."

"Um Alisons Wagen zu finden müssen wir auf das Grundstück, und das geht bei den Alarmanlagen nicht. Die melden jede Maus, die unterm Zaun durchschlüpft", zischte Monica besorgt.

"Ja, und jeden Fallschirmspringer, der auf dem Dach landen will. Weiß ich doch alles schon. Und wenn man denen den Saft abdreht springt der Benzingenerator im Keller an und pumpt fünf Minuten lang Notstrom ins System, damit die Alarmanlage und die Überwachung in Gang bleiben. Aber ich habe meine Videokamera im Wagen, die mit 48er-Zoom. Damit kann ich zumindest mal in die Fenster reinhalten."

"Stimmt, die Fenster waren unverhüllt. Aber das wird nicht nötig sein, Charles. Da ist der kleine Ben von den Chestertons", deutete Monica auf einen gerade sechs jahre alten Jungen mit schwarzem Wuschelkopf, der gerade auf seinem Fahrrad entlangfuhr. Monica kannte den Jungen gut und hatte ihn schon häufiger bei seinen Eltern besucht, die die Gärtnerei betrieben, die auch Claudes und Alisons Haus betreute. So ließ sie sich von Charles am linken Straßenrand absetzen, damit der Junge nicht argwöhnisch würde und ging die letzten fünfzig Meter auf den Jungen zu, der gerade auf den Gehsteig fuhr, um einem großen Wagen auszuweichen. Sie winkte ihm. Charles hörte nicht, was sie sagte. Doch Ben antwortete wohl etwas. Der Wortwechsel dauerte nur eine halbe Minute, da zog Ben sein Handy. Der Kleine hatte ein eigenes Mobiltelefon, stellte Charles fest. Er telefonierte mit wem und gab das Gerät an Monica Gilmore weiter, die sich eine kurze Weile mit dem Teilnehmer am anderen Ende unterhielt und dann dem Jungen mit einer ausladenden Dankesgeste das kleine Telefon zurückgab. Sie winkte dem Jungen noch und eilte zum Austin zurück. Doch sie strahlte nicht wie eine Siegerin, sondern blickte sehr besorgt drein.

"Okay, wir können nach Hause. Hier erreichen wir jetzt nichts mehr", sagte sie ihrem Mann, der sie fragend anblickte und dann den Motor startete, um den Austin auf den Heimweg zu steuern. Er wartete, bis seine Frau ihre Sprache wiederfand.

"Ben hat mit seinem Daddy telefoniert, und der sagt, daß er Alison nicht mehr gesehen hat, seitdem Claude aus Spanien zurückgekehrt ist. Irgendwie hat sie sich rargemacht. Claude selbst tut so, als wenn seine Frau immer dann gerade in der Stadt unterwegs sei. Dabei könnte Mr.Chesterton schwören, daß sie mit ihm noch was wegen der Laubkehrarbeiten bereden wollte. Im letzten Jahr habe sie ihn ziemlich heftig runtergemacht, weil seine Leute das Laub nicht abgefahren, sondern auf den Komposthaufen geworfen hatten. Dieses Jahr sollte er selbst mit der Hausherrin klären, wie das ganze Laub entsorgt werden sollte. Aber bisher sei sie ihm nicht über den Weg gelaufen, und die ersten Bäume hätten schon ihre Blätter verloren."

"Tja, was die kleinen Leute doch alles mitkriegen", feixte Charles. "Mit anderen Worten, deine Schwester zeigt sich nicht mehr."

"Sagen wir es so, sie läßt sich nicht mehr blicken. Aber Ben hat mit roten Ohren ausgeplaudert, daß er abends, wenn er am Zaun langgeradelt sei, vom Haus her Geräusche höre, die er immer aus dem Schlafzimmer seiner Eltern hörte, wenn die Tür nicht aufginge. Er ist sich sicher, daß das ein Mann und eine Frau machten."

"Kindermund tut Wahrheit Kund, heißt es doch. Aber das klingt mir doch jetzt ziemlich seltsam. Zwischen Claude und Alison lief doch schon lange nichts mehr ohne Klamotten."

"Ich frage meine Schwester nicht, wie sie ihr Intimleben führt. Aber mir kommt es auch seltsam vor. Ich habe aber keinen Grund, dem Jungen nicht zu glauben."

"Zumindest würde das mit Claudes arroganter Bemerkung passen, daß es Alison nie besser gegangen sei als im Moment. Vielleicht waren die zwei gerade wieder dabei und unsere Ankunft hat das Alarmsystem gekitzelt und sie unterbrochen", sprudelte es aus Charles heraus.

"Ich will meine Schwester sehen und mit ihr reden. Aber nicht, wenn Claude dabei ist", sagte Monica. "Fahren wir erst nach Hause. Von da aus telefoniere ich mit Alisons Nachbarn und bitte diese, mit ihr zu reden, daß sie mich anrufen soll, sobald Claude aus dem Haus ist."

"Warum nicht gleich so", grummelte Charles. Er dachte an das verfahrene Benzin. Doch andererseits mußte er zugeben, daß an dieser Geschichte einiges merkwürdig war.

Noch merkwürdiger wurde es, als Monica nach der Heimkehr von den Nachbarinnen erfuhr, daß ihre Schwester in den letzten drei Wochen abgemagert sei und sie gefragt wurde, ob sie krank sei. Sie habe behauptet, sie lebe gerade eine Radikaldiät. Das würde wohl die Gewichtsabnahme erklären, aber nicht das bleiche Gesicht und die übernächtigt wirkende Erscheinung. Charles hatte dazu nur eingeworfen, daß Sex in ihrem Alter ja auch gut auszehre. Monica hatte aber noch mehr herausgefunden. Denn mit den meisten Nachbarn, die nicht zum akademischen Betrieb gehörten, verstanden sich die Gilmores gut, so daß in diesem Viertel ein lockerer Geheimdienst der einfachen Leute bestand. Dieser vermeldete, daß Alison erst nach Claudes Rückkehr aus Südspanien so verändert sei und daß sie bei den wenigen Gelegenheiten, wo sie sich hatte blicken lassen, ihren Mann so gierig angeblickt habe, als könne sie nicht genug von ihm bekommen. Zumindest hatte das die Lieferantin behauptet, die den Andrews' die Lebensmittel brachte.

"Sag jetzt nicht, der hat die irgendwie von sich oder was auch immer abhängig gemacht", knurrte Charlie. Er kannte Geschichten von Männern, die Frauen unter Drogen hielten, um sie gefügig zu halten. Hatte Claude sich auf ein derartiges Ding eingelassen? Dann würde aber bald der Teufel los sein. Denn Monica würde sich sowas nicht bieten lassen. Dann erkannte er mit Schrecken, welcher Gefahr seine Frau da gerade so noch entgangen sein mochte. Claude hatte sie alleine sprechen wollen, ohne ihn. Nicht auszudenken, wenn er Monica mit was auch immer vergiftet hätte, um sie unter seinen Einfluß zu zwingen. Insofern konnte er froh sein, daß seine Frau für ihn eingesprungen war und nicht ohne ihn auf das Grundstück hatte gehen wollen. Monica schien seine Gedanken gelesen zu haben. Denn sie sagte mit schreckgeweiteten Augen:

"Um Gottes Willen, der hätte mich dann wohl auch ... Vielleicht sind dieselben Kerle, die Richard auf dem Gewissen haben jetzt hinter Claude und Alison her."

"Du meinst, die wollen keine Erben von Claudes Eltern hinterlassen oder wie?" Fragte Charles und erbleichte über die entsetzliche Erkenntnis, die seine Worte eröffneten. "Okay, ich rufe sofort Martha an, Claudes Getue hin oder her. Das sollte sie zumindest interessieren."

"Nein, ich mach das, weil ich auch die ganzen Erwähnungen kenne", bestand Monica Gilmore darauf, das von ihrem Schwager Claude diktierte Kontaktverbot mit Martha Andrews zu unterlaufen.

_________

"Willkommen in unserer Runde", begrüßte Elysius Davidson den frisch angeworbenen Mitarbeiter mit dem flachen Kopf und den davon abstehenden blonden Haaren. Zachary Marchand, der einen Tag zuvor noch eine Unmutsäußerung von Minister Cartridge hatte ertragen müssen, bedankte sich beim Leiter des weltberühmten Laveau-Institutes für die beinahe Reibungslose Umstellung. Er gehörte nun zur internen Gruppe der Muggelweltwächter und konnte damit den bisher ausgeübten Beruf fortführen. So bekam in seiner muggelweltdienststelle, der Bundesermittlungsbehörde FBI, niemand mit, daß ihr fähiger Mitarbeiter den Arbeitgeber gewechselt hatte. Der Kalender an der Wand im Büro des Laveau-Direktors zeigte den fünften Oktober. Marchand hatte von Davidsons Leuten ein paar neue Amulette bekommen, um die möglichen Angriffe Stillwells abzuwehren. Das ging nur, weil Marchand nun ganz und gar für dieses ministeriumsunabhängige Zentrum zur Abwehr aller Formen dunkler Zauberei arbeitete.

"Sie wollten gleich mit mir erörtern, wie ich mir den Angriff Coals alias Stillwell vorstellen kann und welche Muggelwelteinrichtungen ich für besonders gefährdet halte?" Fragte Marchand Davidson. Dieser bestätigte es durch Nicken.

"Nun, nachdem, was ich über die Motive dieses Irrwitzigen gelernt habe, der sich als Baron Samedis Sohn sieht, muß ich von einem großangelegten Rachefeldzug ausgehen, der zwei Ziele verfolgt. Zum einen will er sich an den Nachkommen der Sklavenhalter von damals rächen, wobei er wohl alle Euroamerikaner in diese Kategorie einsortiert. Zum zweiten ist er wohl davon besessen, sich an Marie Laveau zu rächen, die sein erstes Leben ausgelöscht und damit seinen ersten Rachefeldzug gestoppt hat. Um Ziel eins zu erreichen könnte ihm, der ja trotz der magischen Umwandlung noch über alles Wissen Gordon Stillwells verfügt, einfallen, Fabriken oder militärische Anlagen zu überfallen, die mit gefährlichen Stoffen hantieren, die auf gar keinen Fall in die Umwelt gelangen dürfen. Auf dieser Liste habe ich die meiner Meinung nach am stärksten bedrohlichen Anlagen und damit vordringlichsten Angriffsziele notiert. Ich habe die Kollegen in der Muggelwelt auch schon entsprechend vorgewärmt, diese Ziele gesondert zu überwachen, da es Hinweise auf eine Terroristengruppe gibt, die die Entvölkerung der USA zum Ziel hat. War nicht einfach, Funksprüche und angebliche Telefonate zu fingieren, daß meine Muggelweltkollegen das nicht als Fälschungen erkennen konnten und nun auf Kurs sind." Marchand legte einen Packen dünnes Papier auf den Tisch. Es war eine Liste aller Chemiefabriken und Atomkraftwerke der vereinigten Staaten. Dazu kamen die von ihm beinahe aufgeflogenen Recherchen über geheime und offizielle Forschungseinrichtungen für die Herstellung oder Abwehr biologischer und chemischer Waffen, zu denen auch ordentliche Tropeninstitute gehörten, in denen Proben der gefährlichsten Krankheitserreger aufbewahrt wurden, von der Lungenpest bis zum traurige Berühmtheit erlangenden Ebola-Virus. Natürlich gab es bereits innerhalb des FBIs Vorstellungen von gezielten Anschlägen auf derartige Einrichtungen. Besonders nach dem letzten Feldzug der US-Streitkräfte gegen das irakische Regime wurde mit Hochdruck nach Abwehrmitteln gegen mögliche B-Waffen-Anschläge geforscht. Auch der Sarin-Angriff einer japanischen Sekte auf die Tokioter U-Bahn hatte die verantwortlichen Stellen in Alarmbereitschaft versetzt. So mußte Marchand keine Türen öffnen, um seine Kollegen darauf anzusetzen, diese brisanten Anlagen gesondert zu bewachen. Doch er wußte zu gut, daß Zombies sich nicht so leicht daran hindern ließen, derartige Fabriken und Kraftwerke zu überfallen. Gelang es nur einem lebenden Toten im Stil eines Kamikaze-Fliegers, in ein Atomkraftwerk einzudringen und an einer bestimmten Stelle eine Sprengung auszuführen, hatten sie eine Strahlenwolke im Land, hinter der sich Harrisburg und Tschernobyl verstecken konnten. Außerdem konnte ein mit Ampullen voller Krankheitserreger durchs Land torkelnder Zombie den vier apokalyptischen Reitern Konkurrenz machen, die Hunger, Pest, Tod und Krieg in die Welt trugen. Tja, der Krieg. Marchand konnte sich auch ausmalen, daß Zombies in Raketenbasen der strategischen Luftstreitkräfte eindringen und die dort gelagerten Interkontinentalraketen abfeuern konnten. Doch soweit mochte Stillwell nicht gehen. Denn ein weltweiter Atomkrieg würde auch die Angehörigen seiner eigenen Rasse auslöschen, und er wollte ja über sein auserwähltes Volk herrschen und nicht als letzter Bewohner eines verbrannten Planeten in einer verstrahlten Wüstenei herumstolzieren. Volakin hatte er es zugetraut. Wie viel Glück hatten sie alle gehabt, daß dieser entartete Vampir diese Möglichkeiten nicht konsequent verfolgt hatte? Das Glück war unermeßlich, daß die Wiederkehrerin und die in Europa umgehende Abgrundstochter diesen Blutsauger gestoppt hatten. Aber dann müßte er diesen beiden auch noch danken. So weit wollte er dann doch nicht gehen.

"Wir kennen uns - ich muß sagen leider - nicht so mit den hier aufgeführten Ein- und Vorrichtungen aus, Zachary. Besteht keine Möglichkeit, die Muggel ohne die Offenbarung der Zaubererwelt auf mögliche Anschläge vorzubereiten?"

"Die wissen natürlich, daß ihre Anlagen mögliche Angriffsziele sind und bewachen und beschützen sie entsprechend. Doch wenn dieser Stillwell nicht nur seine Zombies losschickt, sondern seine eigene Ritualmagie gegen die Bewacher anwendet haben wir einen sehr schlechten Tag vor uns", erwiderte Marchand.

"Tja, Zachary. Das Problem ist nur, daß wir selbst mit allen zweihundert LI-Mitarbeitern und allen schätzungsweise fünfhundert Ministeriumsleuten plus gemäß Notstandsregeln noch einmal fünfhundert einberufbarer Leute nicht an allen Stellen zugleich aufpassen können. Abgesehen davon müssen wir eine Vorrangigkeit erarbeiten, welche Ziele am leichtesten zu erreichen sind, welche die zugleich gefährlichsten Stoffe herstellen und/oder aufbewahren", wandte Davidson ein. "Schön wäre es, wenn wir diesen Kerl solange hinhalten könnten, bis wir genug Möglichkeiten haben, seine Angriffe zurückzuschlagen."

"Die Grenzüberwachung ist ja schon darauf aus, verdächtige Eindringlinge weiterzumelden. Ich habe meinen FBI-Kollegen auch erzählt, daß die Mitglieder der Terroristen bei ihren Angriffen unter angst- und schmerzunterdrückenden Drogen stehen und sich wie die Zombies aus den Horrorfilmen bewegen könnten, weshalb sie durch Schüsse in die Beine nicht gestoppt werden könnten. Da sie leider nicht, wie in diesen Videoschockern durch gezielte Treffer zwischen die Augen zu erledigen sind sondern nur durch Feuer oder Enthauptung ausgeschaltet werden können, wird es schwierig."

"Zumal wir Feuer nicht unbedingt da legen sollten, wo hochgradig ansteckende und tödlich wirkende Krankheitserreger gelagert oder diese strahlenden Brennstoffe gelagert oder eingesetzt werden", seufzte Davidson.

"Hmm, stimmt, es ist gefährlich, mit offenem Feuer zu arbeiten. In Atomkraftwerken zu schießen kommt auch nicht in Frage, sobald ein Angreifer in die empfindlichen Bereiche vorgedrungen ist. Außerdem könnten dort angewandte Zauber die Steuerelektronik stören, was genau das verursacht, was wir ja unter allen Umständen verhindern müssen."

"Da empfehle ich Ihnen eine Unterhaltung mit unserem Ausrüstungschef, Quinn Hammersmith."

"Habe mich schon gefragt, wann Sie ihn mir vorstellen möchten", erwiderte Marchand. In seinen Augen leuchtete die Vorfreude, diesen genialen wie teils auch exzentrischen Zauberkünstler zu treffen, den das Zaubereiministerium allzugerne auf seiner Lohnliste hätte.

"Das können Sie gleich haben, Zachary", sagte Davidson. "Doch zunächst müssen wir unsere Kollegen darüber informieren, wo es vordringlich zu Angriffen kommen kann."

Eine Halbe Stunde später gingen sie aus dem Bürogebäude hinüber in das Ausrüstungsgebäude, wo auch die Versuchsräume des Experten für magische Spezialwaffen und außergewöhnliche Ausrüstungsstücke lag. Bevor sie die mit Ferrifortissimum-Zauber verstärkte Stahltür erreichten hörten sie schon ein melodisches Singen wie von einem italienischen Operntenor. Marchand fragte sich, was hinter dieser geschlossenen Tür vor sich ging. Dann las er die rot leuchtende Beschilderung:

"Labor für magische Ausrüstung! Warnung, nur nach ausdrücklicher Eintrittserlaubnis betreten! Zuwiderhandlung kann zu unbestimmbarer Eigengefährdung führen."

"Davidson legte die rechte Hand auf eine grün markierte Stelle der Tür, worauf ein durchdringendes Summen in den Vortrag der berühmten Opernarie "La Donna e Mobile" hineinklang. Marchand grinste, wenn er an seinen letzten Besuch in der Met, der berühmten Oper in New York dachte. Ein ungehaltenes "Moment, noch nicht", erklang. Dann meinten die beiden, ein Klappern und wildes Knurren zu hören, bis der Gesang erstarb. "So, Eintritt gewährt! Bitte reinkommen!" Sprach die Männerstimme hinter der Tür. Es klickte vernehmlich in der Tür. Davidson drehte den Knauf und zog am Türgriff.

Der Raum war kreisrund und voller Regale und Tische. In den Regalen lagen Gold- und Silberbarren, aber auch vom ersten Augenschein her alltäglich wirkende Gegenstände wie Schreibfedern, Tintenfässer, Aschenbecher oder Besteckteile. In einem Sektor des kreisförmigen Raumes standen lebensgroße Puppen aus Wachs oder Holz. An einem der langen Steintische stand ein mittelalter Zauberer mit schwarzem Struwelhaar. Er trug einen silbernen Umhang und war gerade dabei, eine Holzkiste zu schließen.

"Ah, der Chef persönlich beehrt das arbeitende Personal!" Grüßte der in diesem runden Raum arbeitende Zauberer lächelnd. Dann sah er den neuen Mitarbeiter. "Oh, so früh schon? Habe mich schon gefragt, ob der neue Kollege nur von der Nadelpuppenabteilung ausgerüstet werden darf."

"Getrennt marschieren, vereint schlagen, Quinn", grummelte Davidson. "Die anderen Abteilungen sind genauso überlebenswichtig wie Ihre." Dann stellte er Marchand und Quinn Hammersmith einander vor. Hammersmith wußte bereits, daß Marchand beim FBI arbeitete. "Schade, daß Sie nicht in diesem Club internationaler Aktivitäten tätig sind. Die sind ja immer so scharf auf alltäglich wirkende Spezialsachen", sagte Hammersmith und griff an eine scheinbar gewöhnliche, scharlachrote Schreibfeder. Marchand beobachtete den Thaumaturgen, wie er die Feder aufnahm und ihm vorzeigte. "Irgendwer hat mal behauptet, die Feder sei mächtiger als das Schwert. Ich habe das umgesetzt", sagte Hammersmith, zielte auf einen Holzklotz auf einem Tisch und ließ die Federspitze blitzartig kreisen, worauf eine blaue Stichflamme herausschnellte und den Holzklotz innerhalb eines Sekundenbruchteils zu Asche zerfallen ließ. "Das Schwert will ich erleben, das da mithalten kann", lachte Hammersmith über diesen so durchschlagenden Erfolg.

"Nichts für ungut, Mr. Hammersmith. Aber wir sind eigentlich hier, um Sie zu fragen, was man gegen Zombies machen kann, die in sehr feuer- und zaubergefährdeten Einrichtungen der Muggel herumlaufen", sagte Davidson.

"Stimmt, Das Ding mit diesem Samedi-Ableger. Habe ich von einem aus der Nadelpuppenabteilung schon gehört", grummelte Hammersmith. "Sie fürchten also, daß dieser Kerl sich nicht damit abfindet, seine Zombies einfach so auf Menschenjagd zu schicken, sondern Sachen wie Erdöllager und Sprengstofffabriken in die Luft zu jagen?"

"Ja, und Chemiefabriken und Atomkraftwerke", führte Marchand noch aus und erwähnte auch, daß es in der Muggelwelt Einrichtungen gab, die an besonders gefährlichen Krankheiten forschten und daher bestimmte Erreger vorrätig hätten.

"Offenbar wollen die unbedingt die Pest wiederhaben", knurrte Hammersmith. "Aber sei es. Meine Feuerfeder hier könnte im Freien alles in der Reichweite von fünfzig Metern und einem Winkel von sechzig Grad niederbrutzeln. Allerdings muß sie nach drei derartigen Angriffen zwei Stunden in unmagischem Feuer liegen, um sich wieder aufzuladen. Aber die kommt dann ja nicht in Frage", sagte der Spezialist. Marchand fragte, ob das eine Phönixfeder sei und erhielt ein "Könnte sein oder auch nicht" zur Antwort. Quinn wollte garantiert nicht, daß jemand seine Betriebsgeheimnisse abkupferte. So fuhr der Spezialist fort:

"Nun, mit den bekannten Bannzaubern und Vernichtungsflüchen ist es dann natürlich auch nichts, wenn die in einem Bereich gesprochen werden, wo diese Muggelelektronik verwendet wird, die bei direkt drauf wirkenden Zaubern schnell aus der Bahn fliegt. Aber ich habe bereits was brauchbares. Hat nur den Nachteil, daß es nicht so schnell in großer Stückzahl herstellbar ist, wie ich es gerne hätte. Aber Qualität braucht leider ihre Zeit."

"Sie machen mich neugierig, Mr. Hammersmith", sagte Marchand begeistert.

"Unter Kollegen duzen wir uns üblicherweise, Zach. Außer den Direktor natürlich", fügte Hammersmith hinzu und sah Davidson abbittend an. Zachary Marchand nickte zustimmend. "Also, ihr braucht was, womit ihr tote Leute umbringen könnt, ohne die lebenden gleich mit umzubringen", fuhr Hammersmith fort. "Dann nehmen wir von denen hier welche. Sind in der Handhabung leicht und schnell wieder einsetzbar, wenn wie erwähnt auch nicht so schnell herzustellen." Er ging an einen der im kreisrunden Raum stehenden Schränke und tippte ihn mit dem Zauberstab an mehreren Stellen an. Als die Tür aufschwang quoll erst einmal grüner Rauch heraus und hüllte Hammersmith ein. Doch die Wolke verflog keine halbe Sekunde später wieder. Marchand erinnerte der Brodem an eine Sicherheitsvorkehrung der Kobolde von Gringotts. So fragte er, ob Hammersmith sich das Patent von den Spitzohren abgeschaut habe. "Die Anregung höchstens. Wie die das machen könnte ich das ja nicht. Aber ich habe was entsprechend modifiziertes hinbekommen", erwiderte Hammersmith, bevor er aus einem der Fächer mehrere kleine Silberscheiben wie besonders große Münzen herausholte, welche locker in einer geschlossenen Faust verborgen werden konnten, wie er sogleich vorführte. Dann legte er alle bis auf eine in die linke hand, holte mit rechts aus und warf die verbliebene Scheibe in Richtung Davidson. Marchand und der LI-Direktor erstarrten vor Schreck, als das Wurfgeschoß direkt nach Verlassen der Wurfhand auf vierfache Größe anschwoll, wobei es einer durchsichtigen Scheibe aus blitzendem Silber ähnelte und ein feines Singen von sich gab. Davidson wollte gerade zur Seite springen, als das magische Wurfgeschoß knapp vor seinem Hals nach rechts auswich, ihn passierte und gegen die Tür schlug, wo es ein kreissägenartiges Geräusch machte, daß jedoch keine Zehntelsekunde anhielt. Als die Besucher sich umdrehten klimperte gerade eine kleine Silberscheibe auf den Boden, wie Hammersmith sie gerade von sich geschleudert hatte.

"Aber sonst stimmt bei Ihnen im Oberstübchen noch alles", schimpfte Davidson. "Was sollte das?"

"Das war die Vorführung der Lebewesensicherung", sagte Hammersmith völlig unbeeindruckt, legte eine der drei weiteren Münzen in seine rechte hand, zielte auf eine der lebensgroßen Wachspuppen und schleuderte sie von sich, wobei das Geschoß wieder zu einem viermal so großen, singenden Phantom wurde, das auf Halshöhe die Figur traf, den Hals wie eine Schere Papier durchtrennt durchschlug und ungebremst gegen die gegenüberliegende Wand krachte, wo es wieder nur ein kurzes Kreischen gab, wobei das Geschoß schlagartig zusammenfiel und jedes Schwungs ledig auf den Boden klimperte. Marchand war beeindruckt, Davidson nicht so sehr. Er hatte dieses Ding offenbar schon vorgeführt bekommen. "Das ist mein Beitrag zur zombiefreien Gesellschaft, Gentlemen", pries Hammersmith seine Erfindung. "Der Dekapitationsdiskus. Es war ein wenig schwierig, einen wirksamen Lebendpersonenschutz einzuwirken, ohne die gewünschte Wirkung zu schmälern. Aber jetzt ist sie perfekt. Damit kann man einen Zombie, der bekanntermaßen keine Lebensaura ausstrahlt und somit nicht als Lebewesen erkennbar ist, ohne weiteres Problem den toten Schädel vom Leichenrumpf abtrennen, ohne andere Zauber bemühen zu müssen. Trifft der Diskus auf Stein oder Metall, wird sein Schwung gebremst, ohne die getroffene Stelle zu beschädigen. Er fällt dann auf Ausgangsgröße eingeschrumpft zu boden."

"Moment, ist dieses Ding so scharf geschliffen?" Fragte Zachary Marchand. Zur Antwort deutete Hammersmith auf die noch bei der Tür liegende Scheibe. Marchand ging heran und betrachtete sie. Der Rand war abgerundet wie bei einer Silber- oder Goldmünze. Vorsichtig nahm er die Scheibe und betrachtete sie. Er erkannte winzige, in Spiralen von innen nach außen eingravierte Runen, die zusammenhingen. Auch auf der anderen Seite waren Runen, jedoch speichenförmig bis zum Rand angelegt. Marchand hatte alte Runen gelernt und versuchte, die einzelnen Runen zu entziffern. Doch die waren zu winzig für seine Augen. Daß es Runen waren erkannte er nur an charakteristischen Linien.

"Ah, ein Runi. Ich sehe, daß du die gerne entziffern würdest", lachte Hammersmith. "Aber die bleiben nach einem vollendeten Wurf nur eine Minute sichtbar. Sonst könnte ja jeder meine Disken nachbauen."

"Die fühlen sich an wie Geldmünzen", sagte Marchand und drehte seine Scheibe in der Hand. "Keine Vibration, keine Wärmeempfindung, kein geschliffener Rand."

"Genau das ist eines der Geheimnisse dieser kleinen Helfer in allen von wandelnden Leichen bedrohten Lagen. Sie bläht sich beim Abwurf nicht auf, sondern bildet harrfeine, jedoch widerstandsfähige Klingen aus, die durch die im Diskus verankerte Rotationsmagie auf ganze sechstausend Umdrehungen in der Minute um das Zentrum herumkreisen. Das Geschoß erfährt zudem eine magisch bedingte Verfünffachung der Abwurfgeschwindigkeit und kann bei voller Aufladung vierundzwanzig mal hintereinander eingesetzt werden. Allerdings muß es dann für jeden Einsatz eine Stunde lang ruhen, wobei gilt, daß es Kontakt zur festen Erdoberfläche behalten muß, also in einem Schrank oder einer Tasche zu liegen hat, die Kontakt zum Erdboden hat. Von einem Menschen getragen zu werden zählt zu diesem Kontakt dazu."

"Was heißt, ich kann mit dieser einen Scheibe innerhalb eines Erddrehungszyklusses vierundzwanzig Zombies enthaupten?" Fragte Marchand.

"Zombies oder alle belebten Sachen, die nicht aus Metall oder Gestein sind, damit du damit nicht die Wände durchsägst. Abgesehen davon kannst du damit nicht nur einen Zombie pro Wurf erledigen. Ich zeig's dir gerne noch mal. Reparo Puppe!" Sofort setzte sich der abgetrrennte Kopf wieder auf den Körper der Wachspuppe. Dann dirigierte Hammersmith seine Besucher so, daß sie nicht in der Wurfbahn standen, als er sich so aufstellte, daß er mit einem geraden wurf alle drei Modellpuppen treffen konnte. Er warf. Wieder blähte sich die kleine Scheibe auf vierfache Größe auf, sauste singend durch die luft und traf die erste, eine Holzpuppe. Ein Kaum richtig wahrnehmbares Schaben, und der Puppe fehlte der Kopf. Das Geschoß flog jedoch ungebremst weiter, traf den Hals der zweiten Puppe und durchflog diesen wie Luft, während der Kopf der Modellpuppe zu Boden polterte, dicht gefolgt von dem der dritten. Die magische Wurfscheibe traf keine Zehntelsekunde später auf den Metallrahmen eines Regals, schrillte kurz und klimperte auf Normalmaß geschrumpft zu Boden.

"Und wenn es siebenhintereinander sind?" Fragte Marchand.

"Erledigst du mit einem Wurf sieben auf einen Streich, tapferes Schneiderlein", bekam marchand die etwas hochmütig anmutende Auskunft. "Die dunkle Belebungskraft bremst den Diskus. Nur nichtorganisches aus der Erde kann den Schwung auffangen, also nur Metall oder Gestein. Holz ist für das Ding durchlässig wie dünnes Papier für eine Schere. Ich habe einen durchentwickelten Ableger davon mal draußen im Sumpf geworfen, wo keine Bäume im Weg standen. Insgesamt flog das Ding fünfhundert Meter weit. Leider kann ich keine Sofortapport-Rückkehrbezauberung mehr einwirken, weil die bereits ineinander verzahnten Zauber - dolles Wortspiel, nicht wahr? - die Magiesättigung der verfügbaren Materie erreichen. Aber mir schwebt ein Wurfgeschoß vor, das so abgestimmt ist, daß es nur lebende Menschen verschont und sonst alles durchschlägt was in der Wurfbahn liegt. Damit könnten wir wohl auch Nyx in die ewigen Jagdgründe schicken, Herr Direktor."

"Oder eine neue Kreatur der Erbin Sardonias, Sie Scherzbold", schnaubte Davidson.

"Warum keine Goldmünzen?" Fragte Zachary Marchand.

"Tja, Gold ist der magieträgste aber dafür dann auch mit der meisten Magie pro Raumeinheit anreicherbare Stoff,haben wir alle mal gelernt", setzte Hammersmith an. "Hat aber zwei entscheidende Nachteile: Nicht so billig zu haben und für Bewegungs- und Teilverwandlungszauber größtenteils unempfänglich. Ging leider nur mit Silber."

"Und warum haben Sie Aufschneider diese Wunderwaffe noch nicht hergestellt?" Fragte Davidson seinen Mitarbeiter etwas herablassend.

"Der Kollege Marchand, von dem ich ausgehen darf, daß er an seinem Muggelarbeitsplatz auch mit diesen genialen Elektrorechnerapparaten arbeiten darf, wird mir sicher beipflichten, daß es wesentlich leichter ist, eine Sache als Ja- oder Nein-Variante festzulegen als eine Entweder-und-oder-Variante. Um alle gefährlichen Lebewesen zu treffen muß ich erst einmal ganz und gar genau ergründen, welche nur für menschen typischen Schwingungen der Lebensaura zu bemessen sind. Es ist leichter, einen Gegenstand darauf abzustimmen, alles tote zu treffen und allem lebendem auszuweichen als zu unterscheiden, was für ein Lebewesen gerade im Weg steht und dann noch rechtzeitig auszuweichen, wenn die Prüfung einen Menschen ergibt."

"Ja, stimmt. Die meistenProgramme bestehen aus Anweisungen, wie bei auftretenden Fehlern oder fehlerhaften Eingaben zu reagieren ist als aus den Anweisungen, die das Programm im Normalfall auszuführen hat", bestätigte Marchand. "Aber gegen Zombies ist das Ding schon genial", wobei er auf die aufgehobene Münze blickte.

"Ich lasse dir gerne die fünfzig, die ich habe. Aber dafür hätte ich gerne eine Quittung und die schriftliche Zusage, sie im Falle, daß du sie nicht mehr benötigst zurückzugeben", sagte Hammersmith.

"Verstehe es", grinste Marchand, dem eine ähnliche Aufforderung aus diversen Kinofilmen durch den Kopf spukte. Dann wollte er noch wissen, warum es so schwierig sei, diese Gegenstände herzustellen.

"Du hast die Spiralen und Speichen gesehen?" Fragte Hammersmith. Marchand nickte. "Tja, die Präzision beim Gravieren von so kleinen Runen braucht Zeit. Die Bezauberung dagegen braucht bei sorgfältiger Reihenfolge gerade eine Minute pro Diskus. Aber die Berunung dauert durchschnittlich fünfzehn Arbeitsstunden. Fünfzig Stück davon konnten meine eingeweihten Zuarbeiter bisher herstellen. Jede mehr braucht also wieder fünfzehn Arbeitsstunden und eine Minute Bezauberungszeit. Abgesehen davon steckt in jeder Münze der Gegenwert von zwei Sickeln. Also nicht verjuxen oder verlieren, wenn's geht!"

"Bevor ich diese Dinger nehme muß ich testen, wie idiotensicher die sind", sagte Marchand und führte drei erfolgreiche Probewürfe an den schnell zu reparierenden Puppen aus und warf auch Hammersmith einen Diskus zu, der jedoch blitzartig auswich und das lebende ziel gefahrlos passierte. Dann füllte er die ihm vorgelegten Formulare aus, zeichnete sie ab und übernahm die fünfzig fertigen Dekapitationsdisken. Dann bedauerte er noch, daß man Zombies schwer orten konnte, wenn sie zum beispiel im Inneren eines Containers oder Tanks auf einem Lastwagen versteckt waren.

"Ja, habe ich auch mal gedacht", wandte Hammersmith ein. "Aber wie schon bei den Vampiren, so gelang es mir bei den Zombies, die ihnen eigene Magieausstrahlung präzise zu bestimmen und dafür empfängliche Ortungsgeräte zu entwickeln." Er ging an den Schrank, aus dem er bereits die fünfzig Münzen geholt hatte und präsentierte ein versilbertes Fernrohr. "Tätärätää! Das Zomboskop", pries er diese Erfindung. "Ich habe einige Zeit und einige gefährliche Außenstudien dafür aufgewandt, um die allen belebten Leichen eigene Magie zu isolieren und meßbar zu machen. Mit diesem Gerät hier kannst du durch alle nicht Silber- oder Goldhaltigen Hindernisse die als blaue Aura erkennbare Belebungsmagie eines oder mehrerer Zombies im Umkreis von zwei Kilometern sehen oder an der Skala hier erkennen, ob im Umkreis von zehn Kilometern verdächtige Magie wirksam ist. Es wirkt nach dem Prinzip der Magieresonanzbestimmung. Davon kann ich dir gerne die vier Exemplare ausleihen, die ich noch habe. Die sechs weiteren sind bereits bei den Außendienstmitarbeitern, die Mr. Davidson auf Zombiejagd geschickt hat."

"Sie sehen, junger Kollege, daß unsere Institution bereits sehr gut auf einen eventuellen Angriff vorbereitet ist", bemerkte Davidson noch, als Marchand den Empfang der vier Zomboskope quittiert hatte. Er fühlte sich schon wesentlich besser, wenn er daran dachte, jetzt neuralgische Einrichtungen vor den Angriffen Ruben Coals alias Gordon Stillwells schützen zu können. Dann beantragte er beim LI-Direktor die Herstellung weiterer fünfzig Dekapitationsdisken, weil er davon ausgehen mußte, daß der Feind die lange Abwesenheit von den USA sehr ausgiebig genutzt hatte. Berichte aus Südamerika, wo es um verschwundene Rebellengruppen und Armeeeinheiten ging, hatten ihn sehr nachdenklich gestimmt. Der Teilkontinent war ideal für die Rekrutierung von magischen Armeen. Das hatte ja schon Valery Saunders überdeutlich bewiesen.

__________

Anthelia fühlte die Kraft, die wie mit hunderten von Nadeln in ihren Körper stach, als sie Patricia Straton vor sich hatte. Sie unterdrückte noch gerade so einen Schmerzenslaut. Doch ihr war klar, daß sie Dairons Erbe nicht restlos verloren hatte. Das, was sie den Zeuginnen ihrer zweiten Neuverkörperung als Schutzbehauptung entgegengeschleudert hatte, war wohl doch wahr. Dairons Medaillon hatte vor der Selbstvernichtung eine Menge seiner Kraft in ihr gebündelt, und die Macht der Tränen der Ewigkeit hatte diese der Zerstörung dienende Zauberkraft als Schutz eingelagert. Doch dieser Schutz, der nun in ihrem ganzen Fleisch steckte, erwies sich im Angesicht des goldenen Sonnenmedaillons als Fluch. Denn je näher sie Patricia kam, desto mehr hatte sie das Gefühl, gleich wie ein großer Kessel zu kochen. Die sie zurückweisenden Strahlen aus dem Medaillon Patricias bohrten und schnitten in ihren Körper hinein.

"Ich wollte lediglich bestätigen, was Tyche dir sicher schon glutheiß erzählt hat", seufzte Anthelia. Patricia Straton, die junge, aber sehr geübte Hexe mit den dunkelbraunen Haaren und den grünen Augen mit leichtem Graustich erkannte wohl, daß die da vor ihr stehende Hexe litt. Konnte sie, Patricia, das genießen? Wenn ja, so ließ sie es sich nicht anmerken. Selbst ihren Geist hielt sie verschlossen, so daß selbst der verstärkte Gedankenspürsinn der neuen Hexenlady ihn nicht ohne Gewaltanwendung abhören konnte.

"Tyche hat mir das erzählt, daß du mit dieser Spinne, die früher mal eine atlantische Magierin gewesen war eins geworden bist. Soll ich dich immer noch höchste Schwester nennen? Oder wie möchtest du angesprochen werden?"

"Du kannst mich weiterhin als deine höchste Schwester ansprechen, Schwester Patricia", erwiderte Anthelia unter großer Anstrengung. Die Nähe des Medaillons setzte ihr unerträglich zu. "So wurdest du wahrhaftig von Tyche unterrichtet, was mir und der alten Magierin zu Teil wurde. Ich kam auch zu dir, um Erkundigungen einzuholen, ob du näheres aus der amerikanischen Hexenwelt erfahren hast." Patricia holte statt einer gesprochenen Antwort mehrere Ausgaben des Kristallherolds und der Stimme des Westwinds. Darin stand alles über die seit dem elften Oktober verschwundenen Hexen und auch, daß Leda erst am sechzehnten Oktober wieder aufgetaucht sei und als Begründung für ihr Fortbleiben angegeben hatte, daß sie ihre Tochter Lysithea an einem sicheren Ort versteckt habe, der mit Fidelius-Zauber geschützt sei. Zumindest äußerte sie keine Befürchtung, Anthelia könne der Kleinen was tun. Sie bezog sich auf Hinweise, demnach jemand versuchte, das Machtvakuum nach dem Verschwinden der Erbin Sardonias, dem Tod Volakins und dem Voldemorts zu füllen und ein neues Reich der dunklen Kräfte zu errichten und sie nur sorglos schlafen könne, wenn sie wisse, daß ihre Tochter sicher untergebracht sei. Auf eine Frage Linda Knowles', ob Lysithea erst wieder zu sehen sein würde, wenn sie nach Thorntails ginge hatte Leda geantwortet, daß die Zaubererwelt groß sei und sie ihre Tochter nicht unbedingt in Thorntails lernen lassen mußte. Dann stand da noch was über das Verschwinden Austère Tourrecandides. Diese war ebenfalls am zwölften Oktober verschwunden. Anthelia beschloß, sich schleunigst die entsprechenden Ausgaben der französischen Zaubererzeitungen zu besorgen. Dabei dachte sie daran, daß sie so in die Nähe von Julius Latierre kommen mochte. Doch diesen würde sie in Ruhe lassen.

"Es ist schon ein merkwürdiger Zufall, daß sowohl Hyneria Swordgrinder, als auch diese Tourrecandide, die dich aus Daianiras Bauch gezaubert hat, am selben Tag das letzte Mal gesehen wurden und daß Leda auf einmal meint, ihre kleine Tochter zu verstecken, wo diese schon seit der Geburt damit hätte rechnen müssen, von dir oder sonstwem angegriffen zu werden."

"Ich komme an diese Heilerin Leda nicht heran, ohne mein neues Ich zu offenbaren. Im Moment liegt mir viel daran, es geheimzuhalten. Die Zeitungen arbeiten mir zu, wenn sie behaupten, es gäbe mich nicht mehr. Um so größer wird das Erstaunen sein, wenn ich wie ein Phönix aus der Asche wieder in der Welt wirke."

"Was dir passiert ist, kann man ja wirklich mit einem Phönix vergleichen", erwiderte Patricia und ging einen Meter auf Anthelia zu, die mit schmerzverzerrtem Gesicht zurückwich. Patricia mußte sich sehr stark beherrschen, ihr Triumphgefühl nicht in ihrem Gesicht lesbar werden zu lassen. Anthelia sagte dann nur noch: "Dairons Vermächtnis begleitet mich also weiter. Doch ich werde es genauso tragen wie das meiner Tante und das des versunkenen Reiches." Dann verschwand sie. Patricia Straton fühlte, wie der Drang ihres Medaillons, eine unerwünschte Person abzuwehren nachließ.

"Heftiger als früher. Offenbar ist das alte Ding Dairons wirklich halb in dir hängen geblieben. Dann kannst du mir zumindest nicht mehr in Cecils Leben reinfuhrwerken", dachte sie.

__________

Sie hatte die letzten zwei Wochen immer wieder ihren Geist auf die Reise geschickt. Dabei hatte sie überall dort, wo kein Fidelius-Zauber wirkte, mithören können, was so gesprochen wurde. Sie hatte erfahren, daß Professeur Tourrecandide verschwunden war und daß Leda Greensporn der magischen Öffentlichkeit vorgegaukelt hatte, ihre Tochter an einem geheimen Ort versteckt zu haben. Eigentlich würde sie sich ihrer früheren Cousine und zeitweiligen Mutter gerne offenbaren, erblüht und kräftig wie sie nun wieder war. Doch sie wollte diesen, ihren durch Hynerias Zeitfresserkasten wiedergewonnenen Erwachsenenkörper behalten und nicht aus dem Hinterhalt heraus in Wiege und Windeln zurückgeschrumpft werden. Vielleicht ging Leda davon aus, daß Lysithea den inversen Tod gestorben war. Es hatte sie amüsiert, zuzusehen, wie Leda selbst drei Tage lang ein beinahe hilfloser Säugling hatte sein müssen, bis herauskam, daß die ins Gegenteil verkehrte Zeitfraßmagie durch einen sanften Alterungstrank aufgehoben werden konnte, anders als der Infanticorpore-Fluch, der nur durch einen bestimmten Gegenzauber wieder aufgehoben werden konnte. Das Verschwinden Tourrecandides bereitete ihr mehr Sorgen. Denn sie hatte erfahren, daß sie ganz genau zu dem Zeitpunkt verschwunden sein mochte, als sie, Daianira-Lysithea, in dieser Lebenszeitschlingvorrichtung gesteckt hatte. Also war zwischen ihr und Tourrecandide etwas vorgegangen, das selbst auf große Entfernung hin gewirkt hatte. Mochte es sein, daß durch Tourrecandides vertrackten Zauber eine Verbindung zwischen ihnen beiden entstanden war, die selbst der Transgestatio-Zauber nicht zerreißen konnte? Dann konnte es sein, daß Tourrecandide alle Jahre älter geworden war, die sie nach der Entladung der gefährlichen Magie wieder jünger geworden war. Oder ... Sie hatte mehrere Tage recherchiert, sich über die die Zeit und Leben betreffenden Zauber schlaugelesen. Als sie dann mehrere Male ihren Geist ausgesandt hatte, um mehr über das Verschwinden der Wiederkehrerin zu erfahren, hatte sie festgestellt, daß sie nicht mehr so leicht in jenen Zustand eintauchen konnte, um das Ich aus der leiblichen Hülle zu lösen. als sie dann noch nach Tourrecandide gesucht hatte, war sie in einem dunklen Raum aufgetaucht, der für sie so groß wie ein saal sein mochte. Aus einer gewissen Panik heraus wollte sie zurück in ihren Körper und hatte dabei gefühlt, wie der dunkle Raum um sie herum zusammenschrumpfte, bis sie ihn durchstieß und dann unvermittelt in ihrem Körper steckte. Eine derartige Erfahrung hatte sie noch nie gemacht. Sonst gelangte sie durch Lebensaura oder Gedankenführung immer dorthin, wo ihre Zielperson war oder wo über ein Thema gesprochen wurde, das sie interessierte. Dann fiel es ihr mit der Gewalt eines einschlagenden Blitzes ein, was passiert war. Sie hatte während der Gefangenschaft in der Zeitfresserkiste geglaubt, in einem goldenen Licht zu baden, sich dann über der Insel der hölzernen Wächterinnen gesehen und vermeint, Tourrecandide als leuchtende Erscheinung auf sich zurasen zu sehen. War sie dabei nicht geschrumpft und war sie nicht wahrhaftig in sie hineingeflogen? Daianira-Lysithea keuchte. Dann mußte es so sein, daß sie nur deshalb von einer alten Frau zur Zwanzigjährigen zurückverjüngt worden war, weil Tourrecandide wie damals Anthelia durch die zwischen ihnen beiden bestehende Verbindung veranlaßt wurde, in ihren Körper einzudringen und dabei alle körperlichen Lebensjahre an sie zurückzugeben. Die Meisterin des Geistwandelns und ehemalige Führerin der entschlossenen Schwestern Amerikas stöhnte gequält auf. "Nicht noch einmal!" Doch nachdem sie eine Minute mit der sie betreffenden Lage gehadert hatte, kehrte eine gewisse Genugtuung zu ihr zurück. Warum eigentlich nicht? Immerhin hatte Tourrecandide sie um das Verdienst gebracht, Anthelia in ein neues, ordentlicheres Hexenleben zurückzugebären. Es amüsierte sie, wenn sie daran dachte, daß Tourrecandide einen schwerwiegenden Fehler begangen hatte, sie, Daianira, in die körperliche Obhut ihrer Cousine Leda übergeben zu haben. Denn hätte sie, Tourrecandide, sie als Konsequenz ihrer Einmischung wörtlich zu ende getragen und sich die Bürde und Würde auferlegen lassen, ihre Mutter zu werden, dann würde die werte Dame wohl heute auf eigenen Beinen herumlaufen. Tja, wenn stimmte, was Daianira gerade dachte, so lag das Schicksal Austère Tourrecandides nun bei ihr oder besser in ihrem Schoß, würde wohl wieder aufkeimen und so heranwachsen, wie Anthelia es getan hatte, bevor diese es geschafft hatte, sie und Tourrecandide gegeneinander auszuspielen und als lachende Dritte von Dannen zu ziehen.

"Ich behalte dich, Kleines. Dich kriege ich gerne als meine Tochter. Hoffentlich behältst du auch dein Gedächtnis. Aber ich werde wohl ab der zwanzigsten Woche zusehen, daß du nicht mit Blanche Faucon oder anderen Freunden und Freundinnen von dir mentiloquierst und sie anflehst, dich mir wieder wegzunehmen. Wenn du da wirklich in mir drinsteckst, dann führt dein weg hinaus nur da durch", dachte sie und streichelte zärtlich über ihr Geschlecht. Sie lächelte. Doch hegte sie da nicht gerade nur eine Wunschvorstellung? Sie würde noch eine Woche warten und auf die möglichen Anzeichen lauschen. Außerdem hatte sie in ihrer Pharmakothek genug Essenzen, um den Gestationsindikator zu brauen, den Leda schon einmal gebraut hatte. Wenn sie sich sicher war, dann würde es ihr eine halloweenmäßige Freude bereiten, ihrer Base und zeitweiligen Mutter gegenüberzutreten und sich ihr zu offenbaren. Denn, das wußte sie, Infanticorpore konnte nur eine Person zur Zeit berühren. Und wenn sie sich nicht irrte und den Ausflug in die dunkle Höhle eben ein Blick in den eigenen Schoß war, dann war sie zur Zeit zu zweit. Sicher würde weder ihre nun wohl wieder Großmutter Eileithyia und Leda es nicht mit Sonorus in die Welt hinausrufen, daß die angeblich so gut versteckte Lysithea innerhalb weniger Tage zu einer jungen Frau in freudiger Erwartung erwachsen war. Und nachdem, wie sie den Rummel um sich und Leda mitbekommen konnte, würden die beiden heilkundigen Hexen nicht noch einmal einen Sturm von Neugier und Entrüstung auf sich ziehen wollen. Doch zunächst würde sie noch in ihrem geheimen Versteck ausharren. Noch hatte sie hier genug zu Essen. In drei oder vier Wochen würde das wohl anders aussehen.

__________

"Und ihr habt immer noch keine Ahnung, wie und wohin Professeur Tourrecandide verschwunden ist?" Fragte Martha Andrews Catherine Brickston, als diese mal wieder bei ihr oben war. Da Martha von ihrer Wohnung aus genauso auf das Internet zugreifen konnte wie vom Computerhaus des Muggelkontaktbüros aus arbeitete sie meistens von der Rue de Liberation 13 aus. Gerade hatte sie ein umfangreiches Suchprogramm erarbeitet, das nach ungeklärten Kindesentführungen im Zusammenhang mit einer bleichgesichtigen Frau suchen sollte. Denn die gerade so noch vereitelte Vampirisierung der beiden Mädchen Justine und Marie hatten alle Zaubereiministerialabteilungen in höchste Alarmstimmung versetzt. Wenn Nyx nun darauf ausging, Kinder zu Ihresgleichen zu machen und sie dann zu ihren Eltern zurückzuschicken konnte sie ein unglaubliches Unheil anrichten.

"Also, was ich von der Liga weiß und anderen sagen darf ist, daß es keine Spuren von Gewaltanwendungen gab und sie vollständig unbekleidet verschwand. Bisher ist sie nicht mehr aufgetaucht."

"Tja, und wird wohl auch nicht mehr auftauchen", entgegnete Martha Andrews. Catherine wollte es nicht so einfach abstreiten.

""Das Programm läuft jetzt jedenfalls. Es prüft alle Nachrichtenagenturen auf Entführungsmeldungen, die im französischen, spanischen und englischsprachigen Raum veröffentlichen. Da ich leider kein Deutsch oder Russisch kann bleibt mir diese Quelle verschlossen", sagte Martha Andrews.

"Das können dann Belle und ihre Mutter klären, die eine kann Deutsch, die andere brasilianisches Portugiesisch", sagte Catherine. "Und wenn du meiner Mutter das Programm vorführst kann sie die betreffenden Stichwörter in Russisch und anderen Sprachen eintippen." Martha Andrews nickte. Sie startete das Programm, nachdem sie alle anderen Internetanwendungen beendet hatte, um möglichst die ganze Bandbreite auszunutzen. DSL war schon ein Fortschritt in der weltweiten Informationstechnik. Als das Programm anfing, das weltweite Datennetz zu durchforsten, klingelte das Telefon. Catherine verließ diskret das Arbeitszimmer und winkte zum Abschied. martha nahm ab und hörte, daß ihre Schwippschwägerin Monica Gilmore dran war. Mit der hatte sie zuletzt vor zwei Wochen telefoniert, weil Charles wissen wollte, ob Julius noch fleißig lerne. Eigentlich ging sie davon aus, daß die Gilmores zu sehr auf Claudes und Alisons Seite stünden und sie deshalb mieden. Doch was sie nun erfuhr veränderte eine ganze Menge.

"... Ja, und Claude ist dann nach Spanien geflogen, ohne Alison", hörte Martha Andrews. "Angeblich bräuchte er mal Urlaub vom Alltag, und Alison hätte zu der Zeit ja ihr Bridge-Turnier gehabt und Claudes Studienkamerad Carlos da wohl gerade ein paar Wochen frei. Alison ging davon aus, daß Claude sich in Spanien was jüngeres suchen könnte, weil es zwischen den beiden fast kaputt sei."

"Achso, dann war Claude jetzt in Spanien und hat dort diesen Carlos besucht, von dem Richard mir mal erzählt hat, daß er ein großer Schürzenjäger sei. Wohnt der nicht irgendwo in Andalusien, Sevilla, Granada oder Malaga?" Fragte Martha Andrews laut. Denn im Moment konnte sie ja keiner hören, dachte sie. Das Bild an der Wand, dessen Motiv im moment ruhig auf einem Stuhl saß und das silbergraue Katzentier auf dem Schoß streichelte, hatte sie im Moment vergessen, weil sie ja dachte, nur mit Verwandten zu reden.

"ich weiß das auch nicht so genau. Alison meinte, er habe einen Flug nach Sevilla gebucht, und wolle von da aus nach Granada und dann nach Malaga. Aber das ist jetzt nicht so wichtig, Martha. Wir fürchten, daß Claude da unten mit irgendwem zusammengetroffen ist, der mit ihm was angestellt oder ihn zu was beauftragt hat. Jedenfalls kam er Alisons Aussage nach wie ausgewechselt zurück und ..."

"Wie bitte?! Wie ausgewechselt?" Fragte Martha Andrews sehr erschrocken.

"O Mann, wo du jetzt so darauf anspringst ... Jedenfalls habe ich danach nur noch zwei mal mit Alison telefoniert. Dann riß der Kontakt ab", schilderte Monica Gilmore ihrer Schwippschwägerin und erzählte ihr von der scheinbar nutzlosen Fahrt nach London und das, was sie von dem Jungen Ben und dessen Vater, wie auch den anderen einfachereren Leuten da mitbekommen hatte.

"Ich sollte mir angewöhnen, immer anderswo einzukaufen, das keiner über mich mehr weiß als, daß ich die Sachen bezahlen kann", seufzte Martha. Dann sagte Monica etwas, was Marthas innere Alarmglocken schrillen ließ.

"Diese Lieferantin hat wörtlich gesagt: "Wenn ich Mrs. Andrews nicht im Spiegel hätte sehen können hätte ich geglaubt, einen Vampir vor mir zu haben, so bleich und ausgezehrt kam sie mir vor."

"Moment, die hat wirklich behauptet, daß Alison bleich wie ein Vampir aussah, mit blutunterlaufenen Augen?" Fragte Martha laut und sah nun doch auf das Bild an der Wand, dessen Motiv gerade ebenfalls sehr rege wurde. Das Katzenwesen mit dem löwenartigen Schwanz hüpfte vom Schoß der gemalten, die sich sofort hinstellte und auf das Telefon deutete. Martha drückte die Lautsprechertaste, so daß beide hören konnten:

"... blutunterlaufenen Augen und käseweiß. Aber Vampire gibt es nur als kleine Fledermäuse in Südamerika. Dracula und Genossen gibt's nur in Büchern und Filmen."

"Gut, mal davon abgesehen, weißt du noch mehr?"

"Ja, daß sie Claude immer so begehrlich angeguckt haben soll und daß der kleine Ben eben von den Geräuschen erzählt hat, die so klängen wie bei seinen Eltern, wenn sie die Schlafzimmertür fest zugesperrt hätten. Vielleicht haben die dem eine Droge mitgegeben, die Frauen unterwürfig hält. Wenn ich bedenke, daß ich das Zeug dann vielleicht auch abbekommen hätte."

"Wo genau war er?" Wisperte die gemalte Viviane Eauvive auf dem Bild über Marthas Schreibtisch. Martha fragte deshalb noch mal:

"Und Claude hat sich mit seinem Studienkameraden in Sevilla getroffen oder wo genau?"

"Ja, in Sevilla. Da hat er ihn zumindest getroffen. Alison konnte den aber nicht erreichen. Sie mußte sich das von ihm sagen lassen, als er sie anrief. Er war da wohl für einige Tage, ist dann nach Granada und dann runter nach Malaga zum Sonnenbaden. Da irgendwo muß es ihm dann wohl passiert sein. Wo du das mit Ausgewechselt so heftig genommen hast. Charlie ließ eine Bemerkung fallen, daß man hinter den Andrews' her sei. Deshalb rede ich ja gerade mit dir."

"Nett, für eine lebensrettende Warnung bist du aber spät auf den Kern gekommen", schnarrte Martha. Doch dann fragte sie rasch noch, ob sie Claude selbst gesehen habe und wie seine Stimme geklungen habe. Sie erfuhr, daß es seine Stimme gewesen sei. Sowas konnte man nicht ohne weiteres mit nichtmagischen Mitteln nachmachen.

"Pass mal auf, Monica. Du wartest jetzt noch genau zwei Tage. Dann klärst du mit deinen Nachbarn, ob Alison allein im Haus ist und rufst dann die Polizei an. Sollte sie von Claude gefangen und durch Drogen gefügig gehalten werden, so ist das eine Angelegenheit für Scotland Yard. Insofern kannst du vielleicht froh sein, daß er dich und Charles nicht reinlassen wollte."

"Vielleicht ist der auch jetzt, wo er wen anderen hat, scharf darauf, sich von Alison ihren Anteil am Haus unserer Großeltern überschreiben zu lassen. Oma Agatha klagt über Herzbeschwerden. Könnte sein ..."

"Wenigstens nett, daß du mich informiert hast, Monica. Wenn in zwei Tagen alles als vorübergehende Krankheit entlarvt wird können wir ja aufatmen", sagte Martha.

"Das geht jetzt schon mehr als zwei Wochen. Aber wenn sie einen Arzt aufsucht kriege ich das in Birmingham ja nicht mit", erwiderte Monica Gilmore. "Also warte ich jetzt noch zwei Tage. Aber wenn er sie bis dahin umbringt?"

"Dannhätte er es schon gemacht. Und als Anwalt hätte er genau gewußt, wie er es drehen muß, daß es als Selbstmord rüberkommt."

"Dann sollte ich besser gleich die Polizei anrufen, damit nichts passiert."

"Nein, besser erst in zwei Tagen, wenn Claude nicht mehr damit rechnet. Im Moment dürfte er deiner Schilderung nach sehr alarmiert sein", erwiderte Martha und fügte in Gedanken zu: "Genau wie ich gerade." Laut fügte sie noch an: "Er rechnet jetzt damit, daß die Polizei oder ein Nachbar bei ihm klingelt. Wenn er Alison wirklich unter einem bestimmten Einfluß hält hat er sie im Moment nicht in der Nähe. Wenn die Polizei in zwei Tagen bei ihm anrückt und ihn nicht vorfindet, kann sie ihn zur Fahndung ausschreiben."

"Gefällt mir nicht, solange zu warten. Was ist mit dir oder Julius, wenn wirklich wer hinter eurem Erbe her ist?"

"Julius ist in einer nach außen gut abgeschirmten Schule, wo kein Fremder reinkommt, und ich bin aus bestimmten Gründen in einem Haus untergebracht, daß über ein ausgeklügeltes Sicherheitssystem verfügt, wo so schnell keine bösen Leute durchbrechen können. Aber ich werde mich umhören, ob jemand sich zu sehr für mich und meinen Sohn interessiert. Jedenfalls vielen Dank für deinen Anruf. Grüße Charles bitte von mir und Julius."

"Kann Charles den wirklich nicht anrufen?" Fragte Monica Gilmore.

"Die haben nur ein paar Kartentelefone da unten, und die Karten kosteneine Menge Geld, damit die Leute sich da auf das Lernen konzentrieren können", erwiderte Martha. Fast hätte sie angeboten, er könne Julius' Schule anfaxen. Denn es gab eine Faxnummer in Paris, die mit einem Eulenpostamt in Verbindung stand und so Nachrichten aus der magielosen Welt in die Zaubererwelt weitergeben konnte und umgekehrt. Doch so wie die Dinge standen war es ihr nicht recht, wenn Julius auch noch irgendwie in diese Sache hineingezogen wurde. Der hatte wirklich schon genug um die Ohren gehabt und sollte endlich nur ein Schüler unter Schülern sein, auch wenn sie wußte, daß die Geister, die er gerufen hatte ihn nicht so einfach in Ruhe lassen würden.

Als Monica sich auch verabschiedet hatte legte Martha auf. Dann sah sie Vivianes Bild an: "Was ist an seinem Urlaubsort so brisantes, daß es ihn und Alison derartig verändern kann? Fragte sie. "Könnte es sein, daß diese Vampirin dort schon Leute sucht?"

"Ich fürchte, selbst Nyx würde sich hüten, in dieser Gegend ihr Unwesen zu treiben", erwiderte Viviane. "Claude ist der leibliche Bruder von Richard, richtig?" Fragte Viviane.

"Ja, der ältere der beiden und .... O Verdammt!!" Marthas undamenhafter Fluch explodierte so heftig aus ihrem Mund heraus, daß die Federn der Schreibtischlampe nachschwangen. Hatte Almadora ihr nicht erzählt, daß es außer dem Monster, das Richard in seine Gewalt gebracht hatte, noch mehrere gäbe und eines davon genau in dieser Gegend umging? Viviane schien diese nur gedachte Frage mitgehört zu haben und sagte schnell:

"Ich gebe das an Almadora weiter. Es könnte sein, daß dein Schwager von der Schwester derer aufgestöbert wurde, die deinen Mann vereinnahmt hat. Die Hinweise sprechen dafür, die eindeutigen Geräusche, das ausgezehrte Aussehen deiner Schwippschwägerin und daß Claude erst kalt und abweisend war und dann wie ausgewechselt zurückkehrte. Ich bin bald wieder da." Sprachs und verschwand durch die linke Seite des Bilderrahmens. Martha hockte auf ihrem Stuhl und überlegte. Das mußte geprüft werden. Sollte wirklich eine dieser Abgrundsschwestern Claude Andrews erwischt haben? Durchaus möglich, daß er seiner Frau auch nur starke Drogen verabreicht hatte, weil sie sich von ihm scheiden lassen wollte oder sowas. Aber dann paßte die Erwähnung von Beischlafgeräuschen nicht in das Muster. Was hatten ihr alle erzählt, die sich mit diesen Monstern auskannten? Sie saugten ihren Opfern das Leben aus, indem sie mit ihnen schliefen. Entweder entrissen sie ihnen alle Lebenskraft, zerstörten ihren Geist oder hielten sie gierig nach mehr und kultivierten sie als ihre Untergebenen, ihre willfährigen Liebessklaven. Falls Claude wahrhaftig mit so einem Ungeheuer zusammengestoßen war, wie war es passiert? Wo genau hatte er es getroffen? Wann war das? Warum war er wieder von ihm zurückgelassen worden? Sollte er für dieses Biest, das wie eine überragend schöne Frau aussah, seine eigene Ehefrau auszehren oder kultivieren? Von den sechs Ws war nun noch das Wer übrig. Wer war dieses Wesen? Dann fiel ihr ein, daß es ein Jahrhundertzufall sein mochte, daß Claude ausgerechnet diesem Ungeheuer über den Weg gelaufen war. Hatte da jemand dem Zufall nachgeholfen, damit er diesem Geschöpf auf jeden Fall über den Weg lief? Dann war die Wer-Frage anders zu stellen: Wer hatte die Zusammenkunft arrangiert? Als erstes fiel ihr da nur der Name Carlos ein. Er leuchtete förmlich vor ihrem inneren Auge. Sie wußte nichts genaues über ihn, nur das was Richard ihr von Claude erzählt hatte. Es sollte ein junger Bursche gewesen sein, der nichts zwischen achtzehn und achtunddreißig ungejagt ließ. Wenn dieses Geschöpf sich solchen Männern anbot, um ihnen zu geben, wovon sie nur zu träumen wagten, konnte sie so einen auch gut für sich vereinnahmen, ihn als sprudelnde Energiequelle umfunktionieren, so wie diese Hallitti es mit Richard getan hatte. "Hoffentlich kriegen wir nicht noch einen Massenmörder in der Familie", dachte sie sehr betrübt.

"In Ordnung, Martha! Du wirst in der Casa Celeste erwartet. Almadora weiß mittlerweile, daß du das Flohnetz benutzen kannst."

"Abgesehen davon, daß mich diese Feuerwirbelei immer noch sehr schwindelig macht muß ich nachsehen, ob ich noch genug Galleonen habe. Ansonsten muß ich Catherine um Gold bitten. Dann kann ich der gleich sagen, was los ist."

"Das wollen wir erst klären. Vielleicht ist es ja doch etwas anderes, etwas nichtmagisches. Das soll jemand bestimmtes herausfinden."

"Lerne ich diesen bestimmten oder diese bestimmte kennen?" Fragte Martha.

"Almadora bedauert, dir das nicht mitzuteilen, weil es eine Person ist, die sehr großen Wert darauf legt, die nächsten Monate und Jahre nicht in der Zauberer- und Muggelwelt als Fachkundig für die Abgrundstöchter aufzufallen. Und wenn es wirklich was nichtmagisches ist, dann hat diese Person auch die Möglichkeiten, die nichtmagischen Ordnungshüter darauf anzusetzen. Mehr darf ich dir nicht erzählen."

"Soeiner wie Zachary Marchand?" Fragte Martha.

"Wie erwähnt darf ich dazu nicht mehr sagen", erwiderte Viviane. Doch Martha war sich sicher, daß es um ihre Mundwinkel verräterisch gezuckt hatte. Noch ein getarnter Zauberer oder eine getarnte Hexe, die in der Muggelwelt bei der Polizei arbeitete, um bei Aufkommen magischer Vorfälle einschreiten zu können. Gut, das sollte ihr auch genügen. Sie suchte nach genug Galleonen und entzündete den Kamin im Wohnzimmer. Dann warf sie das Flohpulver hinein, wartete, bis eine smaragdgrüne Flammenwand aufloderte und kletterte auf den Kaminrost. "à la Frontière!" Rief Martha Andrews aus und schloß die Augen.

_________

Vergilio Fuentes Celestes leistete Maria Valdez, ihrer Tochter und Rottatze Gesellschaft. Sie hatten sich in einem kleinen Raum zurückgezogen. Marisol schlief, von einem kurzzeitigen Schlafzauber betroffen, in den Armen ihrer Mutter. Der Kniesel lag halb zusammengerollt auf Marias Schoß und schnurrte sanft. Doch als es im Wohnzimmer Almadoras rauschte wie ein heranbrausender Schnellzug, hob das Tier den Kopf und blickte zur Tür. Doch dann kuschelte der Knieselkater sich wieder an Marisols kleinen Körper und schnurrte weiter.

"Wir bleiben hier, Maria. Almadora wird uns nachher alles genauer erzählen, was wir nicht mithören können", flüsterte Vergilio. Doch Maria Valdez konnte wunderbar mithören, was die Fremde, die mit Almadora ein leicht britisch gefärbtes Spanisch verwendete besprach. Es ging um einen Anruf, den die Besucherin erhalten hatte, von der Schwester einer Schwägerin von ihr, um den Bruder ihres Mannes, der ein Opfer einer anderen Kreatur vom Schlage des schönen Monsters geworden sei und daß die Polizei in zwei Tagen das Haus des Verdächtigen besuchen solle. Maria hatte von Viviane, der gemalten Hexe, ja schon einiges mitbekommen. Doch nun erfuhr sie alle Einzelheiten aus dem Telefongespräch und wurde zu ihrem Schwager Claude befragt, wie sie ihn kennengelernt hatte, welchen Charakter er besaß und wie er mit ihr und Julius umgegangen sei. Dann sagte Almadora:

"Nun, wo ich von dir alles noch einmal aus erster Hand erfahren habe bestärkt mich das eher in der Vermutung, daß es jene Kreatur ist, die in meinem schönen Land ihr Unwesen treibt. Ich gebe dir auch recht, daß es kein Zufall sein kann, daß dein Schwager mit diesem Wesen zusammentraf. Es besitzt Unterworfene in der Muggelwelt. Es kennt sich dort also aus und kann durchaus mitbekommen haben, was mit dem Mann passiert ist, den ihre Schwester unterworfen und deshalb ihr widernatürliches Dasein ausgehaucht hatte. Da sie in den Geist eines Unterworfenen hineinsehen kann könnte sie auf die Idee gekommen sein, daß einer von denen den Bruder dieses Mannes kennt. Was lag da näher, als den Unterworfenen anzuweisen, diesen Bruder herzulocken und ganz unbefangen und unverdächtig mit ihr zusammenzubringen?"

"Dann wäre es günstiger gewesen, meiner ganzen Verwandtschaft zu raten, sich erst einmal von diesen Orten fernzuhalten?" Fragte die Besucherin, die Almadora mit Martha angesprochen hatte.

"Nur wenn dein werter Schwager nicht so sehr darauf bestanden hätte, deinen Sohn in seine Obhut zu nehmen. Falls er wirklich das Opfer dieser dämonischen Frauengestalt wurde, so können wir alle von Glück sprechen, daß Julius nicht bei ihm unterkam. Und er hat keinen Sohn?"

"Dann wäre der wohl ein paar Jahre vor Julius nach Hogwarts gegangen", erwiderte Martha. "Nein, er hat überhaupt keine Kinder. Alisons Schwester deutete an, daß Alison sich wohl hat unfruchtbar machen lassen, weil sie lieber Karriere machen wollte und Claude sich damit abgefunden hat."

"Dann kann sich zumindest nicht wiederholen, was mit Julius passiert ist. Denn dieses Frauenzimmer bevorzugt die heimliche Unterwerfung. Deshalb ist ihm so schwer beizukommen. Da es aber nach der Vernichtung Volakins, von der du ja laut viviane mitbekommen hast, viel Kraft eingebüßt hat, dürfte ihr der Drang nach frischer Lebenskraftzufuhr stehen. Ein Mann mit unweckbarer Zauberkraft kann ihr dabei helfen, noch mehr Lebenskraft zu erbeuten, wobei er offenbar dazu angehalten wurde, seine Frau als Spenderin zu benutzen. Wenn man eine Kuh schlachtet, kann man für eine Zeit viel Fleisch von ihr haben. Will man aber über Jahre Milch haben, muß man sie am Leben halten. Möglich ist auch, daß Claude ähnlich einem Vampir den Drang nach weiterer Lebenskraft auf seine Frau überträgt, die dann ebenfalls solche Beute machen kann, wenn auch im sehr stark verringertem Maße wie das Original. Das hat es leider schon gegeben, im siebzehnten Jahrhundert, wo besagte Kreatur ähnlich einem Blutsauger ihren Trieb auf eine Kette von vier Menschen übertrug. Insofern hat Alisons Schwester wahrlich Glück gehabt. Es hätte sein können, daß Claude sie in kurzer Zeit gefügig gemacht hätte. Dann hätte diese vielleicht ihren Mann ausgezehrt, und alle hätten dann für dieses Monstrum gute und langfristige Spender abgegeben. Hoffentlich können wir die Kette noch unterbrechen und dieser Höllenkreatur die Nahrungszufuhr abwürgen. Julius ist dort, wo er ist erst einmal in Sicherheit. Und du solltest dich ganz normal verhalten. In deiner Arbeitsstelle bist du gut beschützt und zu Hause vor Wesen wie ihr absolut sicher."

"Soll ich meine Nachbarin Catherine Brickston einweihen?"

"nein, sie würde es ihrer Mutter mitteilen und diese wiederum könnte finden, Julius gesondert zu beschützen, nachdem er fast ein Opfer dieser Schlangenbestien geworden ist. Vielleicht gelingt uns ein ähnliches Manöver, wie es die Wiederkehrerin durchgeführt hat, um den Schlupfwinkel der Kreatur zu finden und für Unbeteiligte ungefährlich auszuheben."

"Du teilst es mir mit, wenn ihr näheres wißt?" Fragte Martha.

"Ich teile es dir mit und auch, falls die Liga gegen dunkle Künste einbezogen werden soll. Vielleicht gelingt es uns, das Feuer auszutreten, bevor es zum Flächenbrand geworden ist. Kehre nun bitte wieder in dein Haus zurück, Martha!"

"Ich hoffe, ihr könnt Claude und Alison unversehrt zurückholen. Und wenn es keine dunkle Kreatur ist, dann hoffe ich, daß ihr ihm helft, von dieser Sache loszukommen."

"Das hoffen wir auch, Martha. Komm gut nach Hause!"

"Wir sehen uns dann wohl Weihnachten wieder", grüßte Martha zurück. Dann hörte Maria noch den Ausruf "Frontera!" Dann kam wieder das laute Rauschen wie ein vorbeirasender Schnellzug. Dann war Almadora wieder allein, wenn Maria vom Bildnis Viviane Eauvives absah.

"Ihr könnt jetzt rauskommen, Maria und Vergilio!" Rief Almadora. Das weckte die kleine Marisol. Die quängelte verschlafen, während Rottatze sich streckte und samtpfötig von Marias Schoß heruntersprang.

"Du bist müde, kleine Kronprinzessin. Wird Zeit fürs Bettchen", sprach Maria auf ihre quängelnde Tochter ein. Vergilio folgte derweil Rottatze, der gerade mit hochaufgerichtetem Schweif aus dem Zimmer stolzierte. Alle vier Pfoten schienen in kupferroten Socken zu stecken. Doch wer Krach mit ihm bekam, konnte auch die daraus hervorschnellenden Krallenkennenlernen. Mancher Hund hatte es sehr einschneidend zu spüren bekommen, sich mit Rottatze nicht anzulegen. Auch manch vorwitziger Rabe hatte lernen müssen, daß es besser war, lieber gleich von Rottatzes Futter wegzubleiben als zu viele Federn lassen zu müssen.

"Habe ich richtig gehört, daß diese Monica Gilmore erst in zwei Tagen die Polizei auf ihren Schwager ansetzen soll?" Fragte Maria Valdez.

"Genau. Das hat Martha deshalb gemacht, um uns, also die Zaubererwelt, vorwegzuschicken und zu erkunden, ob die gewöhnliche Polizei damit fertigwerden kann oder nicht. In diesem gesonderten Fall könnte jeder gewöhnliche Polizeimann sein Leben riskieren, wenn er diesen Claude Andrews heimsucht."

"Und du möchtest mich hinschicken, um ihn gegebenenfalls zu befreien, falls er unter dem Bann dieser Kreatur steht?" Fragte Maria Valdez.

"Du bist die einzige, die sicher sein kann, von der Kreatur selbst nicht beeinflußt zu werden, wenn sie denn dahintersteckt. Außerdem kennst du die Kampftechniken der magielosen Welt und hast eine brauchbare Legende, um dein Auftreten dort zu rechtfertigen."

"Und zu testen, ob nicht doch wer von meinen ehemaligen Kollegen in den Staaten dahintersteigt, daß ich nicht tot bin?" Fragte Maria.

"Die Legende mit der entfernten Verwandten dürfte ihnen reichen", sagte Almadora. Dann klügelten sie aus, wie Maria Valdez unbemerkt nach London kommen sollte. Diese kannte dort einige Leute, die gute Abhörmikrofone verkauften. Denn sie wollte erst von außen prüfen, was im Haus vorging. Martha Andrews hatte Almadora die Adresse aufgeschrieben. Das war ein Haus in Mayfair.

__________

"Die Zeit muß um sein, wo dich Marie Laveaus Knechte schützen konnten", knurrte Stillwell, als er seine angewachsene Armee durch Dschungel und Flüssen zu einem der heimlichen Startbasen gelotst hatte. Er nahm seine neue Trommel, die er aus dem Schädel eines ihm quergekommenen Schamanen und der Haut eines erfahrenen Kriegers gefertigt hatte und stimmte einen Singsang an, der seine Worte und die verheerende Kraft, die sie bargen, auf die Person schleudern sollte, deren Gesicht er seit dem ersten Zusammentreffen nicht vergessen hatte. Sicher wäre der böse Zauber wirkungsvoller, wenn er zu dem Gesicht auch den bei der Geburt verliehenen Namen gewußt hätte. Doch mit dem Gesicht kam einer wie Samedis Sohn schon aus. So konzentrierte er sich und schickte seinem fernen Feind die Worte des Schmerzes und der Schwäche entgegen. Er würde ihn langsam und qualvoll töten. Die mächtige Kraft des Totsingens konnte er zwar nur auf direkte Sicht entfalten. Doch der Feind würde unter den Wörtern der Qual langsam dahinwelken wie eine Blume in der Wüste. Er fühlte keinen Widerstand. Er spürte mit wachsender Begeisterung, wie sein schwarzmagischer Fernangriff sich dort bündelte, wo er es haben wollte. Ja, diesmal hatte er den frechen Weißen in der Voodoozange. Jetzt mußte der doch schon stöhnen. Gleich würde er in großer Pein schreien und am Ende in einer unsäglichen, der Hölle auf Erden entsprechenden Todesqual am Boden liegen, bis er nicht mehr atmen konnte. Doch die Zeit verging. Die auf den fernen Gegner geschleuderte Magie fand immer noch einen Halt, der stark aber nicht stark genug darauf reagierte. Stillwell trommelte und sang, tanzte und schrie seinen Zauber hinaus in das Raum-Zeit-Gefüge. Dann passierte es. Als habe ein Blitz aus heiterem Himmel ihn voll getroffen krümmte sich Stillwell laut schreiend zusammen und stürzte wild zitternd zu Boden. Die ihn umstehenden und ohne Anweisungen wie Wachsfiguren wirkenden Zombies flogen wie vom Wind geblasenes Herbstlaub in alle Richtungen davon und landeten knapp hundert Meter entfernt. Stillwell meinte, seine Knochen würden kochen. Geblendet und wie von einem lauten Knall betäubt lag er am Boden. Die Trommel war ihm entfallen und rollte über die Erde. Wimmernd und winselnd wälzte sich der angebliche Sohn des Totengottes auf dem plattierten Boden des eroberten Militärflughafens. Dann hörte er die Stimme des Feindes in seinem Kopf:

"Lass deine schmutzige Magie von mir, Gordon Stillwell alias Ruben Coal. Und halte dein wandelndes Aas aus meinem Land heraus. Am Besten verbrennst du es gleich da, wo du bist."

"Wie hast du das gemacht?" Schrillte Stillwell nur mit dem Geist, weil sein Körper gerade steif dalag, als sei er selbst zum Zombie geworden.

"Ich habe gelernt, Stillwell. Ich habe gelernt, welche fiesen Voodoozauber du mir um die Ohren hauen kannst und so getan, als würden sie mich fertigmachen. Dann habe ich sie auf dich zurückgeworfen. Wenn du je wieder bei uns ins Land willst, mußt du an mir vorbei."

"Ich werde dir die Geister des gnadenlosen Todes auf deinen gebleichten Hals jagen und sie deine Seele fressen lassen, Kerl. Sage mir deinen Namen!" Befahl Samedi, der versuchte, den Kontakt zu halten. Doch der war bereits abgerissen. Er quälte sich auf die Beine und suchte seine Trommel. Als er sie fand versuchte er es erneut. Wieder meinte er, leichtes Spiel zu haben, bis ihn erneut etwas wie ein unsichtbarer, vom Himmel auf ihn niedersausender Blitz traf und ihm diesmal die Besinnung raubte.

__________

Es war riskant, ohne die neuen Schutzartefakte einen Angriff des Voodoomeisters zu erwarten. Doch Marchand hatte seinen neuen Chef davon überzeugen können, daß man ihn länger aufhalten konnte, wenn der Feind sich vor Wut und Selbstbestätigung nur auf seinen bisher einzig bekannten Feind konzentrierte, der sich ihm erfolgreich entgegenstellen konnte. Die Rechnung ging auf. Am zwanzigsten Oktober erfolgte der magische Fernangriff. Marchand saß auf der Bank vor dem Haus, in dem er auf Anweisung Davidsons die nächsten Wochen wohnen sollte, wenn er nicht gerade bei der Arbeit war, wo er die Schutzamulette zu tragen hatte. Er fühlte, wie etwas in seine Glieder eindrang und sie schwächte. Doch sofort hielt etwas gegen die Schwächung an, ein Durchhaltezauber, den der Schamane Louis Anore ihm mitgegeben hatte und von dem Voodoomeister nicht als ihm direkt entgegenwirkende Kraft erkannt werden mochte. Immer stärker wurde der Schwächungszauber. Dann kamen noch angsteinflößende Worte in seinem Verstand hinzu. Er sah schattenhafte Ungeheuer, die um ihn herum tanzten und ihn zu beißen ansetzten. Diese Vision ermöglichte ein weiterer Zauber, der ihm von einer Voodooexpertin mitgegeben worden war und die beschworenen Qualen wie drohende Geisterwesen anzeigte. Um die wirklich heftigen Schmerzen, die ihm der Feind zudachte abzuwettern hatte er eine Art Voodoo-Blitzableiter erhalten. Es war eine ihm täuschend ähnliche Holzpuppe, die mit seinem Blut getränkt war und mit verschiedenen Symbolen beschrieben und bezaubert war und unmittelbar mit ihm in körperlicher Verbindung stand. Auf diese Puppe ließ Marchand durch Handauflegen alle ihm zugedachten körperlichen Schmerzen überfließen, die er nur als sachtes Kribbeln und Zwicken empfand. Er durfte die Puppe nur nicht loslassen und schon gar an jemanden verlieren, der ihm übles wollte. Denn die Kehrseite war, daß jemand über diese Puppe genau das mit Zach Marchand anstellen konnte, was Stillwell gerade aus der Ferne probierte, wenn er Nadeln oder brennende Objekte damit in Berührung brachte. Doch irgendwann fühlte er, daß die ihm angepaßte Voodoopuppe sich mehr und mehr erhitzte. Wenn er nicht wollte, daß sie verbrannte und ihn womöglich gleich mit, mußte er schnell ins Haus und den Ort erreichen, der ihn vor jedem bösartigen Zauber schützte. So lief er in das Haus, wobei er schon merkte, wie es ihm besser ging. Dann öffnete er die Tür zu einem bestimmten Raum, ließ die Puppe davor fallen und warf sich hinein, wobei er noch meinte, den Cruciatus-Fluch abzubekommen. Doch sobald er in diesem Raum war, fühlte er sich von allen Visionen und Empfindungen frei. Er wartete einige Sekunden. Dann sprang er wieder heraus und nahm die Puppe. Sie war noch stark erhitzt. So konnte er mit seinem eigenen Mentiloquismus, wobei er die Puppe an die Stirn hielt den Feind herausfordern und ihm mitteilen, daß er so nicht zu schaffen sei. Es vergingen einige Sekunden, bis er wieder jene Visionen von bedrängenden Schatten sah und die ihm schadenden Worte im Kopf hörte. Als die Puppe in seiner Hand erneut aufgeheizt wurde, wartete Marchand noch eine halbe Minute länger, bis ihm die kleine Figur in der Hand zu heiß zu werden drohte, warf sie von sich und sich selbst in den schützenden Raum hinein, wobei er meinte, in einen ihm geltenden Gewitterblitz hineinzuspringen. Doch innerhalb des Raumes war er wieder frei von allen üblen Begleiterscheinungen. Diesmal verzichtete Marchand darauf, den Gegner zu provozieren. Denn ihm war klar, daß der die geballte Wucht seiner Schadensmagie um die Ohren bekommen haben mußte. Er wartete einige Minuten und verließ den Raum. Seine Voodoopuppe hatte sich wieder abgekühlt und war noch völlig unversehrt. Er schloß sie ein und ging in den schützenden Raum zurück, wo er sich auf eine Liege legte und schlief, bis sein mechanischer Wecker ihn wachrufen würde. In diesem Raum des absoluten Friedens würde ihn kein Fernfluch treffen. Und jeder andere üble Zauber, den er am Körper oder in sich trug wurde hier restlos zerstreut.

"Zwei Runden, Gordy. Mal sehen, ob du morgen noch ein paar mit mir durchkämpfen willst."

__________

"Mann, Mädel, aus dir kann man glatt zwei machen", keuchte Fred Warner. Er wußte nicht, ob er träumte und wenn ja, ob was gutes oder schlimmes. Er hatte sich am Abend des zwanzigsten Oktobers doch nur in New York ein wenig umgesehen, um was für eine unverbindliche Nacht aufzutun und hatte dann in einer kleinen, verschwiegenen Bar diese Eurasierin mit den blaugrünen Augen getroffen. Diese Frau hatte ein geniales, rotgoldenes Kleid getragen und ihre Lippen in einem höllenfeuerroten Ton geschminkt, aber sonst keine Gesichtsbemalung getragen. Er hatte erst gedacht, eine vom horizontalen Gewerbe zu treffen. Doch sie war eine Jägerin nach heißen Stunden, wie er diese herrliche Zeit herbeisehnte. Er kannte eine Absteige, in der er schon Mädchen verschiedener Größen und Farbtönungen mit seiner Manneskraft durchdrungen hatte. Aber die hier, diese Phoenix, die ihren Nachnamen natürlich nicht erwähnt hatte, war die Königin des Kamasutras. Denn sie hatte interessante Ideen und konnte ihm noch neues beibringen. Und sie hielt ihn gut in Bewegung. Als es mal aussah, als könne er nicht mehr mithalten, hatte sie ihm ein leicht bitter schmeckendes Gebräu zu trinken gegeben, das sie Venusblut genannt hatte. Und da war wohl wirklich die Kraft der römischen Liebesgöttin in ihn eingeströmt und hatte ihn mehr als fünf Stunden lang mit ihr zusammen sein lassen. Da stank die kleine blaue Wunderpille vollkommen ab, die seit diesem Jahr das Durchhaltevermögen der Männer verbessern half. Das einzige, was ihn etwas unheimlich stimmte war, daß sie auf Präservative verzichtet hatte. Wenn die so heiß war, daß die jeden ranließ, dann konnte die bei dieser Grundhaltung leicht was abbekommen. Doch sie hatte ihm versichert, daß sie auch dagegen ein altes Hausmittel hatte.

"Du sagtest, daß wir uns nach dieser Nacht nicht mehr treffen sollen. Dann muß ich alles von dir mitnehmen, was du mir geben willst, Freddy", stöhnte Phoenix, als sie kurz vor dem nächsten Höhepunkt war.

Als die Sonne in das Zimmer fiel und die Haut der fleischgewordenen Sünde in goldenem Glanz erstrahlen ließ, ließ die Wirkung des Potenzgebräus langsam nach. Fred wußte, daß er bald schlafen mußte. Ans Jobben war heute nicht mehr zu denken. Und morgen wohl auch nicht. Sollte sein Boß denken was er wollte. Gegen den Dreck, den er für einen Mickerlohn von gerade fünf Dollar die Stunde machen mußte, war das mit Phoenix die große Offenbarung gewesen. Mochte er dafür in der Hölle landen und vielleicht des Teufels Großmutters Bettwärmer werden. So wußte er doch zumindest jetzt, wofür er bisher gelebt hatte.

"Hast du Angst, das mit uns könnte dir das Leben versauen, Süßer?" Fragte sie ihn, als sie endlich genug von ihm hatte. "Mußt du nicht. Ich habe da noch was für dich, daß du unser Spiel ohne Angst vor Folgen in Erinnerung behalten kannst."

"Du bist wohl 'ne Hexe, oder was", röchelte Fred am Rande der Atemnot.

"Aber klar doch, Kleiner."

"Dann kriegt mich dein Boss wohl nach der Abberufung, was?" Fragte Fred.

"Ich habe keinen Boss. Ich schaffe für mich, Honigstängchen."

"Dann bist du er? Die sagen, der könnte auch als geiles Luder rumlaufen und so Typen wie mich vernaschen. Wie nannten die das noch mal? Sukumbus oder so ähnlich."

"Neh, Freddy, sowas bin ich nicht. Hörner stehen mir nicht, und mit der Brut dieser Nachtschlampe aus dem Orient habe ich es auch nicht. Im Gegenteil. Eine von denen hätte dich nicht nur so herrlich genossen wie ich, sondern den Rest von dir eingepackt und mitgenommen. Ich laß dich aber in dein Leben zurück."

"Ähm, dein blaues Zeug spült alles weg?" Fragte er.

"Keine Sorge, Kleiner, wenn ich ein Baby von dir haben wollte, hätte ich dich gleich zu mir nach Hause mitgenommen und an mir festgebunden, bis mir der Bauch geschwollen wäre."

"Mir stehen auch keine Hörner", grummelte Fred. Dann trank er eine Flüssigkeit die seine Erschöpfung beseitigte. "So, damit du dieses Quietschbett hier bezahlen kannst und nicht morgen unter einer Brücke schlafen mußt", lachte Phoenix und glitt in ihre sagenhaft hautenge unterwäsche. Sie streifte sich mit der Gekonntheit einer Expertin das Kleid über und half auch Fred, wieder öffentlichkeitstauglich verhüllt zu sein. Dann verließen sie beide das Lotterzimmer und trennten sich nach hundert Metern.

Anthelia gab sich noch einige Minuten dieser herrlichen Erschöpfung hin, die sie sich erarbeitet hatte. Dieser Knabe würde keine andere Frau mehr so heiß finden wie sie, und sie hatte die Gier, ihn vollständig zu verschlingen unterdrücken können. Schade nur, daß sie keinen Auffrischungstrank nehmen konnte. Doch ihr Körper neutralisierte jeden in ihn eingefüllten Zaubertrank sofort. Nur die Tränen der Ewigkeit wirkten und ließen nicht zu, daß etwas anderes dazwischenkam. Nächstes mal, wenn ihr Leib nach körperlicher Liebe verlangte, würde sie besser außerhalb der USA auf die Suche gehen. Dann fiel ihr wieder ein, daß der Ausflug in die freie Liebe sie wieder mehrere Stunden Zeit gekostet hatte und ihr bei der Rückkehr mindestens vier oder fünf Stunden Schlaf nottaten. Irgendwie störte es sie, so viel Zeit zu investieren, um Naaneavargias einverleibter Unersättlichkeit ihren Lauf zu lassen.

Als sie, ausgeruht und mit genug Essen und Trinken versorgt, ihre angefangene Aufgabe fortsetzte, sich über den Totentänzer zu erkundigen, kam Tyche zu ihr.

"Ich wollte dich nicht stören, höchste Schwester. Ich wollte dir nur mitteilen, daß die im Ministerium damit rechnen, daß irgendwer demnächst in die Staaten einrücken könnte, um Chemiefabriken, Bioforschungslabore und Atomkraftwerke anzugreifen. Dieser Marchand, der dir damals vermasselt hat, in einer Muggelklinik von der Strahlung geheilt zu werden, ist jetzt ein LI-Mann. Ich bekam das nur deshalb raus, weil ich mit Jenny Billings aus dem Unfallumkehrkommando quatschen kann. Die hat nicht gemerkt, wie ich die legilimentiert habe."

"O, so gut bist du darin schon?" Fragte Anthelia schnippisch. "Aber diese Information ist wahrlich interessant. Warum ist dieser Marchand, den ich damals in dieser primitiven Maschine habe schwimmen sehen, jetzt bei diesen Weltverbesserern von Marie Laveau?"

"Offenbar ist er mit einem bösen Voodoomann zusammengerasselt und hat bei denen Unterschlupf gesucht. Die haben ihn wegen seiner Muggelkenntnisse gleich abgeworben", erwiderte Tyche.

"Soso, ein bitterböser Voodoomann oder Bokor ist mit diesem Recken aneinandergeraten", flötete Anthelia belustigt. "Könnte es sein, daß wir mit diesem Herren irgendwann ernsthafte Auseinandersetzungen erwarten dürfen?"

"Mit Marchand?" Fragte Tyche.

"Nein, mit diesem Voodoomagier, diesem Totentänzer", klärte Anthelia ihre Bundesschwester auf. "Insofern nicht unwichtig, daß dieser Marchand nun unter dem Schirm dieser Laveau-Leute steht. Ich hege diesen Leuten gegenüber einen großen Respekt für ihre Fachkenntnisse und ihre Sicherheitsmaßnahmen. Schade, daß Ardentia nicht mehr unter uns weilt und diese einfältige Beryl Corner es vorzog, mir in den Todesfluch zu springen als sich uns anzuschließen."

"Da sind wir auch schon beim nächsten Punkt, höchste Schwester. Dieser Marchand hat eine Warnung rausgegeben, daß umweltgefährliche Anlagen wie Biolabore, Chemiefabriken und Atomkraftwerke von einer Armee aus Zombies angegriffen werden würden, weil deren Anführer einen Haß auf die hellhäutigen Amerikaner hat und sich dazu noch mit der Muggelwelt auskennt."

"Hat das LI eine ungefähre Einschätzung preisgegeben, wann dieser Angriff erfolgen wird?" Schnarrte Anthelia.

"Ich weiß davon nichts, höchste Schwester. Aber Minister Cartridge wird morgen eine Krisensitzung abhalten. Dem seine Frau hat wieder wen unterm Umhang."

"Er und sie erwarten bestimmt nicht, daß ich ihnen dazu gratuliere", tat Anthelia diese Meldung als für sie unwichtig ab. "Aber ich werde unseren lange schon nicht mehr eingesetzten Freund mit den spitzen Ohren losschicken, wenn ich weiß, wie ich ihn in die Nähe des Konferenzzimmers bringen kann."

"Den hast du noch? Der Gringotts-Sicherheitsdienst und der andere Geheimdienst der Kobolde sucht den immer noch. Abgesehen davon treffen die sich in einem koboldsicheren Raum, wie ich erfahren durfte. Schmiedeeiserne Türen, Megaddamas-Bezauberung zur Abwehr durchdringender Erdelementarzauber, Unbefugtenausschlußzauber. Die gehen davon aus, daß du diesen kleinen Burschen oder einen anderen von denen wieder auf sie ansetzen kannst, sofern sie denken, daß deine Erbin das tut."

"So, die wissen also immer noch nicht, daß ich noch am Leben bin?" Fragte Anthelia.

"Ich wäre nicht zu dir gekommen, wenn ich es denen verraten hätte. Oder denkst du, dieses hinterhältige Weib Patricia Straton hat dich verpfiffen?"

"Möglich wäre es ihr. Aber ich denke, dann müßte sie zugeben, ebenso lebendig zu sein wie ich und das könnte die, die hinter Hyneria hergelaufen sind anregen, sie zu mir zu befragen. Und darauf legt sie bestimmt keinen Wert."

"Da lege ich auch keinen Wert drauf", erwiderte Tyche. "nachher würde ich wohl auch nicht mehr wieder auftauchen."

"Hmm, dann werde ich wohl einen anderen Kunstgriff bemühen müssen", knurrte Anthelia. Doch sie mußte lächeln. Ihr fiel nämlich ein, daß die Altaxarroin, die heutzutage Atlanter genannt wurden, einige sehr brauchbare Spionagezauber erfunden hatten. Naaneavargia hatte einen davon gelernt, den sie auch unter Einwirkung der Tränen der Ewigkeit anwenden konnte: Das Lied der fremden Haut. Doch davon erzählte sie Tyche nichts. Die konnte sich eh vorstellen, daß Anthelia durch die Fusion eine menge mehr konnte als vorher. So bat sie die Bundesschwester, ihr den Ort der Konferenz zukommen zu lassen. Alles weitere würde sie dann erledigen.

__________

Maria Valdez hatte sich nicht so toll gefühlt, als Almadora sie in zwei ausgedehnten Nachtetappen auf ihrem Besen über den Kanal brachte und sie in der Nähe von London absetzte. Denn auf ein unbekanntes Ziel hin mit einer reinen Muggelfrau zu apparieren war zu riskant gewesen. Dann hatte sich Maria in einem Laden für hochwertige Spionageelektronik ein Richtmikrofon besorgt. Hierbei hatte sie höllisch aufpassen müssen, nicht in versteckte Kameras zu schauen, da sie nicht wußte, ob die Polizei oder der Geheimdienst ihrer Majestät nicht hinter Amateurspionen herjagte. Damit ausgerüstet fuhr sie mit der U-Bahn in den Stadtteil Mayfair und suchte die Straße auf, in der das Haus der Andrews' lag. Sie wußte, daß es von Kameras überwacht wurde. Deshalb würde sie bei Dunkelheit das Haus genauer betrachten, gut vermummt in einen dunklen Mantel und mit unter einer Mütze verborgenen Haaren. Zunächst galt es, die Zuwege zur Straße zu untersuchen und sich mögliche Fluchtwege einzuprägen, wobei sie die Nähe des Hauses mied.

Es wurde Abend. Eine dunkle Gestalt schlich, jeden Schatten ausnutzend, auf das große Anwesen zu, das Claude und Alison Andrews bewohnten . Die Gestalt trug eine eng am Körper getragene Tasche. Geduckt schlich sie sich außerhalb der Lichthöfe der Laternen entlang. Huschende Schlaglichter wischten durch die Nacht wie glühende Arme, die nach Beute suchten. Das waren die Überwachungslichter der von Videokameras beschirmten Häuser. Maria Valdez hatte nicht mit regelmäßigen Intervallen gerechnet, da diese jedem Anschleicher genug Gelegenheit geboten hätten, sich im toten Winkel zu halten, und wenn dieser auch nur einige Sekunden bestand. Bei unregelmäßiger Kameraführung war die Chance, ungebetene Annäherungen zu entdecken größer. Doch Maria Valdez beschlich nicht das erste Mal ein überwachtes Gebäude. Mit elektronischen Überwachungssystemen konnte sie umgehen. Menschen waren viel gefährlicher, weil nicht so leicht vorherzuberechnen. Fast erwischte sie einer der schmalen Lichtbalken der Suchscheinwerfer. Doch die Kundschafterin Almadoras huschte unter dem Strahl hindurch. Dann erreichte sie ein weiteres Gebäude. Hier hüteten keine Kameras Schlaf und Eigentum seiner Bewohner. Eine einfache Alarmanlage würde es wohl tun, die mit Bewegungsmeldern auskam. Die waren auch tückisch, wenn man nicht achtgab. Doch Maria Valdez schaffte es, imNiemandsland zwischen den geschützten Bereichen hindurchzuschlüpfen und sich so zu postieren, daß sie ihr Richtmikrofon einsetzen konnte.

Wielange hatte sie ein solches Gerät nicht mehr benutzt? Die Technik hatte während ihrer zwei Jahre und einiger Monate zwischen Dornröschenschlaf und ausgedehntem Mutterschaftsurlaub doch einige Fortschritte gemacht. Die Reichweite gab ihr die Möglichkeit, aus dieser Entfernung jedes Geräusch im Haus zu hören, wenn sie den Horchkegel des Abhörgerätes haargenau ausrichtete. Wie ein Arzt mit dem Stetoskop horchte sie Partie für Partie des Hauses ab, vernahm das Anspringen einer Tiefkühltruhe und das Säuseln einer Klimaanlage wohl im Weinkeller, um die dort gelagerten Köstlichkeiten auf kühler Temperatur zu halten. Dann vernahm sie Schritte auf Teppichboden und hörte die Stimme eines Mannes sagen:

"Deine Schwester hat aber schnell aufgegeben. Hätte mich eher darauf eingerichtet, daß sie mir gleich die Polizei auf den Hals hetzt, als sie hier war."

"Du hättest sie beide hereinlassen sollen, Liebster. Dann hätten wir ihn und sie haben können, du sie, ich ihn", antwortete eine wollüstig klingende Frauenstimme. Maria erschauerte. Sie hatten tatsächlich das Wespennest angestochen, dessen Gebrumm bis Frankreich und Spanien zu hören gewesen war.

"Morgen darfst du sie endlich kennenlernen, wenn deine Bridge-Freundinnen hier sind, Alison", erwiderte die Männerstimme. "Und dann gebe ich ein Fest für die werten Konkurrenten, daß seinesgleichen noch nicht gesehen hat."

"Glaubst du, jemand kommt dahinter, was uns zwei verbindet?" Fragte die Frau.

"In dieser Gegend? Niemand glaubt noch an echte Zauberei, Alison. Niemand hier würde mir unterstellen, mit einer so mächtigen Erscheinung wie ihr Kontakt zu haben."

"Ich denke, daß Monica morgen wen herschicken wird. Die Nachbarn tratschen doch. Und die Lieferantin hat schon so komisch geguckt. Du hättest sie festhalten müssen, Claude."

"Das wäre nicht gegangen, weil die Funksender an ihren Autos haben, um deren Standzeiten zu überwachen, Alison. Spätestens eine halbe Stunde später hätten wir die Polizei hierrgehabt. Doch wenn deine guten, besorgten Freundinnen morgen hier sind, dann können uns auch keine Polizisten mehr was tun. Dann werden wir alle Mitglieder ihrer Gemeinschaft."

"Das glaubst aber nur du", dachte Maria Valdez. Sie wußte, sie hatte nicht mehr viel Zeit. Wenn sie das Übel austreiben wollte mußte es in den nächsten Minuten passieren. Sie brach ihren Lauschangriff ab und zog sich zurück. Sie ging noch einmal durch, wie sie vorgehen würden. Sie holte ein neuartiges Mobiltelefon aus ihrer Tasche. Diese Geräte waren in den beiden letzten Jahren auch weiter eingeschrumpft und hatten eine höhere Reichweite. Sie tippte eine Kurzmitteilung an eine Nummer ein, die Almadora sich besorgt hatte, als sie beide vor einem monat in Mexiko gewesen waren, um Maria ein legal erreichbares Mobiltelefon zu besorgen. Sie tipte nur: "Sage ihr, daß beide zu Hause sind" und beendete die Mitteilung mit einer leeren runden Klammer. Das war das vereinbarte Zeichen, daß der Verdacht zutraf. Kein möglicher Mitleser dieser Nachricht würde aus den beiden Klammerzeichen etwas verdächtiges herauslesen. Sie schaltete das Richtmikro noch einmal ein und zielte sorgfältig auf das Wohnzimmerfenster.

Es dauerte keine Minute, da trällerte im Haus das schnurlose Telefon. Claude Andrews grummelte was, wer ausgerechnet jetzt störte. Dann ging er doch dran. Würde er auf den Trick hereinfallen. Maria Valdez spannte sich an, um bloß nicht zu wackeln. Vielleicht konnte sie die Stimme am anderen Ende hören. Doch so gut war das Richtmikrofon dann doch nicht. Doch sie hörte, wie Claude "Wie, du, Martha?!" hineinrief. Einige Sekunden vergingen. Dann stieß er aus: "Achso, haben Madame geruht, das Grab Ihres großen Gönners und langjährigen Verköstigers zu besuchen?" Dann grummelte er was und dann: "Unmöglich. Bin gerade beschäftigt. ... Wie?! ... Das verbitte ich mir, es ist schon nach neun und ... Wie, die Polizei? Denkst du, dir glaubt das jemand? Oha, Videos. Du hast es gewagt, das Grab meines Bruders zu filmen und ... Wo? ... Gut! ... Ich bin in einer halben Stunde da. Wenn du mich verkohlen willst wird's sehr teuer. Und Julius fliegt mangels Finanzierbarkeit aus diesem wo auch immer er ist raus ... Wenn an dem noch was zu erziehen dran ist ... Ich bin in einer halben Stunde bei dir in Paddington." Maria hörte, wie das Auflegensignal erklang. Claude lachte laut.

"Dieses dumme, dumme Weib. Die Frau meines Bruders ist allein in London. Deren Sohn ist zwar noch in Frankreich. Aber wenn ich sie kriege kriege ich auch ihn. Vielleicht kann ich ihn Loli überlassen, weil er Richards Sohn ist."

"Was ist mit Richards Grab?" Fragte Alison.

"Ein paar Hooligans haben "Hurenkiller" draufgeschrieben. Martha wollte nicht von allen Leuten beobachtet werden und ist deshalb vor einer Stunde da gewesen. Sie hat mich dann über Mobiltelefon angerufen. Schade um die junge Nacht. Aber wenn ich Martha dazu bewegen kann, hier zu schlafen können wir sie vielleicht dazu kriegen, ihren Sohn aus diesem Internat herauszuholen.Bis gleich!"

"Paß auf dich auf!" Riet ihm Alison. Er lachte nur. "Loli paßt auf mich auf. Keiner kann mich fertigmachen." Dann hörte Maria Valdez das Rascheln von Überkleidung und das Ritsch-Ratsch eines Reißverschlusses. Die lauernde Kundschafterin machte sich innerlich bereit, den von der bösartigen Kreatur besessenen aus dem Haus zu lassen. Sie senkte das Richtmikrofon und tippte erneut eine Kurzmitteilung an Almadora: "Paddington ist sicher." Dann wartete sie darauf, daß der Hausherr seine sichere Burg verließ, um sich die scheinbar sichere Beute zu holen. Sie hörte, wie er in ein Auto stieg und durch das ferngesteuerte Tor der Garage herausfuhr. Maria stellte fest, daß Claude Andrews mit seinem silbergrauen Mercedes einen großen Eindruck machte. Doch in dieser Wohngegend fuhren noch mehr davon herum. Sie sah die Frontscheinwerfer aufleuchten wie die feurigen Augen eines Ungeheuers. Wenn sie überlegte, daß am Steuer ein mit der bösen Saat eines Ungeheuers infizierter saß kein schlechter Vergleich. Almadora würde versuchen, den Wagen einige Kilometer vom Haus entfernt mit auf der Fahrbahn liegenden Nägeln aufzuhalten. Das sollte reichen, ihn lange genug abzulenken, um an Alison Andrews heranzukommen. Andere Personen waren nicht im Haus zu hören gewesen. Sie wartete und horchte ohne elektronische Verstärkung, wie der Luxuswagen aus Deutschland auf dem plattierten Weg zum Metalltor dahinglitt. Leise summend schwang das Tor auf. Der Wagen brummte hindurch und bog nach links in die Straße ein. Dann dröhnte der Motor noch einmal lauter. Claude gab Gas und trieb das stolze Gefährt davon, Richtung Paddington. Doch dort würde er nicht ankommen. Maria Valdez verließ ihre Deckung und eilte auf das Tor zu. Sie hatte nicht darauf spekuliert, daß es lange genug offen bleiben würde. So verfiel sie nicht ins Rennen, sondern schritt höchstens weit aus, um ihr Ziel zu erreichen, die Videokamera über der Sprechanlage. Sie zog ihre Mütze vom Kopf, um nicht als unheilvoller Eindringling aufzufallen. Sie drückte den Klingelknopf. Wie es sich drinnen anhörte konnte sie nicht hören. Doch sie hörte das blecherne Geräusch, als die Sprechanlage ansprang und Alisons verzerrte Stimme fragen, wer da sei. Maria Valdez setzte ihr bestes Südstaatenenglisch auf und entschuldigte sich für die späte Störung, aber sie sei gerade aus New Orleans eingetroffen und wollte eigentlich mit Claude Andrews über eine Vermögenssache diskutieren, deretwegen sie nach London gerufen worden sei. Sie stellte sich als Mary Warner vor und fragte, ob Mr. Andrews sie empfangen könne.

"Mein Mann mußte wegen eines späten Cliententermins noch einmal weg, Ms. Warner. Ich kann Ihnen nicht helfen. Kommen Sie morgen wieder!"

"Mrs. Warner. Mein verstorbener Mann hatte dienstlich mit Ihrem Mann zu tun. Aber er wurde in Granada ermordet. Aber das betrifft Sie wohl eher nicht."

"Granada, welches?"

"Granada, Spanien", erzählte die angebliche Bittstellerin oder Anwaltskundin. "Ich weiß nicht genau wieso. War irgendeiner Unzüchtigen im Weg, einer Loli irgendwas", erwähnte Maria Valdez ganz unbekümmert klingend, obwohl ihr die Emotionen und ihr mexikanisches Temperament beinahe die Maskerade verdarben. Denn sie hatte nicht gelogen. Ihr Mann war von dieser Kreatur entführt worden und sollte sie in ihre Gewalt bringen. Dabei geriet er mit Anhängern dieses Espinado zusammen und wurde getötet. Das hatte sie jedoch erst später erfahren. Doch der Name und der Ort wirkten offenbar wie eine Zauberformel. Denn unvermittelt schwang das Tor auf. Maria Valdez wußte, daß sie gerade dabei war, die Höhle des Löwen zu betreten und daß eine Löwin in vielen Fällen gefährlicher war als ihr bemähnter Pascha, der das Beutemachen den Mitgliedern seines Harems überließ. Noch fühlte sie nichts von ihrem Talisman, dem weißmagisch aufgeladenen Kreuz aus dem Erbe Ashtarias. Würde sie das zum Symbol des Herrn und Heilandes veränderte Artefakt auch jetzt wieder schützen wie in der Burg des Werwolfs?

Scheinbar arglos schritt sie auf das Haupthaus zu. Dort öffnete sich die stabile, mit Sicherheitsglaseinsetzen geschmückte Tür. Dahinter stand sie, Alison Andrews, wie Martha sie Almadora beschrieben hatte. Und da fühlte sie auch eine sanfte Reaktion, ein Kribbeln unter ihrer dunklen Bluse.

"Ich wußte nicht, daß Claude mit Ihrem Mann zu tun hatte. Oder weshalb sind Sie hier?"

"Mein Mann hatte geschäftliche Verbindungen in diese Stadt. Wir waren im Urlaub. Aber ich wollte sie nicht mit unsinnigen Sachen behelligen."

"Mein Mann ist gerade in Paddington. Sie haben ihn um knapp drei Minuten verpaßt", sagte Alison scheinbar unschuldsvoll. Doch Maria fühlte die innere Anspannung in der Engländerin. Vielleicht fühlte sie auch die Nähe eines magischen Gegenstandes, der gegen die Kraft ihrer künftigen Herrin wirkte. Sie wußte von magischen Medaillons, die die Abhängigen bekamen. Das hatte sie bereits vor dem Purpurhaus von Muddy Banks erfahren müssen. Doch im Moment wirkte Alison Andrews überfreundlich. Sie geleitete die unverhoffte und späte Besucherin an der Garderobe vorbei, wo sie ihren Mantel abstreifen durfte, hin zu einem gemütlichen Wohnzimmer großen Ausmaßes. maria fühlte nun die Anspannung in sich und der anderen steigen. Wenn sie die nächsten Minuten heil überstehen wollte, mußte sie die Initiative ergreifen, bevor es die halb unterworfene Frau tat. Da fuhr diese bereits herum, warf die Tür zu und drehte den Schlüssel so schnell im Schloß, daß Maria staunte. Doch das hielt nur eine Sekunde vor.

"So, werte, und jetzt erzählen Sie mir gefälligst alles über Ihren Mann und Loli, bevor mein Mann wiederkommt und befindet, ob Sie mit dem Wissen noch leben dürfen", fauchte Alison Andrews. In ihre Augen war ein haßerfüllter Ausdruck eingetreten. Maria Valdez blieb jedoch ruhig.

"Ich weiß nicht, ob Sie das wirklich wollen, mich umbringen", sagte die ehemalige FBI-Agentin. "Ich glaube nicht, daß Sie noch wollen, was sie tun. Ihr Mann hat Sie mit etwas vereinnahmt. und ..." Maria hatte mit einem Angriff gerechnet, ja ihn sogar herbeigesehnt. Doch als Alison Andrews mit vorschießenden Händen fast den Hals der späten Besucherin umklammerte, mußte die Kampfsporterfahrene schnell reagieren. Sie ließ sich hinten überfallen und zog die Beine an. Der Schwung riß Alison mit nach vorne, und die Wucht von Marias Beinen schleuderte sie über die Agentin hinweg. Alison krachte gegen die verschlossene Tür und polterte zu Boden. Maria Valdez wand sich blitzartig und warf sich über die Hausherrin. Diese machte keine Anstalten, um Hilfe zu rufen oder sowas. Sicher ging sie davon aus, mit der Fremden alleine fertig zu werden. Maria hieb ihr kurzentschlossen die rechte Handkante ins Genick. Das konnte Alison auch unter dämonischem Einfluß nicht unbeeindruckt hinnehmen. Sie blieb liegen. Maria holte ihr silbernes Kreuz hervor, das gerade wild vibrierte und dabei eiskalte Schauer produzierte. Nun, wo es freilag konnte Maria sogar bläuliche Lichtblitze sehen, die von dem magischen Gegenstand auf Alison übersprangen. Maria wußte nicht, ob es was half oder nur den Erinnerungen an Gruselgeschichten zu verdanken war. Jedenfalls drückte sie Alison das Kreuz an den Hinterkopf.

Maria hätte mit einem grellen Lichtblitz, einem Zischen oder Knistern gerechnet, vielleicht auch mit einem kreuzförmigen Mal an der getroffenen Stelle. Doch was geschah war lautlos und sanft. Dunkelblaues Licht umspielte Alison Andrews Kopf und breitete sich innerhalb einer Sekunde über ihren ganzen Körper aus. Für einen Moment schien dieser im Licht zu zerfließen. Dann erlosch dieses auch wieder. Alison zuckte wie unter einer Serie starker Stromschläge. Maria meinte, daß sich das Kreuz in ihrer Hand erst auf Minustemperaturen abkühlte, um im nächsten Moment so warm wie ein von langem Sonnenschein erhitztes Autodach zu werden. Als sie schon meinte, es loslassen zu müssen, kühlte es sich auf Handwärme ab. Alison lag ohnmächtig am Boden. Doch Maria war sicher, daß die Saat der bösen Macht aus ihr gewichen war. Sie zog die Bewußtlose hoch und schleppte sie zu einer breiten Couch. Darauf ließ sie die Überwundene und hoffentlich auch restlos vom bösen Zauber befreite liegen. Sie wartete. Claude Andrews mochte gerade feststellen, daß sein Wagen nicht mehr weiterfuhr. Alison erwachte aus ihrer Ohnmacht und blickte sich um. "Wo bin ich? Wie bin ich hierhergekommen? Claude, wo bist du?!" Rief sie dann noch. Maria Valdez sah sie an. Wußte die Überwältigte wirklich nicht, was passiert war? Hatte sie womöglich alles vergessen, was seit Claudes Rückkehr ... Da knallte es laut, und ohne Vorwarnung stand Claude Andrews im Wohnzimmer. Maria konnte gerade noch sehen, wie etwas an seinem rechten Handgelenk aufglühte und wieder erlosch.

"Also eine ganz fiese Falle", knurrte er. "Gut, daß meine neue Freundin mich schnell von meinem Auto zurückgeschickt hat, weil wer meine ... Wer bist du?"

"Ihre neue Freundin kennt mich schon. Angeblich soll es eine Cousine von mir sein", versetzte Maria Valdez. Da sprang Claude sie an. Doch bevor seine Faust sie traf prallte diese von einem unsichtbaren Hindernis ab. Claude schrie laut auf. Wieder konnte Maria etwas an seiner rechten Hand in einem violetten Licht glühen Sehen. Gleichzeitig sprangen von ihrem Kreuz blaue und goldene Funken über.

"Wer bist du?" Fragte Claude Andrews. Maria Valdez zog nun das Kreuz hervor, das nun blau-golden zu sprühen begann und Claude sichtlich verstörte. Er blickte auf das Lichtspektakel und keuchte schwer. Maria Valdez stieß Vor, wollte ihm das weißmagische Schmuckstück genauso aufdrücken wie seiner Frau. Doch da bildete sich um ihn eine dunkelviolette Aura. Als ihr Kreuz auf den Strahlenkranz um Claudes Körper prallte, fühlte sie einen mörderischen Widerstand, der sie zurückprellte und sah einen Moment lang das vor Wut verzerrte Gesicht einer Frau mit milchkaffeefarbener Haut über dem schmerzvoll verzogenen Gesicht des Anwaltes. Dieser brüllte auf und griff nach einem Sessel. Maria ahnte, daß der Besessene die vielfache Kraft eines gewöhnlichen Mannes aufbringen konnte und warf sich in Deckung. Der Sessel flog wie ein Diskus aus der Hand des Versklavten und kam im flachen Winkel auf Maria Valdez zu. Sie schaffte es noch, sich ein paar Zentimeter weiterzuhechten. Da schlug der Sessel neben ihr auf dem mit hellem Teppich bedeckten Granitfußboden auf. Claude wollte sich ein neues Wurfgeschoß suchen. Doch da schnellte Maria Valdez aus ihrer Deckung und rannte auf ihn zu. Dabei stieß sie das silberne Kreuz nach vorne, das sofort wieder blaue und goldene Blitze schleuderte. Claude erstarrte mitten in der Bewegung. Doch wieder prallte Maria vor ihm zurück und wurde nach hinten geworfen. Die Kräfte ihres Talismans und die von Claudes schwarzmagischem Geschenk der Abgrundstochter wogen einander auf.

"Du bist zu stark. Aber gleich habe ich dich. Wenn ich dich nicht mit den Händen niederstoßen kann dann eben mit einer Kugel. Claude riß eine Schublade auf und griff hinein. Maria ahnte, daß er gleich mit einer Schußwaffe gegen sie antreten würde und sprang vor. Wieder prallte sie auf einen magischen Sperrblock. Doch der Zusammenprall warf auch Claude aus der Balance. Er schaffte es gerade, die Pistole mit zwei Fingern zu ergreifen. Maria wußte nicht, ob sie ihm die Waffe aus der Hand treten konnte. Da fiel ihr die Blumenvase ein, die auf dem Tisch stand. Sie packte sie und schleuderte sie aus der Bewegung heraus gegen den hochschnellenden Waffenarm. Zwar hatte das Porzellan keine Überlebenschance. Doch der losgehende Schuß knallte nur laut und bohrte ein Loch in die Deckenvertäfelung. Die Waffe entfiel Claude Andrews. Er ließ sich fallen, um sie zu ergreifen. Da war Maria aber schon heran und trat die Handfeuerwaffe wuchtig weg. Claude Andrews wollte ihr nach. Da Rief Maria:

"Aus der Liebe geboren
der Liebe und dem Heil verschworen.
Wenn aus Liebe gegeben
erhältst du Schutz und Leben!"

Claude hatte gerade die Waffe in die Hand genommen und wollte herumschnellen. Da fauchte es, und er verschwamm innerhalb einer Sekunde im violetten Licht. Gleichzeitig explodierte eine gleißende Lichtentladung aus Marias Silberkreuz und schien wie grelles Sonnenlicht von den Wänden und dem hellen Teppich wider. Maria glaubte, das Kleinod in ihrer Hand würde gleich zerfließen. Doch so schnell die magische Entladung freigesetzt worden war, so schnell verebbte sie auch wieder. Allerdings fühlte sich die Luft jetzt irgendwie leichter an. Maria hielt das Kreuz noch in der Hand, während Alison Andrews auf der Couch lag und vor großem Schrecken wimmerte. Würde Claude zurückkehren? Für Maria stand nur fest, daß ihn etwas gerade rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte, bevor die geballte Kraft der Kinder Ashtarias ihn hätte treffen können. Sie wußte, daß ihr Kreuz keine Vernichtungswaffe war. Es schützte und heilte. Doch in dem Moment hätte sie damit gerechnet, daß Claude restlos vernichtet würde. Doch wie hätte sie ihn sonst angehen können? Da fühlte sie eine Vibration des Kreuzes. Es leuchtete in einem Moment blau auf. Dann war es wieder wie üblich. Maria dachte an einen schwarzmagischen Angriff aus der Ferne und sprang zu Alison, die sich gerade aufrichtete. Sie drückte ihr noch einmal das Kreuz auf den Körper. Doch diesmal erfolgte keine Reaktion.

"Träume ich, oder bin ich in einen Horrorfilm geraten? Was ist mit Claude?"

"Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das erklären darf, Mrs. Andrews. Soviel nur, wir müssen hier raus. Bestimmt wird gleich die Polizei wegen des Schusses hier auftauchen und ..." Wieder blitzte ihr Kreuz blau auf. Sie fühlte, wie etwas um sie herumglitt. Schnell ließ sie das magische Hilfsmittel wieder gegen ihren Brustkorb fallen, wo sie einen kurzen Wärmeschauer verspürte. Dann ploppte es erneut. Sie fürchtete schon, jetzt die Bestie persönlich vor sich zu haben. Doch es war Almadora, die ihre magische Kraft genutzt hatte, um zeitlos den Standort zu wechseln.

"Immerhin, sie ist noch da." Ich habe deinen Kampf aus einhundert Metern Entfernung mitgehört. Ich habe nicht damit gerechnet, daß Claude Andrews aus seinem fahrenden Wagen heraus verschwinden kann. Der dürfte jetzt völlig unbrauchbar sein. Aber wo ist er hin?"

"Wahrscheinlich in ihrem Hauptquartier. Ich war nicht schnell genug."

"Wahrscheinlich hätte das, was ich vorhatte gegen die Kraft des Medaillons auch nicht geholfen", seufzte Almadora. "Richard hatte Glück, daß er kein Medaillon mehr trug."

"Es ist kein Medaillon. Almadora. Es ist der Ehering."

"Wovon reden Sie da? Wer sind Sie eigentlich? Wie kommen Sie hier herein?!" Schrillte Alison Andrews. Da zückte Almadora ihren Zauberstab und richtete ihn auf die nun wild losschreiende. Keine Sekunde später lag ein rosarotes Nadelkissen auf der Couch. "Ein untrüglicher Beweis, daß in ihr keine andere Magie wirkt", stellte die Hexe fest und holte das Kissen mit einem unhörbaren Zauber zu sich hin.

"Wir müssen hier raus."

"Apparieren geht mit dir nicht, weil dein Kreuz jede Verwandlung unterbindet und ich dich nicht so einfach mitnehmen kann. Mein Besen ist draußen. Aber was machen wir wegen der Ordnungshüter?"

"Wenn wir es so hinstellen, daß Claude und Alison überhastet fliehen mußten ... Aber die Kugel in der Decke", erwiderte Maria und deutete auf die Deckentäfelung. Almadora sah das Loch und zielte mit dem Zauberstab. "Accio Geschoß!" Laut knisternd brach etwas aus der Vertäfelung und sauste fast so schnell wie vorhin aus der Pistole geschossen auf Almadoras Hand zu. Sie fing es auf und rief dann "Reparo Täfelung!" Darauf wuchs das Loch in der Decke leise knisternd wieder zu. Dann arrangierte die Hexe alles wie eine überhastete Flucht. Sie ließ einen Koffer erscheinen, Kleidung für Alison dort drinnen verschwinden und auch von Claude einige Wäschestücke. Vielleicht konnte man ihn damit finden, schlug Maria vor. Doch Almadora lachte nur.

"Es gibt Zauber, die funktionieren doch nur im Märchen", sagte sie. "Durch Kleidung jemanden berbeizuzaubern gehört zu diesen Zaubern. Es geht nur darum, daß beide geflüchtet sind."

"Vor wem?" Fragte Maria Valdez.

"Vor ihren Verfolgern. Es greift Plan S wie Syndikat, Maria."

"Verstehe", sagte Ashtarias Erbin. Dann beeilten sie sich, das Haus zu verlassen, wobei Almadora im Vorbeigehen alle Staubspuren von den Schuhen aus dem Teppichboden tilgte. Dann verließen sie das Haus. Sie hörten das wimmern der Alarmsirene. Maria fiel ein, daß im Überwachungsraum wohl noch der Videofilm mit ihrer Aufzeichnung lag. Almadora reagierte promt. Sie verschwand noch einmal und tauchte nach zehn Sekunden wieder auf. Sie hielt die Videocasette in der Hand. "Lohnt sich doch, ein paar Muggel zu kennen. Aber wir müssen jetzt weg. Das Haus wird gleich zu brennen anfangen."

"Und wenn Claude Andrews hierher zurückkommt?"

"Ich kenne dieses Weib. Es hat nicht damit gerechnet, so schnell und so stark bekämpft zu werden. Sie wird sich hüten, ihren Abhängigen wieder zurückzuschicken, ehe sie nicht ergründet hat, wieso wir ihr draufgekommen sind. Aber jetzt ab auf den Besen, bevor die Ministeriumszauberer noch hier auftauchen. mein Abschirmzauber war nicht so stark, wie ich ihn haben wollte." Maria gehorchte, obwohl es ihr immer noch Unbehagen bereitete, auf einem echten Hexenbesen zu reiten. Immerhin reagierte ihr Kreuz nicht auf das Fluggerät. Es war also nicht mit schwarzer Magie aufgeladen.

Gerade als sie hoch über der Straße flogen sah Maria das Haus in lodernden Flammen stehen. Sie hörte neben der Alarmsirene, die wohl durch den Schuß ausgelöst worden war auch das Wimmern einer Polizeisirene. Doch da waren sie schon zu hoch, um aus dem Meer der dahingleitenden Scheinwerferlichter das eine Blinklicht zu erkennen, das die Ankunft mindestens eines Polizeiwagens ankündigte.

"Was machen wir mit Alison?" Fragte Maria.

"Wir versenken sie in Zauberschlaf und sehen zu, Claude Andrews zu finden. Er ist ihr zu wichtig, als das wir ihn ihr überlassen dürfen."

"Aber sein Schutz ist der Ring. Wie kann das kommen?"

"Ein Duplikat. Sie hat ihm seinen echten Ring abgenommen und ihn durch dieses verfluchte Stück Gold ersetzt", knurrte Almadora. Das leuchtete Maria Valdez geborene Montes ein.

Der Rückflug ging wieder über zwei Etappen. Die erste über den Kanal mitten nach Frankreich hinein zu den Pyrenäen. Die Zweite nach Spanien richtung Granada. Beide, die Erbin Ashtarias und die Hexe wußten, daß ihr Eingreifen nur als Auftakt zu sehen war. Sie hatten Claude Andrews nicht befreien können. Und die Abgrundstochter war nun gewarnt. Sie würde sich mit Claude einstweilen so verbergen, wie es ihre Schwester mit seinem Bruder getan hatte.

__________

Cartridge nahm die Glückwünsche zur im Juli anstehenden Ankunft eines weiteren Familienmitgliedes entgegen, als er mit den Abteilungsleitern für Strafverfolgung, Unfallumkehr, dem Büro für Muggelweltkontakte und dem Leiter des Laveau-Institutes zusammentraf. Der Raum war ein Dauerklangkerker und besaß weitere Schutzzauber. Die Tür war geschmiedet, und als alle saßen, trat ein Bannzauber in Kraft, der nur die gerade sitzenden als Befugt in diesem Raum zuließ. Dies galt allerdings nur für Menschen. Tiere waren davon ausgeschlossen. Doch Exosenso würde wegen des Klangkerkers eh nicht funktionieren. Dachten Cartridge und die anderen.

Sie war es gewohnt, die Welt in kleine Einzelfragmente zerlegt zu betrachten und über die haarigen Antennen und die Beinhaare Schall zu empfangen. Das winzige Problem, daß sie hatte war nur die immense Größenumstellung. Denn als sie, nachdem sie vor dem Ministerium eine der letzten noch lebenden Spinnenweibchen gefangen hatte, mit dem Lied der fremden Haut, einem Meisterzauber der Erdmagier des alten Reiches, die Spinne wie mit einer Mischung aus Imperius und Exosenso unter ihre direkte Kontrolle gebracht hatte, mußte sich Anthelia an die um ein vielfaches größeren Gegebenheiten gewöhnen. Dazu kam noch, daß sie diesen Zauber nur solange aufrecht erhalten konnte, wie sie selbst wach genug war und die Bezauberung trotz der Nähe zur inneren Tiergestalt ziemlich gut auszehrte. Anthelia hatte es noch geschafft, die Spinne an einem Belüftungseinlaß des Ministeriums abzusetzen und wieder in die Daggers-Villa zu apparieren, wo sie vollständig in Sinnes- und Bewegungswelt der Spinne eingedrungen war. Jetzt lief sie wieder achtbeinig durch einen für sie gewaltig breiten Tunnel und mußte aufpassen, nicht von dem hier herrschenden Wind fortgeblasen oder eingesaugt zu werden. Ihr kam zu gute, daß sie die körperliche und sinnliche Welt einer Spinne besser kannte als jede andere Hexe. So konnte sie ihren winzigen Kundschafter durch die gigantisch anscheinenden Belüftungsöffnungen hindurchtreiben, lief die Gänge ab, bis sie mit dem Richtungsgespür des Wirtskörpers erkannte, daß sie nun neben dem Konferenzraum war. Das wirklich heikle Unternehmen war, mit einem der Teilnehmer dort einzudringen. Beinahe wäre ihr Erkundungskörper zertreten worden. Doch sie schaffte es gerade so, an der Wand des Konferenzraumes zu bleiben und dort in einer Ecke zu verharren. Für eine gewöhnliche Spinne waren die auftreffenden Schallwellen unverständlicher Lärm. Doch Anthelia schaffte es durch das Auslegen feiner aber straffer Fäden, einen Schallempfangsverstärker zu bauen, bei dem sie mit den Antennen an den Fäden wie mit dem Ohr an einem Bahngleis lauschen konnte. Tatsächlich konnte sie so besser ausfiltern, was gesagt wurde. Der neue Strafverfolgungsleiter hieß Flavius Partridge. Leider konnte Anthelia in diesem Zustand keine seiner Gedanken aufschnappen. Sie wußte nur, daß er wohl mit einer Quodpotspilerin in Viento Del Sol verwandt sein mochte. Sie lauschte an ihren seidenen Fäden, was Cartridge von Davidson erfuhr und bekam auch Beschreibungen auf Pergament und Papier. Mittlerweile hatte sie es richtig gut raus, zuzuhören.

"Warum haben Sie Marchand nicht gleich mit eingeladen?" sagte Davidson zum Minister.

"Wissen Sie, ich kann mich immer noch nicht damit anfreunden, daß er so mir nichts dir nichts zu Ihnen übergelaufen ist", erwiderte der Zaubereiminister. "Ich weiß, daß es albern klingt. Vielleicht sind werdende Väter dazu veranlagt, ihren Kindern geistig entgegenzukommen. Aber ich sehe in Zachary Marchand immer noch einen unserer Spezialbeobachter. Aber zu den Angaben: Ihr neuer Mitarbeiter geht also davon aus, daß dieses Midland Powers und dieses Bundestropenmedizinzentrum am meisten gefährdet sind?"

"Das erste ist ein Kernkraftwerk, also ein Atombrennofen für künstliche Elektrizität. Das zweite beherbergt die Erreger hochansteckender Tropenkrankheiten. Werden diese unsachgemäß behandelt oder gar mutwillig in bevölkerungsreichen Siedlungen freigesetzt haben wir mit verheerenden Epidemien zu rechnen. Was das Kernkraftwerk angeht, so wissen wir ja leider aus der Affäre um den blauen Vampir Volakin, wie verheerend eine Überlastung und Explosion eines solchen Elektrostromerzeugers für die Umwelt sein kann."

"Ähm, Mein Neffe erzählte mir, er habe im Sommer mit Mrs. Hammersmith darüber gesprochen, daß diese von dem muggelstämmigen Gast Julius Latierre erfahren hat, daß die USA Sprengkörper besitzen, die auf der Atomzerspaltung basieren und dabei tausendmal mehr Zerstörungsmacht entfesseln als die gleiche Menge Schwarzpulver oder Erumpenthornflüssigkeit. Wie können wir sicherstellen, daß dieser Voodoolord nicht darauf zurückgreift?"

"Wohl deshalb, weil der Einsatz dieser Atomsprengbomben von künstlichen Monden beobachtet und von Erdbebenaufspürgeräten weltweit festgestellt werden kann, sagt Mr. Marchand. Abgesehen davon will er Terror ins Volk pressen, nicht nur Zerstörung", erwiderte Davidson.

"Okay, dann noch mal zusammenfassend. Wir wissen von diesem sogenannten Sohn des Barons Samedi, der in seinem ersten Leben Ruben Coal hieß und jetzt den Körper eines Muggelbankmenschen namens Gordon Stillwell bewohnt, seitdem dieser damals bei seinem Onkel war und dessen Landhaus abbrannte. Wie das Feuer entstand haben die Muggel nicht klären können, und für magische Erkundungen war es schon zu spät. Der Kontakt mit Coals Geist muß also dort stattgefunden haben", rekapitulierte der Minister. Davidson nickte wohl. Denn zu hören war nichts. "Marchand erwähnte, daß er beim Kampf gegen diesen Stillwell dessen Onkel und dessen Vetter als Zombies angetroffen und vernichtet habe."

Das stimmt auch", bestätigte Davidson.

"Womöglich hält sich dieser Voodoomeister gerade in Südamerika auf, wo die Weite des Landes, der Dschungel oder das Hochgebirge genügend verstecke bieten und die politisch-gesellschaftliche Lage dort unten auch die Aushebung einer Armee animierter Leichen aus spurlos verschwundenen Leuten begünstigt, da dort immer wieder Personen verschwinden und nie lange genug gesucht werden. Auf diesen Umstand wies mich der Brasilianische Zaubereiminister ja schon hin, als meine Frau und ich ihn im Rahmen der Wiederversöhnungscampagne nach Wishbones Tod besuchen wollten.

"Nun, die Zaubererwelt dort unten ist da noch erträglich", meinte Partridge. "Ich habe ein paar Bekannte in der Nähe von Sao Paulo."

"Was im Moment nicht so wichtig ist, da wir keine Handhabe haben, zu glauben, daß dieser Stillwell alias Coal in der Nähe größerer Städte sein Unwesen treibt", tat Cartridge die Erwähnung seines Mitarbeiters als gerade nicht bedeutsam ab. Dann erörterten sie, wie die Zaubererwelt sich und die Muggelwelt vor Übergriffen dieses Totentänzers schützen wollte. Anthelia erfuhr auch, daß Coal im ersten Leben auch gegen Marie Laveau gekämpft hatte. Also war davon auszugehen, daß er nicht nur auf Rache an den Nachfahren der Sklavenhalter ausging, sondern auch Rache an den Erben Marie Laveaus nehmen würde, auch und vor allem, weil Marchand mit Schutzartefakten einer ausgebildeten Voodoomeisterin namens Selma Onedin Stillwells magische Angriffe abgewehrt hatte. Als die Besprechung für Anthelia nichts mehr neues brachte dachte sie konzentriert daran, nur noch ihren Körper zu lenken. Ein wenig bestürzt stellte sie fest, daß sie während des Lauschangriffs zur schwarzen Spinne geworden war. Doch zum Glück war sie dabei im Weinkeller der Daggers-Villa geblieben, den man nur durch Apparition betreten konnte. Immerhin hatte sie genug Einzelheiten erlauschen können, um ihre nächsten Schritte zu planen.

"Es weiß also keiner, wie dieser Stillwell vom Geist dieses Coals in Besitz genommen wurde. Höchstwahrscheinlich handelt es sich um die Weitergabe eines materiellen Fokus, ähnlich dieser Horkruxe, die der Waisenknabe ausgestreut hat. Dann wäre es einfach damit getan, ihm dieses Artefakt wieder wegzunehmen und den Rest des in ihm wirkenden Geistes mit ihm zusammen abzutöten. Doch Davidson hat behauptet, Marie Laveaus Geist habe behauptet, es sei zu einer körperlichen Verschmelzung gekommen." Sie grinste, weil sie dabei an ihre eigene Vereinigung mit Naaneavargia dachte. Dann erkannte sie, daß sie womöglich doch noch eine Spur finden würde, die die heutigen Zauberer übersehen hatten. Sie hatte doch erfahren, wo das Haus gestanden hatte. Die genaue Adresse sollte ihr Tyche aus diesem Internet besorgen. Morgen würde sie dort selbst nachforschen, ob die körperliche Fusion nicht doch brauchbare Spuren hinterlassen habe und ob sie daran ablesen könnte, ob der Prozess umkehrbar war oder nicht. In ihr keimte bereits ein bestimmter Verdacht. Doch um den zu erhärten oder zu verwerfen mußte sie vor Ort nachforschen.

__________

Louis McGuire arbeitete schon seit zwanzig Jahren auf dem kleinen Flughafen knapp fünfzig Kilometer nördlich der Grenze zu Mexiko. der wettergegerbte Mechaniker und Elektriker hatte in seinem Leben schon einiges ausprobiert.. Er war als Cowboy für namhafte Rancher geritten, hatte vier Jahre bei der Marine gedient. Er war froh, nicht in einen der zwei Kriege mit hineingezogen worden zu sein, weder den in Vietnam noch dem Krieg gegen Saddam Hussein. Jetzt freute er sich über das geregelte Einkommen und kam ab und an dazu, mit den hier startenden und landenden Piloten Platzrunden über dem Flugfeld drehen zu können. Gerade brummte eine einmotorige Sportmaschine vom Typ Piper über seinen Kopf hinweg und schwenkte so ein, daß sie auf einer der kleineren Landebahnen aufsetzen konnte. Als der Pilot der zweisitzigen Maschine sein Flugzeug sicher auf dem Boden hatte und knatternd den Hangar ansteuerte, blickte McGuire auf seine Digitaluhr. Noch genau eine Minute und zwanzig Sekunden bis Schluß des Flugplatzes. Heute war nicht viel los gewesen. Einige größere Inlandsfrachter waren gestartet oder gelandet. Wer sich keine teuren Jettransportgebühren leisten wollte oder konnte brauchte diese abgelegenen Flughäfen wie diesen hier. McGuire sah den Piloten der Sportmaschine noch, wie er aus dem kleinen Hangar kam, das elektrisch betriebene Tor zufahren ließ und verschloß. Er winkte ihm zu. Der Mann war aus Florida herübergekommen, wo er jemanden besucht hatte. Jetzt konnte er zurück zu seinem Haus, knapp dreißig Kilometer von hier fort. McGuire hörte den Motor eines PS-starken Wagens anspringen und erahnte die Abfahrt des letzten Landers für heute. Toni Bowman, der Chef des kleinen Flugplatzes, der die Bezeichnung Flughafen um einige Längen verfehlte, kam zu McGuire herüber.

"Carson kann heute Nacht leider nicht. Können Sie auf den Platz aufpassen, daß hier keiner randaliert, McGuire?" Fragte Bowman den Mechaniker.

"Wenn Sie zwei Hunderter drauflegen kein Problem, Boss", erwiderte McGuire. Bowman wußte, daß der Mechaniker froh war, wenn er ein wenig dazuverdienen konnte und zudem durch keine Familie oder andere Privatverpflichtungen eingeschränkt war. Bowman zückte die zwei Scheine mit dem Bildnis Benjamin Franklins und gab sie McGuire bar auf die Hand. "Muß Onkel Sam ja nicht wissen", grinste Bowman. Dann wünschte er McGuire noch eine störungsfreie Nacht und holte seinen altgedienten marineblauen Impala aus der Garage für Flugplatzangestellte. Jetzt war McGuire fast alleine auf dem Flugplatz. Außer ihm gab es nur noch zwei Leute im Kontrollturm, die in der Nacht auf möglicherweise hereinkommende Maschinen achteten. Denn es gab immer wieder Leute, die meinten, bei völliger Dunkelheit zu fliegen, um die ewige Jagd von Termin zu Termin durchzuhalten. Einige verflogen sich oder überlegten es sich dann doch, lieber irgendwo zwischenzulanden. Für Notlandungen mußte immer Personal an diesem Platz sein.

Es war eine Minute und zehn Sekunden vor Mitternacht. McGuire hatte sich in das Pförtnerhäuschen gesetzt, das wegen seiner Rundumverglasung Minitower genannt wurde, weil von hier aus jede Bewegung auf dem Platz zu sehen war. Die Lichter der Landebahnen waren ausgeschaltet. Dann sah er die Lichtpunkte aus südlicher Richtung näherkommen. Er griff zum Hörer des Haustelefons und drückte die Eins für den Kontrollturm.

"Wir sehen die auch. Könnten mittelgroße Turboprops sein. Aber die fliegen zu niedrig. Wir konnten die erst vor einer Minute auf dem Schirm sehen."

"Wollen die hier runter?" fragte Louis.

"Wissen wir nicht. Die haben bisher nichts durchgegeben."

"Verirrte Schmuggler?" Scherzte McGuire. Er wußte natürlich, das die südamerikanischen Drogenschmuggler genau wußten, daß sie öffentliche Flugplätze nicht anfliegen durften.

"Wir haben keine Ahnung. Das Center in Houston hatte die gar nicht auf dem Schirm. Die fliegen unter dem Radar und hängen zwischen den Bergen", gab Winston Ferguson aus dem Tower zur Antwort. Dann stieß er Luft zwischen den Zähnen aus und sagte: "Clark hat die jetzt auf dem Nachtsichtgerät. Das sind kleine Frachtjets. Ich glaubs bald. Und gerade klettert noch so'n Brummer auf unseren Schirm. Der hat die Signatur von einem echt großen Jet, Boeing 707 mindestens."

"'ne Boeing kann hier nicht landen", erkannte McGuire. Dann fragte er sich, warum dieser Riesenvogel solange unter dem Radar bleiben konnte. Sowas fraß doch tierisch viel Treibstoff und machte für die Leute am Boden einen unüberhörbaren Krach. Doch als er sein eigenes Nachtsichtgerät bemühte, den Anflug der unidentifizierten Flugzeuge zu beobachten, mußte er seine Bedenken verwerfen. Da kamen wirklich drei Maschinen an, zwei kleinere Frachter und ein großer Brummer. Er überlegte gerade, wie groß die Landebahn sein mußte, um so einen Vogel ohne platte Nase abzustoppen. Da fauchten die beiden kleineren Maschinen schon heran. Zwar lagen die Landebahnen in völliger Dunkelheit. Doch die beiden Piloten schienen Weltmeister im Blindflug zu sein. Denn sie zirkelten mit heulenden Düsen über dem kleinen Flughafen herum und stießen dann fauchend hinab auf die längsten Landebahnen, wo richtig große, viermotorige Propellermaschinen aufsetzen konnten. Doch die beiden Jets waren zu schnell, dachte McGuire. Die würden erst auf der Mitte der Bahnen aufsetzen und dann über das Ende hinaus voll in die Botanik hineinrasen. Doch was machten die? Unvermittelt spien die Düsen die glühenden Abgasstrahlen nach vorne aus und bremsten damit. Sie sackten durch und krachten auf das erste Drittel der Landebahn. Bereits beim Aufsetzen mit vollem Gegenschub verzögernd donnerten die beiden fast zeitgleich gelandeten Maschinen über die Betonpisten. McGuire fühlte, wie ihm der kalte Schweiß über die Stirn in die Augen floß. Das konnte nicht gut gehen. Abgesehen davon, daß diese Irrsinnigen keine Landeerlaubnis eingeholt hatten würden sie gleich mit ihren Düsenklippern über das Landebahnende hinausfegen und ... Doch wie auch immer die das hinbekamen. Die Maschinen stoppten gerade so, daß ihre Nasen über das landebahnende hinausragten. Dann bogen sie einfach nach rechts ab und rollten über das planierte Feld, wobei sie tiefe Rillen in die unbefestigte Erde gruben. Irgendwer, der gleich noch mächtigen Ärger kriegen würde, hatte diesen Luftstunt so genau eingeübt, daß die Maschinen knapp zweihundert Meter weiter stoppten. Die Triebwerke liefen heulend aus.

"Hast du das auch gesehen. Die Piloten sind sowohl irre wie genial", hörte McGuire die Stimme aus dem Telefon. "Und dieser große Brummer kommt jetzt auch noch rein. Der kann hier aber nicht landen. Clark versucht dem Piloten das die ganze Zeit beizubringen. Doch der hört nix und ... Oha!"

Laut tosend segelte die Boeing über den Kontrollturm herunter, kreiste in immer engeren Spiralen über dem kleinen Flugplatz, sprühte dann eine große Menge Treibstoff über dem Rollfeld aus und ließ sich durchsacken. Wie bei den beiden anderen auch gingen die Triebwerke der Boeing auf Gegenschub, bevor sie die Landebahn erreichte. Dann setzte das hier nicht hinpassende Ungetüm punktgenau auf dem Anfang auf und jagte die Bahn entlang, wobei der Pilot einen sehr riskanten Trick anwandte, um einen längeren Bremsweg zu erreichen. Er wedelte mit der Maschine wie ein Alpinskiläufer, der eine Piste genüßlich ausnutzen will und rutschte mal nach links und mal nach rechts von der Bahn ab. Fast bohrte sich die Nase der maschine dabei in den Boden. Mal sackte das linke Hinterfahrwerk im Boden ein. Qualm und Erdbrocken flogen durch die Luft, während der Flieger immer noch auf vollem Gegenschub die Betonpiste mal nach links und mal nach rechts verließ und bei jedem Ausflug auf unbetonierten Grund mordsmäßig gebremst wurde. Letztendlich hatte die Boeing die Landebahn vollkommen ausgenutzt, war aber nicht umgekippt oder in die Begrünung gerast. Das Ungetüm drehte mit noch mal auf Vorwärtsschub laufenden Düsen nach links ab und pflügte seinen Weg durch das planierte Rollfeld, kitzelte mit der Backbordtragfläche einen der Hangare, wobei Funken stoben und erreichte die Zufahrtsstrecke zum Kontrollturm, wo sie noch einige hundert Meter ausrollte und dann mit auslaufenden Triebwerken stehenblieb. McGuire, der in seinem Leben schon einiges an waghalsigen Flug- und Landemanövern gesehen hatte, fühlte die Trockenheit in seinem weit offenstehenden Mund. Das war doch absolut lebensmüde. Abgesehen davon hatten die drei unangemeldeten Jets den halben Platz unbrauchbar gemacht. Das gab Ärger. McGuire sagte seinem Kollegen im Tower, daß Polizei, Feuerwehr und Luftfahrtsbehörde umgehend anzurücken hätten und steckte sich den schweren Armeerevolver ein, der zur Ausrüstung des Pförtnerhauses gehörte. Dann hängte er sich noch das kleine Sprechfunkgerät um, damit er Kontakt mit dem Tower halten konnte. Den Kerlen würde er hier und jetzt ordentlich bescheid geben. Er schnellte aus dem Pförtnerhaus heraus und jagte mit weit ausgreifenden Schritten über das ramponierte Rollfeld. Er wollte sich erst die Besatzung der Boeing vornehmen. Da piepte es in seinem Funkgerät. Er hob es vor den Mund und drückte die Sprechtaste: "Was ist, Winston?"

"Aus den Irrsinnsvögeln quellen Leute raus. Die lassen sich einfach rausfallen, das sind mindestens hundert oder mehr", quäkte Winstons Stimme sehr alarmiert aus dem Lautsprecher. McGuire fiel fast hin, weil er das laufen vergaß. Hundert Leute kamen aus den Maschinen? Dann sah er Taschenlampen aufleuchten und sogar einen tragbaren Scheinwerfer, der von der haarsträubend gelandeten Boeing in die Landschaft strahlte. Auch aus dem Bauch der großen Maschine regnete es Leute. Er konnte erkennen, daß sie robuste Kampfanzüge trugen. Einer, der gerade in den grellen Lichthof des Scheinwerfers torkelte, trug schwarze Gummistiefel. Ein anderer trug eine Armeeuniform mit zwei blitzenden Sternen darauf. Beide wirkten bleich und blutleer und wankten bei jedem Schritt wie Matrosen bei großem Seegang.

"Winston, ruf die Garde und am besten gleich die Armee, das ist 'ne Invasion. Das sind Kampftruppen und ..." Gab McGuire gerade noch durch, als eine Stichflamme vor der Boeing aufloderte und er das gefahrvolle Fauchen eines über ihn wegjagenden Raketengeschosses vernahm. Er blickte dem Flugkörper nach, dessen Flammenspur wie eine feurige Vorhut dessen am Himmel stand, was keine Sekunde später über den kleinen Flugplatz hereinbrach. Der Tower erzitterte, als auf Höhe der gläsernen Aussichtsgalerie ein lodernder Feuerball aufglühte. Winston und Clark hatten wohl keine Chance mehr gehabt. Noch eine Rakete zischte über McGuires Kopf hinweg und schlug einige Meter tiefer in den Tower, der nun von einem Mantel aus Feuer eingehüllt wurde.

McGuire versuchte gar nicht erst, seine Kollegen zu rufen. Er dachte nur daran, daß die gelandete Kampftruppe auch ihn nicht verschonen würde. Er mußte weg hier und den Militärs die Invasion melden. Er fragte sich eh, ob die alle geschlafen hatten, daß drei nicht besonders schnelle Maschinen unbehelligt diesen Flugplatz anfliegen konnten. Er peilte rasch nach links und rechts in die für ihn rettende Dunkelheit und setzte an, im geduckten Spurt aus dem Weg der ausschwärmenden Eindringlinge zu kommen. Da blitzte es rot-bläulich vor ihm auf. Er hörte das höllische Hämmern der AK 47 schon nicht mehr, da gleich vier ihrer Geschosse in seinen Kopf einschlugen und ihn aller weiterer Fragen und Sorgen erleichterten.

keine zwei minuten später war der Handstreich erfolgreich beendet. Stillwell, der den Luftwaffenpiloten aus Caracas bewundert hatte, mit einer derart großen Maschine eine bruchfreie Landung hingelegt zu haben, war stolz auf sich. Fünf Tage hatte es gedauert, dieses Manöver durchzuplanen. Mit seinen Geldmitteln hatte er hochwertige Flugsimulatoren angeschafft und die Piloten darin die Landemanöver bis zur Perfektion einüben lassen. Immer wieder hatte er versucht, den vermaledeiten Feind in den Staaten zu verfluchen und war immer wieder schmerzhaft zurückgeprellt worden. Die Magie, die er aufbot wurde erst scheinbar widerstandslos geschluckt. Doch dann knallte ihm dieser Kerl vom FBI die eingesaugte Zauberkraft mit einer Wucht um die Ohren, daß Stillwell alias Ruben Coal schon befürchtet hatte, der Feind könne ihn damit wahrhaftig auslöschen. Doch außer einer mehrminütigen Bewußtlosigkeit hatte der angebliche Sohn des Totengottes Baron Samedi keine bleibenden Schäden hingenommen. Das lag wohl daran, daß seine durch Magie verstärkte Körperverfassung wahrhaftige Vernichtungsschläge um ihn herumlenkte. Er hatte nur festgestellt, daß seine Zombies vom Rückpraller durcheinandergewirbelt wurden. Vielleicht waren sie für ihn etwas wie Wellenbrecher oder Blitzableiter. Wie auch immer. Er wollte jetzt nicht mehr darauf warten, seine Armee in die Staaten zu bringen. Einige Piloten aus den Flotten der Kokainbarone würden ihre Schmuggelbasen anfliegen und die dort wartenden Leute mit netten Passagieren beehren, die die illegalen Landeplätze unter die Kontrolle des Totentänzers brachten. Er selbst war an Bord einer der kleineren Jets gewesen und hatte über magischen Zwang die Piloten bei der Stange gehalten. Der venezuelanische Capitán war sein Geld wert, daß die Luftwaffe in ihn investiert hatte. Er hatte die 707 auf einer für sie viel zu kurzen Landebahn runtergebracht und sie in einem Stück zum stehen bekommen. Jetzt kamen seine Zombies über den Flugplatz. Einer der von ihm rekrutierten Armeeoffiziere, der an Raketenwerfern ausgebildet war, jagte den Kontrollturm mit zwei präzisen Treffern in die Luft. Doch Stillwell war nicht so überheblich zu denken, daß die darin arbeitenden Leute nicht längst um Hilfe gerufen hatten. So galt es nun, sich günstige Verstecke zu suchen und den Flughafen zu halten. Ihm war klar, daß er die Boeing nicht mehr starten konnte. Aber die brauchte er auch nicht mehr. Nachdem er seinen zu willenlosen Marionetten gemachten Gefolgsleuten den Befehl erteilt hatte, den Flughafen zu sichern suchte er sich einen Hangar aus und ließ die Tür aufsprengen. Darin stand eine zweimotorige Cessna. Diese ließ er von einem der gummigestiefelten Zombies volltanken und bunkerte noch zwanzig große Kanister voller Treibstoff im Gepäckraum und schnallte sie auf den drei anderen Sitzen fest. Dann startete er die Maschine, wobei er die Rollspuren seiner Düsenmaschinen umfahren mußte und jagte die Cessna in den Nachthimmel hinauf, zurück in Richtung Süden, wo er den Rest seiner Armee abholen würde.

__________

Marchand erfuhr keine Stunde später von der handstreichartigen Invasion unidentifizierbarer Flugzeuge. Er stand nun einem Viersternegeneral der US-Airforce gegenüber, der ihn sehr kritisch musterte.

"Sind Sie dieser Fed, der uns was von dieser Guerilla erzählt hat?" Wollte General Cunningham wissen. Marchand unterdrückte den Drang, vor diesem Offizier strammzustehen. er bejahte es nur. "Dann können Sie mir ganz sicher auch erklären, woher diese Banditen den 707-Frachter und den Irren haben, der dieses Ding auf einem Zivilflugplatz für kleine Maschinen setzen und in einem Stück parken konnte."

"Wir wissen, daß es in Südamerika eine von mit der US-Politik unzufridenen Privatleuten gesponserte Guerilla-Truppe gibt, die zudem mit Drogen handelt, die bei höherer Dosierung Schmerzempfinden und Angstgefühle unterdrückt. Deshalb wird es Ihren Leuten vorkommen, daß diese Leute betrunken sind oder wie Zombies daherlaufen."

"Ich habe schon mit einem Kameraden von der Army drüber gesprochen. Die Kerle haben die von ihnen angeflogenen Flugplätze besetzt und sich eingegraben. Wortwörtlich, Mister. Als eine Truppeneinheit die Gebäude stürmen wollte, wühlten sich diese Kerle aus dem Boden und machten sie nieder. Das waren ausgebildete Dschungelkämpfer. Und diese Banditen sind immun gegen nicht brennende Munition. Ich habe vor dem Tod eines Captains noch eine Funkmeldung von dem mitgehört, daß er einem Eindringling mehrere Kugeln in den ungeschützten Kopf gejagt hat und der trotzdem nicht umfiel. Dann hat es ihn erwischt. Mit einer Kugel im Gehirn kann selbst ein unter Schmerzunterdrückungsdrogen stehender nichts mehr machen und fällt tot um. Könnte es sein, Mister, daß Sie da ein wenig untertrieben haben, was das für Leute sind?"

"Untertrieben?" tat Marchand einfältig.

"Sie behaupteten, daß diese Leute sich wegen angeblicher Abstumpfungsdrogen wie Betrunkene oder wie Zombies bewegten. Könnte es sein, daß sie nicht nur so wirken wie diese Kinomonster sondern tatsächlich schon tot waren, bevor die Army sie unter Feuer nahm?"

"Sie glauben an echte Zombies, General?" Fragte Marchand verblüfft tuend.

"Wissen Sie was, junger Mann, wenn Sie nicht sehr schnell aufhören, mich, einen altgedienten Recken zu veralbern, kann Ihr Fed-Abzeichen da sie nicht mehr länger vor meiner Stinkwut schützen. Wenn die Typen echt schon tot waren und jetzt als lebende Leichen herumlaufen, obwohl ich bisher keinen Gedanken an sowas verschwendet habe, dann sollten wir das ganz genau wissen."

"Ihre Leute müssen sich vertan haben. Womöglich hat dieser Armeehauptmann danebengeschossen und sich aufgeregt", sagte Marchand. Der General spannte die Muskeln an.

"Ich gebe ihnen nur eine Chance, nicht in einer Minute von meinen Leuten festgenommen und wegen Behinderung unserer Verteidigung eingebuchtet zu werden. Sind das echte Zombies, ja oder nein?"

"Sie glauben also an sowas?" Fragte Marchand unbeeindruckt und ließ seine Hand vorsichtig in seine Jackentasche gleiten. Der General trat blitzschnell auf einen Alarmknopf im Boden und ließ die rechte Hand unter den Schreibtisch gleiten. Doch ehe er mit einer Waffe auf den FBI-Mann zielen konnte, hielt der schon seinen Zauberstab einsatzbereit und rief: "Obleviate!" Eine halbe Minute später verschwand der Sonderagent im Dienste der Zaubererwelt ohne die Türen zu öffnen. Denn da stürmten gerade die Sicherheitsleute des Generals herein.

"Es ist nur eine Übung gewesen, um zu sehen, ob ich noch sicher genug bin, meine Herren. Wird in unregelmäßigen Abständen wiederholt", bemerkte der General. Zachary Marchand indes tauchte aus dem Toilettentrakt des Airforcegebäudes auf und verließ unbehelligt das Gelände mit seinem Dienstwagen. Er hatte nicht damit gerechnet, daß dieser Luftritter alle bisher für einzig gültig erachteten Ansichten über die Existenz von Untoten so leicht bei Seite räumte. Das mußte er seinem neuen Arbeitgeber melden, daß es doch mehr Muggel gab, die Magie oder magische Wesen nicht so heftig als Unsinn ansahen.

__________

Einen Tag nach der Landung der ersten Zombies waren die Flugplätze mit Brandbomben beschossen worden. Doch zu dem Zeitpunkt hatte sich dort niemand mehr aufgehalten. Die lebenden Leichen waren wie ausschwärmende Ameisen ins Land eingesickert, um ihre Aufträge zu erfüllen.

__________

In die Gegend von Virginia wagte sich derzeit niemand. Der Herbst brachte kalten Wind, der die nicht weggeräumte Asche über den verbrannten Boden schob. Hier hatte einmal ein großer Forst gestanden, der als Privatwald der Villa Samedi genutzt worden war. Die Coals hatten sich etwas darauf eingebildet, angebliche Nachfahren des karibischen Totengottes Baron Samedi zu sein. Wo das Haus mal gestanden hatte gähnte immer noch ein Krater. Doch Wind und Regen waren schon dabei, ihn wieder zuzuschütten. Auf der Haut von Mutter Erde hatte nichts Bestand. Das wußte die mit Anthelia vereinigte Erdmagierin Naaneavargia auch. Sie war froh, so nahe an den Brandherd vom August herangekommen zu sein. Nun umschritt sie das große Loch im Boden und sang dabei "Madrashinago avantunago! Madrashuvani vanutdamani!" Diese Beschwörung bat die Erde, die in ihrem Schoß verborgenen Geheimnisse zu verraten. Tatsächlich erfuhr Anthelia nach der vierten Umkreisung und zwanzigsten Anrufung, daß hier eine von der Macht des Himmelsfeuers gebündelte Gewalt freigesetzt worden war. Sie sah sonnenheiße Flammenzungen vom Himmel fallen und sich dann explosionsartig ausbreiten. Doch das allein reichte ihr nicht. Denn sie sah, daß in der Sohle des Kraters breite Steinadern verliefen. Dort waren wohl einmal Kellergänge angelegt gewesen. Die interessierten Anthelia. So wechselte sie mit einer Kurzstreckenapparition auf die Sohle der Explosionsgrube und sprach beim langsamen voranschreiten die Bitte um Preisgabe der in der Erde steckenden Geheimnisse. Dabei geriet sie an einen Punkt, wo ihr Zauberstab, der während der Beschwörung nach unten wies, wie eine Wünschelrute leicht auspendelte. Doch sie erhielt keine Vision, was hier passiert war. Dann fiel ihr ein, daß die Reste der hier wirksamen Magie im Staub verstreut waren und sie erst dann genau ergründet werden konnte, wenn aller zerstreuter Staub auf einem kleinen Haufen zusammenkam. So wandte Anthelia-Naaneavargia einen weiteren Zauber aus dem alten Reich an, der nur auf Magie reagierenden Staub sammelte. Sie siebte allen zeitgleich mitgerissenen Staub mehrfach durch einen besonders engmaschigen Filter, bis die Restmagie immer klarer verdichtet wurde. Dieser langwierige Prozeß dauerte zwei Stunden an. Doch dann hatte sie einen großen Beutel mit magisch betroffenem Staub. Sie vollführte daran einen Artbestimmungszauber und mußte fast lachen. Der Staub, den sie da zusammengetragen hatte, war reiner Knochenstaub. Hier hatte vor der Explosion ein Tier oder Mensch gelegen. Sie kehrte in ihr Hauptquartier zurück und vollführte in ihrem Zaubertranklabor, das sie wohl nur noch als Analysestätte benutzen konnte, einen Knochenbestimmungszauber. Dabei kam heraus, daß es sich um die Knochen eines Mannes in der Blüte seiner Jahre gehandelt hatte.

"Bauchgefühle sind nie die schlechtesten Ratgeber", dachte Anthelia. Denn damit hatte sie den Verdacht bestätigt. Ruben Coal war nicht vollkommen verwest. Sein Skelett hatte überdauert. Und irgendetwas hatte seinen Geist an diese Knochen gefesselt. Der alte Voodoomeister hatte mit den Mitteln der archaischen Ritualmagie den Zauber wiederbelebt, der bei den Altaxarroin als Geist-in-Knochen-Bann bekannt war. Bösartige Magier wie die Handlanger Iaxathans hatten ihre Feinde grausam bestraft, in denen sie ihren Geist an deren unverwesliche Knochen gefesselt hatten. Später hatte ein anderer Erdmagier erkannt, daß er dem an sein Gerippe gefesselten Geist einen neuen Körper aus Fleisch und Blut verschaffen konnte, indem er dessen Knochen gegen die blanken Knochen des gefangenen Geistes austauschte. Sowas hatte also auch hier stattgefunden. Sie mußte nur noch klären, ob in dieser Villa wirklich das Skelett des alten Totentänzers aufbewahrt worden war.

_________

Sie war wütend. Woher wußte dieses verfluchte Weib, das ihr in Espinados Burg begegnet war, daß sie sich Claude und Alison Andrews unterworfen hatte? Itoluhila, die Tochter des schwarzen Wassers, hatte bereits starke Schmerzen verspürt, als die sachte Verbindung zu Alison Andrews mit einer mächtigen Kraft zerrissen wurde, deren Quelle sie zu gut kannte. Sie hatte dann Claude Andrews in sein Haus zurückversetzt, was sie viel Kraft gekostet hatte. Dann hatte sie durch seine Augen mit ansehen dürfen, wie dieses dunkelhaarige Weib aus der ehemaligen Kolonie Mexiko ihr widerliches Erbstück Ashtarias benutzt hatte. Beinahe wäre Claude von dessen Macht niedergeworfen worden. Itoluhila hatte es wie körperliche Schmerzen gespürt, wie die beiden widerstreitenden Auren einander zu verdrängen versuchten. Als dieses verfluchte Frauenzimmer dann noch ansetzte, die Übersetzung jener uralten Formel zu rufen, mit der Ashtaria und ihre Brut dieses und ihre anderen Schmuckstücke verstärkt hatten, mußte sie Claude zurückholen. Sie fühlte noch, wie die schlagartig explodierende Gewalt von sechs mächtigen Zauberkundigen auf einmal gegen die Macht ihres Geschenkes an Claude ankämpfte und fand sich und Claude am Boden liegend in ihrer Schlafhöhle wieder. Beinahe hätte die geballte, widerwärtige Zauberkraft Ashtarias ihn ihr grausam entrissen. Dann wäre er ihr vollkommen wertlos geworden. Auch so hatte die Bekämpfung aus der Ferne sie viel Kraft gekostet. Sie mußte mindestens einen vollen Tag schlafen. Doch das konnte sie noch nicht. Denn wenn dieses Weib und wer ihm auch immer helfen mochte nachforschte, wann und wie Claude Andrews mit ihr zusammentreffen konnte, mochte sie auch auf Carlos Ramirez und Rufina treffen. Sie konnte und wollte es sich nicht gefallen lassen, daß auch nur einer ihrer kultivierten Abhängigen von diesem Weib, der Erbin ihrer weltfremden aber übermächtigen Tante Ashtaria, ihr abgejagt wurde. Obwohl Itoluhila angeschlagen war mußte sie zumindest die Abhängigen in Sicherheit bringen, die mit Claude Andrews in Kontakt gestanden hatten. Da Claude selbst gerade vom magischen Ringen benommen bei ihr gelandet war, konnte sie ihn gleich in Schlaf singen. Sie mußte Carlos und Rufina in Sicherheit bringen. Da sie nicht wußte, für wie lange mußte sie sicherstellen, daß wer immer nach ihnen suchte sie nicht fand. Weil sie von deren Leben zehrte, mußten sie weiterleben. Leben hieß nicht nur atmen und schlafen. Es hieß auch etwas erleben, die Seele genauso mit neuer Nahrung zu versorgen wie den Leib. Das hatte ihnen ihre großartige Mutter Lahilliota in die geheimen Schriftrollen geschrieben, die sie wie alle anderen Schwestern erhalten hatte. Also mußte sie etwas tun, um die beiden weitererleben zu lassen. Wie sie mit Claude Andrews verfahren sollte mußte sie erst dann klären, wenn sie ihre unmittelbar bedrohten Abhängigen in Sicherheit hatte. Womöglich würde sie Claude mit ihnen zusammen irgendwo verstecken. Solllte sie wie Hallitti ihre Schlafhöhle anderswo hinverlegen? Seit hundert Jahren galt sie als Schutzherrin der freischaffenden Freudenmädchen in Sevilla und Granada. Wenn sie diese Aufgabe vernachlässigte würden die heute lebenden Mädchen von den draußen lauernden Kupplern und Zuhältern vereinnahmt. Das wollte sie nicht zulassen. Auch erkannte Itoluhila, daß es eine weltweite Suchaktion der magielosen Ordnungshüter geben würde, wenn sie alle von ihr geführten und sachte ausgeschöpften Abhängigen außer Landes schaffen würde. Nein, sie mußte sich diese Heimstatt bewahren und trotz der ihr drohenden Gefahr durch dieses Weibsbild ihre selbsterwählte Aufgabe weiterführen. Dann kam ihr die Idee, wie sie zumindest Carlos verschwinden lassen konnte, ohne daß weiter nach ihm gesucht wurde. Und wenn sie es richtig anstellte, dann konnte sie auch Rufina verschwinden lassen, ohne daß jemand sie suchte.

__________

"Sie wird angeschlagen sein. Das macht sie zum einen noch gefährlicher, aber vielleicht auch gerade angreifbarer", dozierte Maria Valdez, als sie nach dem Teilerfolg im Haus der Andrews' mit Almadora und Vergilio über das weitere Vorgehen sprach. Die Hexe und der Zauberer hatten beschlossen, zumindest die Liga gegen dunkle Kräfte in die Jagd auf Itoluhila, wie die angebliche Loli richtig hieß, einzubeziehen. Martha Andrews wollten sie aus der Sache heraushalten, indem sie ihr mitteilten, daß Claude wahrhaftig mit einer Verbrechergruppe aneinandergeraten sei, die ihn wegen seiner Anwaltstätigkeit auf der schwarzen Liste führten. Denn wenn die Mutter des Ruster-Simonowsky-Zauberers diesmal ihrem Sohn alles erzählte, mochte dieser vielleicht darauf ausgehen, sich erneut als Köder dieser Unheilskreatur anzubieten, diesmal bewußt und höchstfreiwillig.

"Wir müssen diesen Carlos Ramirez befragen, mit dem Claude Andrews zusammengetroffen ist. Ich glaube nicht an einen Zufall", sagte maria Valdez. Almadora nickte. "Ein derartiger Zufall ist unwahrscheinlicher als ein fünfmal hintereinander erfolgender Blitzeinschlag an derselben Stelle", fügte Vergilio noch an.

"Womöglich ist dieser Carlos Ramirez, den Martha Andrews als Frauenheld bezeichnete, auf seinen zahlreichen Suchen nach willigen Frauen an dieses Ungeheuer geraten", vermutete Almadora Fuentes Celestes. Maria Valdez stimmte wortlos zu. "Dann sollten wir uns diesen Burschen greifen und befragen, am besten so, daß du, Maria, ihn erst mit dir und deinem Talisman konfrontierst, wenn wir sicher sein können, daß er einen magischen Gegenstand bei sich trägt. Denn Menschen ohne Zauberkraft kommen höchst selten an starke magische Gegenstände." Almadoras Bruder und die angesprochene nickten bestätigend. Dann beschlossen sie, gleich am kommenden Tag diesen Mann aufzusuchen.

__________

Die gewaltigen Kuppeln und die imposanten Kühltürme waren die am weitesten sichtbaren Zeichen für die immense, wenngleich gefährliche Kraft, die an dieser Stätte ausgeschöpft wurde. Doktor Gerald Coolidge betrachtete das Bild der außenkamera auf seinem Bildschirm. Der leitende Ingenieur des Kernkraftwerkes Midland Powers, das an einem kleinen aber viel Wasser führenden Nebenfluß des Missouri errichtet worden war, hatte vor drei Tagen eine Mitteilung seiner Firma erhalten, daß mit möglichen Terrorakten auf US-amerikanische Nuklearanlagen zu rechnen sei. Er selbst hatte mit seinem Chef über abhörsichere Leitung gesprochen und eine weitergeleitete E-Mail bekommen, die aus der FBI-Zentrale in Washington stammte. Eine Gruppe namens Colored Conquerors, die farbigen Eroberer, hatte über nicht öffentliche Kanäle angekündigt, die "Brutstätten der weißen Arroganz" zu vernichten, auch und vor allem, um die überheblichen Weißen mit all den Plagen zu überziehen, von denen sie bisher wunderbar gelebt hatten. Dazu gehörten neben Anlagen der Atomindustrie auch Forschungseinrichtungen zur biologischen und chemischen Kriegsführung, sowie größtenteils zivile Chemiefabriken. Coolidge hatte die Anweisung erhalten, die bleiummantelten Außenkameras gesondert zu überwachen und jede Unregelmäßigkeit im Betrieb und Personaltransfer als Verdächtig weiterzumelden. "Die halten ihre Leute unter einer Kampfdroge, die sie schmerzunempfindlich und furchtlos hält, Doktor Coolidge", hatte sein Chef ihm gesagt. "Allerdings können die sich dadurch nicht so flüssig bewegen wie unbedrogte Leute. Aber die können, einmal in Marsch, mit Sprengstoffwesten gegen die gefährdeten Anlagen vorgehen. Daher ist gründliche Überwachung geboten."

"Kamikazezombies?" Hatte Coolidge mit unverkennbarer Ironie gefragt. "Schlagen Sie dieses Schlagwort der Presse vor, wenn die Geheimhaltung aufgehoben wird. Sie und der Werkschutz dürfen als einzige wissen, daß diese Gefahr besteht. Sonst haben wir eine Panik in der Öffentlichkeit. Und die weltfremden Idioten, die unsere Kraftwerke am liebsten gestern als heute stilllegen wollen bekämen Oberwasser. Also, halten Sie der sonstigen Belegschaft gegenüber den Mund und weihen Sie nur ihre Sicherheitsmannschaft ein!"

"Natürlich, Sir", hatte Coolidge darauf bestätigt. Tja, drei Tage war das schon her. Was an dieser Terrorwarnung dran war konnte und wollte der leitende Ingenieur von Midland Powers nicht hinterfragen. Gefahr bestand ja schon dadurch, daß die Technik versagte oder die mit ihr arbeitenden Menschen falsch reagierten. Coollidge selbst glaubte nicht an die hundertprozentige Sicherheit der zivilen Nutzung der Atomkraft. Doch das war sein Job, sie zumindest so sicher wie möglich zu halten, und den immer mehr wachsenden Energiebedarf der US-Bürger zu stillen.

"Sir, da ist was im Süden", sagte Wilson, einer der Sicherheitsleute. Coolidge warf sofort einen Blick auf den entsprechenden Monitor. Tatsächlich meinte er, etwas großes im Fluß zu sehen. Doch er konnte es nicht erkennen. Das konnte Treibgut sein oder ein verirrter Fisch. Es hielt sich zumindest schön tief unter Wasser.

"Die Sperrgitter halten?" Fragte Coolidge den Überwacher. Dieser las einige Werte von einer Anzeigentafel ab. "Keine Veränderung. Das Sperrgitter ist unberührt." Das Gitter diente dazu, Treibgut oder Flußtiere von den Ansaugpumpen für die Sekundärkühlung abzuhalten. Die Anlage kühlte den Reaktor zum einen mit direkt an diesem entlangfließendem Wasser, das immer wieder aufgefangen wurde. Dieses wurde von einem zweiten Kühlkreis gekühlt, bei dem Flußwasser verwendet wurde, das mit null oder unbedenklicher Strahlenbelastung wieder in den Fluß zurückgeleitet wurde. Coolidge entschied, daß er besser in die Reaktorüberwachung ging und dort aufpaßte, daß die Anlage nicht außer Kontrolle geriet. Er zog seinen Strahlenschutzanzug über, las das jedem Mitarbeiter vorschriftsmäßig mitgegebene Dosimeter ab und erkannte, daß er bei der zu erwartenden Strahlenbelastung noch zehn Stunden durchhalten konnte, wenn er nicht in die heiße Zone mußte. Er verließ den Monitorraum und eilte durch die weißen Flure zum Reaktorleitstand, wo sein Assistent Ken Barstow ihm schon zuwinkte. "Na, haben unsere Wächter was gesehen?" Fragte der junge Nuklearingenieur, der seine Ausbildung auf einem Flugzeugträger der Navy erhalten hatte.

"Treibgut oder ein großer Fisch im Fluß. Sonst alles ruhig", sagte Coolidge. Barstow war der einzige außerhalb der Sicherheitstruppe, der von der Terrorwarnung wußte. "R3 wurde gerade um zehn Prozent zurückgefahren, weil die Stromabnahme entsprechend sank. Da können wir die Brennstäbe ein wenig schonen", meldete Barstow, weil sein direkter Vorgesetzter die Betriebswerte ablas.

"Die zwei anderen sind bei achtzig Prozent?" Fragte Coolidge und erhielt ein Nicken. An jedem Schaltpult eines der drei Reaktoren saß ein ausgebildeter Ingenieur und überwachte Temperatur, Kühlung, Dampfdruck und Strahlung. Mit wenigen Schaltungen konnten die Steuerstäbe mal mehr oder weniger tief in den Kern des Kernreaktors eingefahren werden, um den Ablauf der Kettenreaktion zu beschleunigen oder zu verlangsamen. Im Ernstfall konnten zusätzliche Notsteuerstäbe mit großer Geschwindigkeit in die Brennkammer eingeschossen und eine zusätzliche Kühlung angeworfen werden, um den betreffenden Block abzuschalten. Bisher war dies zum Glück nicht nötig gewesen. Aber Vorfälle wie Three Mile Island oder Tschernobyl schwebten jede Minute über den Köpfen der Kernkraftwerker. In den technisch am weitesten fortgeschrittenen USA durfte es keinen Gau, keinen größten anzunehmenden Unfall geben.

"Ist das Notabschaltprogramm bereit?" Fragte Coolidge seinen Assistenten. Barstow nickte. Eine fünfstellige Kennzahl in den Hauptcomputer getippt würde alle Reaktoren zugleich vom Netz nehmen und so schnell es ging herunterfahren. Coolidge meinte die ihn umgebende Strahlung körperlich zu fühlen, obwohl das nicht ging. Es mußte eher die Anspannung sein, weil sie auf etwas warteten, von dem sie nicht wußten, wann und ob überhaupt es sie ereilen mochte. Die elektronische Uhr vermeldete mit melodischem Gongschlag das Ende einer Schicht. Unmittelbar in der Nähe der Reaktoren tätige Arbeiter mußten nun in die Dekontamination und ihre strahlenmedizinisch vorgeschriebene Pause einlegen. Die Ablösung trat fast zeitgleich ihren Dienst an. Coolidge blickte immer wieder auf die Anzeigen für die drei Reaktoren. Sie zeigten keine bedenklichen Parameter.

Der Knall überraschte alle. Etwas war explodiert. Sofort gingen Alarmsirenen los. Der Schichtwechsel geriet in Unordnung, und auf den Anzeigen huschten Warnmeldungen über Druckabfall im Sekundärkühlsystem über die Sichtschirme. Coolidge wollte schon den Befehl zur Absenkung der Reaktorleistung erteilen, als weitere Alarmsirenen erklangen und der Chef der Sicherheit über Lautsprecher durchgab: "Alarm, unbefugte Personen dringen auf Gelände vor. Personal verbleibt an den Arbeitsplätzen. Türen sichern! Türen Sichern!"

"Verdammt, wer ist so blöd, ein Atomkraftwerk offen anzugreifen??!" Rief einer der nicht eingeweihten Techniker. Coolidge griff zum Telefonhörer und drückte die Taste für die Verbindung zur Sicherheitszentrale.

"Wilson hier, Doktor Coolidge. Jemand hat was durch das Gitter geschoben und es weggesprengt und ist dabei wohl selbst mit draufgegangen", meldete sich Wilson. "Und gerade tauchen aus dem Fluß komische Gestalten auf, die nur mit Badehosen bekleidet sind."

"Strom auf dem Zaun?" Fragte Coolidge.

"Alles was geht, Sir. Wenn die drankommen werden sie gegrillt."

"Alarmmeldung an die Staatspolizei und die Nationalgarde!" Befahl Coolidge und erfuhr, daß die entsprechende Meldung schon raus war. Dann kam Wilsons erstaunte Mitteilung: "Sir, die müssen wirklich lebensmüde sein. Die haben einen Metallpfahl in der Nähe in den Boden gerammt. Jetzt wackelt einer mit einem Fanghaken, an dem ein Stahlseil oder sowas ist genau auf den Zaun zu. Das kann der nicht überleben. Er wirft den Haken: Oha, Lichtbogen! Der Verrückte verglüht! Aber der Zaun wird überlastet, verdammt!"

"Das gibt es nicht", seufzte Coolidge, der bleich im Gesicht wurde. Jemand hatte sich geopfert, um die 20000-Volt-Sperre durch eine Art Kurzschluß mit der Erde in einen leitfähigen Abnehmer umzuleiten wie mit einem Blitzableiter. Das konnte die Kraft im Zaun schwächen oder die Notfallsicherung überlasten, die bei zu hoher Stromabnahme einsprang, um einen Überlastungsbrand zu verhindern. "Noch so'n Metallpfosten, Sir. Noch einer rennt mit einem Fanghaken zum Zaun - und hat einen Lichtbogen erzeugt. Das sind Selbstmörder. Die lassen sich nicht aufhalten."

"Ken, Notabschaltung. Wenn die so weitermachen kommen die zu uns rein. Notabschaltung und alles sichern. Die Reaktoren dürfen zu keiner Zeit außer Kontrolle gebracht werden!" Befahl Coolidge. Ken tippte bereits die entsprechende Kodezahl ein, als die Alarmmeldungen zeigten, daß die Sekundärkühlung bereits einen kritischen Druckabfall erlitt. Ging das so weiter würde das im Primärkühlsystem zirkulierende Wasser überhitzen und mehr als der zur Stromerzeugung benötigte Wasserdampf entstehen. Das konnte zum Bersten der Primärkühlung und damit verbundenen Freisetzung verstrahlten Wasserdampfes führen.

"Sir, die klettern am Zaun hoch. Stromabfluß zu hoch. Aber die müßten mindestens noch was zu spüren kriegen!" Rief Wilson durch den Hörer. "Das gibt's nicht!" Hörte Coolidge noch weiter und schaltete das Telefon auf Lautsprecher um, um die Hände freizuhaben. Hoffentlich konnten die Steuerstäbe noch in die Reaktoren eingefahren werden. Falls das nicht gelang, dann drohte die Kernschmelze. Coolidge fühlte, wie sich die Angst in seinem Verstand breitmachte. Man mußte die Anlagen wirklich besser bewachen. "Notabschaltung läuft", hörte er seinen Assistenten und las mit gewisser Beruhigung, wie die Werte für die Leistungsabgabe sanken. Jedoch stieg die Temperatur immer noch an, weil die Primärkühlung alleine die freiwerdende Hitze nicht mehr schnell genug abführen konnte. Dann endlich standen die Anzeigen auf 0 % Leistungsabgabe. Die Reaktoren standen nun still. Doch Wilson vermeldete, daß mindestens zwanzig Unbefugte am Zaun hochgeturnt seien und sich nun aneinander festhielten. Die beiden Lichtbögen reduzierten den Stromfluß offenbar weit genug, daß die Angreifer zu einer Art lebender Leiter wurden, über die nun weitere Angreifer hinwegkrabbelten. Coolidge erinnerte sich an Dokumentarfilme über Ameisen. Die konnten auf diese Weise auch kleinere Abgründe überbrücken, indem sich Arbeiterinnen hinabhangelten und aneinander festhielten, bis die andere Seite des Abgrunds erreicht war. Über diese lebende Brücke konnten dann die restlichen Arbeiterinnen marschieren, um in die verheißungsvollen Futtergebiete vorzustoßen. Ähnlich machten es jetzt die Angreifer, die den Zaun nicht durchbrechen, aber überklettern konnten. Der abgeschwächte Strom mußte zwar normale Menschen noch schädigen. Doch offenbar fühlten diese Leute echt keinen Schmerz mehr.

"Sicherheitspersonal raus zur Sicherung des Geländes!" befahl Coolidge. Die Fremden mußten noch vor Erreichen wirklich sensibler Einrichtungen aufgehalten werden. Da ging es noch mit Schußwaffen. Waren sie erst einmal auf dem Gelände wurde es schwierig. Richtig unheimlich empfand er es, wie bedenkenlos sich zwei von denen geopfert hatten, um den Strom im Zaun abzuleiten. Die Türen wurden zwar gesichert, damit niemand in die Kontrollzentren vordringen konnte. Doch was brachte das, wenn von denen welche wie lebende Granaten gegen die gepanzerten Türen anrannten und sich dabei in die Luft sprengten. Wie lange mochten die Sicherheitstüren, auch die der Schleusen, einem derartigen Ansturm widerstehen. Coolidge erkannte, daß er gerade Zeuge einer sehr unangenehmen Wendung wurde. Da war jemand aufgebrochen, um ohne Rücksicht auf einzelne Leben Anschläge auf sensible Einrichtungen durchzuführen. Er konnte ja nicht einmal ahnen, daß die Angreifer längst tot waren und nur von einem Befehl vorangepeitscht wurden: "Jagt das Atomkraftwerk in die Luft!"

"Die Angreifer springen vom Zaun. Warnrufe werden ignoriert. Waffengebrauch Nötig!" Rief Wilsons Stimme aus dem Lautsprecher. Dann hörten sie das scharfe Knallen von Schüssen, während sie bange auf die Anzeigen für die Reaktoren blickten, die zwar abgeschaltet aber im inneren noch glühend heiß waren. Es würde diesen Lebensverächtern schon völlig reichen, sich durch die Abschirmung zu sprengen und das Reaktionsmaterial in alle Winde zu verteilen, auch ohne Kernschmelze. "Die fallen nicht um, verdammt! Die kommen auf unsere Leute zu!" Erklang Wilsons aufgeregte Mitteilung. "Tödliche Schüsse erforderlich. - O nein, die sind echt. Das sind echte Zombies!!" Der letzte, von panischer Angst getragene Ausruf erschütterte die Ingenieure. Sie hatten den Begriff Zombie alle irgendwann mal gehört, vielleicht aus Horrorfilmen, vielleicht aus Berichten über Karibisch-afrikanische Riten. Doch niemand hier glaubte ernsthaft an lebende Tote. Scheintote, die durch tückische Gifte willenlose Sklaven waren, das glaubten sie alle. Aber wer nach tödlich platzierten Schüssen noch auf den Beinen war und unbeirrt weiterlief mußte vorher schon tot gewesen sein. Das schlug allem ins Gesicht, worauf die Besatzung des Atomkraftwerks eingeschworen war. Für sie galten die üblichen Gefahren, wie sie durch rein physikalische Prozesse auftraten. Niemand hatte bis heute an eine Armee der Untoten geglaubt, die von irgendwelchen Anführern ausgeschickt worden war, um Tod und Vernichtung zu bringen. Dann kam eine Meldung, mit der Coolidge jetzt absolut nicht gerechnet hatte. "Sir, Drei Mann in grauen Rüstungen plötzlich auf Gelände aufgetaucht! Die waren einfach da wie hingebeamt, nur ohne übliches Lichterspiel wie im Kino."

"Barstow, Sie Behalten die Reaktoren im Blick! Wilson, Überwachungskamera des betreffenden Gebietes auf meinen Monitor schalten!" Befahl Coolidge. Der Drang, selbst in die Überwachung rüberzulaufen verflog, weil er dazu ja die gerade erst sorgfältig verschlossene Panzertür hätte entriegeln müssen. Und wenn da wirklich wahrhaftige Zombies auf dem Gelände herumliefen ... Noch konnte und wollte er nicht daran glauben. So schaltete er seinen Monitor, der bisher die Statuszeilen für die Reaktorübersicht präsentiert hatte, auf Bildempfang um und tipte die Freigabe, damit das Signal aus der Sicherheitszentrale durchgelassen und umgesetzt wurde. Keine Sekunde später sah er auf der Schwarz-weiß-Ansicht, wie zehn weit ausladend daherlaufende Männer die ständig auf sie schießenden Sicherheitsmänner angriffen. Er sah aber auch die in mattgrau oder mittelfarbig gehaltenen Rüstungen mit Helmen und Stiefeln steckenden Fremden, die gerade merkwürdige Gegenstände in ihre metallisch wirkenden Hände nahmen, weit ausholten und warfen. Coolidge konnte nur etwas flirrendes erkennen, das von den Fremden zu den Angreifern flog. Dann sah er, wie von den Angreifern etwas abflog und davonkullerte. Er konnte gerade noch den Brechreiz unterdrücken, als er erkannte, daß es Menschenköpfe waren, die nun vor dem Starkstromzaun ausrollten. Dann passierte das, was er bisher für unglaubhaft angesehen hatte. Die drei Grauen verschwanden plötzlich, um ebenso plötzlich einige dutzend Meter weiter fort wieder aufzutauchen. Sie hielten dabei stabförmige Gegenstände in den Händen. Einen Moment dachte Coolidge, das seien Zauberstäbe, wie sie in Märchen oder bei Bühnenauftritten von Zauberkünstlern zu sehen waren. Er erkannte, wie die drei Fremden irgendwas vom Boden aufhoben, und es dann wieder gegen die Angreifer warfen.

"Sir, die lebende Brücke über den Zaun zerfällt. Weitere Fremde köpfen die Angreifer mit irgendwelchen Wurfsägen oder sowas. Das geht nicht mit rechten Dingen zu!" Kommentierte Wilson das, was Coolidge nun auch auf dem Monitor sah. Die drei Grauen hatten Unterstützung von einem oder zwei Kollegen, die außerhalb der Abgrenzung ihre bis zum Abwurf kaum sichtbaren Wurfgeschosse einsetzten und Glieder aus der Brücke der Angreifer heraushieben. Er konnte sogar sehen, wie ein Wurfgeschoß sieben auf einen Streich enthauptete, bis das Ding gegen den geladenen Metallzaun prallte und dabei verschwand oder in sich zusammenfiel. Jedenfalls räumten die unerwarteten grauen Ritter, die nach belieben in einem Augenblick über mehrere Dutzend Meter hinweg den Standort wechseln konnten mit der feindlichen Truppe auf. Außerhalb des Zaunes setzten sie sogar Feuerstrahlen ein, die aus ihren Stäben schlugen wie aus Flammenwerfern. Wer davon getroffen wurde verbrannte.

"Angreifer aus dem Fluß!" Warnte Wilsons Stimme. Offenbar wurde das Atomkraftwerk nun auch von der Flußseite her bestürmt. Doch eine Minute später erfolgte die Meldung, daß über dem Fluß Leute auf Hexenbesen herumflogen und die Angreifer mit Flammenstrahlen in den Fluß zurücktrieben oder mit Harpunen aufspießten, um sie aus dem Wasser zu ziehen und mit diesen Wurfgeschossen zu enthaupten. Keine weitere Minute später waren alle Zombies erledigt. Coolidge wollte gerade fragen, was jetzt anstand, als das passierte, womit er schon vom ersten Moment an gerechnet hatte, als er mitbekommen hatte, daß sich die unerwarteten Retter ohne Zeitverlust an einen anderen Ort versetzen konnten. Drei von ihnen materialisierten mit scharfem Knall im Reaktorleitstand. Coolidges Leute schraken so heftig zusammen, daß keiner von ihnen an Gegenwehr dachte. "Obleviate!" Hörte der Leitende Ingenieur ein ihm völlig unbekanntes Wort Hohl aus dem vollkommen behelmten Kopf eines Eindringlings und sah gerade noch den auf ihn deutenden Stab. Dann verwehte sein Bewußtsein im Sturm einer Kraft, die er bisher für unmöglich angesehen hatte und, nachdem sie ihre Wirkung getan hatte, weiterhin auch für unmöglich halten mochte. Denn als er wieder zu sich kam waren keine grauen Ritter mehr da, und auch von enthaupteten Angreifern war nichts zu sehen. Er dachte daran, daß eine Spezialeinheit der Nationalgarde eingegriffen hatte, als ein Kommando scheinbar todessüchttiger Leute vom Fluß her und vom Zaun her anzugreifen versucht hatte, jedoch noch außerhalb des sensiblen Bereiches gestoppt werden konnte und die Eindringlinge in die Flucht geschlagen werden konnten. Der Schaden am Sperrgitter und dem Sekundärkühlsystem würde jedoch das Wiederanfahren der sicherheitshalber gestoppten Reaktoren um mindestens eine Woche verzögern. Midland Powers war gerade noch rechtzeitig davor bewahrt worden, zum Fanal eines machthungrigen, rachsüchtigen Geistes zu werden, der dieses und zwei andere Nuklearanlagen auf seine Liste gesetzt hatte, um das Land mit atomarem Niederschlag zu verseuchen.

__________

"Das Internet ist schon eine sehr brauchbare Einrichtung", lobte Tyche Lennox ihren Computer, als sie Anthelia einen Packen Druckpapier hinlegte. "War nicht ganz einfach aber ging. Das wesentliche. Angeblich hat der Sohn dieses Coals nach dem Tod seines Vaters dessen Gebeine in Silber einfassen und in seinem Keller einmauern lassen. Der Keller wurde später wohl zum Teil eines weitläufigen Kellersystems."

"Sagtest du, er habe das Gerippe in Silber fassen lassen?" Fragte Anthelia aufgeregt. Tyche nickte sehr heftig. Da mußte die neue Hexenlady lauthals lachen. "Offenbar dachte dieser Tor daran, den Geist seines Vaters mit dem magisch aktivierbaren Metall des Mondes unausweichlich zu bannen. Aber damit hat er die Knochenfessel, die bestimmt von Marie Laveau ausgeführt wurde, nur verstärkt."

"Ja, und es stand ein Gerücht in einem Voodoo-Nachrichtenbrett, daß Ruben Coal einen dunklen Segen ausgesprochen haben soll, der jedem seiner Nachfahren Glück und Reichtum beschert, solange dieser bis zum dreißigsten Lebensjahr einen männlichen Erben zeugt. Sollte einer nicht diese Verpflichtung übernehmen und bis zum einunddreißigsten Lebensjahr kinderlos sein, würde dessen Mutter qualvoll dahinsiechen und sterben und der alte Ruben Coal würde zur Abbitte dieser Undankbarkeit den Körper des Kinderlosen als neue Hülle übernehmen. So richtig glaubt das natürlich keiner. Aber Flüche und gruselige Legenden sind ja der Renner im Internet. Würde mich nicht wundern, wenn bei allen Sachen, die wir bisher so erlebt haben eines Tages mal jemand auch was über uns ins Internet setzt."

"Darauf lege ich nicht unbedingt Wert. Dann sollen die eher die vertrackte Geschichte über diesen Waisenknaben Riddle und Harry Potter in diesem Netzwerk diskutieren", knurrte Anthelia. Dann sagte sie mit einem euphorischen Glanz in den blaugrünen Augen: "Damit werden wir diese Kanallie aus der Welt tilgen. Wenn er die Heimstatt Marie Laveaus aufsucht, wird ihn die Macht der großen Himmelsschwester aus seinem zweiten Körper treiben. Es wird Zeit, mich den noch verbliebenen Schwestern zu offenbaren. Denn ich brauche etwas, daß du allein mir wohl nicht geben kannst."

"Was wäre das?" Fragte Tyche.

"Möglichst so viel Silber, daß ich daraus einen Tropfen von mehr als der Höhe eines Mannes zusammenfügen kann", erwiderte Anthelia darauf. Tyche begriff zwar nicht, wie genau Anthelia vorgehen wollte. Doch daß es mit dem versilberten Knochengerüst des alten Voodoomeisters zusammenhing leuchtete ihr ein.

__________

Anthelia-Naaneavargia erwachte aus einem Traum von ihrem Bruder, der gegen sie anstürmte und versuchte, sie an sich zu reißen. Doch sie hatte ihn nur ausgelacht. Einen Moment lang sah sie eine zwei Meter große Erscheinung, eine Frau mit Flügeln und einem vergoldeten Adlerschnabel und wußte, daß es die amtierende Königin von Ailanorars geflügeltem Volk war. Sie hörte das Wutschnauben Ailanorars und die hilflos gerufenen Anweisungen: "Gib meine Schwester wieder frei, du Unwürdige. Sie ist nicht für deine Ziele da!"

"Du alter Windmacher, ich bin frei", hatte die neue Hexenlady ihm darauf geantwortet und gelacht. Von diesem Lachen war sie erwacht.

Sie lauschte, ob sie hören konnte, wo Ailanorars Stimme gerade war. Sie wußte, daß Julius Latierre sie in der Himmelsburg zurückgelassen hatte. Einen Moment schien ihr großer Triumph aus dem sachten Singen seiner Stimme entgegenzuklingen. Dann wurde sie sehr schwach, so daß sie nur einen Hauch davon hörte, um dann mit einem langgezogenen, tiefen Ton zu versiegen. Das, was Naaneavargia war, wunderte sich und war irritiert. Ihr ganzes Leben lang hatte sie die Verbindung zu Ailanorars Stimme gehabt. Selbst Zauber, die worthafte Gedanken aussperrten, konnten dieses Band nicht durchtrennen. Doch nun war etwas passiert, was Ailanorars Stimme hatte verstummen lassen. Wie war dies möglich. Doch das, was Anthelia war amüsierte sich. Offenbar hatte jemand befunden, die Flöte des Windmagiers in einen Raum zu legen, der durch den Conservatempus-Zauber die verstreichende Zeit um mehr als den hundertfachen Wert verzögerte, sobald der Raum verschlossen wurde. Dies erklärte auch den langen, immer tiefer klingenden Schlußton, den sie vor dem Verstummen der Stimme vernommen hatte. Sie lächelte, weil sie mit beiden ihr nun inne wohnenden Persönlichkeiten erfaßte, wer und warum das getan hatte. "Offenbar mußte er die Stimme wieder an sich nehmen, sonst wäre ihm Ungemach widerfahren. Hat der gute Ailanorar wohl mitbekommen, daß ich jetzt ganz frei bin", dachte sie amüsiert. "Tja, und weil der begabte Jüngling weiß, daß ich sie erspüren kann, hat er sich wohl ausgedacht, daß ihre Schwingungen in einem Zeitverzögerungsraum ebenfalls verlangsamt werden, auf daß ich sie nicht mehr erspüren kann. Das trifft wohl zu. Er will die Stimme wohl nicht noch mal erklingen lassen und schon gar nicht, daß ich ergründe, wo sie ist. Nun, soll er sie verstecken. Sie wird eines Tages wieder erklingen, und ich werde sie dann finden, egal bei wem." Sie hatte mehrere Lieder gelernt, die sie auf Ailanorars Flöte spielen konnte. Womöglich hielt die Angst vor der unbändigen Macht dieses Musikinstrumentes Julius Latierre davon ab, es in Griffweite zu halten. Auch mußte er davon ausgehen, daß sie, Anthelia-Naaneavargia, darauf ausgehen mochte, es wieder in ihren Besitz zu bringen. Denn ihr konnte Ailanorars Seele nichts tun, weil sonst der alte Bannfluch ihrer Familie wirken würde. Aber andere könnten befinden, dieses Instrument zu erheischen. Es war also klug, es an einem sicheren Ort in einem Zeitverzögerungsraum zu verstecken und den Kreis der davon wissenden so klein wie möglich zu halten. Sie dachte an den Traum. Womöglich hatte Ailanorar vor, den Erwecker seiner Stimme dazu zu treiben, wider sie, die neue Anthelia, in den Kampf zu ziehen um ihr das, was früher nur Naaneavargia war, zu entreißen. Offenbar hatte Julius befunden, daß dieser Kampf ihm keinen Erfolg und keinen bleibenden Gewinn eintrug. Damit hatte er sein Leben gerettet. Denn sie, Anthelia, die nun mit Naaneavargia eins war, würde dieses neue Sein nicht mehr aufgeben.

__________

Carlos Ramirez erwachte mitten in der Nacht aus einem leidenschaftlichen Traum, in dem die Barbesitzerin Rufina eine Rolle gespielt hatte. Davon sichtlich angeregt dachte er daran, daß er mit Rufina noch nie im Bett oder auf einer anderen Unterlage gewesen war. Merkwürdig eigentlich, wo die Frau ihm gegenüber immer so rübergekommen war, als würde sie einer heißen Stunde oder einer heißen Nacht mit ihm nicht abgeneigt sein. Doch irgendwas hatte zwischen den beiden gestanden: Loli. Sie hatte ihm nie gesagt, die Augen von Rufina zu nehmen oder sie bloß nicht anzurühren. Aber irgendwie hatten die flotten Stunden mit ihr ihn immer davon abgebracht, Rufina in die Sammlung erfolgreicher Eroberungen einzureihen. Irgendwie hatte er jetzt das Gefühl, er müßte, nachdem er wochenlang enthaltsam gelebt hatte, wieder mal sehen, ob er es noch brachte. Er sah auf seine Armbanduhr. Jetzt war es sechs Uhr morgens. Rufina war wohl gerade in ihrem Lokal. Ab sieben konnte man dort frühstücken. Der Wunsch, sie anzurufen und sich mit ihr zu verabreden wuchs in ihm so stark an, daß er nach dem schnurlosen Telefon auf dem Nachttisch griff, und die Nummer des Lokals wählte. Tatsächlich ging Rufi, wie sie viele nannten, an den Apparat. Ihr Dienstpersonal war noch nicht eingetroffen. Die meisten ließen sich Zeit. So bereitete die Besitzerin des Lokals die ersten Sachen schon selbst vor. Dementsprechend rechnete Carlos damit, abgewimmelt zu werden. Doch das Gegenteil trat ein. Rufina freute sich, mit ihm zu sprechen. Sie erkundigte sich nach Claude Andrews, der ja öfter bei ihr gegessen hatte, dann nach Pedro und nach Carlos' neuem Motorrad. Dann fragte Carlos, ob sie sich mal treffen könnten, um über das letzte Jahr zu reden, weil ja viele Bekannte von Carlos auch bei Rufina gut bekannt gewesen waren. Immerhin hatte er sie ja zu ihr hingebracht. Rufina erwähnte, daß sie überlegte, das Lokal im nächsten Jahr an Virginia, ihre beste Kellnerin, zu verpachten und sich von dem zurückgelegten Geld eine Reise in die USA zu gönnen, um vielleicht dort was neues aufzuziehen. Carlos träumte auch von den Staaten. Er war da einige Male gewesen und liebte besonders das weite Land. Die Großstädte und ihren Kulturen-Mischmasch und die Hetze nach dem schnellen Dollar haßte er zwar wie die Pest, aber im Sattel einer PS-starken Maschine über die Highways und Landstraßen zu reiten wie ein Cowboy aus dem wilden Westen liebte er. Seitdem er den Film "Easy Rider" gesehen hatte, hatte ihn das Amerikafieber nicht mehr losgelassen. Doch auch mit genug Geld im Rücken hatte es nur für ein paar mehrwöchige Motorradtouren gelangt. Rufina offenbarte ihm, daß sie von einem Trailer, einem geräumigen Wohnmobil träumte, mit dem sie wie die spanischen Gitanos von festen Häusern und Grundstückenunabhängig waren und mal von einem zum anderen Ort reisen könnten, mal bei New York und mal bei San Francisco vor Anker gehen mochten. Irgendwie glitten diese Traumerzählungen in erotische Gefilde. Denn Carlos stellte sich vor, wie es sein mochte, mitten in der Prärie unter dem Sternenhimmel Liebe zu machen, nur auf einer Decke auf dem Boden, wie die Countrysängerin Billie Jo Spears es besang. Oder wie es sein mochte, auf einem Dock an der Bucht von San Francisco zu schmusen und dann, unter einer Holzbrücke die vollkommene Zweisamkeit zu erreichen, während über ihnen arglose und anständige Leute entlangspazierten, wie es in einem anderen Lied erwähnt wurde, das unter anderem von dem Filmstar Bruce Willis nachgesungen worden war. Das brachte Carlos irgendwann dazu zu fragen, ob sie das nicht mal ausprobieren sollten, ob sie beide sowas hinbekamen. Natürlich lachte Rufina. Doch es war kein verächtliches, sondern mädchenhaft vergnügtes Lachen. Dann antwortete sie:

"Wir können das gleich versuchen. mit deiner Harley bist du in einer Viertelstunde bei mir. Ich rufe die Leute an, daß ich erst um acht aufmache. Vorher kommt eh kein Gast. Die anderen rufe ich an, daß sie gerne eine Stunde später eintrudeln können."

"Wie begründest du das?" fragte Carlos.

"Ich erwähnte, daß ich von der letzten Schicht zu müde war und verschlafen habe. Also, du Held. Du hast den Vorschlag gemacht. Bringst du's?" Das durfte eine Frau Carlos natürlich nicht fragen, ohne ein klares Ja von ihm zu erwarten. So warf er sich in aller Eile in seine Motorradkombination und sprang auf seine neue, olivegrüne Harley. Keine fünf Minuten nach dem Telefongespräch donnerte er bereits durch die Straßen von Sevilla, wobei er nicht die Hauptverkehrswege nahm, sondern spärliche und für Autos sehr schmale Gassen durchquerte. Er achtete schon auf Sicherheit. Doch die Aussicht, die bisher für unantastbar gehaltene Rufina in den nächsten Minuten in die Arme zu nehmen und dann ... Er hätte fast eine Laterne umgefahren, wenn er nicht so gute Reflexe besessen hätte. Sein Geschlechstrieb ließ sein Blut prickeln, und er fühlte, wie seine Männlichkeit gegen die einengende Lederhose ankämpfte. Doch er schaffte es, trotz der in ihm aufgekeimten Begierde, seinen Weg unfallfrei zu bewältigen. Er brauchte noch nicht einmal zehn Minuten, um Rufinas Bar und Restaurant zu erreichen. Diesmal sicherte er seine Maschine durch die Wegfahrsperre und durch ein zusätzliches Mehrfachschloß, mit dem er die aufgebockte Traummaschine am nächsten Laternenpfahl festmachte. Noch mal mußte er sich ja nicht beklauen lassen. Er räumte alle wertvollen Sachen aus der Satteltasche und lief beinahe im Sturmschritt auf die Tür zu, über der ein Schild hing, das den Gästen verkündete, daß die neuen Frühstückszeiten nun von acht bis elf Uhr angelegt waren.

Rufina tauchte hinter dem Glas der Eingangstür auf und drehte den Schlüssel um. Carlos mußte sich beherrschen, nicht zu zittern. Auch Rufina wirkte ungeduldig. Sie trug nur ihre weiße Küchenschürze und ihre geschlossenen Arbeitsschuhe, die selbst Tropfen von brennendem Fett aushielten. Als Carlos durch die Tür war, drückte Rufina sie zu und zog den Schlüssel ab. Carlos pflückte den Helm vom Kopf und legte ihn auf einen der gerade blitzblank gewischten Tische. Dann fiel er Rufina in die Arme. Sie küßten sich leidenschaftlich. Darauf half sie ihm mit gezielten Handgriffen, ihn aus der Motorradkluft herauszuschälen wie eine reife Frucht, deren Genuß sie kaum erwarten konnte. Carlos stand keine zwei Minuten später völlig unbekleidet da. Und auch Rufina warf die Schürze und die Schuhe von sich. Um die Kleidung nicht auffällig herumliegen zu lassen verstauten sie alles hinter der ebenfalls gerade sauberen Theke. Carlos schnüffelte. Doch hier herrschte nur der Geruch von erkaltetem Bratendunst, Tabak und Alkohol. Noch war kein frischer Kaffee in die mehr als zwanzig Liter fassende Kanne eingefüllt worden. Noch waren keine Toasts geröstet oder Eier gebraten. Offenbar hatte er sie noch davon abgehalten, die ersten Frühstücksvorbereitungen zu treffen. Doch das war ihm gerade sowas von egal. Für ihn zählte nur Rufina, die außer ihrem Ring nichts trug. Der Ring, der sie als vergeben zeigte. Doch so vergeben konnte sie offenbar nicht sein, daß sie ihn nicht wollte. Er trug noch das kleine Medaillon um den Hals, daß Loli ihn vor drei Jahren geschenkt hatte, einen Glücksbringer, der ihn mit ihr verband und ihn vor bösen Dingen schützte oder ihm rechtzeitig zeigte, welche Handlungsweise den größten Erfolg bescherte. Rufina zog ihn mit sich in das Hinterzimmer. Dort hatte sie eine dicke Daunendecke ausgelegt. Sie verschloß die Tür von innen. Keinem der beiden Liebeshungrigen fiel auf, daß die Eingangstür nicht verschlossen war. Denn hier und jetzt hatten und wollten sie nur sich. Die Welt verschwand aus ihrer beiden Bewußtsein. Für Carlos gab es nur dieses nackte Wunderwesen, über dessen Körper er seine Hände gleiten ließ. Für Rufina existierte nur der starke, gut gepolsterte Mann, der genau wußte, wo er sie anfassen mußte, um sie in die richtige Stimmung zu bringen. Als sie nach einigen anregenden Streicheleinheiten auf die große Wolldecke sanken und vollständig zueinanderfanden, hatten sie den Gastraum komplett aus ihren Gedanken verdrängt. Sie bekamen nicht mit, wie zwei Fremde, ein Mann und eine Frau, scheinbar vollkommen berauscht von etwas, durch die nicht verschlossene Eingangstür taumelten. Wer sie ansah mochte an lebende Tote aus einem Horrorfilm denken. Doch die Augen der beiden Besucher wirkten nicht leblos, sondern verklärt, als sähen sie gerade etwas wundervolles. Sie achteten nicht darauf, daß der Gastraum leer war und überhörten die Laute der Liebe, die aus dem verschlossenen Hinterzimmer erklangen. Wie Marionetten an unsichtbaren Fäden gingen die beiden Besucher zum Toilettentrakt und schlüpften dort aus ihrer Kleidung. sie wußten nicht, was sie taten. Sie wußten nicht, daß sie vor einer Stunde von einer Fremden angesprochen worden waren. Sie konnten nicht darüber nachdenken, daß diese Fremde jeden von ihnen mit einem durch hypnotischen Blickkontakt in die Gehirne gepflanzten Befehl betraut hatte. "Geh zu Rufinas Bar, nimm dir den, der da auch ist und treibe es mit ihm! Denn er/sie ist der/die beste von allen."

Was die beiden Paare, die nun, die einen beim Rest ihres Bewußtseins und die anderen wie unter Drogen stehend auch nicht mitbekamen war die unsichtbare Besucherin, die mitten im Gastraum auftauchte und den Schlüssel für die Eingangstür aus der abgelegten Küchenschürze fischte. Das leise Klackern des Türschlosses wurde nicht gehört. Ebenso wie niemand hörte, wie die Unsichtbare den Gasherd voll aufdrehte, ohne das ausströmende Gas zu entzünden. Als Sie fühlte, wie die Wogen der Lust des Liebespaares im Hinterzimmer sie selbst zu berauschen drohte, konzentrierte sie sich auf ihre gedanklichen Anweisungen.

Carlos hielt Rufina fest umschlungen. Dabei bekam er auch die Decke zu fassen, die sich fast um sie beide herumdrehte. Rufina war eine Erfüllung, fast so wie Loli. Rufina dachte daran, daß Loli ihr das gerne verzieh, daß sie mal wieder einen Mann haben wollte, wo sie mit ihr die wonnen gleichgeschlechtlicher Liebesspiele schätzen gelernt hatte. Beide erlebten fast zur selben Zeit den Höhepunkt. Als Wenn die Wogen der höchsten Befriedigung ein Loch in das Raum-Zeit-Gefüge gerissenhätte, verschwanden beide und die Lotterdecke im Nichts. Eine Sekunde später drehte sich der Schlüssel im Schloß um und sprang heraus. Das Hinterzimmer war nun unverschlossen. Die Tür ging auf. Denn das nun aus allen Düsen des Herdes entströmende Gas sollte auch hier hineingelangen. Das ferngesteuerte Liebespaar im Toilettentrakt bemerkte den stärker werdenden Gasgeruch nicht. das uralte Spiel, das die Menschheit bis zum heutigen Tag hatte überleben lassen, war das einzige, was für die Marionettenmenschen zählte. die Unsichtbare wartete noch einige Minuten, bis sie fühlte, daß das entweichende Gas die Sinne eines Menschen betäuben mußte. Sie verschwand laut- und übergangslos aus dem verschlossenen Lokal. Knapp eine Minute später verfielen die ohnehin schon willenlosen der Wirkung des Gases und wurden bewußtlos.

Fünf Minuten später klingelte das Telefon auf dem Tresen. Ein Läuten schaffte es noch. Dann kam, was kommen mußte. Die durch die elektrischen Funken in der alten Telefonschelle gezündete gesättigte Luft-Erdgasmischung reagierte mit einer weithin donnernden Detonation. Innerhalb einer Hundertstelsekunde sprengte ein bläulich-weißer Feuerball alles Glas aus Türen und Fenstern und katapultierte das Flachdach in die Höhe. Alle Wände brachen zusammen. Der Herd flog in mehreren Tausend glühenden Splittern durch den im Feuersturm brennenden Gastraum. Überall, wo sich das ausgeströmte Gas ungehindert hatte ausbreiten können, wütete das Feuer und zerstörte alles, was ihm im Weg stand. Als die Druckwelle der Explosion abebbte stürzte die verdrängte Luft zurück an ihren Ursprungsort und entfachte den höllischen Brand erst recht. Wer und was immer im Haus gelegen hatte verging. Alle Fenster im Umkreis von dreihundert Metern wurden entglast. Carlos' Motorrad wurde mit dem Laternenpfahl umgerissen. Die Straßendecke bekam Risse. Denn die Explosion betraf auch die Gasleitung, aus der nun hell lodernd weiterbrennend eine Unmenge des sonst so nützlichen Brennstoffs nachströmte, so daß das nun in Trümmern zerfallene Lokal einem gigantischen Bunsenbrenner glich.

__________

Maria Valdez erfuhr bei ihrer Recherche in einem Internetcafé von der verheerenden Gasexplosion. Die Feuerwehr hatte nur zwei unrettbar verkohlte Leichen aus den Trümmern bergen können, als es der Gasfirma endlich gelungen war, die Leitung zu sperren. Außerdem waren stark verkohlte Überreste einer Ledermontur für Motorradfahrer und ein zerschmolzener und verkohlter Sturzhelm gefunden worden. Die vor dem explodierten Lokal niedergestürzte und von der Flammenwolke verrußte Harley-Davidson wurde als die eines gewissen Carlos Ramirez identifiziert. Guardia Civil und Brandschutzbehörde ermittelten, ob es sich hier um einen Unfall, fahrlässige oder mutwillige Brandstiftung mit Herbeiführung einer Gasexplosion handelte. Da Zeugen mitbekommen hatten, wie die Lokalinhaberin im Bus zu ihrer Arbeitsstätte gefahren war vermuteten die Beamten, daß die in der unmittelbaren Nähe der Toilettenräume verteilten Überreste ihr und Carlos Ramirez zuzuschreiben waren. Maria ließ sich die wortwörtlich knallharte Wendung in ihrer Ermittlung auf Papier ausdrucken. Sie fragte sich, ob es wirklich ein Unglück war oder ob ihre Feindin nicht ganz geschickt lästige Mitwisser oder einen wertvollen Abhängigen aus dem Weg geräumt hatte. Sie nutzte ihre neuerschaffene Identität als Interpol-Agentin, um sich über die nur der Polizei bekannten Tatsachen zu informieren. Es wurde daran gedacht, das Vorleben der beiden mutmaßlichen Opfer zu prüfen. Vielleicht kam dabei ja was heraus. Doch Maria bezweifelte, daß es in Sevilla noch was zu holen gab. Die dämonische Kreatur hatte schnell und über die Maßen wirkungsvoll reagiert. Natürlich mußte das Geschöpf erkannt haben, mit wem Claude zusammengetroffen war. Natürlich mußte es vorausahnen, daß ihre wiederaufgetauchte Gegnerin nachprüfen würde, ob Carlos auch einer ihrer Unterworfenen war. Selbstverständlich mußte sie die Gefahr ausräumen, daß dabei ihr Abhängiger oder ihre Abhängige enttarnt und, was bestimmt schlimmer war, aus dem magischen Bann befreit wurde. Für Maria war es nun nicht mehr wichtig zu fragen, ob Carlos oder diese Rufina den Kontakt zwischen Claude und Itoluhila hergestellt hatten. Für sie galt nur, daß die beiden entweder tot waren oder von der Höllentochter noch vor der Gasexplosion in Sicherheit teleportiert worden waren, so wie Claude durch ihre Magie vor der Befreiung durch Marias Kreuz verschwunden war. Aber dann mußte man sich fragen, wer die beiden Menschen im Toilettentrakt waren, die anhand der verkohlten Knochen als ein Mann und eine Frau identifiziert werden konnten. Doch darauf wußte Maria auch eine Antwort: Der Succubus hatte irgendwelche Obdachlosen heimgesucht und zum richtigen Zeitpunkt in dieses Lokal gelockt um sie dort als notwendige Leichen auffinden zu lassen.

"Ich hätte erst diesen Carlos Ramirez aufsuchen sollen", dachte Maria. Doch dann fiel ihr ein, daß Itoluhila sofort ihre magischen Sklaven Claude und Alison Andrews in Sicherheit geholt hätte. Sie ärgerte sich, daß sie die einzige eingeweihte Erbin Ashtarias im Umkreis war. Zwar sollte es noch eine Hexe in Frankreich geben, die wohl das Erbe ihrer Mutter übernommen hatte. Doch an diese wollte Almadora nicht herantreten, da diese gerade ein Kind im Säuglingsalter hatte. Sicher, Maria hatte auch eine Tochter. Doch diese konnte auch bei anderen Leuten aufwachsen, sollte sie während ihrer beinahe einsamen Jagd nach der Abgrundstochter ums Leben kommen. maria wußte, daß sie diese Runde verloren hatten. Jetzt war es genauso, wie vor zwei Monaten noch. Sie hatten keinen Anhaltspunkt mehr, wie sie an Itoluhila herankommen sollten. Als hätte der Gedanke an die Gegnerin es ausgelöst vibrierte ihr silbernes Kreuz. Maria war sich sicher, daß es auch wieder in diesem blauen Licht glimmen mochte, das nach Claudes Verschwinden erschienen war. almadora hatte vermutet, daß die Gegnerin entweder einen Fernfluch auf sie schleudern oder mit ihr geistigen Kontakt aufnehmen wollte. Dieser kam wohl nur deshalb nicht zu Stande, weil das Kreuz magisch getragene Gedankenbotschaften von außen abfing und wohl besonders die von einer der noch wachen oder schlafenden Succubi. Sollte sie das Kreuz ablegen und sich was auch immer ausliefern? Nein! Das war viel zu gefährlich. Nachher ortete dieses Monstrum sie noch und konnte sie direkt angreifen, ehe sie das schützende Schmuckstück wieder am Körper trug. Als nach einer weiteren Minute keine neue Reaktion ihres Talismans erkennbar war, nahm Maria die ausgedruckten Artikel und vorerst angelegten Polizeiberichte und verließ das Internetcafé, um sich im Schutze eines hohen Lagerhauses mit Almadora Fuentes Celestes zu treffen.

"Wir waren ein paar Stunden zu spät", sagte maria und übergab ihr die Ausbeute ihrer Internetsuche. Almadora überflog die Schlagzeilen und auch die Meldung über das gefundene Motorrad. "Die Toten sind wohl arglos unterworfene und ins Verderben geschickte Menschen", erläuterte Maria. "Ich denke, dieses Weib hat ihre Unterworfenen früh genug in Sicherheit geholt. Doch nun glaubt alle Welt, daß Carlos Ramirez und diese Rufina getötet wurden. Nach toten sucht keiner. Es sei denn, die Polizei untersucht die Erbsubstanz und verbleicht sie mit der von Carlos' Eltern und möglichen Haarproben der Lokalbetreiberin."

"Dann stehen wir jetzt wieder am Anfang", seufzte Almadora. "Sie hat die einzige Spur zu sich gelöscht. Aber sie muß die drei in die Zivilisation zurückschicken. Sie müssen leben und erleben. Vielleicht bekommen wir sie darüber zu fassen."

"Wenn du mir sagen kannst, wie groß die Reichweite ihrer Teleportationen ist", erwiderte Maria verhalten.

"Nun, ihre Schwester Hallitti konnte ihren Abhängigen über tausende von Kilometern durch das Land schicken oder tragen. Und wenn wir davon ausgehen müssen, daß Claude Andrews direkt in ihr irgendwo in Spanien eingerichtetes Versteck versetzt wurde ... kann sie ihre geretteten Abhängigen ohne von den Muggelverkehrsüberwachern entdeckt zu werden nach Afrika versetzen, von wo aus sie wiederum irgendwie weiterleben oder an einen anderen Ort weiterreisen können." Die Resignation stand der spanischen Hexe ins Gesicht geschrieben. Sie hatten eine übermächtige Gegnerin. Und sie waren dazu verurteilt, zu warten, bis diese sich erneut zeigte oder einer ihrer Abhängigen auftauchte.

Niemand argwöhnte, daß die zweistrahlige Privatmaschine, die eine Stunde nach der Gasexplosion vom Flughafen von Rabat aus in Richtung Rio de Janeiro startete, irgendwas mit Claude Andrews, Carlos Ramirez oder Rufina María Lorca Morales zu tun hatte. Der Besitzer der Maschine gehörte zu Itoluhilas Abhängigen und hatte an diesem Morgen große Lust verspürt, mit ein paar Freunden vom europäischen Festland einen Ausflug zum Zuckerhut zu machen. Daß seine drei Passagiere in der brasilianischen Metropole spurlos untertauchten interessierte ihn nicht, als er vier Tage später nach Marokko zurückkehrte.

__________

"Nachricht an Quinn Hammersmith, seine Zomboskope sind ihr Geld wert, und die Dekapitationsdisken wurden gerade noch rechtzeitig serienreif", meldete Marchand seinem neuen Vorgesetzten Elysius Davidson, als er aufatmend Bilanz zog. In den Tagen zwischen dem ersten und sechsten November hatten mehrere Truppen von Zombies versucht, drei Atomkraftwerke und vier Chemiefabriken zu stürmen. Beinahe hätten sie das Kernkraftwerk Midland Powers überrannt und womöglich zu einer mutwillig herbeigeführten Kernschmelze getrieben. Gerade noch rechtzeitig war die Angriffsmeldung bei den von Marchand postierten Überwachern eingetroffen. Pläne über Lage und Aufbau der Atomkraftwerke lagen dem FBI ja schon lange vor, so daß zehn Ministeriumszauberer in den seit Volakins Tod weiterentwickelten Fortiplumbum-Schutzrüstungen an den Ort des Geschehens apparieren und den gerade ablaufenden Zombieüberfall gerade noch rechtzeitig stoppen konnten. Von Gordon Stillwell alias Ruben Coal war jedoch keine Spur gefunden worden. Offenbar hatte sich der Führer der unheimlichen Armee an einem sicheren Ort verborgen und hoffte auf den Erfolg seiner toten Terrortruppen. Mittlerweile war herausgekommen, daß an drei verdächtigen Landeplätzen weitere wandelnde Tote US-amerikanischen Boden betreten hatten. Sie konzentrierten sich wohl auf den Süden. Die Flughäfen wurden von Einheiten der Nationalgarde angegriffen. Doch wer nicht mit Feuer oder Enthauptungswaffen gegen die Zombies vorging stand auf verlorenem Posten.

"CC-Truppe greift Institut für tropische Viruserkrankungen in San Francisco an!" Meldete ein Kollege des FBI an Marchand, der durch Interventionen Davidsons und des Zaubereiministers zum bundesweiten Vermittler berufen worden war. Er gab die Meldung über ein Verständigungsartefakt des Laveau-Institutes an die in Kalifornien bereitstehende Eingreiftruppe weiter, die vor einem Tag noch das Atomkraftwerk California Nuclear Industries vor einem künstlich ausgelösten Supergau bewahrt hatten. Jetzt mußten die zu einem Forschungszentrum für tropische Krankheiten. Wegen der ausgegebenen Terrorwarnung wurden alle neuralgischen Einrichtungen von bewaffneten Polizei- und Nationalgardeeinheiten abgeriegelt. Doch wenn die keine Flammenwerfer einsetzten waren sie gegen die Zombies machtlos. Eine Stunde später bekam Marchand die Meldung, daß die Angreifer dem massiven Abwehrfeuer der Wachmannschaft erlegen waren.

"Wie viele Mistkerle gibt es denn noch von denen?" Hörte Marchand seinen muggelweltlichen Vorgesetzten Wilberforce entrüstet fragen.

"Wir wissen es nicht. Die Firma wollte ihre Unterlagen nicht rausrücken", erwiderte Marchand. Damit spielte er auf von Ministeriumsangestellten innerhalb der CIA ausgelegte Berichte an, die die Armee Stillwells als Terrororganisation einstuften, die vor allem in Südamerika und Zentralafrika versuchte, die Vormachtstellung der Weißen zu brechen und ohne Rücksicht auf eigene Leute großangelegte Umweltkatastrophen oder Seuchen auszulösen. Natürlich wollte die CIA nicht damit herausrücken, wie viel sie über diese Gruppe wußte. Doch Marchand, der die angeblich so geheimen Meldungen verfaßt hatte, kannte natürlich die Einzelheiten.

"Dürfen wir damit rechnen, daß wir bald mal hören, was diese Verbrecher überhaupt wollen?" Fragte Wilberforce.

"Sie drohen nichts an, sondern führen Krieg, Sir. Wir müssen darauf ausgehen, daß diese Leute ohne Vorwarnung sensible Einrichtungen überfallen. Aber wenn das so weitergeht dürften sie bald Personalprobleme haben. - Hoffe ich zumindest."

"So, hoffen Sie", grummelte Wilberforce. "Ich glaube, wir sollten die Bauernlümmel aus Virginia mal kräftig zusammenstauchen, damit die uns mehr über die geben. Angeblich sollen das Büro und deren Firma doch zusammenarbeiten, wenn die nationale Sicherheit bedroht wird."

"Tja, nur wenn sie dabei nicht rauslassen müssen, welche Mitarbeiter in welchen Ländern diese Informationen zusammengetragen haben, Sir", warf Marchand ein. Wilberforce grummelte nur etwas unverständliches.

Weitere Tage vergingen. Immer wieder kam es zu Übergriffen. Doch weil vor gefährdeten Anlagen nun auch Überwacher aus dem LI postiert waren, konnten die meisten von denen ohne die Muggel mit einzubeziehen abgewehrt werden. Das von Quinn Hammersmith erfundene Zomboskop schlug bereits an, wenn sich die vorrückenden Wiedergänger auf zwei Kilometer an die ausgesuchten Ziele herangeschlichen hatten. Denen nützte es auch nichts, sich auf Maulwurfweise unterirdisch vorzuarbeiten oder auf Grund nicht benötigter Atemluft in nahegelegenen Flüssen an ihre Ziele heranzutauchen. Seitdem es den Zombies bei Midland Powers gelungen war, von der Flußseite her den Sekundärkühlkreislauf eines Atomkraftwerkes zu beschädigen wachten je zwei Zauberer an solchen Gewässern und schlugen sofort alarm, wenn sich die belebten Leichen näherten. Louis Anore hatte vorgeschlagen, im Wasser anschleichende Zombies mit Gefrierwasser in Eisschollen einzuschließen. Das klappte. So konnten die von Stillwell animierten Kampfschwimmer gestoppt, aus dem Wasser geholt und erledigt werden.

Offenbar hatte Stillwell eingesehen, daß er so nicht mehr seine Ziele erreichen konnte. Denn keiner konnte wissen, daß die Angriffe auf brisante Ziele nur eine Machtprobe und ein Ablenkungsmanöver waren. Denn der eigentliche Angriff sollte in New Orleans stattfinden.

__________

Es war der fünfzehnte November, als Anthelia alle verbliebenen Mitschwestern zu einer Vollversammlung ihres Ordens in die Daggers-Villa einlud. Anthelia hatte diesen Tag gewählt, weil dieser ein Schicksalstag für sie war. Vor genau einem Jahr hatte sie sich mit Daianira Hemlock in der Höhle der entschlossenen Schwestern duelliert und damit über Monate aus der Welt geschafft.

Weil Hynerias Säuberungsaktion in den Reihen der entschlossenen Schwestern fast alle Mitglieder des Spinnenordens betroffen hatte, und weil von australischer Seite her nur noch Kathleen Thornhill übrig war, stellte Anthelia fest, daß sie durch das verstrichene Jahr eine Menge Boden verloren hatte. Immerhin waren alle deutschen, französischen, britisch-irischen, italienischen und russischen Mitschwestern von damals gekommen. Auch drei Mitschwestern aus Südamerika, darunter Alicia Montesalvaje, mit der Anthelia damals Yanxothars Klinge gesucht hatte. Weil sich Alicia noch zu gut an diese erfolglose Suche erinnerte, vor allem an die Demütigung, die ihr die höchste Schwester dabei zugefügt hatte, war sie verständlicherweise nicht besonders begeistert. Als sie dann auch wie alle anderen sah, daß Anthelia einen neuen Körper bewohnte, fragte sie sich ernsthaft, ob sie nicht doch versuchen sollte, dieser Truppe den Rücken zu kehren. Da von den US-amerikanischen Entschlossenen keine mehr da war, hatte die neue Anthelia auch keine Bedenken gehegt, Patricia Straton dazuzubitten. Zwar peinigte sie die Nähe des Sonnenmedaillons, doch sie hatte die Tochter Pandoras weit genug von sich fort platziert und zudem Sardonias Mantel unter ihrem Umhang angezogen, auch wenn der sie nicht so gegen die Wirkung von Intis Beistand abschirmte wie gegen rein schwarzmagische Zauber.

"Wie ihr, die seit der leidigen Sache im letzten Jahr nicht wieder mit mir gesprochen habt sehen könnt, gab es umfangreiche Veränderungen. Ich wurde nicht, wie es einige Damen aus der Riege Daianiras hofften, als Tochter dieser eigensinnigen Hexe wiedergeboren. Ich bin nicht an den Folgen des Kampfes mit der blauen Kanallie Volakin verstorben, auch wenn es sehr stark danach aussah, als müsse ich das Leben in einer eigenständig beweglichen Daseinsform aufgeben", eröffnete Anthelia. "Vielmehr kam mir ein unerwarteter Umstand zu Hilfe, meine körperliche Daseinsform unverwüstlicher und dauerhafter zu machen und dabei weitreichende Erkenntnisse zu schöpfen, mit denen wir alle den Weg mit mehr Erfolgsaussichten voranschreiten können. Ja, es ist wahr, daß viele von uns im verflogenen Jahr, das zwischen dem vertrackten Zweikampf zwischen mir und Daianira und heute verstrich, viele von uns für die gemeinsame Sache ihr Leben oder zumindest ihre Freiheit verloren haben und heute nicht zu uns stoßen konnten. Es ist auch war, daß durch eine groß angelegte Täuschung des gescheiterten Zaubereiministers Lucas Wishbone der öffentliche Haß auf uns lastet, da dieser Feigling und Versager mir zu unterstellen wagte, ich sei seine Mörderin. Ihr habt sicher alle darüber nachgedacht, ob ich wirklich und wahrhaftig so töricht war, jemanden zu töten, der die Hexenheit ablehnt und ihr kein öffentliches streben gönnte. Nein, ich habe ihn nicht ermordet. Und falls mir sein Tod opportun erschienen wäre, so hätte ich ihn und jeden Zeugen unauffindbar verschwinden lassen, so daß niemand mir eine solche Tat vorwerfen konnte, ohne als Phantast oder vom Verfolgungswahn besessener zu gelten. Nun, Lucas Wishbone mußte lernen, daß es nicht ratsam ist, mich herauszufordern. - Nein, er starb nicht wirklich. Aber er wird unter seinem Namen auf sehr lange Sicht nichts mehr gegen uns unternehmen können." Patricia Straton und Tyche Lennox grinsten verstehend. Dann erwähnte Anthelia ihre Reise nach Australien, bei der sie das Wissen und die körperliche Unversehrtheit der dort hausenden schwarzen Spinne in sich aufgenommen habe. Als sie zu Valery Saunders befragt wurde und wie sie Daianiras Mutterschoß ohne Geburt und zweite Kindheit entschlüpft sei antwortete sie so: "Ich hatte mich nicht damit abfinden wollen, als Daianiras Tochter wiedergeboren zu werden und von dieser womöglich zur treuen Gefährtin unterworfen zu werden. So legte ich einen Köder aus, der sie und damit mich in eine tödliche Falle locken sollte. Meine Absicht war, der Schmach der Geburt als Tochter einer erklärten Feindin durch den körperlichen Tod zu entrinnen. Doch jemand wirkte einen Zauber, der das Verhältnis von Tochter und Mutter verkehrte, allerdings so, daß nicht ich Daianiras Mutter zu werden hatte. Durch den Zugewinn des Wissens der zur Daseinsform als Spinne verurteilten Magierin des alten Reiches erfuhr ich, daß jener Zauberschüler, der mir unfreiwillig half, Hallittis Existenz auf Erden zu beenden und ebenso unbewußt wie unfreiwillig als Speck in der Falle für die Ratte Bokanowski diente, Zugang zum alten Wissen erhalten hat, um mächtige Schutz- und Heilzauber zu erlernen, die jedoch nur wirken kann, der noch kein Menschenleben gewaltsam auslöschen mußte. Er vertraute sich wohl einigen erfahrenen Hexen und Zauberern an, denen er diese alten Zauber beibrachte. So half er mir wieder einmal unbewußt aus Daianiras dunklem Schoß heraus, ohne mir die Hilflosigkeit einer zweiten Kindheit aufzubürden. Ebenso verhalf er aus einer gewissen Unbedachtheit jener Magierin, die als schwarze Spinne zu existieren hatte, zur Freiheit. Nun, wo sie und ich Körper und Wissen teilen empfinden wir deshalb übergroße Dankbarkeit diesem Jungen gegenüber, der mittlerweile eine Gefährtin für Leben und Nachwuchs fand." Alle wußten, wer gemeint war. "Somit besteht meine erste große Bitte an euch, meine Schwestern: Erhebt nicht die Hand wider diesen jungen und seine Angehörigen, sofern er nicht so töricht ist, sich an der Jagd auf uns zu beteiligen und vom naiven Gedanken vorangepeitscht wird, an ihm sei es, mich aus der Welt zu schaffen. Solange er keinerlei solcher Anwandlungen zeigt gilt ihm mein Schutz, auch wenn er ihn beharrlich zurückweisen mag, da ihm ständig erzählt wird, wir seien die Feinde der gesamten Menschheit. Doch er wird lernen, mit uns zu leben und das, was wir der Welt anbieten zu achten, auch wenn es nicht mit dem ihn eingeprägten Verhaltensrichtlinien vereinbar sein mag. Denn nur wer sich ins Dunkel traut, kann das Licht bewahren. Denn es kann und wird nicht überall und jederzeit scheinen, so wie der Tag nur geehrt wird, weil es auch die Nacht gibt und ohne Schatten das Licht nur eine formlose Erscheinung ohne Wert und Kraft ist."

"Dann sollen wir diesem Jungen nichts tun, solange der uns nicht offen angreift?" Fragte Marga Eisenhut. Anthelia bejahte es. Louisette Richelieu bat ums Wort und wandte ein:

"Er ist nicht dumm. Er weiß, daß es das sogenannte Gute alleine nicht gibt. Aber so wie ich es von Briefen meiner Nichte weiß, drängt er sehr auf gewaltloses Leben, ehrt das Menschenleben so sehr, daß er niemanden von sich aus töten wird, solange er mehr als diese Möglichkeit zur Verfügung hat."

"Bemerkt er, daß deine Nichte ihn beobachtet?" Fragte Anthelia.

"Meine Nichte weiß nicht, daß es mich interessiert, was dieser Junge kann oder tut", erwiderte Louisette. "Ich habe sie daher nicht dazu angehalten, ihn zu beobachten. Ich kann und will mich nur auf das stützen, was sie mit ihrer kindlichen Auffassungsgabe mitbekommt und mir ganz ohne darum gebeten worden zu sein erzählt, was sie meint, mir erzählen zu müssen. Sie soll nicht den Eindruck bekommen, ich würde sie für irgendwas einspannen. Abgesehen davon ist Professeur Fixus immer noch Lehrerin in Beauxbatons. Es würde auffallen, wenn ich Jacqueline die Legilimentie beibrächte, um ihr gegebene Anweisungen zu verbergen. Ebenso würden von mir erteilte Anweisungen auf kurz oder lang von dieser kleinen aber gemeinen Zaubertranklehrerin erlauscht. Daher habe ich meine Nichte nicht dazu angehalten, Julius Latierre und seine Mitschüler gezielt zu überwachen. Zwar wird die neue Schulleiterin Faucon argwöhnen, ich könnte zumindest dem gemäßigten Zweig der alten Schwesternschaft angehören. Doch nur wenn ich meine Nichte bis zum Erreichen der für eine wirksame Geistesverhüllung nötigen Reife ihr eigenes Leben ergründen lasse kann sie mir nichts vorwerfen."

"Du wirst aber wohl am Tage der Zusammenkunft zwischen Lehrern und Eltern deinen Bruder und seine Frau begleiten, nicht wahr?"

"So habe ich es ihm nahegelegt, da ich als Patin Jacquelines gelte", erwiderte Louisette.

"Gut, mehr kann und will ich zu diesem Punkt dann nicht äußern. Kommen wir zu dem Punkt, weshalb ich euch Alle zusammenrief", erwiderte Anthelia und berichtete von Ruben Coal alias der Sohn Baron Samedis und bedauerte es, das eine Fachkundige des Voodoos von Hyneria aus der Welt geschafft worden war. Sie beschrieb, was sie über ihn erfahren hatte und sprach auch davon, daß bereits Angriffe lebender Toter auf gefährliche Einrichtungen der Muggelwelt stattgefunden hatten, aber bisher vom Laveau-Institut und vom Zaubereiministerium Cartridges zurückgeschlagen werden konnten. Sie erwähnte auch, daß sich Coal in den nächsten Tagen nach New Orleans wagen würde, um den Kampf mit den Erben Marie Laveaus zu suchen. Dann legte sie ihren Plan dar und äußerte ihre Bitte an alle: "Was ihr an reinem Silber hütet tragt hier zusammen, auf daß ich mit den Kenntnissen über seine Beziehung zum Mond einen großen, festen Körper daraus erschaffe, mit dem ich darangehen kann, die Verkörperung dieses rachsüchtigen Magus zu vernichten und seinen Geist aus den Fesseln seiner Gebeine zu reißen, auf daß er sich entweder zerstreue oder zu einem hilflosen Sein wird, das nimmermehr Gefahr und Verdruß über uns bringen kann!"

"Dann müßten wir unser Tafelsilber plündern", meinte Marga Eisenhut. "Wie sieht es mit koboldgearbeitetem Silber aus?"

"ja, das wird wohl leider nicht taugen, da die begabten wie eigensinnigen Gesellen jedes von ihnen geschmiedete Stück Silber mit ihrem Zauber der Unveränderlichkeit belegen und zudem mit einem Zauber behaften, der es stärkt, wenn es mit es stärkenden Agentien in Berührung kommt. Denn nur deshalb gelang es Harry Potter überhaupt, die Hinterlassenschaften des Waisenknabens Riddle zu zerstören, um ihn seiner Dauerhaftigkeit zu berauben", erwiderte Anthelia. "So kann ich leider nur solches Silber verwenden, das bar jeder magischen Anhaftung und Verwendung ist."

"Dann gehen Sickel auch nicht, weil Kobolde sie geprägt haben", erkannte patricia Straton. "Aber dann kriegst du nicht genug zusammen, höchste Schwester."

"Nun, so werden wir dann wohl zum Mittel der unerlaubten Aneignung greifen müssen", entgegnete Anthelia. "Der höhere Zweck erlaubt uns dieses Mittel."

"Also klauen", meinte Tyche leise, ohne direkt zu den anderen zu sprechen. Das würde den Hexen hier nichts ausmachen. Denn wer bereit war, Menschen zu unterwerfen, zu erpressen oder gar zu töten, hatte mit Diebstahl absolut kein Problem. So wurde ein Plan erarbeitet, wie in den kommenden Tagen so viel Silber zusammengetragen werden konnte, um Anthelias Vorhaben wahrmachen zu können.

__________

Stillwell tobte vor Wut. Diese verdammten Zauberer hatten seine Pläne vorausgesehen, Chaos, Panik und Tod über die Sklavenhaltergesellschaft zu bringen. Das hatte er diesem FBI-Menschen zu verdanken. Der hatte natürlich sofort die entsprechenden Maßnahmen angeregt. Neunzig Prozent seiner Armee wurden in den Eroberungs- und Vernichtungsangriffen aufgerieben. Jetzt hatte er nur noch zweihundert frei verfügbare Leute. Zwar konnte er noch weitere dreihundert Zombies neu erschaffen, wenn er seinen in Brasilien, Venezuela und Kolumbien zurückgelassenen Gehilfen die entsprechenden Aufträge erteilte. Doch er hatte zu schätzen gelernt, daß das Vorleben seiner seelenlosen Sklaven wichtig für ihre Einsetzbarkeit war. "Am zwanzigsten fällt dein Reich in Trümmer, Marie Laveau. Da werden deine Erben nichts dran ändern können, und die weißen Bastarde werden einen grausamen Beweis meiner Macht erhalten", dachte Stillwell. Denn dem von Coals Geist besessenem Bankier war eine perfide Idee gekommen, wie er die Wirtschaftselite der USA dort treffen konnte, wo es ihr besonders weh tat. Das sollte zugleich das Ablenkungsmanöver sein, das er brauchte, um mit dreißig Unterworfenen nach New Orleans vorzustoßen, und ebenso der erste schmerzhafte Stoß ins Nervenzentrum der US-amerikanischen Machtstrukturen. Leider, so erkannte er, kam er nicht an taktische Atombomben heran. Zwar gab es bestimmt Waffenhändler, die solche zerstörerischen Sachen anboten. Doch er wollte sein bei Seite geschafftes Geld lieber zum Ankauf von ausgedienten Flugzeugen anlegen, um später, wenn er marie Laveaus Erbe aus der Welt geschafft hatte, seine eigene Luftwaffe zu errichten, um in jede größere Stadt der USA Zombies als Keimzellen weiterer Sklavenheere abzuregnen. Bald würden ihm alle Weißen entweder dienen oder aus Furcht vor seiner Armee erzittern. Die Zauberer und Hexen, die sich ihm in den letzten Wochen so unerträglich gründlich entgegengestellt hatten, würde er zwingen, ihre magischen Aktivitäten einzustellen.

"Bring mir Capitán Molinos!" Befahl Stillwell seinem Leibwächter, einem zwei Meter großen, breitschultriegen Zombie, der einmal in den regulären kolumbianischen Streitkräften gedient hatte. Der wandelnde Tote schlurfte ohne ein Wort aus dem improvisierten Computerzentrum, wo Stillwell über gesicherte Satellitenverbindungen das Internet überwachte. Eine Minute später kam er mit Capitán Alberto Molinos zurück, dem venezuelanischen Meisterflieger, der eine 707 auf einem Sportflugplatz hatte landen können. Stillwell brauchte den Piloten lebendig. Zwar vergaß er als Zombie nichts von seinem vorhergehenden Leben, reagierte jedoch träger und ohne Möglichkeit, sich auf eine neue Situation umzustellen. "Ich habe einen besonderen Auftrag für dich, Alberto", begann Stillwelll, nachdem er die magische Seelenfessel, in der er Molinos hielt, durch seinen Gesang und rituelles Trommeln verstärkt hatte. "Du und IgnatioTorres werdet am zwanzigsten November mit vollgetankten Passagiermaschinen starten und New York anfliegen. Du wirst die Maschine genau in die Börse hineinsteuern, während Torres - dessen Name ideal dazu paßt - in den nördlichen Turm des Welthandelszentrums hineinfliegt. Die Wucht und der brennende Treibstoff werden die Gebäude zerstören und in dieser gewinnsüchtigen Gesellschaft Heulen und Wehklagen auslösen."

"Ich will keinen umbringen", versuchte Molinos, sich gegen den Befehl zu wehren. Doch der Blick der blauen Augen Stillwellls, in denen ein heller und heller wrerdendes Licht zu flackern schien, löschte den winzigen Funken Widerstand aus.

"Du willst was ich will, Alberto. Das war so, als ich dich fand. Das war so, als ich dir befahl, uns mit der großen Maschine auf diesem kleinen Flugplatz runterzubringen und wird auch so sein, wenn du genau eine halbe Stunde nach Eröffnung der Börse dort wie ein rächender Engel Feuer und Vernichtung sähen wirst. . so geh an den Flugsimulator und bereite dich vor!" Molinos verließ mit steifen Schritten die in einem Wohncontainer eingerichtete Basis des Totentänzers, um sich in einen der gekauften Flugsimulatoren zu setzen, um den befohlenen Selbstmordangriff einzuüben, der das Finanzzentrum der westlichen Welt erschüttern, ja zerschmettern sollte. Stillwell selbst übte auch. Er mußte alle alten Zauber parat haben, um sich dem großen Kampf zu stellen. Denn ihm war klar, daß er, sobald er in den Machtbereich des Fluches geriet, den Marie Laveau auf seine Sippe ausgesprochen hatte, dessen Wirkung niederkämpfen mußte. Er mußte und wollte der König von New Orleans werden, dort zuschlagen, wo Marie Laveaus Grab war. Hinzukam, daß nicht nur Coals, sondern auch Gordon Stillwells Drang nach Vergeltung ihn antrieben. Er wußte zwar nicht, ob die Gerüchte stimmten, die er bei seiner Abwesenheit von den Staaten vernommen hatte. Karibianische Voodoopriester, mit denen er sich im September manches Duell geliefert hatte, schworen darauf, daß Marie Laveau nicht wirklich tot war, sondern nur ihren Körper abgelegt hatte und nun als allwissender und mächtiger Geist fortbestand. Traf dies zu, so mußte er diesen Geist mit allen Kräften in das Reich der Ahnen schleudern oder in einem Seelenkerker bannen, um dessen Wissen später noch ausnutzen zu können. Zwar hatte Coal hauptsächlich die Magie der Totenbeschwörung erlernt. Doch er hatte auch wirksame Zauber zum Kampf gegen Geister erlernt. Hinzukam, daß er seit der Verschmelzung mit Gordon Stillwell zwischen den Zuständen Mensch und Geisterwesen wechseln konnte. Dies würde ihm helfen, die verhaßte Feindin niederzukämpfen.

Am Vortag des geplanten Angriffs lancierte Stillwell noch ein elektronisch gesteuertes Verwirrspiel mit Aktien und Anleihen, die die Börsenleute in New York bei Laune halten mochten. Sein Ziel war, kurz vor dem geplanten Attentat eine größere Menge Geld aus der Börse herauszuschöpfen und zu hoffen, daß nichts von ihr gefunden wurde, was den Betrug von außen beweisen konnte. Eigentlich hätte er noch seinen dritten Piloten anstiften können, auch den zweiten Turm des Welthandelszentrums durch gezielte Kollision zu beschädigen. Doch den brauchte er noch, wenn er nach erfolgreichem Kampf gegen Marie Laveaus Hinterlassenschaft nach Südamerika zurückkehren wollte, um dort die bei den Angriffen auf Atomkraftwerke und Biowaffenforschungseinrichtungen verheizten Streiter zu ersetzen.

__________

"Hilfssheriff Williams hörte das enervierende, hohe Wimmern der Alarmsirene. Seit zehn Jahren hatte es in dieser Gegend keinen Einbruchsalarm mehr gegeben. Ausgerechnet bei Juwelier Sullivan war eingebrochen worden, wo der die sichersten Tür- und Fensterverriegelungen hatte. Womöglich konnte er den oder die Täter noch draußen erwischen, falls sie beim Losgehen der Alarmsirene nicht gleich das Weite gesucht hatten. Er prüfte den Zustand seiner beiden Polizeirevolver, während sein Vorgesetzter, Sheriff Baddows, bereits mit den anderen Debuties auf den Haupteingang zurannte. Williams lief auf den Schrittgeräusch ddämpfenden Sohlen um das große Gebäude herum und blickte dabei auf die Fenster und die vergitterte Hintertür. Keine Einbruchsspuren. Nichts, was zeigte, ob jemand ... Da sah er einen hellen, aber dünnen Lichtstrahl durch eines der vergitterten und sicherheitsverglasten Fenster fallen. Williams sicherte nach links und rechts und lief geduckt zu diesem Fenster hin. Da konnte er sie sehen, zwei Gestalten in weißen, wallenden Gewändern wie Bettlaken. Sie hielten dünne Holzstäbe in Händen, aus deren Vorderenden diese Lichtstrahlen drangen. Williams wollte gerade zu seinem Funkgerät greifen, als es leise links von ihm ploppte. "Du läßt uns mal schön in Ruhe, kleiner Stadtwächter", drang eine tiefe Frauenstimme von links an sein Ohr. Er Warf sich herum, einen Revolver hochreißend. Er blickte genau auf die Spitze eines im Mondlicht matt glänzenden Stabes. Da übermannte ihn eine Lähmung, die ihm unheimlich und absolut unerklärlich war. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Er konnte nur sehen, wie die fremde Frau im hellen Umhang mit leisem Plopp im Nichts verschwand.

"Williams, wie ist es bei ihnen hinten?" Quäkte es leise aus der Jackentasche des Hilfssheriffs. "Wir haben hier keine Einbruchsspuren. - Williams, melden!" Doch Williams konnte sich nicht melden. Von Kopf bis zu den Zehen starr stand er auf der Stelle.

Als der Sheriff selbst um die Ecke kam, um nachzusehen, ob seinem Helfer was zugestoßen war sah er ihn wie eine Salzsäule dastehen. Er wollte gerade Alarm geben, als diese unheimliche Fremde ein zweites Mal auftauchte und ihren glänzenden Stab, ganz sicher einen Zauberstab, gegen den Sheriff führte und ein Williams unverständliches Wort, das ähnlich wie Imperium klang, murmelte. Dann sah er, wie Baddows einen verklärten Gesichtsausdruck bekam und dann einfach weiterging, wobei Williams aus dem Funkgerät hörte: "Keiner im Gebäude. Williams sucht die Umgebung Ab. Rückkehr zum Büro!"

Williams wollte unbedingt durchgeben, daß im Gebäude doch jemand war. Doch er konnte sich nicht bewegen. Eine Minute stand er so da, dann überflutete etwas sein Bewußtsein, daß ihn die Umwelt vergessen machte. Als er wieder klar denken konnte konnte er sich auch wieder bewegen. Er hatte die Umgebung nach eventuellen Einbrechern abgesucht und niemanden gefunden. Im Gebäude selbst war nichts. Das meldete er seinem Vorgesetzten über Funk.

Fünf Stunden später wurden sie von Juwelier Sullivan erneut herbeigerufen. Es hatte doch einen Einbruch gegeben. Allerdings waren die Türen und Fenster nicht aufgebrochen worden. Der Alarm war laut Aufzeichnung des Alarmsystems erst ausgelöst worden, als eine Vitrine mit Silberschmuck geöffnet worden war.

"Ich weiß nicht, wie die es gemacht haben. Aber die haben alles Silber gestohlen. Goldschmuck und Edelsteine haben sie dagelassen", erregte sich der fünfzigjährige Juwelier, als er dem Sheriff das Ausmaß des Verlustes zeigte.

"Nur Silber. Wer läßt nur Silber mitgehen und rührt kein Gold und keine Diamanten an, wenn er schon ohne Alarm auszulösen durch die bruchsicheren Türen und Fenster kommt?" Fragte der Sheriff, während seine Leute das graue Pulver verstreuten, mit dem mögliche Fingerabdrücke sichtbar gemacht werden konnten.

"Ich weiß es nicht. Selbst im Tresor, wo ich die Gold- und Silberbarren zur weiterverarbeitung vorrätig halte waren sie. Die haben nur die Silberbarren mitgenommen. Sie haben zwar die Bewegungsmelder im Tresor selbst ausgelöst, aber keine Spur am Zeitschloß. Die gingen rein und verschwanden, ohne die Tür zu bewegen. Sowas gibt's nicht", erwiderte Sullivan.

"Das Zeitschloß ist dreifach verriegelt, daß es bei einem Stromausfall nicht automatisch aufgeht?" Fragte Baddows. Sullivan bestätigte es. "Die Batterie der Schaltuhr hält einen zweitägigen Stromausfall durch. Aber die haben nichts damit angestellt."

"Zeigen Sie mir bitte den Tresor!" Forderte der Sheriff den beraubten Juwelier auf.

Tatsächlich erwies sich der aus mehr als einem halben Meter dickem Stahlbestehende Wertsachenspeicher um alles was aus purem Silber war erleichtert. Die sauber gestapelten Gold- und sogar Platinbarren waren immer noch da.

"Wer klaut nur Silber, wenn er für zwei Millionen Dollar Gold und Platin abschleppen kann?" Fragte der Sheriff. Natürlich konnte ihm Sullivan keine Antwort darauf geben.

__________

In den Tagen vom sechzehnten bis neunzehnten November drangen Anthelia und ihre Hexenschwestern in hundert Privathäuser ein, die in noblen Wohngegenden der Staaten, Europas und Asiens lagen. Dort entwendeten sie ohne Spuren zu hinterlassen silberne Gegenstände und Silberbarren. Wer ihnen dabei in die Quere kam erhielt einen Gedächtniszauber, daß in diesem Haus keine Silbersachen gewesen seien und daher niemand etwas gestohlen hatte. Denn die Erfahrung mit dem Juwelierladen hatte sie gelehrt, noch sorgfältiger mit Menschen und elektronischen Schutzvorrichtungen umzugehen. Sicher würde das Zaubereiministerium irgendwann erfahren, daß Einbrecher ohne Türen oder Fenster geöffnet zu haben diesen Juwelierladen geplündert hatten. Womöglich würde es dann so hingestellt, daß es keine Einbrüche gegeben hatte und eine stille Jagd auf die dreisten Diebe eröffnet. Denn das Hineinapparieren in Wertsachenlager der Muggelwelt galt in der Zaubererwelt genauso als schwerer Einbruch. Wer bei sowas erwischt wurde riskierte eine mehrjährige Gefängnisstrafe und den Verlust der Appariererlaubnis. Doch was Anthelia wollte erreichte sie auch. Am neunzehnten November lag ein riesiger Haufen Silber, daß die mit Erdzaubern vertraute Anführerin des Spinnenordens auf seine Reinheit geprüft hatte, im großen Salon der Daggers-Villa. Dido Pane machte große Augen, als sie all das Silber auf einem großen Haufen sah. Löffel, Ketten, Ringe, Broschen, Kelche, Teller, Gedenkmünzen, sogar einige Pokale von Sportveranstaltungen und eine große Menge Silberbarren bedeckten die Bodenfläche und türmten sich bis zur Decke.

"Schwestern, ich bin sehr zufrieden mit euch. Zwar war der Raubzug im Geschäft des Goldschmiedes Sullivan ein wenig stümperhaft, weil die elektrischen Überwachungsgerätschaften uns zu früh verraten haben. Doch wir haben, was wir wollten. Nun werde ich die Fusion des hier angehäuftten Metall des Mondes vornehmen, auf das wir dann, wenn uns die Ankunft des Feindes in New Orleans vermeldet wird, dessen Vernichtung bewirken können."

"Damit könnten wir sämtliche Werwölfe der Welt erlegen", vermutete Marga Eisenhut. Dido griff derweil zu einer silbernen Kette, an der ein stilvoll gearbeitetes Kreuz hing. Anthelia hatte dieses religiöse Schmuckstück aus dem Haus eines kaatholischen Priesters bei Lugano mitgehen lassen.

"Schwester Dido, leg diesen Zierrat heuchlerischer hetzprediger bitte wieder auf den Stapel zurück. Denn ich werde jetzt alles in diesem Raum enthaltene Silber dazu zwingen, sich zu einem Körper zusammenzufügen."

"So'n Kreuz soll doch Vampire und andere böse Wesen abwehren, sagen die blöden Muggel", kicherte Dido und warf die Kette mit dem Kreuz zurück auf den Stapel.

"Das glauben diese Idioten, die meinen, ein Symbol sei bereits magisch aktiv und Leute wie wir, die in ihr Feindbild von Teufelsdienerinnen passen, würden davon abgeschreckt oder vernichtet, wenn wir sie berühren", lachte Anthelia. "Aber ich war nicht nur in dieser Kirche, die dieser papistische Prediger führt, sondern auch in seinem Schlafgemach, um ihm das lächerliche Artefakt zu entwenden. Und es hat mich weder mit Angst erfüllt noch vernichtet, als ich seiner ansichtig wurde und es berührte. Da muß schon wirkliche Magie ins Spiel kommen, um derartige Effekte zu erzielen."

"Wozu das Silber, höchste Schwester?" Fragte Izanami Kanisaga, die japanische Mitschwester.

"Es ist ein altes, in der Magie so gut wie vergessenes Prinzip, dessen ich mich bedienen werde. Silber steht mit dem Mond in Beziehung. Seine Macht und die der Erde werde ich beschwören, um alles in diesem Raum lagernde Silber zu einem festen Körper zusammenzufügen, nachdem ich ergründet habe, daß es keinem anderen Zauber unterworfen und im reinen Zustand verarbeitet wurde. So tretet nun alle hinaus auf den Flur, damit ich die Kräfte der großen Himmelsschwester und unser aller Mutter rufen und auf das Ziel richten kann!" Wies Anthelia ihre Schwestern an.

Als sie alle außerhalb des Salons standen blickte Anthelia noch einmal hinaus. Es war Nacht. Im Moment schien der Mond nicht in ganzer Pracht. Doch das Licht, das er gab würde reichen, um ihren Zauber zu wirken. Sie führte einige Zauberstabbewegungen aus, wobei sie in Gedanken Die Verbunden heit von Mond und Erde pries. Das war die nötige Geisteseinstimmung, um nun, wo die ersten Silberstrahlen des Mondes vom edlen Metall im Salon gespiegelt wurden, ihren wirklichen Zauber anzustimmen.

"Oghedon madrash Tondarin Fayminiai fayminidari Salaharin Kashamar!" Sie sang diese uralten Worte aus Naaneavargias Muttersprache wie eine klassische Altsängerin in den Salon hinein und deutete dabei immer wieder vom im Mondschein glänzenden Silberberg zum Mond und zurück auf den Boden. Sie sang die Worte immer lauter und inbrünstiger. Niemand außer ihr wußte, was sie übersetzt bedeuteten: "Aus der Tiefe der Erde stammende Tränen der Himmelsschwester fügt euch in ihrem Lichte zu einem!"

Die anderen Hexen sahen, wie das auf das Silber scheinende Mondlicht immer heller zu werden schien. Nach der sechsten Wiederholung der ihnen fremden Zauberformel und der dazu passenden Zauberstabbewegungen glaubten sie, das Mondlicht würde als feines Netz aus silbernen Funken über dem Berg aus Silbersachen liegen. Dann sprühten lautlos Funken zwischen den angehäuften Dingen und brachten sie selbst zum leuchten. Sie schienen nun aus reinem Mondlicht zu bestehen. Dann geriet der Silberberg leise klimpernd und metallisch schabend in bewegung. Die leuchtenden Gegenstände zerflossen dabei und wurden zu kleinen Kugeln, die gegeneinanderstießen, einander durchdrangen und sich zu größeren Kugeln aufblähten. Immer weiter sang Anthelia ihren Zauber und dirigierte mit ihrem silbergrauen Stab das magische Geschehen im Salon. Die leuchtenden Kugeln verschmolzen weiter, bildeten immer größere kugeln, bis sie zu nur noch accht, dann vier, dann nur noch zwei großen Kugeln zusammenwuchsen. Als die beiden verbliebenen, schon mehr als zwei Meter durchmessenden Kugeln gegeneinanderstießen gab es ein lautes Kling-Geräusch. Doch dann drangen auch sie wie Quecksilbertropfen ineinander und wuchsen im aus ihnen erstrahlendem Licht zu einer einzigen Kugel zusammen, die nun gerade mal drei Meter durchmaß. Diese Kugel erstrahlte für mehrere Sekunden im eigenen, silberweißen Licht. Dann erlosch dieses wieder. Der magische Verschmelzungsprozeß war beendet. Vor ihnen allen lag eine gewaltige Kugel aus purem Silber, massiv und tonnenschwer. Die Oberfläche war so glatt wie poliert. Anthelia senkte ihren Zauberstab und stützte sich an der Tür ab. Sie hatte eine Menge Kraft aufgeboten, um die vereinenden Kräfte von Erde und Mond zu beschwören. Doch sie freute sich über diesen sichtbaren Erfolg.

"Die kann eine allein aber nicht aus dem Raum schaffen, selbst mit Schwebezaubern nicht", meinte Tyche Lennox und rief nach Patricia Straton, die im Weinkeller verblieben war, um Anthelia nicht durch die Anwesenheit des Sonnenmedaillons zu beeinträchtigen.

"Fünf von euch werden mir helfen, diese gewaltige Träne des Mondes in ein Hanfnetz zu wickeln. Wir werden sie dann, wenn wir wissen, daß Coal in New Orleans ist, dorthin schaffen, wo der Kampf zwischen ihm und Marie Laveau stattfinden wird", verkündete Anthelia. So besorgten sie ein großes Fischernetz aus einer Fabrik für Fischereibedarf und wickelten die Silberkugel ein.

__________

In New Orleans war es grau und trübe. Immer wieder regnete es und sorgte dafür, daß auf den Straßen Pfützen entstanden. Die Totenstadt St. Louis Nummer eins wurde deshalb heute gar nicht besucht. Joe, der Wegelagerer, der sein Geld damit machte, leichtsinnigerweise einzeln hierherkommenden Fremden Geld und Schmuck zu rauben, streunte wie ein hungriger Löwe zwischen den auf dem Sumpfboden errichteten Grabhäusern herum. Die mit Feuchtigkeit geschwängerte Luft klebte an seiner schwarzen Lederkleidung und lag wie ein nasses Handtuch auf seinem Gesicht. Der Gangster hielt sich durch Lauf- und Krafttraining in Form, um nicht von einem halbwüchsigen Burschen aus den Schuhen gehauen zu werden. Doch hier stieß er wieder mal an seine Belastungsgrenze. Zwanzig Jahre machte er das hier schon. Einmal hatte er sieben Jahre Zwangspause einlegen müssen, als ihm ein verdammter Lockvogel eine Horde Polizisten auf den Hals gehetzt hatte. Doch er war ein unverbesserlicher Krimineller, der nur eine Regel kannte: Sich nicht erwischen zu lassen.

Der Wegelagerer witterte mit dem Instinkt dessen, der Jäger und Gejagter zugleich ist, das irgendwas nicht so war wie sonst. Sicher, hier lagen die Toten der Stadt, einige davon ganz berühmte wie diese Hexenkönigin Marie Laveau. Das umgab die Totenstadt schon mit etwas unheimlichem. Doch irgendwie fühlte der Gangster, daß heute noch was dazukam. Es war etwas belauerndes, angriffslustiges und zugleich etwas, das bereit war, mit Klauen und Zähnen gegen eine Bedrohung zu kämpfen. Er wußte nicht, daß er gerade an der für seine Augen unsichtbaren Erscheinung Marie Laveaus vorüberging, die auf dem Dach ihres Grabhauses hockte und darauf wartete, den Kampf zu kämpfen, den sie in mehreren Visionen vorhergesehen hatte. Heute war der Tag der Entscheidung. Samedis Sohn würde es heute versuchen. Doch das wußte der Wegelagerer nicht. Er fühlte nur diese lauernde Stimmung. Irgendwie drängte sie ihn dazu, die sonst für ihn so günstige Gegend zu verlassen. Da ja sonst keiner hier unterwegs war empfand er auch nichts besonders ungewöhnliches dabei, sein Jagdrevier zu verlassen. Doch als er die Grenze des Friedhofsgeländes fast erreicht hatte stockte ihm der Atem.

Aus dem sumpfigen Boden wuchs ein Menschenkopf heraus, mit Schlamm verklebt und mit bleichem Gesicht. An dem Kopf hing ein nackter, bleicher Körper, der sich schmatzend und glucksend aus dem vom Regen durchtränkten Boden hervorwühlte. Joe starrte auf die seelenlosen Augen des Unheimlichen, der sich immer weiter hervorkämpfte. Der Fremde atmete nicht. Schlammbrocken fielen vom Leib des Unheimlichen ab, als dieser sich gänzlich aus der feuchten Erde herausgearbeitet hatte. Joe sprang zurück, als der Unheimliche mit roboterhaften Bewegungen den Dreck von den Beinen schüttelte. Dann schien der aus dem Boden gekrochene den Gangster zu sehen. Er wankte von dem Loch fort, aus dem er sich herausgewühlt hatte. Joe stand angespannt da. Das konnte es nicht geben. Doch dann fiel ihm alles wieder ein, was über diese Stadt und über den hier so populären Voodookult erzählt wurde. Darin spielten auch durch bösen Zauber zum Leben erweckte Leichen, die Zombies hießen, eine gewichtige Rolle. Das mochte einer davon sein. Joe sah, wie der Fremde seine immer noch mit feuchter Erde besprengkelten Arme vorstreckte, um ihn im nächsten Moment zu packen. Der Gangster wich zurück. zehn Meter hinter ihm stand ein Grabhaus. Das aus dem Boden geschlüpfte Wesen taumelte weiter auf ihn zu. Joe griff unter seine Lederjacke und löste die Beretta aus einem unauffälligen Halfter. Ein Griff, und er hielt dem näherkommenden Unheimlichen die Mündung der kleinen Pistole entgegen. "Hey, du, halt!" Doch der Fremde überhörte die Warnung und achtete nicht auf die ihm entgegenweisende Waffe. "Ey, ich sagte halt, du Arsch!" Doch der auf ihn zutorkelnde Mann hörte auch diesmal nicht drauf. "Okay, Mistkerl!" Knurrte Joe und drückte ab. Mit leisem Plopp entfuhr die 9-Millimeter-Kugel der schallgedämften Waffe und sirrte schneller als ein Blinzeln in die Brust des Fremden. Er taumelte von der Aufschlagwucht erschüttert nach hinten und schlug hin. Doch keine Sekunde später war der Kerl schon wieder auf seinen wackelig wirkenden Beinen. Der Einschuß war ein fingerbreites Loch in der Brust. Doch es kam kein Blut. Joe zielte noch einmal, diesmal zwischen die Augen. Hieß es nicht, daß Zombies so zu töten waren? Er drückte ab. Wieder hinterließ sein Schuß ein häßliches Loch, diesmal direkt über der Nasenwurzel des Untoten. Doch dieser schüttelte sich nur. Die magie, die ihn belebte, wirkte weiter, auch wenn das Hirn des lebenden Leichnams sicher durchlöchert worden war. Noch einmal drückte Joe ab. Doch wieder schüttelte sich der wandelnde Tote nur. Dann hörte Joe das Schmatzen von rechts und fuhr mit schußbereiter Waffe herum. Wieder wühlte sich jemand aus dem sumpfigen Boden heraus. Joe stand einen Moment starr vor Entsetzen da. Dann schaltete er schnell genug, um dem ersten Angreifer gerade noch zu entwischen, der versuchte, ihm die linke Faust an den Kopf zu schlagen. Der Wegelagerer war mal wieder zum Gejagten geworden. Doch diesmal waren es keine Polizisten, sondern Monster, die einem Horrorfilm entsprungen waren.

"Wo wollten wir denn hin?" hörte er eine vor tiefster Verachtung triefende Stimme von links. Da sah Joe ihn. Der Mann lehnte lässig an einem der Grabhäuser und grinste ihn herablassend an. Er trug einen schnieken Anzug. Von der Hauttönung her war er ein Mischling zwischen einem Weißen und einem Schwarzen. Joe zielte aus einem ihm selbst unklaren Impuls heraus auf den Fremden und drückte ab. Der schallgedämpfte Schuß wurde vom lauten Sirren des davonpeitschenden Querschlägers übertönt, als seine Kugel kurz vor der Brust des Anderen abprallte wie von einem unsichtbaren Panzer. "Jungchen, das macht mir nichts", grinste der fremde und deutete an Joe vorbei auf einen der Zombies. "Den könnt ihr haben!" Rief er. Doch Joe dachte nicht daran, Zombiefutter zu werden. Er warf sich nach rechts und wetzte nun los, fort von diesem Friedhof. So bekam er nicht mit, wie der Mann im schnieken Anzug auf das eine Haus zuging, dessen Ausstrahlung er schon aus großer Entfernung gespürt hatte. Nur durch ein kurzes Ritual widerstand er der abweisenden Kraft dieses Gebäudes. Er griff an seinen Rucksack und entnahm diesem seine magischen Utensilien, die Trommel und zwei aus Knochen gefertigte Schlagstöcke.

"Schade, daß ich das Begrüßungsopfer nicht bringen konnte. Aber es muß auch so gehen", dachte Gordon Stillwell alias Ruben Coal.

"Hast du es also wirklich gewagt, dich in meine Stadt zu verirren, Ruben Coal", hörte er eine Frauenstimme. Jetzt verspürte er auch die Präsenz einer mächtigen Seele und sah sie, die silbrigweiße Gestalt, die vom trüben grauen Tageslicht durchdrungen wurde wie Milchglas. Dunkles, ebenfalls durchscheinendes Haar umwehte die unbekleidete Frauengestalt, die ruhig und bedacht vom flachen Dach eines Grabhauses herabschwebte, jenem Grabhaus, in dem die sterblichen Überreste Marie Laveaus ruhten.

"Du bist also nicht in die Welt der Ahnen eingekehrt, Hochstaplerin. Wahrscheinlich wollten die Geister dich dort nicht haben. So empfange nun aus meinen Händen deine endgültige Vernichtung!" Schnaubte Stillwell.

"Du hättest in deinem Keller bleiben sollen, Ruben Coal. Der Körper, den du dir gegriffen hast, kann die Macht nicht aushalten, die du gegen mich und ich gegen dich zu wenden mag."

"Ich lebe und verfüge über alles Wissen des großen Baron Samedi und das Wissen dieser armseligen Sklavenhalternachfahren. Wenn ich dich vernichtet habe, wird meine Armee dieses Land überschwemmen wie die Heuschrecken die Prärie. Die weißen Hunde werden einen Sturm erleben, der jedem Wirbelsturm und jedem Flächenbrand überlegen ist."

"Große Worte, Ruben Coal. Aber deine Armee hat bereits verloren. Du hast es gewagt, die Fabriken und Forschungshäuser der magielosen Menschen anzugreifen. Damit hat man gerechnet. Genauso habe ich damit gerechnet, dich hier und heute anzutreffen. Ich weiß auch, daß du vorhast, eine andere Stadt anzugreifen, wenn ich auch nicht sehen konnte, welche. Doch wenn der Bann bricht, mit dem du die Seelen der lebenden geknechtet hast, werden sie deinen Angriff nicht ausführen. Und ich werde diesen Bann brechen und dich ein für allemal gefangennehmen."

"Eher wohl ich dich, du Hure", schnarrte Stillwell. "Meine Armee wird grausamer und machtvoller zurückschlagen, wenn ich dir all dein Wissen entreiße und deinen aufgeblasenen Geist sicher verwahre, um mich seiner Macht zu bedinen."

"Auch wenn ich den Krug erspüre, den du bei dir trägst vermag mich die Angst vor ihm nicht zu verunsichern. Im Gegenteil. Am Ende wirst du es sein, der darin eingesperrt wird und niemandem mehr Schaden zufügen kann", erging sich Maries Geist in einer Voraussage. Stillwell alias Coal lachte.

"Ich bin zu mächtig, um mich von dir dort einsperren zu lassen. Dazu müßtest du mich von meinem Körper trennen. Und mein Nachfahre hat durch die Eingebung, meine Knochen in Silber zu fassen dafür gesorgt, daß ich untrennbar mit ihnen verbunden bleibe. Und diese Knochen sind untrennbar mit dem Fleisch dieses undankbaren Wichtes verbunden, der mein großes Erbe nicht ehren wollte und deshalb meine neue Hülle werden mußte, um überhaupt noch einen Zweck zu erfüllen", erwiderte Stillwell.

"Aber er altert, er verwelkt und wird irgendwann sterben. Dann wirst du weiterhin ein ewiger Gefangener meines Fluches bleiben. Ich gebe dir die letzte Chance, dein gestohlenes Leben weiterzuleben. Verschwinde in den Sümfen und Urwäldern des südlichen Erdteils, woher du deine Sklaven geholt hast und bleibe da, pflanzedich meinetwegen fort, um sowas wie deine eigene Dynastie fortzusetzen. Der Leib, in dem du dich festgesetzt hast kennt die Wonnen der Liebe. Soll er auch die Verbundenheit der Liebe erlernen."

"Ich weiß, daß du mich damals nur besiegen konntest, weil dein auf mehrere von dir ausgebrüteten Bälger verteiltes Leben dir die Kraft gab. Aber nun bin ich stärker. Denn ich vereine Leben und Tod, Fleisch und Geisterdasein in einem. Ich habe die Macht", stieß Stillwell aus.

"macht ist ein flüchtiger Stoff, nur spürbar, wenn sie wirkt, wie nur die Luft zu spüren ist, wenn sie als Wind über die Erde weht. Auch wenn du vier Wachposten heimlich zu dieser geheiligten Erde herangeführt hast werde ich dich deines erbeuteten Leibes entreißen und in deinem eigenen Krug einkerkern, damit du dort Demut und Unterwerfung erlernst."

"Dieser Krug trägt deinen Namen, Marie Laveau", knurrte Stillwell und setzte die Trommel auf den Boden, um noch einmal in den Rucksack zu greifen, um einen Krug, der gut und gerne zwei Gallonen Wasser fassen mochte, hervorzuholen. Marie Laveaus Geist lachte.

"Ich lese da nur drauf, daß er bereit ist, den Geist des Besiegten zu empfangen und zu halten, nicht meinen."

"Wenn ich den Deckel darüber schließe wirst du wissen, für wen er war", entgegnete Stillwell. In seinen Augen leuchtete blaues Feuer. Die Zeit der Rache war endlich gekommen. Er setzte den Krug ab, nahm seine Trommel wieder auf und begann ohne weitere Ankündigung, einen rituellen Singsang anzustimmen.

__________

"So ist er am alten Friedhof?" Fragte Anthelia ihre Mitschwester Tyche.

"Cartridge hat von Davidson wohl sowas gesagt bekommen", erwiderte Tyche. Antheliaas Augen glommen vor Kampfeslust. Jetzt würde sich erweisen, ob Coals Vormarsch gestoppt werden konnte. Sie gab die Weisung aus, das Tyche, Izanami, Gilda, Marga und Kathleen sie begleiten sollten. Patricia blieb in ihrem Versteck. Denn Anthelia fürchtete, daß die Anwesenheit des Sonnenmedaillons sie stören würde. Sie ergriffen die Maschen des Netzes und konzentrierten sich, wobei Anthelia die Zielausrichtung übernahm. Außer mehreren Apparitionen wollten sie dem gewaltigen Kugelkörper keine andere magie zufügen als die, mit der Anthelia die Wiederverkörperung des alten Totentänzers stoppen wollte. Zehn Sprünge sollten es werden, um sich nicht zu verausgaben. So dauerte es fünf Minuten, bis sie mit ihrer mächtigen Kugel am Rande des Friedhofs auftauchten.

____________

"So, und dieses Zomboskop kann also lebende Tote aufspüren?" Fragte Linda Knowles, die gerade bei Zachary Marchand in dessen gesichertem Haus war. Der frühere Ministeriumsmitarbeiter trug um seinem Hals mehrere Ketten mit Amuletten aus Muscheln oder Holz.

"Das Ministerium hat auch schon einige erbeten, Ms. Knowles. Jedenfalls konnten wir damit bis heute die Angriffe dieses selbsternannten Sohnes Samedis früh genug zurückschlagen, auch ohne die Muggel in den betroffenen Einrichtungen zu gefährden oder Zeugen werden zu lassen."

"Minister Cartridge und LI-Direktor Davidson, der ja Ihr neuer Chef ist, haben uns und die Kollegen vom Westwind um einstweilige Zurückhaltung gebeten, bis Sie wissen, ob Sie der Bedrohung Herr werden können oder nicht. Aber was, wenn dieser unerwünschte Fall eintritt, und diese Zombiearmee sich wie eine Pestepidemie ausbreitet? Sie waren doch damals auch an der Verschleierung der Mordserie Andrews als Geheimnisträger beteiligt. Fürchten Sie nicht, daß sich eine bedingungslose Geheimhaltung wieder einmal rächen könnte?" Dabei lächelte sie ihn zuckersüß an und kullerte mit ihren fast schwarzen Augen. Marchand schluckte eine ungehaltene Antwort hinunter und erwiderte:

"In diesem Fall gilt, daß wir nicht von irgendwelchen Amateurzombiejägern oder Trittbrettfahrern gestört werden dürfen, Ms. Knowles. Es gibt auch bei uns in den USA noch genug Zeitgenossen, die einen Aufruhr zwischen Zauberern und Muggeln begrüßen würden, um eigene Ziele durchzusetzen. Auch wenn wir schon seit über einem Monat nichts mehr von dieser Schwesternschaft gehört haben, die das Erbe Sardonias wiederbeleben möchte, so müssen wir davon ausgehen, daß sie noch besteht. Auch wenn die Anführerin womöglich schon tot ist."

"Verstehe, Sie fürchten, daß die selbsternannte Erbin Sardonias, die sich als Anthelia bezeichnet hat, eine öffentliche Unruhe ausnutzen und sich erneut als rettende Instanz hervortun könnte oder so tut, als gäbe es Anschläge dieses Totentänzers. Vielleicht spekulieren Sie auch darauf, daß die von ihr gegründete Schwesternschaft nichts von diesem Totentänzer weiß. Woher sind Sie sich sicher, daß ich nicht dazugehöre?" Provozierte Linda Knowles den Muggelstämmigen.

"Der Umstand, daß Sie mein Haus betreten konnten, ohne unter Verwirrung oder Lähmung zu leiden, Ms. Knowles. Abgesehen davon muß ich sogar davon ausgehen, daß diese verdammten Hexenweiber von Anthelias Mörderbande wissen, daß es diesen Totentänzer gibt. Nur geben wir dieser Bande keine Gelegenheit zu öffentlicher Anerkennung, indem wir die Aktionen nicht in die Zeitungen kommen lassen", erwiderte Marchand. Linda Knowles prüfte das, was ihre Flotte-Schreibefeder gerade mitschrieb und wies Marchand darauf hin, daß der Begriff "Hexenweiber" zu allgemeinverächtlich gegen alle Hexen aufgefaßt werden mochte und fragte ihn, wie er ihn umformulieren wollte. Er knurrte, daß sie dann "Mitglieder" schreiben sollte. Gerade wollte er sie noch mit den Feinheiten der modernen Zombiebekämpfung vertraut machen, da erscholl ein blecherner Gong, und aus Marchands linker Hosentasche tönte eine aufgeregte Männerstimme: "Zombies bei St. Louis Nummer eins, Zach. Du hattest echt recht."

"Ich komme selbst rüber. Holt genug Voodooabwehrspezialisten zusammen, auch Selma Onedin!"

"Das muß mir der Boss genehmigen, Zach", klang die Stimme des Fremden aus Zachs Hosentasche.

"Der wird's genehmigen. Wenn seine Zombies da aufkreuzen kommt er auch. Dann kriegen wir ihn hoffentlich", erwiderte Zach Marchand. Dann wandte er sich an Linda Knowles. "Scharf auf eine Exklusivstory, Linda? Dann dürfen Sie mich begleiten. Aber bloß außerhalb der Kampfzone bleiben!" Linda Knowles sagte nicht nein.

Sie verließen das Haus des FBI-Beamten und Agenten der Zaubererwelt. Dann apparierte sie mit ihm Seit an Seit an die Begrenzung des berühmten Friedhofes. Er holte ein silbernes Fernrohr hervor und blickte hinein. Linda horchte. Sie konnte den Herzschlag eines Mannes hören und vermeinte, ein leises, sachtes metallisches Schaben zu vernehmen, als der, den sie sah, sich bewegte. Ansonsten konnte sie nur vier wachspuppengleich dastehende Gestalten sehen, an deren unbekleideten Körpern brauner Dreck haftete.

"Vier sichtbare und noch mal zehn versteckte", knurrte Marchand, nachdem er das Fernrohr geschwenkt hatte. "Hören Sie einen Herzschlag?" Fragte er Linda Knowles.

"Einen außer unseren", sagte die Reporterhexe. "Aber irgendwas bei diesem Mann da ist seltsam. Wenn er sich bewegt meine ich, ein leises Schaben wie von gut geölten Türangeln zu hören."

"Wie?! Als wenn der aus Metall wäre?" Fragte Marchand leise, während er sah, wie vor Maries Grabhaus die letzten Worte vor dem entscheidenden Schlagabtausch fielen.

Weitere Zauberer des LIs trafen ein, darunter auch Elysius Davidson. Marchand erstattete Bericht.

"Seine Leibgarde. Soll wohl den Friedhof sichern, daß ihm keiner dazwischenkommt", vermutete der Leiter des Laveau-Institutes. Sein Schnurrbart zitterte erregt. "Aber die erledigen wir. Wenn Selma und Gwin da sind können wir ihn womöglich mit einem Umschließungsritual festhalten. Wenn es geht nehmen wir ihn gefangen, um die Fusion zwischen Stillwells Körper und Coals Geist zu untersuchen."

"Achtung, Zombie auf zehn Uhr!" Warnte Marchand und deutete halbschräg nach links vorne. Davidson blieb ruhig, zog einen der von Hammersmith und seinen Leuten hergestellten Disken und holte aus. Er ließ den Zombie noch zehn Schritte näher auf sich zutorkeln, bevor er warf. Für Linda Knowles klang das wilde Singen der im Flug vergrößerten Wurfscheibe wie mehrere wild kreisende Klingen. Sie sah den Zombie, der dem Geschoß keine Beachtung schenkte, bis es ihm mit einem für Linda vernehmlichen Schrabb-Geräusch den Kopf vom Rumpf trennte, ohne langsamer zu werden. Es flog mindestens noch zweihundert Schritte weiter und klatschte auf den sumpfigen Untergrund, wo es sofort versank.

"Drrrecksboden!" Fluchte Davidson. Womöglich wollte er was anderes sagen. Doch Lindas Anwesenheit zwang ihn zu einem gepflegteren Sprachstil.

"In Ordnung. Dann eben Feuerbälle!" meinte Marchand und zielte auf den zweiten Zombie. Doch Stillwell begann in dem Moment zu trommeln. Schlagartig erzitterte die Luft, und der Boden warf blubbernde Blasen.

"Die gehen direkt in die Vollen", warnte Marchand, als Davidson versuchte, einem zweiten Zombie eine Feuerkugel entgegenzuschießen. Da apparierten weitere LI-Mitarbeiter, darunter die als Voodoo-Expertin ausgewiesene Selma Onedin und der Inuit-Schamane Louis Anore, den Linda einmal hatte interviewen dürfen, um die wesentlichen Unterschiede zwischen der Zauberstabzauberei und den Ritualen der Naturvölker herauszuarbeiten. Anore trug einen gefütterten Mantel aus Rentierleder, der mit verschiedenen, nur seinen Miteingeweihten vertrauten Symbolen beschrieben war. Der Schamane trug eine Halskette aus verschiedengroßen Knochen und hatte eine große Trommel dabei, deren Fell ebenfalls mit fremdartigen Symbolen verziert war.

"Er nimmt die mitgebrachten Toten als Verstärker", sagte der Schamane, als die Luft über dem Friedhof im Takt der Voodootrommel Stillwells zu brennen schien. Selma nickte. Sie holte ebenfalls eine mit magischen Symbolen verzierte Trommel hervor. Doch dann ließ sie sie sinken. "Wenn ich dagegen anspreche gerät die Magie aus der Balance", sagte sie. "Die beiden haben den Friedhof als Kampfzone eingegrenzt. Jeder gleichartige Zauber von außen sprengt diese Grenzen."

"Dann wollen Sie etwa sagen, daß wir besser nur zusehen, wer gewinnt?" Stieß Davidson aus.

"Ich will damit nur sagen, daß jemand in die Kampfzone eindringen muß, um dort selbst zu wirken. Ich werde es gerne tun, wenn Sie das wollen, Direktor Davidson", sagte die dunkelhäutige Selma Onedin.

"Selma, bleib besser hier. Die greifen mit Totenmagie an. Lebende werden in der Kampfzone sofort entseelt oder entkörpert", warnte der Schamane.

"Als wenn ich das nicht auch schon gehört oder gefühlt hätte, Windmacher", knurrte Selma verbittert.

"Wenn wir die Zombies auf dem Friedhof erledigen ziehen wir diesem kleinen Baron da doch seine Unterstützung weg, oder?" Fragte Marchand.

"Dazu müßten sie sich vor dir hinstellen, Zachary", erwiderte Selma. "Aber ich fühle auch ohne diese mechanischen Dinger, die Quinn euch mitgegeben hat, daß sie sich unter der Erde aufhalten. Sie bilden Grenze und Zufluß für Coals Zauber."

"Ohne mich jetzt hier als unwissende Person lächerlich machen zu wollen würde ich gerne wissen, was dieser Tonkrug da zwischen den beiden soll", wandte Linda ein.

"Er wird versuchen, Maries Geist zu schwächen und durch Seelenkerkerritualgesänge in diesem Krug einzusperren und davonzutragen", sagte Selma. Anore und Davidson nickten.

"Sie beherrschen doch dieses Ritual, das bösartige Zauber zerstreut. Wind der Reinigung heißt es wohl", wandte sich Davidson an den Inuk.

"Das trifft zwar zu, Mr. Davidson. Aber wenn ich dieses Ritual wirke würde ich womöglich Marie Laveaus Widerstand brechen und damit diesem Kerl da helfen, sie zumindest zu vertreiben", sagte der Schamane. Davidson erkannte, daß sie, die Experten für die Abwehr dunkler Zauber, zu untätigen Zuschauern degradiert worden waren.

Weitere LI-Mitarbeiter trafen ein, während die Szene auf dem Friedhof zu einem Kunstwerk des reinen Chaos wurde. Grabhäuser blähten sich auf, kippten um oder verschwammen. Die Welt schien sich in einem senkrechten, farbigen Kreis um sich zu drehen, was Marchand an ein gewaltiges Riesenrad auf einem Jahrmarkt denken machte. Dazwischen explodierten rote, grüne und blaue Flammenwolken. Nebel wallte immer wieder auf, der mal grün, mal rot war. Dann klärte sich die Sicht wieder. Doch die Szenerie sah völlig ungewohnt aus. Obwohl es schon Tag war, herrschte auf dem Gelände tiefe Nacht, und die Grabhäuser glommen wie weißglühende Kohlenhaufen. Marie Laveaus Geistererscheinung strahlte weißblau, während Stillwells Körper aus dunklem Glas zu bestehen schien, durch das sie alle das Skelett sonnengelb leuchten sehen konnten. Linda hörte auf die von der Wirkung der Zauber verzerrten Worte, mit denen sich die beiden Voodoo-Duellanten beharkten. Doch selbst ihre magischen Ohren vermochten nicht, einzelne Wörter zu übersetzen, weil sie nicht genug Silben empfangen konnten, um alle Wörter zu übersetzen. Außerdem wirkten beide wohl auch ungesagte Zauber, um in die Gedanken des Gegners vorzustoßen. Zumindest erwähnte Selma so etwas. Dann wechselte die Szenerie wieder. alle meinten, in einen blutroten Würfel hineinzublicken, in dem die Grabhäuser wie zerbröckelnde Gebilde schattenhaft erschienen. Maries Geist sah nun aus wie ein wandelnder, tiefschwarzer Schatten. Doch ihre Augen glommen in einem hellen Blauton. Stillwells Körper dagegen strahlte nun in einem phosphoreszenzartigem Grünton, während sich seine Knochen als violett leuchtende Struktur abzeichneten.

"Irgendwas ist mit dem Skelett von ihm", vermutete Selma, während Linda sich von einem der Mitarbeiter die Eindrücke schildern ließ. Der Boden bebte. Stillwell schien einen Moment im Boden zu versinken, um dann beinahe Raketengleich nach oben zu steigen und aus mehreren Metern Höhe blaue Blitze auszuschicken. Marchand fühlte, wie seine Amulette auf die Streuwirkung dieser mächtigen Zauber reagierten. Dann wurde Stillwell zurückgeworfen und landete etwas unsanft auf dem Boden. Selma erwähnte, daß drei der Zombies bei dieser Magiefreisetzung vernichtet worden seien.

"Marie wird dafür immer kleiner und durchscheinender", bemerkte Davidson voller Unbehagen. Tatsächlich schien Marie während dieser mächtigen Magieentladung um ein Drittel geschrumpft zu sein. Ihre Gestalt wirkte unscharf und nebelhaft.

"Selma, wie groß das Risiko auch sein mag, gehen Sie da rein und helfen sie ihr mit dem Einschließungsritual!" Wies Elysius Davidson seine Voodoo-Expertin an. Diese nickte und setzte schon an, in die Kampfzone einzudringen. Da passierte etwas, womit sie nicht gerechnet hatten.

Keine hundert Meter von der Friedhofsbegrenzung entfernt tauchten fünf Gestalten in Weiß und eine in Rosarot auf. Sie hielten ein gewaltiges Netz, in dem eine silbern glänzende Kugel von drei Metern Durchmesser hing. Linda hörte die in Rosarot gekleidete Gestalt mit einer sehr tiefen und befehlsgewohnten Stimme sagen: "Schwestern, zieht euch zurück und überlaßt ihn mir!" Sofort verschwanden die in Weiß im Nichts. Marchand, der nicht hatte hören können, was die in Rosarot gekleidete Gestalt gesagt hatte, vermutete jedoch, daß Anthelias Gruppe Wind von diesem Kampf bekommen hatte. Was die silberne Kugel sollte verstand aber auch er nicht.

Die Frau in Rosarot, die Linda nicht als Anthelia wiedererkannte, hob mit einem Schwebezauber die Kugel aus dem Netz und ließ sie einige Dutzend Meter weit gleiten, bevor sie sie wieder aufsetzen und an den Rand der Kampfzone treiben ließ.

"Das ist Anthelias Nachfolgerin", vermutete Linda. Marchand nickte und schickte eine Gedankenbotschaft an das Zaubereiministerium, daß man die neue Anführerin der gesuchten Hexengruppe in New Orleans hatte. Doch er kam nicht ganz dazu, den genauen Standort anzugeben, weil ihm unvermittelt ein sehr schmerzhaft unter der Schädeldecke pochender Stoß die Konzentration verdarb. "Halt mir diese Stümper vom Hals", vernahm er eine sehr wütend klingende, ihm unbekannte Frauenstimme. Woher wußte dieses Weib, daß er gerade mentiloquieren wollte? Als er die Antwort auf diese Frage fand verschloß er schnell seinen Geist. Er riet den anderen ebenfalls zur Okklumentik, da die Fremde wohl Gedanken hören konnte. Das konnte Anthelia, wußte Linda. Doch die Stimme war nicht die von Anthelia. Hatte sie womöglich ihren totkranken Körper gegen einen neuen eingetauscht? Möglich war es wohl. Doch was jetzt geschah lenkte sie und alle Beobachter erst einmal von dieser Frage ab. Denn die Hexe in Rosarot hob einen silbergrauen Zauberstab, genau den, den Anthelia sonst immer getragen hatte und bestrich damit die silberne Kugel. Lindas magische Ohren vermittelten ihr einen Wirrwarr aus Silben, der erst nach fünf Sekunden für sie verständlich war:

"Aus der Tiefe der Erde stammende Tränen der Himmelsschwester fügt euch in ihrem Lichte zu einem!"

Diese Beschwörung, die in einer Linda völlig fremden Sprache erklang und von ihren magischen Ohren nur schwer übersetzt werden konnte, wiederholte die Fremde, während Davidson mit den Füßen Scharrte, weil er die neue Mitspielerin gerne festnehmen oder interviewen wollte. Dann sahen er und alle anderen, wie die Silberkugel zu leuchten begann. Erst war es ein zartes Blau, das die völlig glatte Oberfläche überdeckte. Dann wurde es zu einem silbernen Funkenregen und dann zu einer silberweißen Sphäre, in der die Kugel ruhte. Linda sah feine Strahlen, die aus dieser Sphäre heraus auf das Friedhofsgelände stachen und sich mit Stillwell alias Ruben Coal verbanden. Dieser trommelte und sang noch weiter, wobei Marie Laveaus Geist mehr und mehr verging. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er ihre sichtbare Präsenz vollkommen aufgelöst hatte.

__________

Anthelia hatte ihren Zauber gesungen. Die Kugel erstrahlte wieder im hellen Licht. Zwar war es gerade morgen, und kein Mond schien. Doch das mit dem Silber eingeschmolzene Mondlicht reichte Anthelia aus, um einen erneuten Vereinigungszauber zu wirken. Die Menge Silber und darin gebanntes Mondlicht mußte einfach reichen.

Das Tosen und die ständig wechselnde Ansicht des Kampfplatzes irritierte die neue Anthelia nur einen Moment. Dann begann der in einem schnieken Anzug steckende Schwarzhaarige, der zur Hälfte afrikanischstämmig sein mußte, vom Boden abzuheben und in ihre Richtung zu schweben. Dabei entluden sich zwei gegeneinanderwirkende Zauber. Marie Laveaus Geist wurde von einem blauen Blitz zurückgetrieben und verschwand in ihrem Grabhaus, während der Feind, der Zombiemeister, mit immer größerer Geschwindigkeit auf die silberne Kugel zuflog. Anthelia sah, wie die Knochen des Ritualmagiers erst bläulich und dann silbern durch das sie umhüllende Fleisch leuchteten. Also stimmte es. Sein ganzes Skelett war mit purem Silber umfaßt. Das würde sein Ende sein, dachte Anthelia, während sie ihren Zauber noch einmal sang, um den Vereinigungsvorgang in Gang zu halten. Wie ein urgewaltiger Magnet zog die massive Silberkugel das Silber aus Anthelias Zauberstabausrichtung an sich. Der Feind konnte seine Arme nicht mehr rühren, keine Kopf- und Mundbewegung mehr vollführen. Denn all das hätte seine Knochen bewegen müssen. Und diese wurden gerade von einer immer stärkeren Kraft in ein und dieselbe Richtung gezogen und gezerrt. Der Mann im Anzug, der gerade noch ein ritualmagisches Gefecht gegen eine Gespensterfrau geführt hatte, flog auf die Kugel zu. Anthelia hörte seine angstvollen Gedanken, sah sogar Bilder des Schreckens in seinem Kopf, daß er sich von einer ihn lähmenden Kraft gezogen fühlte. Dann prallte der lebende Körper auf die massive Kugel. Anthelia sang ihren Zauber lauter und eindringlicher. Jetzt galt es. Die Kugel erstrahlte nun ganz im mondlichtartigen Silberglanz, ja und tatsächlich drangen sogar einige Strahlen des unter dem Horizont liegenden Erdbegleiters bis hierher vor und verbanden sich mit der Kugel und dem gerade an ihr anhaftenden. Dieser konnte nicht schreien, keinen Laut des Schmerzes ausstoßen. Doch er mußte große Schmerzen erleiden, erkannte Anthelia, wobei sie Mühe hatte, sich auf ihren Zauber zu besinnen. Angst und Leid fluteten in ihren telepathischen Sinn und drohten, ihr Bewußtsein zu überlagern. Doch sie hielt durch. Zwei in ihr vereinte Seelen hielten am Ziel fest. Die diesem Schauspiel zuschauenden Hexen und Zauberer konnten nur tatenlos mitverfolgen, wie der Körper des Totentänzers mehr und mehr in die Breite gedrückt wurde. Es knirschte und pfiff, als der Brustkorb die Lungen zerdrückte. Die Muskeln wurden von den von ihnen umhüllten Knochen zerquetscht. Der Schädel wurde breiter und flacher. Aus allen Körperöffnungen schoß Blut und zerdrückte Innereien. Anthelia sah nun nur noch auf die Kugel, während sie ein letztes Mal den Zauber sang. Sie fühlte, wie der Widerstand zerbrach, den die Struktur der Knochen noch geboten hatte. Alles Silber drängte in die Kugel und zerbrach Knochen, durchdrang Fleisch und Blut und hinterließ einen höchst unansehnlichen Haufen organischen Gewebes und in mehrere tausend Teile zersplitterter Knochen, als alles Silber sich seinen Weg gebahnt hatte. Anthelia hörte noch einen kurzen, rein gedanklichen Aufschrei und sah dann eine geisterhafte erscheinung, die von der riesigen Kugel fortflog und in das Zentrum der ritualmagischen Auseinandersetzung hineinflog, wo noch die Trommel und Schlegel des Voodoomeisters lagen. Da quoll aus dem Grabhaus der marie Laveau eine gewaltige, aber ausgedünnte Nebelwolke hervor und trieb auf die flimmernde, durchsichtige Geistergestalt zu, sprach mit ihr und sog sie in sich auf. Anthelia konnte nur Gedanken von lebenden Wesen erfassen. So wußte sie nicht, daß Marie Laveaus Geist die Gunst der Stunde nutzte, um den verwegenen, ihr entgegentretenden Feind ein für allemal zu bezwingen. Wie die umstehenden auch sah Anthelia, wie der Nebel zu einer menschengroßen Erscheinung zusammenschrumpfte. Deutlich konnte sie in der aufgeblähten Bauchhöhle der Gespensterfrau ein undurchsichtiges, bleiches Wesen sehen, wie die geisterhafte Erscheinung eines Ungeborenen im fortbestehenden Leib seiner toten Mutter. Sie hörte dumpf, wie der gefangene Geist um Gnade und Freilassung schrie. Es klang für Anthelia wie Hilferufe aus einem geschlossenen Grab. Dann erfaßte nicht nur sie die ganze Tragweite dieses Vorgangs. Denn Marie Laveaus Geist hockte sich über einem Tonkrug und stieß Worte in der Sprache der Voodoo-Anhänger aus. Von einem lauten Schrei begleitet schoß aus ihrem Unterleib ein silbernweißer Dampfstrahl, der zu einer wild kreiselnden Spirale wurde. Der in ihrem Leib gefangene Geist des entkörperten Totentänzers wurde dabei in die länge gezogen und immer dünner. Anthelia sah, wie die Dunstspirale im Inneren des Kruges verschwand, hörte die verzweifelten Schreie des Entmachteten und die zwischen Qual und Triumph ausgestoßenen Schreie Marie Laveaus. Sowas hatte Anthelia bisher noch nie erlebt, eine Art Geistergeburt. Doch für den nun aus ihr hinausgestoßenen würde es nicht der Beginn eines neuen Lebens werden, wußte Anthelia. Die Nebelspirale füllte den Krug. Dieser schluckte das verwirbelte Ektoplasma wie ein Schwamm in sich auf. Noch einmal drang ein verzweifelter Ausruf hohl aus dem Krug. Dann konnte Anthelia nichts mehr hören oder sehen, was auf den Totentänzer hinwies. Marie Laveaus Geist rief noch einige Worte. Dann flog ein Deckel heran, legte sich auf den Krug. Mit streichelnden und klopfenden Bewegungen am Deckel vollendete Marie Laveaus Geist die Einkerkerung des Feindes. Dann hob der Krug vom boden ab und flog auf das Grabhaus zu. Kurz davor landete er wieder auf dem Boden und versank darin wie in tiefem Morast. Als dies passiert war blickten sich die neue Anthelia und die mächtige Geisterfrau in die Augen. Worte wurden jedoch keine gewechselt. Anthelia empfand diesen letzten Blick, bevor die Geisterfrau in das Grabhaus zurückschwebte, als Bestätigung des gemeinsam errungenen Sieges über den gemeinsamen Feind. Doch sie las aus diesem Blick auch, daß sie keinen Burgfrieden mit dieser Gespensterfrau und den mit ihr zusammenarbeitenden Menschen erzielt hatte.

Anthelia blickte auf die Silberkugel, die nun unbeleuchtet dalag, um einige Milli- oder Zentimeter war sie sicher angeschwollen, als sie alles Silber vom Skelett des Totentänzers in sich eingesaugt hatte. Der Rest des bezwungenen Feindes lag vor der Kugel als unappetitlicher roter Haufen.

"Packen wir sie!" nahm Anthelia einen mit dem Vocamicus-Zauber weitergegebenen Befehl aus dem Geist eines gerade nicht gut okklumentierenden LI-Mitarbeiters wahr.

"Mich festnehmen wollt ihr!" Rief Anthelia. Da flogen ihr auch schon Flüche entgegen, die jedoch von ihr abprallten. Sie lachte nur und versuchte zu disapparieren. Doch etwas hielt sie fest. Jemand hatte sie während des Zaubers mit einem anti-Disapparierfluch belegt. Wollten diese Narren wirklich den offenen Kampf mit ihr? Sie warf sich herum, als mehrere Zauberer und eine Hexe auf sie zueilten. Flammen schlugen aus ihrem Körper, wurden zu einem lodernden Ring, der blitzartig von ihr fortdrängte. Die Angreifer konnten gerade noch zurückspringen. Bei einigen fanden die magischen Flammen jedoch Nahrung an den Umhangssäumen.

"Undank wird immer bestraft, werte Damen und Herren!" Rief Anthelia aus. Da hörte sie das erste der beiden verbotenen Wörter. "Avada ..." Sie warf sich nach vorne, fühlte, wie ihr Körper unter der unmittelbaren Todesnähe verwandelt wurde und hörte noch das zweite Zauberwort "... Kedavra!" Da fühlte und hörte sie den tödlichen Fluch auch schon auf sie einwirken. Doch in dieser Gestalt tat er ihr nichts. Auch der zweite Todesfluch prallte von ihr ab. Sie hätte gelacht, hätte sie einen Mund gehabt. So konnte sie nur verächtlich mit den großen Beißscheren winken und davonrennen.

Zachary Marchand und alle anderen sahen, wie sie kurz vor Ausruf des Todesfluches zu einer menschengroßen, schwarzen Spinne wurde und die beiden grünen Blitze wegsteckte wie ein Stein ihn umwehenden Wind. Dann rannte das Monstrum davon. Versuche, sie mit Schockzaubern zu treffen mißlangen ebenso wie ein dritter Todesfluch. Die Spinne rannte davon, schneller als ein Mensch laufen konnte. Dann wurde sie wieder zur Frau. Sie drehte sich kurz um, winkte mit ihrem Zauberstab und disapparierte.

"Die hat den Anti-Disapparierfluch abgeschüttelt", knurrte Elysius Davidson noch, als er sah, wie die vermummte Frau im rosaroten Umhang verschwand. "Die kann sich in eine riesige Spinne verwandeln. Ist Ihnen klar, was das heißt, Ladies und Gentlemen?"

"Daß es jene ist, die in Australien ihr Unwesen getrieben hat", bemerkte Louis Anore. Der Schamane und Windmagier wußte zu gut, wen sie da gerade gesehen hatten, jene alte Magierin, die im inneren des roten Felsens gefangen gewesen war. Sie hatte also nun den Zauberstab der Wiederkehrerin. Hieß das, daß sie diese besiegt hatte? Dann wußte dieses Spinnenweib nun alles, was die Wiederkehrerin wußte. Der Inuk sah bereits düstere Zeiten herannahen.

__________

Stillwell fühlte einen nie gekannten Schmerz, als sein Geist von den zersplitterten Knochen freigegeben wurde. Er sah gerade noch, wie auch die silberne Schädeldecke in diese magische Kugel eingesaugt wurde und fühlte sich mit dem davon losgepreßten Fleisch davonspritzen. Er fand keinen Halt und schrie nur noch. Marie, die die Entladung der ungerichteten Magie in ihr Haus zurückgeschleudert hatte, konnte triumphieren. Doch sie war zu schwach, dachte Stillwell.

Als er fühlte, wie die Reste seiner Macht sich in einer Art Fontäne in Maries Grabhaus zusammenballten und in den Himmel raste, sah er eine mächtige weiße Wolke aus dem Dach des Grabhauses fliegen. Er hörte einen Ruf: "Komm zu mir und sei mein!" Er versuchte, diesem Befehl zu widerstreben. Doch da hatte ihn die Macht dieses Befehls schon ergriffen und zog ihn auf die weiße Wolke zu, die nun immer deutlicher eine nebelhaft aussehende, mindestens fünf Meter große Erscheinung Marie Laveaus war. Er versuchte erneut, dagegen anzukämpfen, in diese Wolke hineinzugeraten. Doch sie wehte ihm entgegen und hüllte ihn ein. Er fühlte plötzlich eine nie gekannte Enge. Mit nicht mehr körperlichen Augen sah er durch ein weißes Wabern, das immer durchsichtiger wurde, bis er durch eine Art gewölbtes Glas die um ein vielfaches vergrößerte Umgebung des Friedhofes erkennen konnte. Da begriff er. Maries Geist hatte den seinen in sich aufgesogen und war auf ihre sonstige Größe geschrumpft. Er schlug mit seinen Händen um sich, strampelte und trat mit seinen Beinen. Die ihn festhaltende Umhüllung gab zwar nach, war jedoch wie Gummi so elastisch. ER kämpfte gegen das an, was ihn hielt:

"Du Hure der Weißen, laß mich aus deinem verdorbenen Leib raus. Ich werde dich zerreißen."

"Dein Widerstreben nützt dir nichts mehr", hörte er ein gequältes Stöhnen um sich herum. Das war Marie Laveaus Stimme. Dann sah er, wie seine Überwinderin über etwas großem und drohend entgegengähnendem verhielt und fühlte, wie etwas seine Beine packte und schmerzhaft in die Länge zog.

"Nein, bitte nicht! Nein!" Rief er. "Ich gelobe, dir kein Leid mehr zuzufügen!" versuchte er es noch. "Bitte nicht das!" Stieß er aus, während der ihn in die länge zerrende Sog seinen Körper, seine Arme und dann auch seinen Kopf erreichte. Dann fühlte er, wie er in einem hellen Wirbel davongerissen wurde und sah die riesenhaft über ihm hockende Erscheinung Marie Laveaus, bevor etwas wie hunderte von Händen ihn packte und in die Tiefe zerrte. Er versuchte noch einmal, sich zu wehren. Doch da fühlte er schon, wie sein Geist eins mit dem Krug wurde, der ihn aufsog wie der Schwamm das Wasser. Er hörte Maries beschwörende Worte: "Dort sei dein Heim. Sollst immer drinenn sein!" Dann merkte er, wie er zu keiner Regung mehr fähig war. Als sich der Krugdeckel über ihm schloß verfiel auch sein Bewußtsein in eine unendliche Starre.

__________

Alberto Molinos erwachte wie aus einem Alptraum. Darin hatte ein Voodoomeister mitgespielt, der ihn durch einen beschwörenden Singsang zu einer Marionette gemacht hatte. Er hatte eine Armee von Zombies gesehen, die er wie auch immer auf einem kleinen Flughafen gelandet hatte. Das letzte, woran er sich erinnerte war, daß diese Zombies mit ihm zusammen einen Inlandsflughafen überfallen und erobert hatten, wo er mit drei von denen in einer gekaperten Boeing 747 gestartet war. Der Voodoomeister hatte ihm einen Kristall mitgegeben, der gegen alle Formen der Fernbeobachtung und Entdeckung schützen sollte. Denn er sollte die New Yorker Börse angreifen, seine Maschine dort hineinstürzen lassen und damit das Finanzzentrum der USA und eines Großteils der westlichen Welt vernichten. Als er aufwachte fand er sich jedoch auf dem Pilotensitz einer Boeing sitzend. Die Maschine flog gerade über dem Atlantik mit Kurs auf die Ostküstenmetropole. Er erschrak. Die Maschine war auf Autopilot. Er konnte es nicht fassen, daß er wirklich unterwegs nach New York war. Aber dann mußte doch auch jemand anderes unterwegs sein. Er erinnerte sich, wie sein Unterdrücker von einem Ignatio Torres gesprochen hatte, der in das Welthandelszentrum hineinfliegen sollte. Das wäre ein kriegerischer Akt, wenn herauskam, daß sie beide aus den regulären Luftstreitkräften ihrer Länder stammten. Das würde die Amerikaner zu Vergeltungsaktionen gegen ihre Länder treiben. Doch er konnte es noch abwenden. Er mußte nur ... Der Kristall, der ihn unaufspürbar machen sollte, leuchtete neben ihm und zerbarst. Aus dem Passagierraum erklang ein klagendes Stöhnen. Noch lief der Autopilot. Molinos sprang aus dem Pilotensitz auf und öffnete die Tür zum Passagierraum. Von dort schlug ihm süßlicher Verwesungsgeruch entgegen. Er sah drei auf dem boden liegende Körper, die sich wanden und stöhnten. Dann sah er, wie diese wie von einem unsichtbaren Feuer verbrannt wurden. Sie färbten sich schwarz und zerfielen. Der beißende Geruch verbrennenden Fleisches hing in der Luft. Dann war das entsetzliche Geschehen vorüber. Molinos zitterte. Das war also kein Alptraum gewesen. Er hatte drei Zombies an Bord gehabt, lebende Leichen. Doch warum waren diese jetzt vergangen? Warum konnte er wieder klar denken? Dann erschrak er. Wenn die Magie, die ihn gefangengehalten hatte, erloschen war, dann konnten sie ihn auch orten. Schnell rannte er ins Cockpit zurück, wo er sich hinsetzte und die Kopfhörer-Mikrofon-Kombination nahm. Er schaltete das Funkgerät ein. Wie war noch mal die Frequenz von Washington Center? Da hörte er auch schon den Anruf: "Unbekanntes Flugzeug mit Kurs drei fünf drei, umgehend identifizieren!" 353 war der gerade anliegende Kurs. Also war er gemeint. Er meldete sich und gab sich als ziviler Pilot einer gekaperten Maschine zu erkennen, die das Ziel gehabt hatte, einen gezielten Absturz in New York zu vollführen. Allerdings sei er dazu gezwungen worden. Das wirkte natürlich entsprechend alarmierend.

Keine fünf Minuten später fauchte eine Dreierstaffel Kampfjets heran, die von einem vor der Küste operierenden Flugzeugträger stammten. Diese geleiteten ihn zu einer Basis der US-Luftwaffe. Als er dort landete erkannte er noch eine große Zivilmaschine.

"Los, raus und folgen!" Hörte er die scharfen Kommandos eines Lieutenants der Airforce, als dieser mit einem Kommando an Bord kam, um den Piloten festzunehmen. Wenige Minuten später erfuhr Molinos, daß auch Torres sich in der Gewalt des US-Militärs befand. Natürlich glaubte ihnen niemand, daß sie die beiden Maschinen unfreiwillig geflogen hatten. Als Molinos dem verhörenden Major und einem Militäranwalt der Luftwaffe erzählte, er sei von einem bösen Voodoozauberer magisch unterworfen und dazu gezwungen worden, für ihn zu fliegen, wurde Major Daniel Stone hellhörig. Er fragte den Piloten noch einmal, welche Flüge er hatte unternehmen müssen. Dann verließ er kurz das Verhör, um seinem Vorgesetzten Meldung zu machen. Die Folge war, daß keine Stunde danach ein Herr im rot-weiß-blauen Umhang mitten im Verhörraum aus dem Nichts heraus erschien und mit einem hölzernen Stab erst den Major, dann den Anwalt und dann, als er den Piloten legilimentisch überprüft hatte, auch diesen mit völlig neuen Erinnerungen versah. Zeitgleich arbeitete sein Vergissmich-Kollege im Büro von Major General Brody an der Veränderung der Erinnerungen. Danach stand für die Airforce fest, daß die beiden Maschinen die Luftsicherung über den USA testen sollten, um einen möglichen Anschlag aus der Luft heraus zu planen. Als Urheber dafür wurden die Terroristen der Colored Conquerors angeführt. Molinos und Torres wurden ohne großes Aufheben in ihre Heimatländer abgeschoben, da die US-Regierung kein Interesse daran hatte, die Öffentlichkeit wissen zu lassen, daß zwei zivile Flugzeuge es fast geschafft hätten, unangemeldet in den Luftraum über New York einzudringen.

__________

"Jetzt habt ihr eine Ahnung, mit wem ihr euch angelegt habt", knurrte Anthelia, als sie wieder in ihrem Hauptquartier war. Doch dann lachte sie laut. "Und ihr habt kein Mittel, mich aufzuhalten. Euer dummer Antiapparierzauber bindet mich nicht, wenn ich meine erhabene Zweitgestalt annehme." Sie dachte daran, daß sie die Silberkugel mit den darin eingelagerten Überresten von Coals Gerippe zurückgelassen hatte. Sollten sich die Laveau-Leute doch damit amüsieren. Niemand würde herausbekommen, was sie gesagt hatte. Doch sie hatte vor lauter Konzentration auf ihren Kampf gegen Coal nicht mitbekommen, daß eine der Zuschauerinnen, die zwar weit fort stand aber alles hörbare hatte hören können, verstanden hatte, was sie gesagt hatte, trotzdem es in einer uralten, auf dieser Welt ausgestorbenen Sprache erklungen war.

__________

Der Indikator zeigte ein eindeutiges Ergebnis. Das paßte auch zu den körperlichen Begleiterscheinungen der letzten Wochen. Es wurde also Zeit, aus dem Versteck zu kommen.

Als Daianira am vierten Dezember vor dem Haus ihrer Base Leda apparierte atmete sie noch einmal tief durch. Dann zog sie am Glockenseil. Eine Minute später schwang die Tür auf, und die Hausbewohnerin stand mit einsatzbereitem Zauberstab in der Hand da. "Hallo, Mutter. Du wirst im Juli Oma!" Begrüßte die durch Hynerias Zeitmanipulation zur Zwanzigjährigen blitzgealterte ihre Cousine.

"D-daia-n-nira?? Also das ...", stammelte Leda, die eigentlich vieles gewohnt war.

"Steck den Zauberstab besser weg, oder willst du die umbringen, die du selbst in die Welt zurückgezwengt hast?" Grinste Daianira-Lysithea.

"Wo warst du so lange?" Fragte Leda und winkte ihrer unerwarteten Besucherin zu, ins Haus zu kommen.

"Erkläre ich dir in einem Klangkerker", erwiderte die Besucherin und folgte Leda in ihr Arbeitszimmer.

Im Schutze eines Klangkerkers erklärte sie Leda, was mit ihr passiert war und daß sich der anfängliche Verdacht nun bestätigt hatte.

"Dann wächst sie jetzt in dir heran?" Fragte Leda und prüfte die Angaben nach. "Die suchen sie in ganz Europa. Angeblich hat sie sich mit Nyx und einem Vampirehepaar angelegt, daß zwei Muggelmädchen entführt hat. Nyx wurde für einige Minuten außer Gefecht gesetzt, das Vampirehepaar getötet und die beiden Mädchen befreit. Aber Tourrecandide verschwand unter Zurücklassung von Kleidung und Ausrüstung."

"Ich weiß auch nicht, wie diese Verbindung genau zwischen ihr und mir bestand. Aber ich muß wohl erkennen, daß wir seit dem Zusammentreffen auf der Insel miteinander verbunden waren. Kann sein, daß diese hölzernen Wächterinnen mit ihrer Magie darauf hinwirken wollten, daß sie meine ordentliche Mutter wird, wo sie mich schon um das Recht geprellt hat, dieser Wiederkehrerin ein besseres Leben zu geben."

"Das ist überaus merkwürdig", sagte Leda. "Ich mußte der Welt vorlügen, daß ich dich, also Lysithea, an einem mit Geheimhaltungszauber gesicherten Ort versteckt hätte, weil es keine Spur von dir gab."

"Ich weiß. Ich habe meine guten Möglichkeiten genutzt, mich zu erkundigen", tat die Besucherin das wie beiläufig ab. "Ich weiß auch, daß die explodierte Zeitfresserkiste einen breitgestreuten Verjüngungszauber freigesetzt und dich und alle in seiner Nähe in Babys zurückverwandelt hat. Habt ihr Hyneria auch wieder großgefüttert?"

"Nein, sie ist als Findelkind einer Hexe auf der Säuglingsstation von Oma Thyia gelandet. Lady Roberta hat ihr und Etna die Erinnerungen an ihr früheres Leben genommen. Was besseres kann der Ausgestoßenen nicht passieren."

"Gut, dann wird sie mir nicht mehr gefährlich", knurrte Daianira-Lysithea.

"Weißt du von dem Angriff eines Zombiemachers auf die Staaten?" Fragte Leda.

"Nicht allzu viel, weil meine Kunst, ungesehen umherzureisen immer schwächer wird, solange ich sie in mir habe", erwiderte Daianira und strich sich über den noch flachen Bauch.

"Dieser Totentänzer konnte in New Orleans gestellt werden. Jemand, die den Zauberstab Anthelias benutzt hat, hat seinen Körper gegen eine magisch zum leuchten gebrachte Silberkugel prallen und daran zerdrücken lassen. Die vom Ministerium und vom Laveau-Institut sind in heller Aufregung, weil diese Person sich nach dem Kampf der Festnahme entzog, indem sie zu einer schwarzen Spinne wurde, die selbst dem Todesfluch widerstand, davonlief und in gebührendem Abstand wieder menschliche Gestalt bekam und disapparierte.

"Doch nicht die schwarze Spinne, von der Nimoie es im Februar und März hatte", knurrte Daianira.

"Womöglich doch", erwiderte Leda. Dann kam sie auf das wesentliche Problem:

"Wir können dich nicht einfach wieder auftauchen lassen. Ich weiß ja nicht einmal, wie ich dich nennen soll."

"Daianira ist tot und begraben. Du kannst mich weiterhin als deine Tochter ansehen, wenngleich ich wohl nicht mehr als süßes Baby in der Öffentlichkeit auftauchen kann oder mich einfach als heimliche Patientin sehen, der du hilfst, ihr erstes Kind zu gebären."

"Gut, dann müssen wir etwas ausarbeiten, daß Lysithea Greensporn in einigen Monaten für immer von der Welt verschwindet. Aber wie willst du dann heißen?"

"Der Name Lysithea gefällt mir aber, Leda. Er hat mich damit Frieden finden lassen, als deine Tochter aufzuwachsen. Warum muß auch gleich jeder sterben, der nicht mehr so ist wie vorher. Du reist einfach mit deiner Tochter außer Landes, läßt dir von Oma Thyia und einigen Schwestern, denen wir beide vertrauen können eine sichere Unterkunft anweisen und übergibst die Niederlassung an eine jüngere Kollegin."

"Dann werde ich dich als Daianiras verschollene Tochter ausgeben, die sie heimlich bekommen hat. Vom Alter und Aussehen her wird es keiner anzweifeln. Aber dann darfst du nicht Lysithea heißen."

"Hmm, wie hätte ich meine Tochter genannt, wenn ich vor zwanzig Jahren eine geboren hätte? Wäre von der Tageszeit abhängig gewesen, ob Eos, Theia oder Artemis oder Selene. Hmm, ja, so soll die heißen, die da gerade in mir schlummert, Selene. Und ich bin demnach Theia, Theia Hemlock, geboren am zwölften Oktober 1978 auf einer von der Zaubereiverwaltung unortbaren Insel unserer Urahnen. Ja, das geht."

"Gut, Theia. Dann werden wir dich so vorstellen. Vielleicht kann Lady Roberta dich auch wieder in die Reihen der Schwestern einschwören."

"Nur um einen intriganten Haufen zu leiten, bei dem ich nie weiß, wer meine Feindinnen sind", knurrte die von nun an Theia Hemlock heißende. "Nein, ich werde dieser Gruppe nicht mehr beitreten. Die hat meine Mutter getötet. Außerdem könnte ich dann gleich wieder gegen diese Bande Anthelias oder ihrer Erbin antreten. Nein, ich will jetzt wissen, ob ich, wo ich einige Monate lang ein süßes Baby war, eine brauchbare Mutter sein kann.""

"Warum willst du sie ... ähm, ... deine Tochter, Selene nach der altgriechischen Mondgöttin nennen?" Fragte Leda. Ihre Besucherin lächelte überlegen und eröffnete ihr, daß der voraussichtliche Geburtstermin kurz vor oder kurz nach dem Triumph der Muggel über den Mond liegen würde. Leda wußte davon nichts. Doch ihre Besucherin, die sich an das überhebliche Getue muggelstämmiger Schüler in Thorntails erinnerte, als ein gewisser Neil Armstrong es wagte, seinen Fuß auf den Erdmond zu setzen, erklärte es ihr.

"Gut, Ms. Theia Hemlock. Dann bleibt jetzt nur die Frage, wer der Vater des Kindes ist."

"Da ich vermuten muß, daß ich da ein schwarzhaariges Mädchen ins Leben tragen kann kommt der Vater aus einer Muggelsiedlung in Südeuropa, eine Affäre, mit der ich diesen edlen Samenspender nicht weiter behelligen möchte, weil ich meine Tochter alleine großziehen möchte. So ähnlich hast du mich doch auch begründet."

"Hmm, darf ich noch mal was nachprüfen?" Fragte Leda. Ihre Besucherin ahnte schon, was die Heilerin wollte. Sie ließ nachsehen und erklärte, daß sie das schon längst bedacht und entsprechende Voraussetzungen geschaffen hätte, daß niemand in ihr eine neue Gottesmutter ansehen mochte.

"Dir ist klar, daß du dich in der Öffentlichkeit nicht zeigen darfst, Theia?" Fragte Leda.

"Das ist mir klar, Leda", erwiderte die neue Patientin der Heilerin.

"Ich fürchte nur, daß du nicht darum herumkommen wirst, von Bobie Sevenrock begrüßt zu werden. Denn sonst könnte sie dir auch die Erinnerungen nehmen. Besser ist es, daß du dich freiwillig bei ihr meldest. Du mußt ja nicht mehr zu den Ungeduldigen zurück. Jetzt, wo Lavinia von denen zur neuen Anführerin erklärt wurde, habe ich Lady Robertas Angebot angenommen, dieser Schwesternschaft zu entsagen. Das ging, weil Lavinia sonst wie Etna aus den Reihen ausgestoßen worden wäre, da sie mit Hyneria gegen dich und mich vorgegangen ist."

"Was ihr wohl nicht bewiesen werden kann", knurrte Theia. "Na gut, hätte Hyneria das nicht getan müßte ich dich jetzt um Abendessen anquängeln. Aber ich denke nicht, daß sie lange bleibt."

"Du meinst wegen der Spinnenfrau?"

"Ich fürchte, dieses Spinnenweib hat Anthelia einverleibt und hält sich jetzt für deren Erbin. Nachdem was du erzählt hast ist sie unangreifbar und daher mit Bedacht zu nehmen. Gesehen habe ich sie nicht, obwohl ich gezielt nach Orten suchte, an denen von Anthelia oder ihrer Nachfolgerin gesprochen wurde. Ich kam noch nicht einmal mehr als Astralform in das Hauptquartier von ihr hinein. Offenbar hat sie gleich nach ihrer vorzeitigen Wiedergeburt und übersprungenen Kindheit dafür gesorgt, daß ich dort keinen Einlaß mehr fand. Also wird sie sich hauptsächlich dort aufhalten."

"Und du kannst mir immer noch nicht verraten, wo es ist?"

"Das ist der Fidelius-Zauber, der hat meine erste Schwangerschaft, meine Wiedergeburt und meine neue Lage überdauert", grummelte Theia Hemlock. Dann bat sie Leda darum, mit ihr am nächsten Tag zu Eileithyia Greensporn zu gehen. Wenn sie schon in die Sororitas eingeführt werden sollte, sollte diese ihre Fürsprecherin werden.

ENDE

Nächste Story | Verzeichnis aller Stories | Zur Harry-Potter-Seite | Zu meinen Hobbies | Zurück zur Startseite

Seit ihrem Start am 1. Dezember 2010 besuchten 3377 Internetnutzer diese Seite.