DER STILLE DIENST

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

E-Mail: hpfan@thorsten-oberbossel.de
http://www.thorsten-oberbossel.de

Copyright © 2013 by Thorsten Oberbossel

__________

Was bisher geschah | Vorige Story

P R O L O G

Julius, der mit dem Nachnamen Andrews in Hogwarts angefangen hat, ist nun als Julius Latierre mit der Zaubereiausbildung in Beauxbatons fertig. Seine Frau Mildrid muß die wichtigen Abschlußprüfungen zwar noch nachholen. Doch beide richten sich nun darauf ein, ihr eigenes Leben zu leben. Die während Julius' Schulzeit erhaltenen Zaubergegenstände wurden in einem mit mehreren Schutzzaubern umschlossenen Schrank deponiert. Denn vor allem der Lotsenstein für die alten Straßen Altaxarrois ist ein machtvolles Ding, das nicht in unbefugte Hände geraten darf. Die Heilerzunft hat schon angefragt, ob er sich dort zum Heiler ausbilden lassen möchte. Doch Julius schwebt eher etwas in Richtung Umgang mit Zaubertieren oder Zauberwesen oder Zauberkunst vor. Inwieweit das alte Erbe, das er mit dem Lotsenstein übernommen hat, weiterhin sein Leben bestimmen mag weiß er noch nicht. Denn zunächst stehen mehrere Feiern an.

Zum einen feiern Millie und er die Verlobung von Julius' Mutter Martha in Viento del Sol. Auf der Reise dorthin versucht die Heilzunftsprecherin Antoinette Eauvive, die Martha Andrews' magische Adoptivmutter ist, Julius für ihre Zunft zu gewinnen. Seine zukünftige Stiefgroßmutter Hygia Merryweather hingegen rät Julius, nur das zu tun, für das er auch mit ganzem Herzen eintreten will. Wieder in Millemerveilles feiern die Latierres die Ankunft von Aurore Béatrice mit allen wichtigen Nachbarn und Freunden. Kevins Cousine Gwyneth bringt Kevin heimlich nach Millemerveilles. Denn Kevins Vater hat versucht, ihn durch auferlegten Zauberschlaf davon abzubringen, die belgische Junghexe Patrice zu heiraten. An die Ankunftsfeier für Aurore schließt sich die Feier zu Julius' achtzehntem Geburtstag an.

Kaum sind alle Geburtstagsgäste fort, wird Julius von Tiberius Odin, dem Vater Camille Dusoleils, in dessen Haus gebeten. Ein von der körperlich verstorbenen Aurélie Odin präparierter Zeittresor ist erschienen und hält drei letzte Erbstücke nur für Julius bereit. Dieser fürchtet, nun endgültig auf eine bestimmte Linie gebracht zu werden. Doch er nimmt die drei im Zeitwürfel liegenden Dinge an sich: Ein uraltes Buch über die Herrscher des alten Reiches, einen magischen Pokal, der durch Blutsbindung ermöglicht, mit allen sonst sprachunfähigen Lebewesen wie mit Menschen zu sprechen, die eigenes Blut oder Milch freiwillig in den Pokal fließen lassen. Zum dritten erhält Julius eine Flasche voller Erinnerungen, die Aurélie Odin von ihren weiblichen Vorfahren zusammengetragen hat. Als er sie in sein Denkarium füllt und mit Millie betrachtet, erfährt er, wann die erste Trägerin von Ashtarias Heillstern lebte, die eine Linie in Frankreich begründete. Sie verfolgen haarsträubende Kämpfe mit dunklen Magiern und dem gefährliche Schattenwesen steuernden Riesengehirn Kanoras mit. Sie bekommen mit, wie der mächtige Silberstern von einer weiblichen Trägerin zur nächsten erstgeborenen Tochter oder Enkelin weitergereicht wird, bis Aurélie Odin mit ihrem Vater Lucian Binoche das Elternhaus gegen eine Armee von Grindelwald-Unterstützern verteidigen muß. Das Landhaus der Binoches wird durch Fidelius-Zauber verborgen. Doch Aurélies Vater stirbt bei einem Duell mit Gellert Grindelwald. Julius erfährt, daß Gloria eine entfernte Verwandte eines Sohnes von Ashtaria sein muß, weil ihre Großmutter mütterlicherseits einen Vorfahren hatte, der den Silberstern tragen und benutzen durfte. Außerdem erfährt er, daß es noch einen zweiten Lotsenstein gibt, der jedoch in den Wirren von Machtkämpfen in den Besitz der Familie Steinbeißer gelangte, die jedoch nichts mit ihm anfangen können, solange sie die magischen Formeln zur Benutzung der alten Straßen nicht herausfinden können. Das alles bleibt nur Millie und Julius vorbehalten. Denn was sie erleben und geheimhalten wollen wird durch den Geheimniswahrungszauber der Latierre-Dynastie magisch versiegelt. Dennoch fühlen sich beide noch mulmiger als sonst.

Julius gehört wie Laurentine und Gloria zu den besten UTZ-Absolventen seines Jahrgangs. Bis auf ein E hat er nur unterstrichene Os erzielt. Damit kann er quasi jeden Beruf innerhalb des Zaubereiministeriums ergreifen, wenn er es will und eine Stelle frei ist.

__________

Es war der übliche Trott. Er fuhr mit seinem fünf Jahre alten BMW 700 auf das Gelände des britischen Museums, dessen Kurator er war. Er hatte nicht mal das Fenster öffnen müssen, um den Pförtner zu fragen, ob er passieren durfte. Der hatte bereits auf dem Fernsehschirm Auto und Fahrer erkannt und die Schranke hochklappen und hinter dem noblen Wagen aus deutscher Produktion wieder absinken lassen. Mit beinahe schon gelangweilter Miene manövrierte Professor Jonathan Stuard seinen Wagen auf den ihm zustehenden Parkplatz.

Das Londoner Wetter meinte es heute gut mit den Bürgern. Die Sommersonne strahlte von einem fast wolkenfreien Himmel herab und leuchtete den Parkplatz so stark aus, daß Professor Stuard dachte, auf einen mit Flutlicht erhellten Sport- oder Übungsplatz zu kommen. Gerade als er den PS-starken Motor abstellen wolte trällerte sein Mobiltelefon in der schwarzen Aktentasche. Der Kurator des britischen Museums wiegte den Kopf. Rief seine Frau oder Moira an? Er holte das kleine Telefon aus der Aktentasche und sah in der kleinen Anzeige, daß es seine Tochter Moira war. Moira war mit ihren Schulfreundinnen in die Staaten gereist, den erfolgreichen Schulabschluß und den Beginn des eigenständigen Lebens feiern.

"Hallo, Vater, ich befinde mich zu diesem Zeitpunkt mit Rosemarie und Angelica vor dem imposanten Empire State Building und trage mich mit dem Gedanken, dieses am Morgen unserer Zeit zu ersteigen, um die grandiose Aussicht über Manhattan genießen zu können. Angelica trug uns den Vorschlag vor, nach unserem Kurzbesuch in New York einen Ausflug zum Grand Canyon zu unternehmen. Doch darum allein wünsche ich dich nicht zu sprechen. Rosemarie verfiel bei einem Besuch in einem Internetcafé in haltloses Gelächter, als sie eine Pressemeldung über die in bälde in den Mauern des von dir geführten Museums zu eröffnende Hadrian-Ausstellung lesen konnte", begrüßte Moira ihren Vater, so umständlich wie immer sprechend. Professor Stuard hörte im Hintergrund das Rauschen einer niemals schlafenden Großstadt und das schon albern klingende Kichern zweier Mädchen. Eines davon stieß unter Lachanfällen aus: "Ma-ha-hau-hu-seum, Mo-ho-hoira."

"Ja, und was ist mit der Mitteilung?" wollte Professor Stuard wissen.

"Ähm, nun, ja", druckste Moira herum, bevor sie auf den Punkt kam. "Offenbar hat bei euch ein Witzbold gezielte Schreibfehler in den Text hineinpraktiziert. Denn daß jemand ganz unbeabsichtigt jedes mit den Zeichenfolgen m-u-s und m-a-s zu schreibende Wort mit den Zeichenfolgen m-a-u-s verfremdet entzieht sich gänzlich meiner Vorstellungskraft."

"Bitte was?" sprach Jonathan Stuard etwas lauter als gesittet in das Mikrofon seines Mobiltelefons.

"Du hast völlig richtig vernommen, daß offenkundig jemand überall dort, wo es auch nur eine gewisse Ähnlichkeit aufweisen mochte, die Zeichenfolge für Maus in die Wörter hineinpraktiziert hat."

"Und die Katzalognummern bezüglich der in den römischen Katzakomben vorgefundenen Überreste aus Britannien", souflierte Rosemarie. Moira schnaubte verärgert. Dann sagte sie ihrem Vater:

"Ich kann dir leider nicht erläutern, wo genau dieser offenkundige Unfug seinen Ausgang nahm, Vater. Aber falls du nicht wünschst, daß eure hochwissenschaftliche Exhibition durch diesen Artikel der Lächerlichkeit preisgegeben und als reine Narretei verunglimpft wird, schlage ich dir vor, Umstände und Urheberschaft dieses kommunikativen Sabotageaktes wider deine und deiner Mitarbeiter Bemühungen zu erörtern und auszuräumen, falls sich die Quelle hierfür im Museum selbst finden läßt."

"Maauuuseum, Moira", grhörte Stuard nun noch Angelicas Stimme höchst amüsiert aus dem Hintergrund rufen.

"Ich werde nun noch ein paar digitalfotografische Aufnahmen von der erleuchteten Fassade des Empire State Buildings erstellen und dann zusehen, mit den beiden offenbar in vorprüfungsverhaltensformen zurückgefallenen Damen unsere Unterkunft aufzusuchen."

"Grüß deinen Dad von uns", trällerte Angelica. Johnathan Stuard sagte zeitgleich:

"Also, wenn da wirklich wer das Datum von vorgestern mit dem ersten April verwechselt haben sollte, Moira, dann werde ich entsprechend reagieren müssen. Danke für den Hinweis!" Dann gab er seiner Tochter die allabendliche Ermahnung mit, sich nie länger als bis dreiundzwanzig Uhr in der Stadt herumzutreiben, da in den US-amerikanischen Großstädten leider sehr viel kriminelles Volk herumstrolche. Seine Tochter antwortete mit der üblichen Beruhigungsphrase, sich nicht von fremden Leuten im Dunkeln ansprechen zu lassen. Dann trennte Moira die Mobiltelefonverbindung.

Sichtlich ungehalten verließ der Kurator des britischen Museums sein nobles Auto und marschierte auf das für höhere Angestellte reservierte Zugangstor zu. Mit der ihm zugeteilten Schlüsselkarte verschaffte er sich Zutritt und enterte den Fahrstuhl wie ein Pirat im Goldfieber. Die eine Minute, die der Aufzug brauchte, um seinen Passagier bis ins oberste Stockwerk zu heben, schien Stuard eine Ewigkeit zu dauern. Er zerrte ungeduldig an den beiden Enden seiner schwarzen Krawatte. Endlich glitten die Falttüren auseinander. Professor Stuard lief über den mit dicken Teppichen ausgelegten Gang zu seinem Büro und entriegelte dieses mit der Karte, mit der er die Außentür geöffnet hatte. Pamela Woods, die erst vor einem Monat eingestellte Vorzimmerdame, war noch nicht auf ihrem Posten. Professor Stuard starrte die gerade unbesetzte Computertastatur an, als könne sie was dafür, daß ihm gerade nicht so freundlich zu Mute war. Doch dann kam er auf die Idee, hier und jetzt Moiras Mitteilung zu prüfen. Er schaltete den Rechner ein und wartete, bis das Betriebssystem geruhte, vollständig betriebsbereit zu sein. Als es sich dann auch vollständig mit dem hausinternen Netzwerk verbunden hatte gab Stuard sein Zugangspasswort ein und klickte auf Internetzugang.

Als er die sorgfältig ausformulierte Internetseite im Zusammenhang mit der Ausstellung aufgerufen hatte, kämpfte sein Verstand mit drei widerstreitenden Gefühlen. Denn was er las war an sich alberner Kinderkram, barg jedoch auch eine gewisse Verhöhnung in sich und gab Grund zu der Besorgnis, offenbar von außen manipuliert worden zu sein, entweder durch einen Datendieb, einem Hacker oder durch ein in das Museumsnetzwerk eingedrungenes Computervirus.

HADRIANS ZEIT ZUM GREIFEN NAHE

Britisches Mauseum zeigt ab 2. August eine Sammlung von Artefakten aus der römischen Besatzungszeit Großbritanniens

Wer sich mit reinen Niederschriften aus Geschichtsbüchern nicht begnügen möchte und die Vergangenheit nur zu würdigen weiß, wenn er oder sie Gegenstände aus der verflossenen Zeit zu sehen erhält, demjenigen sei der Besuch des britischen Mauseums empfohlen. Denn ab dem 2. August 2000 präsentiert dieses nach der erfolgreichen Ausstellung über frühkeltische Mausikinstrumente eine didaktisch ausgewogen zusammengestellte Ausstellung über die Zeit Hadrians und ihre Einflüsse auf britischem Gebiet. Mausgeblichen Anteil an der 250 Gegenstände umfassenden Ausstellung trägt der Stab um Professor Jonathan Stuard, der mit großem Enthusiasmaus untersuchte, was neben den römischen Artefakten auf britischem Boden auch von der damaligen britischen Urbevölkerung übernommen wurde. Hierzu erforschte Prof. Stuards engagierte Mitarbeiterin Lydia Mauson in Rom selbst die Wechselwirkung des Kulturaustausches zwischen Besatzern und Besetzten. Sie erforschte die Katzakomben unter der Stadt und förderte einige eindeutig aus britischem Schaffen stammende Alltagsgegenstände zu Tage. Währenddessen gelang es Prof. Stuard persönlich, Zugang zur nur sehr wenigen bevorrechteten Interessenten einsehbaren Bibliothek des Vatikans zu erhalten und dort in den Katzalogen einen Hinweis auf alte Schriftrollen zu finden, die von der Schrifttumüberwachung der römisch-katzolischen Kirche der hadrianischen Ära zugeordnet werden konnten. Die unter Luftabschluß aufbewahrten Schriftrollen führten Prof. Stuard zu einem Fundort westlich von Katzania auf Sizilien, wo unter mehreren Schichten Erdreich und verdichteter Vulkanasche weitere Artefakte gefunden werden konnten. Insgesamt hat die unermütliche Suche nach genug das Leben der damaligen Epoche abbildenden Gegenstände aus dem militärischen und zivilen Leben zweieinhalb Jahre gedauert. In der Zeit veröffentlichte die aufstrebende Keltologin Katzerine West ihre Doktorarbeit zum Thema "Religion im Waffenklang - Durchdringungen zwischen Glaubensvorstellungen im Zuge altrömischer Expansionsvorhaben unter besonderer Berücksichtigung der zivilisatorischen Auswirkungen auf die britischen Inseln und das daraus entstandene Fundament des modernen Großbritanniens".

Wer die Ausstellung genießen möchte maus kein Fachmann für Altertumskunde sein. Er oder sie darf sich an der Anordnung von Haushalts- und Kunstgegenständen, Waffen und Werkzeugen erfreuen und dabei den Hauch der Geschichte atmen, wenn er sich vorstellt, wie die Mausik aus einer altbritischen Knochenflöte geklungen hat oder mit welchen Mausen Getreide, Wein und andere Nahrungsmittel gemessen wurden. Die feierliche Eröffnung für die Vertreter der Weltmedien findet am Abend des 1. August 2000 im Vorraum des britischen Mauseums statt. Prof. Stuard persönlich wird vor den geladenen Vertretern der Weltöffentlichkeit über die gefundenen Artefakte referieren und dem interessierten Fachpublikum Einblick in die Zeit von Kaiser Hadrian gewähren.

"Wenn das nicht das ganze Haus betreffen würde müßte ich über diesen himmelschreienden Unsinn lachen", knurrte der Kurator des britischen Museums. Dann erkannte er, daß er die Seite ja selbst korrigieren konnte, da er neben dem hauptamtlichen Systemadministrator ebenfalls Zugriff auf alle Dokumente besaß. So versuchte er, sich mit dem Administratorpasswort auf die oberste Systemüberwachungsebene einzuwählen. Doch das Passwort wurde als ungültig zurückgewiesen. Nach drei Versuchen bekam der Systemadministrator wohl eine Nachricht, daß wer versucht hatte, sich auf sein Benutzerkonto und die oberste Verwaltungsebene einzuloggen. Stuard schnaubte. Wenn der Admin das Passwort geändert hatte, hätte er es dem Chef doch mitteilen müssen. Doch wenn er es nicht von sich aus geändert hatte ... Stuard wagte nicht, sich die Ursache und Auswirkungen dieser Möglichkeit vorzustellen. Dann fragte er sich jedoch, warum ausgerechnet sein Museum von einem derartigen Anschlag getroffen werden sollte? Er prüfte noch einmal, ob er den Text zur Veröffentlichung selbst korrigieren konnte. Dann stellte er fest, daß nicht nur die Pressemitteilung verfremdet worden war. Auch Dokumente im Bereich der Buchhaltung, Partnerschaftsabkommen mit anderen Museen und die nach Druck digital archivierten Diplom- und Doktorarbeiten von Historikern, Archäologen und Anthropologen waren mit jener mysteriösen Falschschreibung durchsetzt. Stuard erkannte, daß es wohl doch ein unerwünschtes Hintergrundprogramm geben mußte, ein Virus, das aus einem ihm noch unbekannten Grund ein buchstäbliches Katz-und-Maus-Spiel mit den Nutzern der befallenen Rechner trieb.

Stuard wollte gerade zum Telefonhörer greifen, um den Systemadministrator anzurufen, um eine groß angelegte Säuberung der vernetzten Rechner anzuordnen, als der Apparat von sich aus trällerte. Jonathan Stuard zuckte einen Moment zurück. Dann fing er sich wieder und blickte auf die Flüssigkkristallanzeige des Fernsprechers. Er hatte eigentlich gedacht, daß Dr. Mosley, der museumseigene Informatiker und Systemadministrator, den möglichen Befall der Museumsrechner schon bemerkt hatte. Doch die angezeigte Nummer gehörte zu einem auswärtigen Anschluß, den Stuard gut kannte. Es war ein Satellitentelefon. Er griff nach dem Hörer und hob ihn ab.

"Hallo Arne. Ich habe leider nicht viel Zeit, weil hier einiges aus dem Ruder läuft", begrüßte Stuard den Anrufer, bevor dieser was sagte.

"Personell oder finanziell, Johnathan?" fragte eine von vielen Zigaretten angerauhte Männerstimme mit nordeuropäischem Akzent.

"Maschinell, Arne. Womöglich haben wir uns ein Virus gefangen. Wollte gerade meinen Sysadmin hochscheuchen, das kleine Biest aus unserem Netz zu jagen. Aber du hast mich garantiert wegen was anderem angerufen, richtig?"

"Ins Schwarze, Johnathan. Ich bin ja, wie du noch mitbekommen hast, auf den Svalbard-Inseln unterwegs, um nach Spuren wikingischer Besiedlung zu forschen. Ich habe nicht groß mit was wichtigem gerechnet. Deshalb hat es mich auch so umgehauen, als ich in einer von Gletschereis bedeckten Höhle was gefunden habe, was absolut wortwörtlich ein echter Hammer ist. Ich habe Mjölnir gefunden, Johnathan." Stuards Gesicht blieb stehen. Die Gedanken in seinem Kopf wirbelten nur so durcheinander. Bisher hatte er seinen norwegischen Kollegen Arne Björnson für einen nur auf Fakten und nachprüfbaren Aussagen pochenden Archäologen gehalten, der Legenden und Mythen als Hirngespinnste einer leichtgläubigen Kultur ansah. Doch jetzt behauptete dieser Professor Dr. Björnson, er habe den mythischen Kriegshammer Mjölnir gefunden, mit dem der nordische Wettergott Thor Blitz und Donner erzeugt hatte. Er mußte sich verhört haben, wohl wegen der Anspannung, die das Texte verfremdende Virus erzeugt hatte.

"Ähm, Arne, hast du gerade behauptet, Thors Hammer Mjölnir gefunden zu haben?" hakte Stuard nach mehreren Sekunden Schweigen nach.

"Zumindest etwas, das diesem Hammer als Vorlage gedient haben muß, Jonathan. Jedenfalls ist es ein gänzlich metallenes Werkzeug. Der Stiel mißt sieben Meter Länge. Der Kopf mit einer flachen und einer hakenartig gekrümmten Seite besitzt eine Dicke von anderthalb Metern und mißt in der Breite zweieinhalb Meter. Mein Mitarbeiter Gunnar hat das Ding bereits gemessen. Ich kann dir einen Satz Fotos zumailen. Ich habe darauf geachtet, daß immer einer meiner Mitarbeiter neben dem Monstrum zu sehen ist."

"Gut, da liegt ein Metallhammer. Könnte eine Art Votivkunstwerk sein, Arne. Wäre nicht das erste mal, daß wer übernatürlich große Statuen oder Tierkörper nachbildet, um den Schutz oder Beistand des dargestellten Originalwesens zu erlangen", versuchte Stuard, den Fund eines Riesenhammers von allen überschwenglichen Gefühlsanwandlungen freizureden.

"Tja, nur daß der Gletscher laut Berechnung von Dr. Persson, der mich als Glaciologe unterstützt, mehr als zehntausend Jahre alt ist. Denn solange lag der Höhleneingang unter mehreren hundert Meter dickem Gletschereis. Wer den Hammer also gemacht hat, mußte weit vor den Eisenzeitmenschen Metall im sehr großen Stil verarbeitet haben. Hinzu kommt noch was, was dich wohl noch mehr aus den Schuhen hauen wird, Jonathan. In der Nähe dieses Dings konnten wir kein elektronisches Gerät benutzen. Wir konnten von Glück reden, unsere guten alten Rollfilmkameras mitgehabt zu haben. Mobiltelefone, Video- und Digitalkameras, ja sogar Taschenlampen haben in einem Umkreis von zwanzig Metern neben dem Ungetüm verrücktgespielt. Taschenlampen haben wie Discoleuchten geflackert. Nur die Blitzlichtbirnen taten es noch. Versuche, Proben von der Metalloberfläche abzuschaben sind vollständig mißlungen. Wir haben sogar vier Diamantschleifer verschlissen, die wie Sand an Granit zerbröselt sind, als wir versuchten, eine Metallprobe zu nehmen. Überhaupt glitzert dieser Riesenhammer im Licht von Gaslampen in einem merkwürdigen rosiggold. Und das beste kommt noch. auf der nach oben weisenden Breitseite des Hammerkopfes sind Zeichen eingraviert, die nichts mit germanischen Runen zu tun haben."

"Wie hast du die Bilder denn in Digitalbilder umgewandelt?" wollte Stuard wissen, der immer noch nicht so recht glaubte, daß sein Kollege einen mysteriösen Riesenhammer gefunden hatte.

"Tja, das gehört für uns zum Alltag. Wir entwickeln die Filme als Dias, tun sie in einen dafür gebauten Farbbildscanner und lassen die Lichtunterschiede abspeichern. Ohne das kämen wir wohl heute nicht mehr zurecht."

"Und dieser Hammer liegt noch da?" wollte Stuard wissen.

"Nur solange, bis ich genug Leute und Zuggerät habe, um das Ungetüm aus seiner Höhle zu heben. Der Gletscher wird sich im kommenden Winter wieder schließen. Bis dahin müssen wir das Artefakt sichergestellt haben. Leider dürfen wir auf der Insel keine Motorkraftfahrzeuge einsetzen. Das ist verboten."

"Woher willst du wissen, daß es Thors Hammer sein soll, wenn auf ihm keine dir bekannten Runen stehen?" hakte Stuard nach.

"Weil dieses Werkzeug eben so unverwüstlich ist, daß es mit unseren Bearbeitungsgeräten nicht zerlegt werden kann", erwiderte Björnson.

"Und das alles soll mehr als zehntausend Jahre alt sein?" versicherte sich Stuard, sich nicht verhört zu haben.

"Wenn wir eine C14-Analyse hinbekämen oder eine chemische Untersuchung hinbekämen wüßten wir es genau, Jonathan. Aber ich komme nicht davon ab, daß dieser Riesenhammer die Vorlage zum legendären Hammer Thors gewesen sein muß. Ich muß dem nachgehen, Jonathan. Aber ich habe dich angerufen, weil einige der Symbole mich an die Schrift erinnert haben, die du im Zusammenhang mit diesem Hünengrab eines gewissen Druiden Dairon veröffentlicht hast." Stuard wurde hellhörig. Warum brauchte sein norwegischer Kollege und Freund so lange, bis er die wichtigsten Punkte erwähnte? Der Name Dairon ließ mehrere Saiten in seinem Gedächtnis erklingen. Vor allem, daß das Hünengrab kurz vor der Untersuchung auf Grund eines statischen Ungleichgewichtes zusammengestürzt und dem Erdboden gleichgemacht worden war. Und jetzt sollten einige Symbole, die auf der Oberseite des Grabbaus gefunden wurden, auf diesem Riesenhammer zu finden gewesen sein? Das konnte nicht stimmen. Andererseits wollte Stuard seinem Kollegen nicht gleich jeden menschlichen Verstand absprechen. Sensationslüstern war der Norweger auch nicht. Es war sogar schon passiert, daß er einen Fund unveröffentlicht gelassen hatte, weil er befürchtet hatte, daß danach ein wahrer Rummel um den Fundort entstehen würde. Jüngere, gerade aufstrebende Kollegen, hätten sich nicht daran gestoßen.

"Okay, um deine Satellitengebühren klein und meine Zeit für die Jagd nach dem Virus freizuhalten schlage ich vor, daß du mir die Bilder auf meinen Privatrechner mailst. Ich hoffe, der ist nicht befallen", sagte Stuard. Björnson bestätigte es und fragte Stuard, was das Virus denn anrichtete. Als Stuard es ihm sagte mußte Björnson erst lachen und dann knurren: "Gratulation! Ihr habt euch von irgendwoher das Tom-und-Jerry-Virus eingefangen. Ist in Bergen auch passiert, wo überall, wo die wie Kat- auszusprechenden Zeichenfolgen vom Restwort getrennt standen und so das englische Wort für Katze plus Restwort bildeten und überall da, wo Mus, mas oder maß hingehörte Maus eingesetzt wurde. Das fiese daran ist, daß auch gespeicherte Videos manipuliert werden. Mein Kollege hat beinahe alle seine digitalisierten Aufzeichnungen von seiner Expedition nach Afrika verloren, weil irgendwer alte Tom-und-Jerry-Filme mit den Namen der eigentlichen Dokumente beschriftet hat und diese damit überschrieben hat. Gut, daß er die Originalvideos noch separat gespeichert hatte. Dann lasse ich dich mal mit deinem Katz-und-Maus-Virus allein und warte auf die starken Männer, die den Riesenhammer aus der Höhle holen."

"Ich ruf dich an, wenn ich weiß, wer uns dieses Virus aufgehalst hat, damit du ihm in meinem Namen mit Thors Hammer auf die Finger klopfen kannst", knurrte Stuard. Björnson konnte darüber nur lachen.

Als das Gespräch beendet war scheuchte Stuard seinen Computerfachmann auf die Beine. Dieser fand heraus, daß die für die öffentlichen Vorführungen gespeicherten Videoaufzeichnungen tatsächlich verändert worden waren und durch zwanzig wilde Jagdszenen aus der Zeichentrickserie um den Kater und die Maus ersetzt worden waren. Allerdings kam auch sein Sysadmin nicht auf seine Verwaltungsebene. Das Virus oder sein Träger hatte das Passwort verändert. So hatte Professor Stuard einiges zu tun. Denn die verfremdeten Texte zu ändern half nicht. Nach nur wenigen Sekunden hatte das Virus die gezielten Schreibfehler wieder an die entsprechenden Stellen gesetzt.

"Wenn das Ding so operiert wie es die Dateien verfälscht, könnte es bei jeder Virussuche von einem Rechner zum anderen wechseln. Sicher hat es alle Netzwerkadressen integriert", sagte der Systemadministrator nach zwei Stunden vergeblicher Versuche, das Virus zu eliminieren.

"Dann entkoppeln Sie alle Rechner vom Netzwerk und säubern sie jeden einzelnen, bis Sie alle Virusprogramme erledigt haben! knurrte Stuard. Der Informatiker nickte. "Dann ist das Mauseum, ähm, Museum aber mindestens zwei Tage vom Internet getrennt und die interne Kommunikation stark eingeschränkt."

"Ich greife auf die guten alten Memos zurück und lasse unsere Hiwis als Kuriere durch die Abteilungen laufen. Das ging vor zwanzig Jahren, das geht sicher auch noch heute", erwiderte der Kurator des britischen Museums. Er ärgerte sich über das ihm aufgezwungene Katz-und-Maus-Spiel. Womöglich hätte er darüber gelacht, wenn die geplante Ausstellung nicht schon bald beginnen sollte und es nicht möglich war, den verfremdeten Artikel aus dem Internet zu entfernen. Über diese Sorgen vergaß er den Telefonanruf aus dem hohen Norden. Für's erste!

__________

Daß Jeanne sich offenbar gut von ihrer Zwillingsschwangerschaft erholt hatte bewies der goldene Tanzschuh am Bande, der so aussah wie der von ihrem Mann Bruno. Julius und Millie hatten die silbernen Tanzschuhe gewonnen, Weil sie zwei Tänze weniger bestritten hatten als die jungen Eheleute Dusoleil. Doch Julius scherte sich nicht darum, ob er nun dauernd den goldenen Tanzschuh gewinnen sollte oder nicht. Auch Millie war nach der ersten leisen Enttäuschung wieder froh, immerhin den zweiten Platz erreicht zu haben. Immerhin hatten sich beide als sehr gewandt und partnerschaftlich harmonisch erwiesen, zumal beide in ihren Grünstaudenfestgewändern aufgetreten waren, mit denen sie ein Fest der Eauvives und den letzten Schuljahresabschlußball von Beauxbatons gefeiert hatten. Die Bronzetanzschuhe gewannen die Eheleute Camille und Florymont Dusoleil.

Nach dem großen Mittsommerball kehrte schnell Nachtruhe in Millemerveilles ein. Julius war froh, daß Hera Matine ihn nicht wegen seiner überragenden UTZs bearbeitet hatte, in die Heilerzunft einzutreten.

"Ui, wer schiebt denn da Nachtdienst?" fragte Julius eher in leere Luft, als er einen Brief aus dem großen Briefkasten fischte, der vor Sonnenuntergang noch nicht daringelegen hatte.

"Vielleicht Britt oder Glos Cousinen", vermutete Millie. Julius überflog den Umschlag. "Jau, das ging schnell. Ein Vorstellungsgespräch bei Monsieur Lamarck am vierten August wegen meiner Anfrage nach einer Anstellung in der Abteilung für magische Geschöpfe", sagte Julius und las Millie den im besten Beamtenjargon verfaßten Brief vor. Er übersetzte das gelesene damit, daß er um zehn Uhr mit seinen UTZ-Unterlagen und einem Kurzbericht über die für ihn einprägsamsten magischen Geschöpfe vorsprechen sollte.

"Tante Babs hätte dich sicher gleich nach Célines Hochzeit zum Dienstantritt gerufen", sagte Millie darauf.

"Genau deshalb wollte ich nicht so raushängen lassen, welche Kontakte ich habe. Die Leute da wissen es ja eh. Aber ich möchte den normalen Dienstweg einhalten", sagte Julius.

"Und dann wolltest du noch zu diesem Knilch von der Katastrophenbehebung, Monju? Du hast ja gehört, daß der aber Muggelkunde bei den UTZs haben will."

"Ich probier's trotzdem aus", sagte Julius seiner Frau. Diese nickte. Dann warf sie noch einen Blick auf die gemeinsame Tochter. Diese schlief nun friedlich, nachdem Millie sie noch einmal gesäugt hatte. Julius deutete auf das große Himmelbett und bekundete durch ein Gähnen, daß er jetzt auch gerne schlafen würde. Seine Frau gab dazu keinen Kommentar ab.

__________

Am Morgen des 29. Juli traf eine Posteule ein, die eindeutig von Antoinette Eauvive stammte. Julius prüfte eher aus Routine als aus echtem Mißtrauen, ob der Brief mit einem Fluch belegt war. Natürlich fand er nichts dergleichen. Er las den Brief und verzog kurz das Gesicht.

"Sie schreibt in einem schon an einen Marschbefehl erinnernden Stil, daß ich am Vormittag um elf bei ihr in der DK antreten soll, um mich mit ihr hochoffiziell darüber zu unterhalten, welche Vorzüge eine Heilerausbildung für mich bringt. "Mir ist bekannt, welche Einwände sie gegen eine Ausbildung zum magischen Heiler hegen. Gehen Sie um Ihrer Zukunft willen nicht kategorisch davon aus, daß sich diese nicht ausräumen lassen!" schreibt sie noch. Immerhin, hartnäckig ist sie", warf Julius noch ein. Millie konnte dem nur zustimmen. Doch mit dem Termin war es schwierig. Denn um ein Uhr wollten Céline und Robert heiraten. Einen Tag davor würden Kevin und Patrice sich das Jawort geben.

__________

Catherine Brickston arbeitete für gewöhnlich in ihrem zum Dauerklangkerker gemachten Zimmer in ihrem eigenen Haus. Dort studierte und übersetzte sie alte Bücher, Schriftrollen und Pergamentblätter. Wenn es dann doch mal vorkam, daß sie den schützenden Bereich des um ihr Haus gelegten Sanctuafugium-Zaubers verlassen mußte, dann deshalb, weil irgendeine dunkle Hinterlassenschaft ans Licht gekommen war. Meistens handelte es sich um einen verfluchten Gegenstand, der aus dem Nachlaß einer vor Jahren ausgestorbenen Zaubererfamilie mit dunkler Vergangenheit stammte und in die Hände argloser Muggel zu fallen drohte.

Gerade jetzt stand Catherine mit erhobenem Zauberstab in einem edelholzgetäfelten und mit orientalischen Teppichen ausgelegten Zimmer vor einem blütenweißen Spinett. Angeblich steckte in diesem Musikinstrument aus dem 16. Jahrhundert eine dämonische Kraft, die bewirkte, daß jeder Mann, der den Klang des Instrumentes hörte, in einen überstarken Glückszustand verfiel, der ihn zum Mitsingen der Melodie trieb, bevor er wie vom Blitz getroffen umfiel und tot liegenblieb. Frauen, die die Musik hörten erstarrten wie versteinert. Doch ihre Körpertemperatur sank nicht ab. Catherine hatte von diesem Instrument gelesen. Nur deshalb war sie überhaupt schon hier. Ärzte und Polizisten hatte der Klang des verfluchten Spinettes bereits getötet. Der Käufer dieser Rarität gehörte zu den ersten Opfern des verfluchten Instrumentes. Seine Frau, eine füllige Dame von sechzig Jahren, saß steif wie eine Wachsfigur auf einem hochlehnigen Stuhl und schien der Musik zu lauschen, die ihr das Verderben verkündet hatte. Catherine trug schalldichte Ohrenschützer, wie sie magische Kräuterkundler beim Umgang mit Alraunen trugen. Im Moment schien das teuflische Tasteninstrument jedoch keinen Ton von sich zu geben. Catherine wußte jedoch, daß das Spinett auf die Nähe lebender Menschen abgestimmt war. Wer es wagte, es selbst zu spielen, bevor es von sich aus erklang, wurde wie Wasser von einem Schwamm eingesogen und verschwand in den Eingeweiden des mörderischen Musikinstrumentes. Selbst Sardonia, die sonst keine Angst davor hatte, verfluchte Dinge zu suchen, zu sammeln oder herzustellen, hatte dieses unschuldig wirkende Instrument gemieden, obwohl es damals schon Ohrenschützer gab, die jedes Geräusch von außen abhielten. Catherine Brickston konzentrierte sich auf ungesagte Erkennungszauber und fühlte die gefahrvolle Aura eines dunklen Artefaktes, die dieses Zimmer erfüllte. Catherine wußte, daß dieses tödliche Tasteninstrument weder mit Spreng- noch Brandzaubern zu zerstören war. Wer es auch immer gebaut hatte hatte eine Art Panzerung gegen alle Zerstörungskräfte eingewirkt, womöglich eine innenseitige Berunung und darauf aufbauende Bezauberung. Auf jeden Fall mußte dieses Ding aus dem hochherrschaftlichen Haus geschafft werden, bevor die Erben des Besitzers ankamen, um alles mitzunehmen. Catherine berührte die auf ihrem Stuhl hockende Frau. Ihr Körper fühlte sich warm an. Doch ihre Haut war hart wie holz. Also war sie nicht wirklich tot, sondern in einem bösartigen Zauberbann gefangen, der sie gewissermaßen zwischen zwei Herzschlägen erstarrt hielt, aber alle zum Tode führenden Prozesse verhinderte, darunter auch die Abkühlung. Warum starben die Männer wirklich, während die Frauen zu körperwarmen Statuen erstarrten? Darüber hatte sie in den Berichten zu diesem Ding nichts gelesen.

Catherine wirkte einen Erkennungszauber für animierte Flüche, solche, die ein gewisses Eigenleben aufwiesen und nicht statisch wirkten. Tatsächlich fand sie nicht nur einen, sondern gleich fünf miteinander verwobene Flüche, die gleich im Unterholz lauernden Raubtieren darauf warteten, bis ihre bevorzugte Beute eine Schwäche zeigte.

Als ob das Spinett die Gegenwart einer Feindin oder sicheren Beute gewittert hatte klappte sein Deckel auf. Die ersten Tasten senkten sich. Catherine hörte jedoch keinen Ton. Doch sie fühlte, wie unsichtbare Finger über ihr Gesicht und ihren Körper strichen, sie behutsam aber spürbar betasteten und immer wieder abglitten. Womöglich waren das die magischen Impulse, die im Zusammenspiel mit dem gehörten Klang wirkten. Weitere Tasten senkten sich wie von unsichtbaren Fingern gedrückt und erzeugten einen gewissen Rhythmus. Das Gefühl, von unsichtbaren Fingern berührt zu werden steigerte sich für Catherine zur Empfindung kalter Hände, die immer drängender und eiliger über ihr Gesicht und ihren Körper glitten. Zweimal zuckte sie zusammen, als eine solche Geisterhand ihr durch Umhang und Unterkleidung zwischen die Beine langte. Weitere Tasten bewegten sich und verstärkten die Melodie. Jetzt meinte Catherine, von eisigen Armen umschlungen zu werden. Es war offensichtlich, daß das Spinett sie als seine Gegnerin sah. Die quasi lebendige Antriebskraft der vielen verzahnten und vermengten Flüche erwachte vollends zu einem dämonischen Dasein. Catherine war sich der Gefahr, in der sie schwebte bewußt. Wenn sie in diesem Raum blieb, ohne was zu tun. Wenn sie sich nicht wehrrte oder floh würde die bösartige Kraft einen Weg finden, sie körperlich niederzuwerfen. Der Druck der eisigen Tastorgane nahm zu. Seltsamerweise fühlte Catherine diese Arme, Hände und Finger nur auf Gesicht und Körper. Arme und Beine blieben unbetroffen. Jetzt aber fühlte sie, wie etwas an ihren Ohren zupfte und damit die aufgesetzten Ohrenschützer zu verschieben drohte. Würde der geräuschlose Raum die Kraft des Spinettes niederhalten? Catherine probierte es sofort aus. Sie vollführte den in zwei Formeln und Bewegungsabfolgen ausgeführten Zauber, mit dem innerhalb eines geschlossenen Raumes jedes Geräusch geschluckt wurde. Unvermittelt hörte sie nichts mehr. Nicht mal das Rauschen ihres eigenen Blutes und das rege Wummern ihres Herzens in den Ohren war zu hören. Die Empfindung kalter Arme verschwand. Doch die Empfindung tastender Finger und streichelnder Hände blieb. Das Spinett schien jedoch von der Gegenwehr beeindruckt zu sein. Es begann zu beben und hüpfte auf seinen vier Beinen auf und ab. Catherine hätte die Ohrenschützer jetzt vielleicht abnehmen können. Doch die Empfindungen kalter Finger und Hände hielten sie davon ab. Zumindest konnte was auch immer jetzt nicht mehr ausrichten als gerade, wenn es ihr die Ohrenschützer vom Kopf zog. Das dachte Catherine jedoch nur, bis sie den wie eine Stimme klingenden Chor aus Frauenstimmen im Kopf hörte.

"Du bist eine Schwester. Doch du verleugnest deine wahre Bestimmung und wagst es, dich der Musik der Verbundenheit zu entziehen. Mach diesen unerträglichen Klangbann unwirksam! Oder wir, die Stimmen der Verbundenheit, werden in deinem Kopf lärmen und dich in den Wahnsinn singen, wie wir es mit der undankbaren Schwester taten, die uns in ihr Haus holte, um uns ihren Mann zu opfern, dessen Seele wie die aller anderen Mannsleute in unserem Klanghaus verdarben. Gib dich uns hin und empfange die große Erhabenheit, mit unseren Seelen eins zu werden. Wir brauchen nur noch zehn mal zehn Weiberseelen. Je mehr Schwestern der Magie dabei sind, desto stärker wird unsere gemeinsame Kraft sein."

"Ich gebe mich euch nicht hin", dachte Catherine. Also hausten in dem Musikinstrument die Seelen irgendwie damit verschmolzener Hexen, die eine Art Verbundwesen bildeten und über das Spinett ihre Magie ausstrahlten. Die kalten Finger auf Catherines Gesicht bedrängten sie mehr und mehr. Außerdem hörte sie nun ein Lied außerhalb aller Tonleitern in der alten Sprache der Druiden. Catherine wandte Occlumentie an, um jede Art von Geisteseindringung zurückzudrängen. Ja, es klappte. Der immer schauerlicher klingende Gesang wurde leiser und leiser. Doch nun meinte Catherine, daß dünne Bänder aus Eis ihren Kopf umwickelten und sich immer dichter und enger zusammenzogen. Sie behielt jedoch ihre Nerven. Sie war schon in zu viele gefährliche Situationen geraten. Auch die Erkenntnis, mit den in dem Instrument gebannten Seelen früherer Hexen zu tun zu haben brachte sie nicht aus der Ruhe. Noch konnte sie Arme und Beine frei bewegen. Doch die immer wieder ihre Scham berührenden Eisfinger ließen sie immer wieder zusammenfahren. Sie dachte daran, daß diese Phantomfinger ihr wohl in jede Körperöffnung dringen konnten und sie von innen her auskühlten. Sie berührte ihren Bauchnabel mit dem Zauberstab und rief selbst für sie unhörbar die Formel für einen den eigenen Körper gegen körperlich wirksame Flüchen schützenden Zauber auf. Um sie herum begannen kleine, silberne Blitze und Lichtkugeln zu tanzen, die sich zu einem feinmaschigen, flimmernden Gewebe um ihren ganzen Körper verwoben. Das Gefühl der sie bedrängenden Eisfinger erstarb. Allerdings hatte Catherine für den Zauber ihre occlumentische Abwehr vernachlässigt. Wie ein aus allen Richtungen auf sie einsingender Chor schriller Frauenstimmen dröhnte es in ihrem Kopf. Sie kämpfte dagegen an. Doch die irrsinnigen Stimmen waren schon zu stark. Sie konnte sich nicht mehr auf die eigene Gedankenverhüllung konzentrieren. Immer lauter und beängstigender wurde der Gesang der magischen Stimmen. Catherine sah Bilder vor ihrem geistigen Auge. Wütende Drachen rissen ihre Mäuler auf und spien Feuer. Lodernde Schlangen umschlangen sie. Dann sah sie Babette mit ihrem Zauberstab auf sie zuspringen und vermeinte, sie "Avada Kedavra" rufen zu hören. Sie warf sich zu Boden. Doch kein grüner Todesblitz zuckte auf sie zu. Statt dessen sah sie, wie Claudine von einem riesigen Maul verschlungen wurde, hörte Joe schreien und sah die Szene, wie die Anhänger Voldemorts das Sternenhaus stürmten, nur daß sie nicht von ihrer Mutter gerettet wurde. Denn diese fiel unter dem ersten Todesfluch und zerfiel innerhalb von zwei Sekunden erst zum Skelett und dann zu Staub. Nun kam zu dem irrsinnigen Gesang und den entsetzlichen Halluzinationen noch das Gefühl, in einen bodenlosen Schacht zu stürzen. Catherine konnte gerade noch denken, daß sie gleich unrettbar im Sog des Wahnsinns verschwinden würde, wenn sie nichts tat. Sie schaffte es noch, den Zauberstab auf sich selbst zu richten und eine magische Formel zu rufen, die ihr Julius Latierre beigebracht hatte.

"Angarte Kasanballan Iandasu Janasar!" Sie konnte nicht hören, ob sie die Worte richtig ausgerufen hatte. Immer noch klang der Chor der Irrsinnsstimmen in ihrem Kopf. Doch mit einem Mal wurde alles anders. Catherine sah einen weißen Lichtschein, der sie einhüllte und spürte etwas wie eine heiße Explosion in ihrem Unterleib, die sich innerhalb einer Sekunde bis in ihre Schädeldecke und alle Finger- und Zehenspitzen ausbreitete. Mit einem kurzen Wehlaut verklangen die Stimmen in ihrem Kopf. Mit einem Gefühl, als würde jemand ihr einen belebenden Trank einflößen, fand sie in die Realität zurück. Sicher hätte sie noch den Auracalma-Zauber wirken können, um bösartige Gefühlsbezauberungen abzuhalten. Doch dieser Schutz wirkte nur gegen statische Flüche. Der universelle Fluchumkehrer aus dem alten Reich, den Julius von Darxandrias Base Ianshira erlernt hatte, hatte ihren Körper und Geist in einem Zug von böser Magie freigespült, ja diese sogar in eine gutartige Kraft umgewandelt, die wohl gerade wie ein Schildzauber um Catherine herumstand. Das Spinett erzitterte. Die darin verankerten Hexenseelen kämpften gegen die ihnen überlegene Kraft an, die jeden ihrer Angriffe zurückwarf wie ein Spiegel das Sonnenlicht. Catherine zielte nun auf das wild auf und ab hüpfende Musikinstrument, in dessen Klangkörper sie die verzerrten, bleichen Fratzen von alten Frauen erkennen konnte. Aus den Mündern der gefangenen Geister strömte gelbgrüner Dampf, giftiges Ektoplasma. Catherine kannte es von bösartigen Gespenstern, daß sie damit den Willen lebendiger Menschen schwächen konnten. Doch nun wollte Catherine keinen weiteren Angriff mehr abwehren, sondern selbst angreifen. Sie zielte mit dem Zauberstab auf das Spinett und rief "Retardo Angarte Kasanballan Iandasu Janasar!" Dabei dachte sie an die Zahl sechzig. Sie wartete, bis das Gefühl der Erwärmung aus ihrer Zauberstabhand schwand. Die auf Verzögerte Wirkung ausgerichtete Magie war vollständig auf das ausgewählte Ziel übertragen worden. Catherine warf sich herum und lief aus dem Zimmer, gefolgt von einer Wolke des gelbgrünen Geisterdunstes. Außerhalb des Zimmers disapparierte sie.

Weit genug von dem Raum entfernt blieb sie stehen und wartete. Als sie im Geist die letzten zehn Sekunden bis zur Wirkung ihres Zaubers abgezählt hatte erstrahlte goldenes Licht. Das ganze Haus wurde von diesem Leuchten erfüllt. Es wurde für einen Moment durchsichtig. Catherine sah Leuchtkugeln, die innerhalb der glasartigen Mauern herumflogen. Sie selbst stand mehr als dreihundert Meter vom Haus entfernt. Was immer gerade dort vorging erreichte sie nicht körperlich. Sie konnte jedoch durch ein mitgebrachtes Fernglas sehen, wie mehrere Leuchtkugeln erst aus dem Haus herausflogen, um dann wie an einer unsichtbaren Gummischnur ins Haus zurückschnellten. Eine Minute dauerte dieses Spektakel. Dann erlosch das aus dem inneren des Hauses strahlende Licht. Die Mauern wurden wieder undurchsichtig. Das Haus stand nun so friedlich da, als sei in ihm nichts und niemand, der oder die gefährlich werden mochte. Catherine wartete noch einige Sekunden. Dann apparierte sie direkt in das Musikzimmer.

Sie wußte nicht, womit sie hätte rechnen sollen. Aber das, was sie vorfand, überraschte sie völlig. Das Spinett existierte nicht mehr. Nur säuberlich zerlegte Holztrümmer und Drahtreste verrieten, daß es einmal da gewesen war. Statt des verfluchten Instrumentes traf Catherine auf eine Ansammlung von lebenden Männern und Frauen, die sich verstört umblickten. Die Leute trugen Kleidung aus allen Modeströmungen der letzten fünfhundert Jahre. Das auffälligste an den Frauen war jedoch, daß sie alle hochschwanger waren. Catherine konnte sehen, daß die Hausherrin einen übermächtigen Umstandsbauch bekommen hatte und sichtlich damit zu kämpfen hatte, was mit ihr passiert war. Catherine dachte an die Vertauschung auf der Insel der hölzernen Wächterinnen und an den Fall Hanno Dorfmann, von dem ihre Mutter ihr berichtet hatte. Offenbar hatte der Fluchumkehrer hier ähnliches bewirkt, bereits tote zu Ungeborenen zurückverjüngt, besser deren Seelen in neues Fleisch gebettet, um sie das geraubte Leben noch einmal von vorne beginnen zu lassen, aber wohl nur deshalb, weil sie nicht in das Totenreich übertreten konnten und im Spinett gefangen gewesen waren. Die lebenden Männer waren wohl jene, die es gewagt hatten, auf dem Instrument zu spielen. Sie waren lebend verschlungen und nun wieder ausgespuckt worden, ebenso wie die ganzen Frauen, die aus dem Nichts aufgetaucht waren. Catherine zählte insgesamt dreißig Frauen und zwanzig Männer. Wie viele ihrer ursprünglichen Körper beraubter und eingekerkerte Seelen nun auf das neue Leben hinwuchsen konnte Catherine nicht erkennen. Sie wußte nur, daß der Fluchumkehrer einmal mehr eine überraschende Wirkung gezeigt hatte. Das mußte sie unverzüglich klären. Sie belegte alle befreiten mit einem leichten Zauberschlaf. Der wirklich tiefe Zauberschlaf war für Ungeborene gefährlich, weil ihre Mütter in diesem Zustand nichts aßen und tranken und damit nicht genug Nahrung bereitstellten. Catherine verließ das Haus noch einmal und apparierte vor die Grenze von Millemerveilles. Sie mußte Hera Matine holen. Sie war in die alten Zauber aus Altaxarroi eingeweiht.

"Oh, ein solcher Fall von Massenbefreiung ist mir noch nicht bekannt, Catherine. Dir ist doch klar, daß du mal eben sechzig Leute und wohl mindestens noch einmal so viele Babys auf einen Schlag in diese unsere Welt geholt hast. Das hat noch keine Kollegin von mir erreicht", sagte die Heilerin und Hebammenhexe Hera Matine, als Catherine ihr bei Kaffee und Kuchen im Schutz eines Klangkerkers die Geschichte erzählt hatte. "Da wir nicht die Unfallumkehrtruppe darauf ansetzen können müssen wir das erledigen, deine Mutter, Phoebus Delamontagne, Eleonore, deine Tante Madeleine, Belle Grandchapeau, kurz alle, die mit Gedächtniszaubern und den vier alten Zaubern vertraut sind."

"Julius und Millie sind in Belgien?" fragte Catherine. Natürlich wußte sie es genau.

"Sicher, weil dieser aufsässige Bursche Kevin Malone nun die Konsequenzen seines Verhaltens ziehen wird."

"Na ja, ohne seine Cousine Gwyneth wäre er wohl noch zu Hause in Irland", meinte Catherine.

"Was mich nicht davon abbringt, daß er sich dem zu stellen hat, was er herausgefordert hat", erwiderte Hera Matine. Dann trieb sie Catherine an, mit ihr und den anderen Eingeweihten die neuen Erdenbürger und die in Wartestellung mit Gedächtniszaubern zu behandeln, um sie behutsam im Jahr 2000 willkommen zu heißen. Catherine seufzte zwar. Doch sie sah es ein, daß sie mit der radikalen Methode auch die Folgen zu verantworten hatte.

"Es war übrigens vorausschauend, mindestens außer Rufweite des Hauses zu verschwinden, bevor der Fluchumkehrer sich entfaltete, sonst müßtest du Joe wohl beichten, daß du bald wieder Mutter wirst. Denn so wie du mir die Leuchteffekte beschrieben hast waren es Kokons ähnlich der Iterapartio-Umhüllungen, die nach sicheren Trägerinnen gesucht haben. Ich werde mich nicht wundern, wenn ich bei der Mehrheit der freigekommenen Frauen Mehrlingsschwangerschaften diagnostizieren kann."

"Sollen wir Julius davon erzählen?" fragte Catherine.

"Erst wenn wir wissen, für wen er seine vielfältigen Talente einsetzen wird", sagte Hera Matine. Dann forderte sie Catherine auf, mit ihr die erwähnten Eingeweihten aufzusuchen.

_________

Julius bekam nicht mit, was sein Zaubereiunterricht in Frankreich angerichtet hatte. Ihn interessierte eher die Hexe, die gerade mit wehendem Festumhang auf einem Besen angeflogen kam, gerade als sich alle Gäste der Hochzeitsfeier vor dem großen Gemeinschaftshaus in der brüsseler Irrlichtgasse versammelt hatten. Kevin, der in seinem kleegrünen Festumhang schüchterner wirkte als er sonst war, blickte besorgt nach oben. Julius, der als sein Trauzeuge auftrat, wußte auch nicht, was jetzt passierte. Als die Hexe landete schlug sie eine Kapuze zurück und ließ ihre rotblonde Haarpracht im Sonnenlicht glänzen.

"Wer hat ihr gesagt, wo wir sind?" wollte Kevin wissen.

"Frag das deine Zukünftige", sagte Julius dem früheren Mitschüler. Kevin wiegte den kopf und sah seine Mutter, die auf ihn zukam. Patrice, die strahlende Braut, winkte ihrer zukünftigen Schwiegermutter zu. Sie war alleine. Mrs. Malone schritt auf ihren Sohn zu. Sie sah Julius an. Dieser lächelte freundlich. Mrs. Malone winkte Patrice zu. Gwyneth, Myrna, Corinne und Patrices Schulfreundin Estelle hielten die fünf Meter lange Seidenschleppe sicher und blickten auf das, was jetzt vor ihnen ablief. Zeremonienmagier Albrecht Willers, ein untersetzter Zauberer mit schwarzer Bürstenfrisur und keckem Schnauzbart trat zu Mrs. Malone hin und baute sich vor ihr auf. Sein himmelblauer Festumhang mit goldenen Phönixen glitzerte im Sonnenlicht. Mrs. Malone in ihrem kleegrünen Festumhang lächelte ihn an. Er fragte sie was. Sie verstand ihn wohl nicht. Dann sprach er wohl auf Englisch mit ihr. Sie nickte und antwortete ihm was. Dann kehrte Willers auf seinen Posten zurück. Kevins Mutter gesellte sich zu Kevin und Julius.

"Es ist alles in Ordnung, mein Sohn. Dein Vater ist zwar unversöhnlich und will immer noch wissen, wie du hierherkommen konntest. Aber ich habe ihm gesagt, daß er dich gnadenlos verlieren und niemals seine Enkelkinder sehen wird, wenn er weiterhin versucht, dich an dieser Hochzeit zu hindern. Und ich will meine Enkelkinder sehen dürfen", sagte Mrs. Malone entschieden.

"In zwei Jahren erst, Mom, wenn ich mit Hogwarts durch bin und Patrice den ersten Windelpupser an die Luft schupsen will", erwiderte Kevin darauf.

"Du möchtest mir auch nicht erzählen, wie Kevin hierher kommen konnte, Julius?" fragte Mrs. Malone.

"Ich bin Kevins Trauzeuge und damit sowas wie sein persönlicher Geheimniswahrer. Was er mir vor und nach der Hochzeit anvertraut darf ich nicht verraten, auch nicht seinen Eltern", entgegnete Julius. Myrna Redlief, die hinter ihm stand mußte leise kichern.

"Sagen wir es so, ich kann mir was denken. Aber ich werde jetzt keinen wilden Wichteltanz aufspielen, um das zu bereden", erwiderte Mrs. Malone.

"Dürfen wir noch mit einem Heuler rechnen?" wollte Corinne Duisenberg wissen.

"Nein, es wird keinen Heuler von meinem Mann mehr geben. Gwyneth und ich haben ihm begreiflich gemacht, daß er sich schon genug blamiert hat. Ah, da ist auch Madame Faucon." Julius nickte. Die Schulleiterin von Beauxbatons stand weiter hinten in den Reihen der Festgäste, die nicht mit einem der künftigen Ehepartner verwandt oder verschwägert waren. Auch Professor McGonagall war da. Sie trug ihren schottischen Festumhang. Millie war mit der kleinen Aurore bei den Eheleuten Geraldine und Marcellus Redlief, die sich ansehen wollten, wie ihre beiden Töchter Patrices Brautjungfern gaben.

Als der Zeremonienmagier seine kurze Ansprache zum alles andere überstrahlenden und überwältigenden Zauber wahrer Liebe beendet hatte, bat er Patrice mit ihrem Vater auf das Podium. Danach durften Kevin und seine Mutter zusammen mit Julius das Podium besteigen. Monsieur Duisenberg und Mrs. Malone wurden gefragt, ob sie wahrhaftig die Elternteile der Brautleute waren. Dann führten die Brautjungfern einen kurzen Tanz um die beiden Heiratswilligen aus, bevor der Zeremonienmagier die beiden fragte, ob sie einander lieben und ehren würden. Er stellte die Fragen auf Flämisch, Französisch und Englisch. So konnte keiner behaupten, das die Braut oder der Bräutigam die so wichtige Frage nicht verstanden hätten. Patrice bekundete, Kevin zum Mann haben zu wollen. Kevin bejahte, Patrice zur Frau haben zu wollen. Dann ergoß sich ein goldener Funkenregen über die beiden taufrisch Angetrauten. Alle Gäste klatschten Beifall.

"Gratulation, Mrs. Malone!" wünschte Julius Patrice, als die Brautleute aus dem Kreis der feierlichen Verbindung heraustraten. Er küßte sie kurz auf jede Wange. Dann gratulierte er Kevin mit kräftigem Schulterklopfen und Handschlag. "Sieh zu, daß du mehr Freude als Frust dabei hast, Kevin! Paß aber auch gut auf Patrice auf!!"

"Kunststück, wo sie jetzt mit eurem Laden durch ist und ich wegen der Kröte Umbridge noch ein Jahr Hoggy runterreißen muß", knurrte Kevin.

"Zwischen Beaux und Hogwarts sind die Eulen flott unterwegs", sagte Julius darauf.

"Ja, aber die können keine Umarmungen oder Küsse oder was du sonst noch so kennst zustellen."

"Zumindest nicht am Morgen, wo alle in der großen Halle ihre Post kriegen", konnte Julius darauf nur antworten.

"Haha, sehr witzig", grummelte Kevin.

"Eh, Kevin, noch habt ihr ferien", meinte Gwyneth mit hintergründigem Grinsen. Patrice und Corinne pflichteten ihr wortlos bei.

"Julius, darf ich mal mit dir allein sprechen?" fragte Kevins Mutter dessen Trauzeugen im Flüsterton.

"Wir tanzen nachher mal zusammen. Das fällt weniger auf, Madam", wisperte Julius zurück. Mrs. Malone nickte zustimmend.

Nach dem Mittagessenhielt Patrices Vater noch eine Rede, in der er das Leben als überraschendes Ding pries, das weder Entfernungen noch Hindernisse berücksichtigte. Dann wurde zum Tanz aufgespielt. Millie hatte Aurore in das Haus der Brauteltern gebracht, wo sie in ihrer bezauberten Wiege schlief. So konnte Millie mit ihrem Mann den Ball nach den Brautleuten eröffnen.

Den zweiten Tanz bestritten Julius und Gwyneth Malone miteinander.

"Mein werter Onkel Clayton stellt sich stur, Julius. Kevin ist für ihn immer noch sowas wie ein Blutsverräter. Tante Dana hat ihm begreiflich gemacht, daß Kevin ihn glatt wegen vorsätzlicher Freiheitsberaubung mit Hilfe der Magie anzeigen könnte und das nur dann nicht tue, wenn er mit Patrice zusammengesprochen werden darf. Der Zeremonienzauberer hat mich irgendwie komisch angeguckt. Da habe ich mich auf dem Besen zu euch nach Millemerveilles fliegen gesehen. Ist mir erst da aufgegangen, daß der mich mal eben legilimentiert hat. Ich kann nicht so zumachen wie meine in Frieden ruhende Mutter. Mußte das echt sein?"

"Huch, das machen die hier in Brüssel auch? Ich kenne das von Frankreich her, weil die Zeremonienmagier verhindern müssen, daß wer unter dem Imperius zur Hochzeit gezwungen werden soll", sagte Julius.

"Achso, und der hat dabei abgeklopft, wie Kevin überhaupt nach Brüssel gekommen ist", grinste Gwyneth. Julius nickte verhalten.

Den dritten Tanz gewährte Julius Corinne, die in ihrem goldenen Brautjungfernkostüm wie ein großer Schnatz wirkte.

"Du brauchst dir echt keine Vorwürfe zu machen, wenn das zwischen Kevin und seinem Vater nicht mehr in Ordnung kommen sollte, Julius. Du kannst nicht für alles und jeden, mit dem du mal was zu tun hattest Verantwortung übernehmen."

"Hatte ich auch nicht vor, Corinne. Ich finde es nur schade, wenn das mit Kevin und Patrice die Beziehung zu Kevins Vater verhunzt haben sollte."

"Er hätte es mit Humor nehmen sollen", erwiderte Corinne. Sie strahlte Julius an, weil er sie so gut führen konnte, obwohl sie mehr als zwei Köpfe kleiner als er war.

Als Julius mit Kevins Mutter tanzen durfte flüsterte sie ihm zu:

"Mein Mann will nichts von Patrice oder ihrer Verwandtschaft wissen. Er behauptet, daß Kevin die Ehre der irischen Zauberer verraten hat, weil er sich mit einer Festlandshexe einlassen wolle. Er hat die Alternativen angeboten, entweder gar nichts mehr mit Kevin zu tun zu haben oder einen Fluch auszusprechen, daß Patrice keine Kinder von ihm kriegen kann oder nur tote Babys zur Welt bringt. Das kann und werde ich Kevin nicht verraten. Aber er wird auch keine Briefe mehr von seinem Vater bekommen. Gwyneth hat er natürlich als die erkannt, die seinen letzten Versuch vereitelt hat. Aber er kann ihr nichts tun, weil sie das einzige Kind seiner geliebten Schwester ist. Außerdem graut es ihm davor, wie sie es hinbekommen hat, daß Kevin zum einen aus dem sicheren Haus gebracht und zum zweiten ohne den vorgeprägten Auslöser aus dem Zauberschlaf erwacht ist."

"Sie haben dieses Spiel nicht mitgespielt?" wollte Julius wissen.

"Mir ging es darum, daß Kevin glücklich und zufrieden ist, Julius. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt habe ich geglaubt, die Eheanbahnung mit Patrice Duisenberg sei eine unerwünschte Verkupplung ... öhm, ... weil Mildrid und du ja auch so früh zusammengesprochen worden seid."

"Und das glauben Sie jetzt nicht mehr?" wollte Julius wissen. Mrs. Malone schüttelte den Kopf und erwiderte, daß sie es jetzt gesehen habe, daß Kevin es ernst meinte und sich ja auch vor dieser Besenwerbesache hätte verstecken können, so wie der von Romilda Vane angehimmelte Bursche aus Schottland. Na ja, ich werde jetzt damit zu leben haben, daß Clay und ich nicht mehr die wichtigsten Leute in Kevins Leben sind. Vielleicht kommt mein Mann auch davon ab, sich weiterhin sturzustellen. Ich wollte dir halt nur sagen, daß Kevins Vater beschlossen hat, ihm weder einen Brief zu schreiben noch irgendwie weiter mit ihm zu reden. Kevin ist volljährig. Er muß die Ferientage nicht bei uns wohnen, wenn er anderswo unterkommt. Sie lächelte hilflos. Julius nickte darauf nur.

Millie und Julius tanzten noch häufiger miteinander, auch den letzten Tanz, bevor das strahlende Brautpaar sich von seinen Gästen verabschiedete und sich in das Brautnachtzimmer zurückzog, das Corinne für Kevin und Patrice gebucht hatte. Julius dachte kurz daran, ob Kevin gleich in der Hochzeitsnacht ein Kind auf den Weg bringen würde. Doch das kam ja selten vor. Aber die Ferien dauerten ja noch einen Monat an. Da konnte viel passieren.

Millie und Julius schliefen mit den anderen ausländischen Gästen im Gasthaus zum goldenen Einhorn. Aurore schlief in ihrer Wiege vor dem Bett ihrer Eltern.

Am nächsten Morgen reisten die Latierres nach Millemerveilles zurück. Julius hatte einmal daran gedacht, den Termin mit Antoinette Eauvive einfach zu vertrödeln. Doch dann war ihm aufgefallen, daß sich sowas rumsprechen würde und er als unzuverlässig herumgereicht werden konnte. Daher zog er sich seinen Sonntagsumhang an und flohpulverte sich in das Voyer der Delourdesklinik. Bei der Hexe am Empfang erwähnte er, daß er einen Gesprächstermin mit der Chefin persönlich habe. Die Hexe am Empfangstresen lächelte wohlwollend und sagte:

"Sie sind sehr pünktlich, Monsieur Latierre. Madame Eauvive nimmt noch einen anderen Termin wahr. Sie dürfen aber im Vorzimmer von ihr warten. Mit dem Aufzug bis ins Verwaltungsgeschoß, bitte!" Sie übergab Julius eine kleine Silbermünze, die er in einem der Fahrstühle in einen dafür vorgesehenen Schlitz stecken sollte, um als Zutrittsberechtigter für die Chefetage anerkannt zu werden. Julius konnte auf der Münze lesen: "Latierre, Julius, Vorstellungsgespräch mit Direktorin Eauvive"

Julius fühlte sich auf der Fahrt nach oben nicht so sicher wie er gerne wollte. Sich vorzustellen, hier zu arbeiten, wo rund um ihn magisch erkrankte Leute litten und in einer Art Wahnsinn dahindämmerten ließ ihn frösteln. Seitdem er zum ersten mal Krankenhausluft geatmet hatte, also bei seiner Geburt, hatte er Kliniken und Hospitäler nach Möglichkeit gemieden. Vor allem als sein Großvater mütterlicherseits in seinen letzten Lebensmonaten körperlich und geistig verfallen war, hatte er diesen eigentlich nützlichen Einrichtungen eine gewisse Ablehnung entgegengebracht. Mittlerweile glaubte er zu wissen, daß es daran gelegen hatte, daß die Geburtshelferinnen im St. Grace ihn mit zu kalten Händen angefaßt hatten. Immerhin hatte er dieses so wichtige Ereignis seines Lebens ja als klare, wiederabrufbare Erinnerung hervorgeholt und in sein Denkarium eingelagert.

"Ah, Sie sind schon da, Monsieur Latierre. Bitte nehmen Sie platz", sagte eine knapp dreißig Jahre alte Hexe in der Uniform der Heiler der Delourdesklinik. Sie deutete auf einen freien Stuhl. Julius nickte und setzte sich.

"Ich hoffe, ich wirke nicht zu nervös, weil ich auf die Zeit achten muß", sagte Julius der Hexe, die sich ihm als HIP Dubois vorgestellt hatte.

"Ich weiß, Sie wurden zur Hochzeit meiner Cousine vierten Grades eingeladen und möchten da natürlich nicht zu spät hinkommen. Deshalb hat Madame Eauvive den Termin auch so gelegt, daß sie beide genug Zeit haben, alle Fragen und Argumente zu erörtern."

"Violette, merken Sie Monsieur Darodi bitte für ein weiteres Gespräch am zehnten achten vor!" erklang Madame Eauvives Stimme wie aus leerer Luft. Die als Vorzimmerdame eingesetzte Heilerin im Praktikum sprach in eine Blumenvase, daß sie die Vormerkung eintragen würde.

"Ist Monsieur Latierre bereits bei Ihnen. falls ja, lass ihn bitte vor!"

"Natürlich, Antoinette." Julius staunte. Die Heiler duzten ihre Chefin? Aber dann fiel ihm ein, daß Aurora Dawn ihm auch erzählt hatte, daß die Heiler in Australien sich auch beim Vornamen nannten.

Die Tür ging auf, und Sixtus Darodi, Julius ehemaliger Pflegehelferkamerad, verließ mit einem Packen Unterlagen das Büro der Chefheilerin.

"Na, wenn es Madame Eauvive richtig anstellt werden wir vielleicht wieder kollegen", scherzte Sixtus Darodi. Julius sagte dazu nur, daß er mehrere Bewerbungen abgeschickt habe und jetzt eine Runde Vorstellungstermine vor sich habe.

"Okay, das darfst du Madame Eauvive persönlich erzählen. Ich bin dann mal weg."

"Sie haben Ihr zweites Gespräch am zehnten August um neun Uhr morgens, Monsieur Darodi", teilte ihm HIP Dubois noch mit. Sixtus bedankte sich und verließ das Vorzimmer, während Julius das Büro selbst betrat.

Er war ja schon mal hier gewesen, damals, als er gerade soeben noch von seiner haarsträubenden und höchst traurigen Reise in die Festung der Morgensternbrüder zurückgekehrt war. Deshalb war ein Schauer der Trauer auch das erste, was ihn hier überkam. Doch dann kehrten sein Wille, sich nicht beschwatzen zu lassen und das unterschwellige Unbehagen vor Krankenhäusern in sein Bewußtsein zurück.

"Setzen Sie sich bitte, Monsieur Latierre!" forderte Antoinette Eauvive ihren Gesprächsgast auf und deutete auf den ihrem breiten, hochlehnigen Sessel gegenüberstehenden Besucherstuhl. Julius bedankte sich und nahm Platz. Nun trennte nur noch eine einen Meter breite Schreibtischplatte die beiden. Die Tür fiel leise zu. Julius hoffte, daß sie nicht magisch verriegelt wurde. Er konzentrierte sich, um seinen Geist zu verhüllen.

"Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, Monsieur Latierre und freue mich, daß Sie meiner Bitte um ein Vorstellungsgespräch nachkommen. Ich kenne Ihren heutigen Terminplan und möchte daher gleich und ohne großes Herumgerede die wesentlichen Punkte besprechen", begann Madame Eauvive. Julius nickte und grüßte zurück. Dann holte er die in der Ein- oder besser Vorladung erbetenen Unterlagen aus seinem Practicus-Brustbeutel und breitete sie vor Madame Eauvive auf dem Schreibtisch aus. Da war das UTZ-Dokument, das Abschlußzeugnis von Beauxbatons, das Pflegehelferzertifikat und auch das Empfehlungsschreiben des Zaubereiministeriums, daß er mit seinen UTZ-Werten jeden freien Posten im Ministerium beanspruchen durfte. Dann fragte er, warum sie und nicht ein für die Personalabteilung zuständiger Heiler oder eine Heilerin dieses Gespräch führen wollte.

"Ich habe davon gehört, daß in der nichtmagischen Welt ein sogenannter Personalchef für die Anwerbung, Führung oder Entlassung von Mitarbeitern und Angestellten zuständig ist, Monsieur Latierre", erwiderte Madame Eauvive darauf. "Hier in der Delourdesklinik ist es aber so, daß alle Angestellten aprobierte Heiler, HIPs oder Adepten sind. Die Personalwahl obliegt dem ranghöchsten Heiler, in dem Fall also mir. Zudem kann auch der oder die Vorsitzende der gesamten Heilerzunft ein solches Gespräch führen und über die Aufnahme eines neuen Adepten befinden. In dem Fall bin das auch ich. Personalunion heißt das entsprechende Stichwort. Aber ich wollte mit Ihnen nicht über Personalhierarchien oder Verwaltungsstrukturen sprechen, sondern über diese überragenden UTZs, die Sie erwerben konnten, sowie die höchst wohlwollende Empfehlung meiner Kollegin in Beauxbatons. Außerdem weist Sie das Abschlußzeugnis von Beauxbatons als vielfältig interessiert und begabt aus. Derartige Empfehlungen und Dokumentationen kann, will und darf ich nicht ignorieren, Monsieur Latierre. Denn mir steht es genauso zu wie den Damen und Herren im Ministerium so wie der gewinnorientierten freien Zaubererweltwirtschaft, Ihre Talente zu umwerben und nach besten Willen und Können zu fördern, wenn Sie sich, was die Vernunft eigentlich von selbst gebietet, für eine Ausbildung und Berufsausübung in der Heilerzunft entscheiden."

"Sollten", legte Julius noch nach. Madame Eauvive fragte ihn, was er meine. "Falls ich mich für eine Ausbildung und Laufbahn in der Heilerzunft entscheiden sollte", vervollständigte Julius den Satz aus seiner Warte. "Auf dem Inoffiziellen Weg durfte ich ja schon mit Ihnen und Kollegen aus Millemerveilles, Sydney, Thorntails und Viento del Sol sprechen", sagte Julius an. Doch Madame Eauvive würgte ihn mit einer harschen Handbewegung ab. Dann sagte sie ganz ruhig:

"In Anbetracht Ihres engen Terminplans sollten wir uns nicht mit zu viel Beiwerk aufhalten, Monsieur Latierre. Mir sind sowohl die inoffiziellen Gespräche als auch die entsprechenden Kolleginnen bekannt. Kommen wir also erst zu Ihrer persönlichen Einschätzung des Heilerberufes ganz ohne eine Vorabprägung, ob Sie ihn ausüben oder nicht ausüben möchten. Was wissen Sie über uns, außer was Sie durch Konsultationen meiner Kollegen miterlebt haben?" Julius holte tief Luft und erwähnte, was er über die Heiler im allgemeinen und die Ausbildungsregeln in der DK im besonderen wußte oder zu wissen glaubte. Antoinette Eauvive nickte alles ab. Also hatte er sich nicht von Vorurteilen oder gängigen Klischees beeindrucken lassen. "Was spricht von Ihrer Seite aus dafür, Heiler werden zu wollen?" wollte Madame Eauvive wissen. Julius deutete nur auf die vorgelegten Dokumente und sagte, daß die ganzen Zeugnisse ihm wohl eine gute Zukunft in der Heilerzunft ermöglichten und er ja bei Madame Rossignol auch gerne mitgeholfen habe und froh sei, die magische Ersthelferqualifikation zu haben. Auch hier nickte Antoinette Eauvive und faßte die Pro-Punkte noch einmal in kurzen Sätzen zusammen. Also gab es hier irgendwo eine mitschreibende Zauberfeder, erkannte Julius. Dann wurde er gefragt, was gegen seinen Eintritt in die Heilerzunft spräche. Er erwähnte die Ortsbeschränkung, die lebenslängliche Berufsbindung und vor allem, daß er viel Zeit ohne seine Familie verbringen müsse und dies nicht hinnehmen wolle. Auch wolle er jetzt etwas erlernen, wo er nicht noch einmal vier Jahre in einer Schule zubringen müsse. Madame Eauvive nickte diesmal nicht. Bei der Erwähnung, nicht noch einmal drei bis vier Jahre Schüler sein zu wollen fragte sie ihn, ob denn ein Studium an einer nichtmagischen Hochschule etwas anderes sei. Julius wußte natürlich, daß diese Frage berechtigt war und erwiderte, daß er aber dort aussuchen könne, was er studieren und worauf er sich festlegen wolle und die Universität ja nicht hundert Kilometer vom Wohnort fort sein mußte. Dann brachte er noch einmal die Ortsgebundenheit als Gegenargument und daß Heileradepten ja bisher keine eigene Familie gegründet hatten, bevor sie Heiler werden wollten.

"Oh, da sind Sie offenbar einem schwerwiegenden Mißverständnis aufgesessen, Monsieur Latierre", entgegnete Madame Eauvive. "Gerade vor drei Tagen durfte ich eine neue Adeptin vormerken, die vor wenigen Wochen ihr drittes Kind zur Welt gebracht hat und sich gut vorstellen kann, später in unserer Geburtshilfe- und Säuglingspflegeabteilung zu arbeiten. Ihr Mann hatte keinen Einwand, zumal er wegen seines eigenen Berufes ständig herumreisen muß und daher so oder so nicht an der pflege und Erziehung seines dritten Kindes mitwirken kann."

"Wie alt ist die Dame, wenn ich fragen darf?" wollte Julius wissen.

"Sie ist sechzehn Jahre älter als Sie, Monsieur", erwiderte Madame Eauvive. "Insofern ist es ein bedauerliches Mißverständnis, das eine Familiengründung vor der Aufnahme in die Heilerausbildung auszubleiben hat. Was die Art der Ausbildung angeht, die Sie in einer mir nicht ganz verständlichen Art als Fließbandausbildung definiert haben, so möchte ich von Ihnen noch einmal gerne wissen, was ein Fließband ist und warum Sie der Meinung sind, daß unsere Ausbildung mit einem solchen Gegenstand verwandt sein soll." Julius hatte diesen Einwand bewußt provokant gewählt, weil er schon einen größeren Wert in der Einzelausbildung à la Sana-Novodies-Klinik bevorzugte. So beschrieb er ein Fließband und baute auf Madame Eauvives Ersuchen sogar ein aus dem Nichts beschworenes Modell im Maßstab 1:100 auf, um zu zeigen, wie die Arbeitsschritte an einem solchen Fließband abliefen, an deren Ende alle paar Minuten oder Sekunden ein neues Produkt entnommen werden konnte. So ähnlich sei es ja wohl mit den in großen Klassen unterrichteten Heilern. Madame Eauvive überlegte wohl, wie sie diese Unterstellung ruhig aber unmißverständlich zurückweisen konnte. Dann sagte sie nur, daß das Ausbildungsverfahren in der Delourdesklinik nicht nach Massenfertigung sondern Qualität verlange und daher auch persönliche Fähigkeiten gezielt gefördert und notwendige, aber unzureichende Fähigkeiten gefordert würden, wobei dann aber unterschiedliche Heiler ausgebildet würden, die jeder für sich Einzelstücke seien. Dann ließ sie das Fließbandmodell wieder verschwinden. Sie sagte dann:

"Zudem, Monsieur Latierre, darf und will ich mich neuartigen und ebenso erfolgreich verlaufenden Ausbildungsverfahren nicht verschließen. Natürlich kenne ich das Mentorenmodell in Australien und auch die Lerngruppenmethode in den USA, wo drei bis vier unterschiedlich begabte Heilkunstadepten von zwei aprobierten Heilern betreut und unterrichtet werden. Ich trage mich bereits seit einem Monat mit der Idee, alternativ zum von Ihnen als abschreckend empfundenen Jahrgangsgruppenmodell drei bis vier Mentoren abzustellen, die herausragende Einzeladepten ausbilden, natürlich mit der Bedingung, daß diese bis zur Grenze ihrer Fähigkeiten beansprucht werden und jede individuelle Leistung steigern, die sie erbringen können. Das hätte auch den gewissen Vorteil, daß der Mentor oder die Mentorin mit Ihnen an einem Ort Ihrer Wahl übernachten kann, natürlich in getrennten Zimmern, sofern die weltweit festgeschriebenen Ausbildungszeiten und Unterrichtsschwerpunkte eingehalten und durch Abschlußprüfungen bestätigt werden. Monsieur Darodi, der ja mit Ihnen in der Pflegehelfergruppe war, will es sich noch überlegen, ob er lieber in einem Klassenverband oder als Individualadept unter Betreuung durch einen Mentor ausgebildet werden möchte oder ob er nicht doch ins Besenkontrollamt überwechselt, wo er meiner Auffassung nach völlig unterfordert wäre. Was für ihn gilt gilt für Sie im weitaus größeren Maße, Monsieur Latierre. Wenn Sie also berechtigten Wert darauf legen, Ihren Pflichten als Familienvater nachkommen zu dürfen, kann ich Ihnen einen Mentoren oder eine Mentorin zuteilen, der aber nicht mit Ihnen verwandt sein darf, weil das den Wert der Ausbildung in Frage stellen könnte." Julius hätte fast gesagt, daß er dann sicher seine Schwiegertante Béatrice nehmen würde. Er nickte aber nur und deutete auf die Wände. Er fragte, ob der Raum ein Dauerklangkerker sei. Die Chefheilerin nickte und pflückte unter dem Tisch eine Flotte-Schreibe-Feder von einem Pergament. "So, damit es nicht auch notiert wird, womit du mir jetzt sicher kommen möchtest", knurrte Madame Eauvive, nun die familiäre Anrede gebrauchend. Julius straffte sich und nickte. Dann sagte er:

"Sie wissen, daß ich eine ziemlich schwere Sache aufgeladen bekommen habe, Madame Eauvive. Es kann mir irgendwann passieren, daß ich mal eben irgendwoanders hin muß. Aber als Heiler wäre ich ortsgebunden und müßte mich auch immer bereithalten. Wenn Sie es also lieber haben wollen, daß ich mich für die Zunft als unzuverlässig und untragbar erweise und Sie mir daraufhin kündigen müssen, dann bitte. Ich lege zumindest keinen Wert darauf, in einem Beruf anzufangen, aus dem ich schneller wieder rausfliegen kann als auf einem Ganymed 12."

"Soweit ich weiß hast du mittlerweile einigen bereits ausgebildeten Hexen und Zauberern einen Teil des dir aufgeladenen Wissens weitergegeben. Was würde dich daran hindern, den Personen deines größten Vertrauens auch den Rest der Verantwortung aufzuladen?"

"Der Umstand, daß mich irgendwas ausgesucht hat, diese Verantwortung zu tragen, Madame. Ich kann da auch nichts für", knurrte Julius.

"So, du konntest nichts dafür, daß du für Dumbledore und Maxime auf eine Drachenmaulkriecherei nach Hogwarts gegangen bist? Du kannst nichts dafür, daß du auf die Tiraden eines gemalten Endzeitpropheten angesprungen bist und damit einigen überängstlichen Leuten noch mehr Angst gemacht hast? Ebenso kannst du wohl auch nichts dafür, daß du dieses Artefakt beschafft hast, mit dem die grauen Riesenvögel gerufen werden konnten. Du hättest die Verantwortung für das alles delegieren und an ältere Hexen und Zauberer wie Madame Brickston oder Monsieur Delamontagne übertragen können. Was hat dich also ausgesucht?"

Julius erwähnte es und sagte auch, daß Darxandria sich sonst keinem offenbart habe, der die magische Kettenhaube getragen habe.

"Und jetzt lebt sie in seelischer Verschmelzung im Körper einer Latierre-Kuh und meint deshalb, dir alles das auferlegen zu müssen, was sie nicht aus eigener Kraft machen kann?"

"Wenn sie nicht in die Latierre-Kuh eingezogen wäre hätten sie mich jetzt ein Kalb säugend auf dem Latierre-Hof interviewen müssen, Madame Eauvive", erwiderte Julius. "Ansonsten ist es schon eine Unverschämtheit, mir den Ausflug in die Morgensternfestung als freiwillig gemachte Reise zu unterstellen. Wenn ich das vorher gewußt hätte, was mir da passiert, wäre ich mit meinem Hinterteil zu Hause geblieben. Dann könnten Sie aber heute als Schlangenfrau gleichartige Patienten behandeln, weil dieser Irre Riddle die so oder so aufgeweckt hätte, von den grünen Würmern mal ganz abgesehen, die er locker auch in echt hätte nachzüchten lassen, wenn er vom gemalten Slytherin alle nötigen Tips dazu bekommen hätte. Mir also jetzt alle Schuld zu geben, daß ich mir wohl alle Chancen auf eine stabile Karriere als Heiler verbaut habe macht Sie mir gegenüber nicht gerade vertrauenswürdig oder vorbildlich, zumal Sie selbst wissen, daß mir keine andere Wahl geblieben ist, als ich die ersten Alpträume von den Schlangenmenschen hatte. Hätte ich die Kettenhaube damals nicht aufgehabt, hätte mich Slytherin gleich sofort mit dem Todesfluch erledigt, weil er wußte, daß ihm dabei nichts passieren konnte", fuhr Julius fort, wobei er aufpassen mußte, nicht in Wut zu geraten. Er dachte an Bruce Banner, den verstrahlten Wissenschaftler, der im Rausch von Wut und Schmerz zum grünen Monster wurde. Madame Eauvive erkannte wohl, daß sie gerade einen psychologischen Fehler gemacht hatte, als sie ihm nahelegen wollte, nicht die Schuld bei einer höhren Macht zu suchen. Jetzt hatte sie es sich wohl mit ihm verscherzt, mußte sie anerkennen. Drohen oder Ködern konnte sie ihn nicht. Das wußte er auch. So sagte er:

"Wenn Monsieur Darodi dem neuen Mentorenprogramm beitreten und dadurch ein guter Heiler werden kann war dieser Tag für Sie zumindest kein Reinfall, Madame Eauvive." Die Chefheilerin platzierte die Feder wieder auf das Pergament und sagte:

"Nun, ich muß wohl erkennen, daß mein Entgegenkommen in der Frage der Ausbildungsmethode die anderen von Ihnen vorgebrachten Argumente nicht entkräften kann. Trifft dies zu?" Julius bejahte es. Wenn er sich seinen Mentoren nicht aussuchen dürfe käme das für ihn auf dasselbe heraus, als ob er im Klassenverbund unterrichtet würde. Auch die örtliche Beschränkung bei der Berufsausbildung sei für ihn ein nicht auszuräumendes Hindernis, da er sich mit seiner Familie gerade in Millemerveilles richtig eingelebt habe und dort bereits eine residente Heilerin als Hebamme und ein residenter Heiler für allgemeines und Sportlerbetreuung zugeteilt seien. Madame Eauvive seufzte kurz und nickte dann.

"Darf ich Ihnen denn zumindest einen schriftlich fixierten Plan mitgeben, wie ich die Ausbildungsmethoden gegliedert habe, damit Sie nicht behaupten können, unzureichend informiert worden zu sein?" Julius bejahte es. So bekam er auch den Packen Pergament, den Sixtus schon bekommen hatte. Dann führte er noch was an, was ihm seine künftige Stiefgroßmutter gesagt hatte, daß ein Heiler nämlich mit Hirn und Herz bei seinem Beruf sein müsse, und daß etwas, was verstandesmäßig richtig sei, gefühlsmäßig undurchführbar sein könne. Madame Eauvive mußte wohl schlucken, obwohl sie doch längst wußte, daß Julius von seiner zukünftigen Verwandten diese Empfehlung erhalten hatte. Dann sagte sie:

"Nun, ich habe an Sie als Verstandesmenschen appelliert und dabei offenkundig außer Acht gelassen, daß Sie auch eine gefühlsmäßige Weiterentwicklung vollzogen haben und daher hinterfragen, ob wirklich alles verstandesmäßige auch getan werden darf oder nur im Einklang mit Ihrem Gefühlsleben stattfinden darf. Danke für diesen wichtigen Hinweis, den ich bei künftigen Vorstellungsgesprächen unbedingt beachten muß! Aber nehmen Sie bitte die Unterlagen und lesen Sie Sie durch! Sollten Sie bei den weiteren von Ihnen erbetenen Vorstellungsgesprächen keine Sie ansprechende Anstellung angeboten bekommen steht es Ihnen frei, mich noch einmal um ein Gespräch zu bitten. Allerdings möchte ich Sie darauf hinweisen, daß die Einschreibungspflicht für neue Adepten am dreißigsten August endet, da unser Ausbildungsjahr immer am ersten September beginnt. Insofern, sollten Sie in einem Jahr noch keinen Sie ansprechenden und fördernden Beruf ergriffen haben, dürfen Sie gerne wieder bei mir vorsprechen. Dann darf ich Ihnen noch einen vergnüglichen Tag wünschen!" Julius bedankte sich anständig und wünschte Madame Eauvive noch einen erfolgreichen Tag. Er war sich sicher, daß sie jetzt wohl dachte, daß er ihr diese Aussicht schon verdorben hatte. Doch sie ließ es sich nicht anmerken und sprach mit ihrer Vorzimmerdame. Julius verabschiedete sich auch von HIP Dubois, die ihm noch einen Gruß für Céline mitgab. "Sollte sie im nächsten Jahr bereits ein Kind erwarten darf sie mich gerne als persönliche Hebamme erbitten", sagte Violette Dubois. Madame Eauvive räusperte sich zwar, sprach aber keinen Tadel aus.

Julius beeilte sich, wieder ins Voyer zu kommen, von wo aus er flohpulverte.

"Und?" wollte Millie wissen.

"Die hat sich überlegt, drei Neue mit Mentoren durch Einzelunterricht zu treiben, wohl weil sie weiß, daß Leute im Klassenverbund gerne mal durchhängen. Wenn die mentierten besser aus der Ausbildung rauskommen als die im Klassenverband ausgebildeten, führt sie's wohl im größeren Stil ein. Ansonsten hat die mir vorgehalten, ich hätte mir das mit Temmie doch selbst ausgesucht." Den rest mentiloquierte er, weil sie nicht im schallsicheren Ehebett lagen. Millie schickte zurück, daß sie ihm Tante Trice als Mentorin hätte zuteilen können, da er sie ja schon besser kenne, als ein Adept eine Ausbilderin kennenlernen dürfe. Julius mußte darüber nur grinsen. Millie war nicht eifersüchtig. Warum auch? Denn was Julius und ihre Tante angestellt hatten war ja nicht das übliche gewesen.

Millie prüfte noch einmal den Sitz der Festbekleidung bei sich und Julius. Wie üblich trug Millie Aurore in einem Tragetuch, als sie durch den Verschwindeschrank erst ins Château Tournesol und von dort in Millies Elternhaus überwechselten, von wo aus sie zum Haus der Dorniers gingen, wo sie auch Sandrine und Gérard antrafen. Auch Sandrine hatte ihre beiden Kinder in Tragetüchern auf dem Rücken.

Laurentine Hellersdorf bildete mit Célines Cousine Eloise und ihrer kleinen Nichte Cythera das Gespann der Brautjungfern. Célines Mutter hatte es abgelehnt, das Constance Dornier Célines Brautjungfer würde. "Das kommt doch dumm an, wenn die Brautjungfer schon vor der Braut Mutter wurde", hatte sie wohl gesagt. Immerhin war Laurentine nun wieder einmal Brautjungfer.

Anders als bei Kevins Hochzeit waren hier hunderte von Zaungästen, da ja die meisten die Dorniers kannten und die zweitgeborene Tochter eines erfahrenen Besenbauers mit Robert Deloire eine gute Partie machte. Daß Robert seinen Nachnamen änderte gefiel diesem zwar nicht sonderlich. Doch die Regeln in Frankreich verlangten es, daß bei einer Familie, die nur Töchter hervorgebracht hatte, die zuerst heiratende Tochter ihren Familiennamen behalten durfte und der Bräutigam diesen Familiennamen annehmen mußte. Doppelnamen wie in Deutschland, Spanien oder den vereinigten Staaten waren in der französischen Zaubererwelt unüblich. Wobei, wie Millie ihm erzählte, die spanischen Nachnamen ja von den namen der Großväter herkamen, wobei der erste Nachname der des Großvaters väterlicherseits war. Das hätte ihm Carmen Deleste, die als neue Saalsprecherin der Grünen ausgewählt worden war, sicher nicht besser erklären können. Zumindest saß die ehemalige Pflegehelferkollegin bei den Gästen aus der großen Abteilung Schulkameraden und Freunde.

"Herzlichen Glückwunsch, Monsieur Dornier", begrüßte Julius Robert gleich nach der Trauung.

"Willst du den Namen haben? Ich schenke ihn dir", grummelte Robert. Julius grinste und sagte:

"Ich hätte mit dem echt kein Problem, wo der auch in der Muggelwelt was mit Fluggeräten zu tun hat. Aber ich bin schon verheiratet. Millie könnte das ziemlich übelnehmen."

Stimmt, ich müßte ja dann Latierre heißen, wenn du meinen neuen Nachnamen haben wolltest. Oha, dann könnten die alle denken, ich hätte eines von den Kampfküken geheiratet, die hinter Jacques hergelaufen sind, bis Mésange ihn sich auf den Besen geladen hat. Na ja, man wächst wohl in alles rein, hat mal wer gesagt." Julius hätte fast erwähnt, daß Aurora Dawn ihm das erzählt hatte, als er die silberne Stellvertreterbrosche bekommen hatte und dann noch mal die goldene Brosche für den hauptamtlichen Saalsprecher. Doch er behielt es besser für sich. Er sprach dann lieber darüber, wie das Vorstellungsgespräch gelaufen war.

"Ui, und weil Millie nicht mit der Windelwickelei warten wollte ist die gute Madame Eauvive nun sauer auf dich?" wollte Robert wissen.

"Sagen wir es so, Robert. Ihr wäre wohl lieber gewesen, wenn ich ein reiner Gehirnathlet gewesen wäre, der rein logisch und effizienzmäßig anzusprechen wäre. Weil rein logisch ist eine Familie der größte Eingriff in die Eigenständigkeit und Privatsphäre, den es geben kann. Dumm nur, daß Mutter Natur uns Säugetieren was eingebaut hat, daß wir bestimmte Sachen schön finden müssen und deshalb auch gerne auf eine gewisse Eigenständigkeit verzichten, wenn wir es dafür schön haben."

"Kennen wir schon, hatten wir schon", grummelte Robert, der hier und heute nicht daran erinnert werden wollte, daß er sich bereits nach der ersten Liebesnacht mit Céline sehnte, es aber nicht hatte tun wollen. Statt dessen war er eifersüchtig auf Gérard und Julius gewesen, weil die sich nicht die Zeit gelassen hatten, die er sich genommen hatte.

Beim Ball am Abend konnte Julius wieder keinen Tanz auslassen. Millie lud ihm einmal Aurore auf den Rücken, weil sie meinte, daß alle hier sehen durften, daß ein Kind zwar mal laut und anstrengend, aber kein echtes Hindernis war. Julius hatte erst gedacht, daß keine mit ihm tanzen wollte, weil er gerade als Babyträger unterwegs war. Doch er irrte sich. Bei den langsamen Tänzen forderten ihn vor allem die gestandenen Mutterhexen auf, so die Brautmutter, deren ältere Tochter und Sandrine Dumas, die ihre beiden Wonneproppen Roger und Estelle in die Obhut von Carmen Deleste gegeben hatte, um auch mal schneller zu tanzen.

Am Ende tanzte Julius noch einmal mit seiner Frau und freute sich für Céline, die bereits sichtlich erregt auf Robert blickte. Ihre sonst so bleichen Wangen waren bereits merklich gerötet. Millie grinste Julius kurz an und meinte:

"Wetten, die läßt Robert nicht mehr aus dem Bett, bis sie zweimal so breit ist wie jetzt?" Julius wollte seiner Frau schon sagen, daß das wohl doch ziemlich fies war und daß Millie sich wieder so benahm wie damals, wo sie und Céline wie Hund und Katze gewesen waren. Doch dann fiel ihm eine bessere Antwort ein:

"Klar, die muß zusehen, dich in diesem Jahr zu überholen, wo sie so lange hat warten müssen."

"Oha, das habe ich jetzt nicht erwartet", grummelte Millie. Julius konnte nicht anders, als die Wirkung seines seelischen Kinnhakens zu genießen. Zwar bekam Millie das über ihre gemeinsame Herzanhängerverbindung mit. Doch sie war hart im nehmen und erwiderte:

"Gut, hab's ja auf so'ne Antwort angelegt. Sandrine hat's ihr und mir ja vorgemacht, daß sowas geht. Dann soll Robert gleich zwei kleine Dorniers auflegen oder besser drei, damit Céline auch keine Minderwertigkeitsgefühle gegenüber ihrer großen Schwester hat." Julius verzichtete nun darauf, einen weiteren Kommentar anzubringen. Er war mit den Gedanken schon bei etwas anderem: Wenn Antoinette Eauvive ihm um die Ohren hauen mußte, daß er sich das ja ausgesucht hatte, daß die geflügelte Kuh Darxandrias neuer Körper war, dann konnte er sie bald fragen, ob er sich von ihr etwas Milch nehmen durfte, um sie und ihre Blutsverwandten ohne Cogison und Melo verstehen zu können.

Mitten in der Nacht kehrten die Latierres in ihr Apfelhaus zurück. Millie und Julius versorgten erst ihre kleine Tochter, die diese späte Stunde nicht so richtig verstehen wollte. Dann legten sich beide hin. Weil Julius meinte, daß Millie wohl dachte, Céline könnte jetzt alles doppelt und dreifach nachholen und dabei mehr Ausdauer haben als ihr anzusehen sei wollte Millie noch nicht schlafen. denn sowas wollte sie nicht auf sich sitzen lassen. Zwei stunden später waren beide erschöpft genug, um bis zum ersten Schrei der kleinen Morgenröte zu schlafen.

__________

Arne Björnson zeigte auf das Ungetüm, das da im Licht tragbarer Gaslaternen glitzerte. Sein amtlich wirkender Begleiter starrte ungläubig auf das gewaltige Ding am boden. Allein der lange Stiel war mindestens so dick wie der Verwaltungsbeamte des Svalbard-Archipels.

"Wenn Sie mir erklären können, wie so ein gewaltiges Artefakt ohne Nutzung von Motorkraft und ohne Hinterlassung von Spuren in diese Höhle gelangte ziehe ich meinen Antrag auf Sondergenehmigung für einen Halbkettenlastwagen zurück."

"Das ist eine Fälschung", knurrte der sichtlich verstörte Beamte und trat an das gewaltige Stück Metall heran. Er mußte sich strecken, um an die gewölbte Unterseite des Stiels zu gelangen. Er klopfte mit den behandschuhten Fäusten dagegen. es klang massiv. Ungläubig den Kopf schüttelnd eilte der Beamte weiter zum wuchtigen Kopf jenes Riesenhammers hin. Er versuchte ihn mit seiner Taschenlampe anzuleuchten. Doch die Glühbirne flackerte wild, als wolle sie jeden Moment ausgehen. Wie Irrlichter tanzten die Lichtblitze über den Hammerkopf. Als der Beamte weniger als einen Meter an das massive Vorderende des Riesenhammers herangetreten war, ging die kleine Handlampe ganz aus. "Und wenn Sie mir auch dafür eine plausible Erklärung bieten können verzichte ich sogar darauf, dieses Artefakt aus dieser Höhle entfernen zu wollen", kommentierte Björnson den Ausfall der elektrischen Handlampe. Der Beamte hob das gerade funktionslose Leuchtmittel an und prüfte es. Die Birne schien noch in einem Stück zu sein. Er senkte die Handlampe wieder und blickte auf die Anzeigefläche seiner Armbanduhr. Er schüttelte den Arm, blickte erneut auf die Uhr und ließ den Arm ruckartig sinken.

"Wie haben Sie das angestellt, Herr Björnson. Wie machen Sie das, daß meine Lampe und meine Uhr nicht mehr arbeiten?" knurrte der Beamte verärgert und schlenkerte mit der gerade nicht leuchtenden Handlampe.

"Ich habe dieses Kraftfeld oder was es ist nicht errichtet, Herr Thoresen", versetzte Björnson. "Irgendwas um oder innerhalb des Artefaktes bewirkt eine massive Störung elektrischer und vor allem elektronischer Geräte. Ich dachte zwar, daß etwas so einfaches wie eine Taschenlampe nicht so leicht zu beeinflussen sein kann. Aber offenbar absorbiert etwas alle frei beweglichen Elektronen."

"Womit Sie mir doch hoffentlich nicht erzählen möchten, daß dieser Riesenhammer aus der Werkzeugkiste eines außerirdischen Astronauten gefallen ist, Herr Professor?"

"Die These haben Sie gerade formuliert", berichtigte Björnson den Beamten. "Ich würde es vorziehen, dieses auch meiner Kennntnis ins Gesicht schlagende Artefakt zur weiteren Untersuchung in ein Labor zu schaffen. Womöglich wirkt sich die Störung elektrischer Prozesse nur innerhalb dieser Höhle aus, und wir können dem Hammer mit nüchterner Wissenschaft zu Leibe rücken."

"Sie meinen, Sie bekommen dieses Ungetüm aus der Höhle, das die altnordischen Riesen geführt haben können?" wollte der Beamte wissen.

"Ich bitte Sie, bei Ihrem Vorgesetzten, dem Sysselmann, die Sondergenehmigung für den Einsatz eines Halbkettentransporters, um das Artefakt aus dieser Höhle zu befördern. Mehr möchte ich nicht von Ihnen."

"Der muß selber herkommen. Der wird mir das nicht glauben", knurrte der Beamte.

"Kein Thema. Er hat ja die Sondergenehmigung für einen Motorschlitten", erwiderte Björnson kühl.

"Wir können erst in zwei Tagen herkommen. Es sind noch einige Gesuche zu bearbeiten", erwiderte der Beamte und kniff geblendet die Augen zu. Er war nämlich aus dem stärksten Störungsbereich herausgetreten und hatte sich die Taschenlampe nahe vor die Augen gehalten. Jetzt flackerte diese wieder wie das Stroboskoplicht einer Discothek.

"Ich werde meinem Vorgesetzten melden, was ich hier erlebt habe. Er muß das selbst sehen. Bis dahin bleibt die Höhle gesperrt", knurrte der Beamte und trieb Björnson und seinen schlachsigen Assistenten Gunnar Haraldson zum Ausgang der Gletscherhöhle.

"Also am fünften August kommen Sie wieder?" wollte Björnson noch einmal wissen.

"Frühestens", erwiderte der Beamte.

__________

Der dritte August war für Julius einer der Tage, die ihn an lebensgefährliche Situationen erinnerten. Zwar hatte er in der Nacht nicht davon geträumt, was ihm vor vier Jahren in der Mojavewüste zugestoßen war. Doch als er aufwachte meinte er, die schrille, wütende Stimme jener gefährlichen Kreatur zu hören, die mal als überragend schöne Frau mit roten Haaren und goldenen Augen und dann als rotes, schuppiges Mischwesen aus Affe und Flugechse erscheinen konnte. Hallitti, die Tochter des dunklen Feuers, die Julius' Vater wegen der in ihm gebündelten, aber nicht erwachten Magie an sich gebunden hatte, war in der Nacht zum dritten August 1996 von Anthelia und ihren Hexenschwestern bekämpft und vernichtet worden. Julius hatte damals nur mit Hilfe eines ihm unbekannterweise ins Gedächtnis gepflanzten Zeitzaubers entkommen können. Dieser Zauber hatte ihn jedoch um zwei Jahre altern lassen. Die Erinnerung an dieses grauenhafte Ereignis war für ihn seitdem um keinen Hauch verblaßt. Gut, er hatte dieses Ereignis wie alle anderen ihn stark bewegenden Erlebnisse in das Denkarium ausgelagert. Seine Frau wollte sich dieses Erlebnis auch einmal ansehen, wenn Aurore abgestillt war. Julius hingegen legte keinen wert darauf, sich den wahrgewordenen Alptraum noch einmal als Zuschauer anzusehen. Statt dessen wollte er heute zu Artemis vom grünen Rain, um "nur" einen Schluck Milch von ihr zu erbitten. Barbara Latierre die jüngere war wegen der letzten Vorbereitungen derKonferenz des internationalen Magizoologieverbandes (IMAZOV) in Paris. Ihr Mann Jean ging seinem eigenen Beruf nach. Die beiden Zwillingspaare waren im Château Tournesol. Sowas nannte man wohl eine sturmfreie Bude. Julius war es ein wenig mulmig, einfach so auf den Latierre-Hof zu reisen, ohne die Bewohner um Erlaubnis zu bitten. Er wollte ja auch nicht in das Wohnhaus oder die Stallungen, Scheunen oder Lagerhäuser. Ihm ging es nur um die Weiden, wo die gigantischen Flügelkühe gehalten wurden. Millie sah den Silberpokal in seinen Händen. Von außen und innen wirkte er wie gerade aus der Werkstatt eines Silberschmiedmeisters erworben. Von einer Inschrift in der Innenwölbung war im Licht der Sonne nichts zu sehen.

"Ist schon fies, Tante Babs so zu behumsen, wenn ich mal eben zu Temmie rübergehe, ohne ihr was zu sagen", meinte Julius. Seine Frau blickte von dem Pokal zu seinem Gesicht und erwiderte:

"Temmie gehört uns, oder wir beide ihr, wenn du es so siehst. Gut, sie hat das Recht zu sagen, wer bei ihr auf den Hof kommen darf. Aber du bist ein akzeptiertes Familienmitglied. Onkel Otto war auch schon mal da, ohne daß Tante Babs was davon wußte, weil er ausprobieren wollte, wie viel Zusatzgepäck einer Latierre-Kuh aufgeladen werden konnte. Dumm nur, daß Tante Babs mit dieser Kuh schon die Blutsband-Sprechverbindung hatte und die ihr das am Abend erzählt hat. Kann dir bei Temmie nicht passieren, wenn du der sagst, was los ist. Ich mache mir nur Sorgen, daß ihr Milchdruck so groß ist, daß der Pokal schon nach einer Sekunde voll überläuft, wenn du ihr an einer Zitze zupfst. Aber sie würde es keinem erzählen."

"Ich muß mal sehen, ob ich sie anmentiloquieren kann", sagte Julius. "Ich will schließlich nicht kilometerweit von ihr weg apparieren." Millie nickte.

Julius konzentrierte sich auf die fünf Stufen des Gedankensprechens. Als er schließlich bei Stufe fünf ankam und mit Temmies Gedankenstimme "Temmie darf ich etwas Milch von dir haben?" dachte, meinte er, seine eigene innere Stimme wie in einer großen Halle widerhallen zu hören.

"Die Menschen auf dem Hof sind weg. Sie haben alles zugemacht und auch ein Netz gegen den Kurzen Weg von euch aufgespannt, Julius. Aber ich kann zu dir. Orion spielt gerade mit seinen halben Schwestersöhnen."

"Du weißt, wo ich bin?" schickte Julius zurück.

"Du hast mir was von einem ganz runden Haus gesagt, das wie eine der großen runden Baumfrüchte aussieht, die in der Laubfallzeit bei uns auf dem Hof an den Bäumen hängen. Ich komme über den kurzen Weg. Für mich ist die große Glocke der Kraft kein Hindernis", ertönte Temmies wie ein sanft angestrichenes Cello klingende Gedankenstimme in Julius Kopf. Er wollte gerade zu einer rein geistigen Erwiderung ansetzen, als es draußen laut knallte, als habe wer eine Kanone neben dem Apfelhaus abgefeuert.

"Hallo, ist die jetzt zu uns gekommen?" staunte Millie, als sie aus dem nordöstlichen Fenster blickte. Auf der Wiese vor dem runden Haus stand in ihrer ganzen gewaltigen Erscheinung schneeweiß im Sonnenlicht glänzend die geflügelte Kuh Artemis vom grünen Rain. Julius sah hinaus. Der Kopf der Riesenkuh war genau auf der Höhe der von außen unsichtbaren Fenster des ersten Stockwerkes über der Eingangshalle.

"Hast du die jetzt hergerufen?" wollte Millie wissen. Julius schüttelte den Kopf. Er beteuerte, daß er sie nur fragen wollte, wo sie war. Dann gab er wieder, was Temmie ihm geantwortet hatte. "Wie erwähnt war Onkel Otto einmal auf dem Hof. Kann sein, daß Tante Babs und Onkel Jean ein Apparitionsnetz gezogen haben, das sich aufspannt, wenn sie und die vier anderen weg sind, damit sowas nicht noch mal passiert."

"Für sie ist das alles kein Hindernis, nicht mal die Schutzglocke Sardonias", erwiderte Julius darauf. Millie konnte dazu nur nicken. Dann sagte sie:

"Da sie wohl kaum die Maschine von Tante Babs mitgebracht hat brauchst du eine Leiter und am Besten noch einen größeren Eimer." Julius nickte ihr zu. Millie vollführte eine Zwei-Punkte-Teleportation, indem sie eine ausziehbare Leiter aus dem rauminhaltsvergrößerten Geräteschrank im ersten Obergeschoß fort- und direkt zwischen Temmies baumstammstarke Hinterbeine hinzauberte. Julius apparierte danach vor das Haus. Temmie schnaubte kurz. Dann erklang ihre Gedankenstimme in seinem Kopf: "Ich konnte das Gerät nicht mitbringen, mit dem Barbara unsere Milch in große Aufbewahrer hineinfließen läßt. Wie viel möchtest du von mir haben?" Julius meinte, sein Kopf müßte dröhnen, so laut und deutlich klang Temmies Gedankenstimme in ihm. Ihr rustikaler Kuhgeruch umwehte ihn wie eine warme Brise. Er zeigte Temmie den Pokal und dachte ihr zu: "Er verbindet die, die Blut oder Milch dort hineingeben wollen mit denen, die daraus trinken dürfen. Ich bin durch mein Blut damit verbunden und ..."

"Ah, der silberne Verbinder. Meine Körpermutter hat mir davon erzählt. Sehr schön. Dann kannst du mich noch besser verstehen und mit mir direkt sprechen, ohne den Sprechsack um meinen Hals", erwiderte Temmie. Sie machte eine sanfte Bewegung mit dem Hinterteil, worauf ihr bereits wieder pralles Euter sachte wippte. Julius erkannte das Angebot an. Millie, die derweil durch die Tür das Haus verließ, trug einen gewaltigen Eimer mit beiden Händen. Julius stellte die Leiter so, daß er bequem zu Temmies Unterseite hinaufsteigen konnte. Er hielt den silbernen Pokal mit der linken Hand und vollführte mit dem Zauberstab die einstudierten Greif- und Zugzauber gegen die rechte, hintere Zitze. Diese wurde von unsichtbarer Kraft verformt. Laut platschend ergoß sich ein Schwall Milch in den Pokal und füllte ihn randvoll. Julius fühlte, wie sich das Material schlagartig erwärmte. Erst dachte er, es sei die körperwarme Milch. Doch dann vibrierte der Pokal. Julius hörte Temmies Stimme im Kopf: "Trink erst du davon und fülle ihn nach, damit deine Angetraute auch von mir trinken kann!"

"Sie darf den Pokal nicht halten", sagte Julius.

"Muß sie nicht. Du mußt ihn ihr hinhalten, damit sie trinken kann. Da ihr zwei euer Fleisch und Blut in einem Kind vereint habt darf auch sie die Kraft dieses Gefäßes benutzen, solange sie es nicht anfassen muß", erwiderte Temmie.

Julius steckte den Zauberstab fort und kletterte die Leiter hinunter. Dann hob er den Pokal mit der dampfenden Milch an die Lippen. Er hatte noch nie pure Latierre-Kuhmilch getrunken, noch dazu, wenn sie ganz frisch gemolken war. Er setzte den Pokal an und nippte. Dabei überkam ihn das Gefühl, flüssige Butter zu trinken. Ein gewisses Unwohlsein regte sich. Doch er trank nun forscher und schluckte. Warm rann es durch seine Speiseröhre. Mit dem ersten kräftigen Schluck fühlte er, wie der Pokal in seiner Hand pulsierte. Gleichzeitig erfüllte ihn der Drang, noch mehr zu trinken. Er setzte wieder an und nahm einen großen Schluck. Dann nahm er noch einen großen Schluck. Es war wie ein Rausch. Auf einmal meinte er, Temmies eigene Milch sei kein fetthaltiges Etwas, sondern leicht wie belebender Tee. Er schluckte weiter. Das Pulsieren des Pokals erfüllte nun auch seinen Bauchraum und jagte Ströme aus Wärme in ihn hinein. Er nahm den nächsten Schluck zu sich. Das pulsierende Gefühl verstärkte sich. Er meinte, ein äußeres großes Herz würde ihn mit Blut versorgen. Beim folgenden Schluck meinte er, in einem erhabenen großen Raum zu stehen und dieses große Herz schlagen zu hören. Der Rausch, der ihn gepackt hatte trieb ihn an, den halben Liter Milch innerhalb von einer minute in sich einzuflößen. Dann war der Pokal leer und erkaltete unvermittelt. Julius meinte, daß etwas von innen nach außen drängte und fühlte gleichzeitig, wie etwas von Temmie her nach ihm tastete, ihn umstrich und dann wie schwache Stromstöße durch Kopf und Körper hindurchging. Dann fühlte er einen Moment lang keinen Körper mehr, er schwebte scheinbar über der Wiese, direkt neben Temmie, die teils durchsichtig neben ihm herglitt. "Die Bindung ist da, Julius. Wir zwei sind nun ganz fest verbunden, ohne den Körper vom anderen nehmen zu müssen." Dann fand sich Julius wieder in seinem angeborenen Körper. Temmie schnaubte leise, und er meinte, jene Cellostimme mit den Ohren zu hören: "Hörst du, was ich sage?" Julius stutzte. Dann sah er Temmie an und antwortete:

"Ich kann dich jetzt so hören, Temmie." Er fühlte dabei, wie jedes seiner Worte wie die Taktschläge einer Baßtrommel in seinem Körper vibrierte. "Dann gib deiner Zugesprochenen auch was von mir zu trinken", sagte Temmie nun nicht mehr mit geistiger, sondern körperlicher Stimme.

"Monju, deine Stimme ist fast so tief geworrden, daß ich meine, du wärest zehn Meter groß geworden", bemerkte Mildrid Latierre. Julius erklärte ihr nun, was passiert war und ob sie auch von Temmies Milch aus dem Pokal trinken wolle. Sie überlegte. Dann nickte sie. So wiederholte Julius den Melkvorgang und hielt Millie den Pokal so, daß sie daraus trinken konnte. Er hoffte, nicht schon wieder was total abgedrehtes zu tun. Denn durch die Herzanhänger waren die beiden ja schon gut miteinander verbunden. Millie fühlte wohl dasselbe wie Julius. Denn sie verfiel in einen regelrechten Trinkrausch. Erst als Julius den Pokal bis zur Neige gekippt hatte, war Millie zufrieden. Wieder erkaltete der magische Behälter aus Aurélies Erbschaft. Millie keuchte kurz. Temmie sprach nun wieder mit ihrer körperlichen Stimme:

"Ihr könnt mich nun beide verstehen und ich fühle euch noch besser als vorher. Julius. So kann ich auch in deinen Gedanken noch besser zu dir sprechen und dich und deine Angetraute auch im Wachleben noch besser erreichen und euch zeigen, was jeder von euch gerade erlebt oder überstehen muß. Was an dem roten Felsen und der Burg Ailanorars nur mit großer Anstrengung ging geht jetzt ganz leicht."

Millie besah sich den Pokal. Nichts in oder an ihm wies darauf hin, was vorhin in ihn hineingefüllt worden war. Nicht ein Fleck Weiß, kein Geruch und auch keine Spuren von Speichel waren zu erkennen. Der Pokal blitzte förmlich im Sonnenlicht. Temmie sagte nun noch einmal mit für die beiden klar hörbarer Stimme: "Ich freue mich, daß Ammayamirias Seelenmutter euch und mir so gut geholfen hat. Ich gehe wieder zurück zu den anderen. Aber wenn ihr mich in Gedanken ruft bin ich bei euch. Wenn ihr nach mir ruft, dann komme ich. Aber ruft nur nach meinem Körper, wenn ihr ihn wirklich braucht. Denn noch braucht mein erster Sohn Orion meinen Schutz und meine Milch." Sprach's und verschwand mit einem kanonendonnerartigen Knall in leerer Luft.

"Huch, jetzt haben wir doch keinen Eimer vollgemacht", grinste Millie. Dann fielen ihr die tiefen Eindrücke im Gras auf. Julius folgte ihrem Blick und verstand. Mit einem Spurentilgezauber ließ er Temmies gewaltige Fußspuren verschwinden. Camille mußte ja nicht sehen, was hier passiert war. Julius teleportierte die Leiter zurück in den Geräteraum. Dann kehrte er mit seiner Frau ins Haus zurück.

"Ich habe echt gedacht, nachher tauschen Temmie und du eure Körper, Mamille. Deshalb wollte ich erst gar nicht zustimmen."

"Soll ich dir was sagen, Monju? Ich hab' auch erst gedacht, Temmie will auf die Weise aus ihrem in meinen Körper und ich soll weiter auf Tante Babs' Hof herumstehen und für Orion und wer sonst noch dran will die Zitzen hinhalten. Aber dann ist mir aufgegangen, daß Temmie mich deshalb mittrinken lassen wollte, weil das damals so wichtig war, daß sie mich mit dir zusammengebracht hat, als du mit diesem Windmacher getanzt hast oder damals, wo du in dieser Vogelmenschenburg warst", mentiloquierte Millie. Das ging auch ohne die Herzanhänger an die Stirn zu legen nun so leicht, als seien die Gehirne von ihr und Julius durch eine Leitung zusammengestöpselt worden. "Aber einmal habe ich mich neben ihr fliegen gefühlt. War ganz schön." Julius nickte seiner Frau zu. Dann fühlten beide, daß sie offenbar soviel im Bauch hatten, daß sie vorerst keinen Hunger fühlten.

Julius stellte den Pokal wieder zurück in den Schrank, den sie mit dem Blutschutzzauber belegt hatten. Er leistete seiner Frau in der Küche gesellschaft. Zum Mittag aßen sie beide nur Salat. Aurore hatte jedoch großen Hunger. So hatte Julius Zeit, in seinem Informationspilz die neusten E-Mails zu lesen und Nachrichten zu hören.

Er hörte, daß immer noch nach der eigentlichen Ursache für den Absturz einer Concorde kurz nach dem Start aus Paris gesucht wurde. Über hundert Menschen waren dabei umgekommen. Das war schon eine sehr tragische Sache, vor allem weil jetzt wieder alle die aus ihren Ritzen und Ecken kamen, die die Abschaffung des Überschallflugzeuges forderten, weil es sich nun auch als unsicher erwiesen haben sollte. Julius dachte an die beiden Luftschiffe, die zwischen hier und Viento del Sol hin und herpendelten. Die waren viermal schneller als die Concorde, verbrauchten dabei aber keinen Treibstoff und erzeugten auch keinen Überschallknall. Er fragte sich, ob die nichtmagischen Menschen eines Tages nicht doch was erfanden, was ohne schädliche Abgase und laute Geräusche zwischen den Kontinenten hin- und herfliegen würde, vielleicht noch nicht so schnell wie die beiden Zauberzeppeline, aber doch als brauchbare Alternative zur Concorde. Dann las er noch, daß seit zwei Wochen ein kurioses wie lästiges Computervirus durch das Internet geisterte, das vor allem die Rechner von Musikveranstaltern, Museen und Kataloganbietern befiel und nach den Zeichentrickfiguren Tom und Jerry TJ2000 genannt wurde. Julius ließ sofort eine Aktualisierung seines Schutzprogrammes gegen Computerviren laufen und startete eine vollständige Prüfung seiner Festplatte und seines Betriebssystems. Erleichtert stellte er fest, daß die Prüfung ohne Befund verlaufen war. TJ2000 hatte sich nicht auf seinem Rechner eingenistet. Er druckte den Bericht über das Virus aus und kopierte den Text in die Zwischenablage, um ihn an seine Mutter zu mailen. Dann kehrte er zu seiner Frau und seiner Tochter zurück, die beide selig in Millies Umstandssessel schlummerten. aurore hatte ihren Kopf an Millies rechte Brust gekuschelt. Als Julius so leise wie möglich aus der Wohnküche davonschleichen wollte hörte er Millies Stimme im Kopf: "Hat die mich glatt mit in den Schlaf genuckelt. Kannst ruhig bei mir bleiben, Monju." Julius mentiloquierte mühelos zurück, daß er sie nicht aufwecken wollte. So entspann sich eine rege und vollkommen anstrengungslose Gedankenunterhaltung, wobei Julius seiner Frau die Nachrichten aus der Muggelwelt vorlas.

"Wie fängt sich ein Computergerät denn so ein Virus ein, Monju?" wollte Millie noch wissen.

"Mit einem von draußen hereinkommenden Programm", schickte Julius zurück. Dann erläuterte er Millie, immer noch rein mentiloquistisch, was ein Computervirus war und wieso es für moderne Computer so unangenehm bis tödlich gefährlich werden konnte. Dann fragte er Millie, wieso das zwischen ihr und ihm jetzt so einfach ging.

"Liegt wohl daran, daß wir beide jetzt durch vier Sachen zusammen sind, Monju. Das Ritual von Oma Line, Die beiden Herzen, Aurore und jetzt Temmie." Julius nickte heftig. So und nicht anders mußte es sein.

Der mächtige Milchzauber forderte jedoch von den beiden einen gewissen Tribut. Sie waren am Abend schon um neun Uhr so müde, daß sie es gerade noch schafften, Aurore nachtfertig zu machen. Millie ließ sie noch einmal trinken. Dabei schlief Julius neben ihr ein.

In der Nacht träumte Julius, Millie und er säßen unbekleidet auf Temmies Rücken und flögen durch die Nacht. Unter ihnen tobte eine Schlacht, wie sie nur in den alten Legenden stattfinden konnte. gewaltige, mit im Licht stumpfbraun glänzender Haut bedeckte Riesen, größer als jene, die Millie und Julius schon gesehen hatten, droschen und stachen mit ihrer Größe angepaßten Hieb- und Stichwaffen aufeinander ein. Dabei sprühten gewaltige Blitze, wenn die Hämmer, Schwerter, Schilde und Lanzen aufeinandertrafen. Eine Waffe, von der Bauart her ein Morgenstern mit drei Ketten und metergroßen Kugeln, zog beim Schwung rote und blaue Funkenbahnen. wo die wuchtigen Kugeln auf ungeschütztes Material trafen, wurde dieses lautstark pulverisiert. Ein Riese hieb mit einem für ihn gerade unterarmlangen Hammer auf einen anderen Riesen ein, der mit einem seine halbe Körperbreite deckenden Rundschild parierte. In der anderen Hand hielt er ein aus sich heraus grün glimmendes Schwert. Der mit dem Hammer traf den Schild. Dabei sprühten blaue Blitze in alle Richtungen. Traf der Hammer das grüne Schwert, zuckten goldene Stichflammen in den Himmel empor oder schlugen goldene Feuerbälle in den Boden ein.

"Oh, habe ich euch zur großen Schlacht der Sharworakroin gebracht. Wollte ich nicht", erklang Temmies Cellostimme mit gewissem Unbehagen. "Ich wollte euch mal zeigen, wie meine Eltern ausgesehen haben. habe wohl zu sehr daran gedacht, daß ich noch vier Sharworakroin gesehen habe, als ich noch Darxandria war."

"Sharworakroin?" Fragte Julius. Doch in dem Moment fiel ihm die Übersetzung ein, als habe er die Sprache gelernt. "Des todes Turmleute." Millie sagte dazu: "Die Kerle da unten sind ja mindestens dreimal so groß wie Mademoiselle Maximes Tante Meglamora."

"Sind das die Urriesen, die später in den Sagen Titanen genannt wurden?" fragte Julius Temmie.

"Taijataonin wurden sie von ihren Erschaffern genant, die unbezwingbaren", erwiderte Temmie. "Sie wurden als Krieger der Feuer- und Erdmeister erschaffen, um gegen die Mitternächtigen zu kämpfen. Die haben aber das Geheimnis dieser Krieger an sich gebracht und ihre eigenen Krieger gezüchtet. Deshalb hießen sie in meiner Zeit als Darxandria nur noch die Sharworakroin. Außerdem haben sie sich gegen ihre Erschaffer gewandt und wollten ihr eigenes Land haben. Eigentlich sollten nur Männer erschaffen werden. Doch weil einer der Mitternächtigen das Blut einer Gwasiria, einer gerade dem Mutterkörper entschlüpften in den Trank der Taijataonin verrührte, um die Kraft der Unberührtheit in die Kraft der Unerschütterlichkeit zu geben, entstanden aus den zum Trinken gehaltenen Trägern der Kraft fünf Frauen, die Töchter Gwasharammayas, der dem Tod geborenen Jungfrau. Deshalb konnten sich die Sharworakroin eigenständig vermehren und wurden so zur großen Gefahr des fünften Zeitalters", erklärte Temmie. "Eigentlich wollte ich euch zu meinen Eltern bringen, um euch zu zeigen, wie sie aussahen, damit ihr mal wißt, wer mich auf diese Welt gerufen hat, daß ich jetzt als Temmie mit euch sein kann."

"Kannst du in deinen Träumen durch die Zeit reisen?" wollte Julius wissen.

"Das nicht. Aber wenn wir hier sind, dann wohl, weil ich als Temmie und Darxandria was mitbekommen habe, was ich im Wachleben nicht mitbekommen konnte. Denn die Sharworakroin sind in alle Länder gezogen, um sich dort ihr Land zu nehmen. Die Kinder der Töchter Gwasharammayas wollten die anderen von den Mitternächtigen gemachten ganz aus der Welt schlagen. Die den Erdmeistern entstammenden haben versucht, sie zu bekämpfen. Dann waren da noch die Altaxarroin, mein Volk, daß die aller Beherrschbarkeit entwachsenen bekämpft hat, lange vor den letzten Schlachten gegen die Mitternächtigen. Das war übrigens die letzte Zeit, wo die drei großen Ordnungen der Begüterten vereint gegen einen gemeinsamen Gegner ankämpfen mußten. Wer im Kampf fiel wurde begraben, mit seinen Waffen, die von den Sharworakroin aus Eisen, Orichalk und eigenem Blut geschmiedet worden waren und die Kräfte der Gestirne in sich bündeln konnten. Wo diese Totenhöhlen sind haben die Überlebenden nicht verraten. Doch es gelang meinem Volk, die in unserem Heimatland zu finden. Allerdings kam heraus, daß die Waffen der Toten ihr inneres Selbst in sich aufgenommen hatten und die ihnen zugehörigen Körper neu belebten, sobald ein begüterter Altaxarroi sie anfaßte. Dabei starb der Mensch, und der tote Sharworakroian oder die tote Sharworakroia stand als teilvergangenes Ungeheuer aus der Totenwelt wieder auf. Erst wenn ihm oder ihr die Waffe entwunden werden konnte, zerfiel ihr toter, ansonsten nicht mit der Kraft oder gewöhnlichen Waffen zu verletzender Leib zu Staub. Es kam heraus, daß dieser Staub des Vergangenseins Gift für lebende Sharworakroin war. Damit gelang es, bis auf einhundert von ihnen zu töten. Die Waffen wurden dann von unbegüterten Dienern auf großen, ohne die Kraft zu ziehenden Wagen ins Meer gebracht und versenkt und die Leiber der Toten verbrannt. Doch irgendwo auf dieser Welt muß es noch alte Gräber geben, in denen tote Sharworakroin mit ihren Waffen liegen. Die überlebenden Frauen erzwangen die körperliche Nähe mit gewöhnlichgroßen und brachten immer kleiner werdende Abkömmlinge hervor. Von denen leben wohl heute noch welche."

"Ja, und die Geschichte um diesen Superkampf der Überriesen wurde dann in allen möglichen Ländern erzählt", erwiderte Julius, der sich an die altgriechischen Göttersagen erinnerte, wo Zeus und seine Geschwister gegen ihre eigenen Eltern, Onkel und Tanten von den Titanen gekämpft hatten.

"Und die ganzen Gräber hat bisher keiner gefunden?" wollte Millie wissen. "Julius erzählte doch, daß die alten Meister in Khalakatan alles zu sehen bekommen würden, auch was ganz früh auf der Erde passiert ist."

"Sicher werden sie das wissen. Doch jene, die mit denen Verwandt sind, die diese Kriegerrasse erschaffen haben, werden es nur denen erzählen, die so denken und handeln wollen wie sie selbst", erwiderte Temmie. Julius nickte seiner Frau zu. Er wußte ja schon, daß nur solche Altmeister ihr Wissen weitergaben, mit denen der Fragende auch gesinnungsmäßig zusammenpaßte. Sonst hätte er ja schon wesentlich früher gewußt, wo die schlafenden Schlangenkrieger waren und vielleicht auch, wo sich das Versteck des zweiten Lotsensteins befand.

"Konnten die Waffen was besonderes, außer heftigen Schaden machen?" wollte Julius wissen.

"Das war die Sache dessen, der sie gemacht hat, ob sie außer viel zu zerschlagen noch was konnte", wußte Temmie. "Ich habe damals viel über die Übergroßen gelesen. Aber wie genau die Waffen gewirkt haben stand nirgendwo. Und die Altmeister wollten es mir nicht verraten, als ich sie selbst danach gefragt habe, um die letzten Gräber zu finden."

"Vielleicht ist irgendwo so'n Titanengrab aufgemacht worden, Temmie und Julius", vermutete Millie. Julius erwiderte darauf:

"Oder eine Waffenseele ist wachgekitzelt worden."

"Oha, dann läuft irgendwann irgendwo so ein altes Monstrum herum?" erschrak Millie.

"Nein, wenn in den letzten Hundertsonnen keiner mehr zu sehen war sind die alle mittlerweile Staub", beruhigte Temmie ihre Reiterin.

"Dann wären die Waffen dieser Ungetüme harmlos?" wollte Julius wissen.

"Nur, wenn sie nicht von einem Begüterten angefaßt werden. Ich weiß nicht, was dann passiert, wenn ein Begüterter sie anfaßt", erwiderte Temmie. Julius und Millie nickten. Dann sahen sie noch, wie einer der Taijataonin seine Lanze schleuderte, die eine lange, blaue Flammenspur ziehend, genau auf einen der mit einem Schwert kämpfenden Titanen zuraste. Der Angezielte schwang seine Waffe zur Parade. Laut und gleißend prallten die beiden Waffen aufeinander. Ein silberner Feuerball raste in den Himmel. Die Wurfwaffe war zerstört, aber auch das grüne Schwert. Jetzt wurden Julius und Millie Zeugen, was mit den Entwaffneten passierte. Sie schrien auf und schienen zu schmelzen. Dabei schrumpften sie wie Schneemänner im Backofen, bis sie nur noch so groß wie gewöhnliche Menschen waren. Als solche gingen sie in silbernen Flammen auf.

"Uiiii!" machte Julius, während Temmie reflexartig nach oben stieg und weit über dem Gemetzel weiterflog. Da erscholl der fordernde Schrei eines drei Monate alten Säuglings und entriß Millie und Julius dieser Traumwelt aus ferner Vorzeit. Temmie rief ihnen noch in Gedanken zu: "Bleibt wachsam, ob ein Grab gefunden wurde!!" Dann lagen die beiden Latierres in ihren Pyjamas wieder in ihrem großen Bett.

"Ich hör's, meine kleine. Ich bin heute mit wickeln dran", sagte Millie und schlüpfte aus dem Bett, um sich um ihre Tochter zu kümmern. Julius lag da und fragte sich, was Temmies Traumreise wieder einmal ankündigen mochte. Er hoffte, daß es diesmal wirklich nur bei einem Traum blieb. Doch die letzte Forderung Temmies klang noch in seinem Kopf nach. Wo waren die letzten Gräber der Überriesen? Warum waren sie bis heute nicht gefunden worden? Konnte es sein, daß die Titanen ihre Gräber mit Verhüllungszaubern umgeben konnten. Daß sie eine Menge Magie in ihre Waffen stecken konnten hatte Julius mitbekommen, sofern die geträumte Schlacht sich wirklich mal so oder so ähnlich ereignet hatte. Die Vorstellung, daß diese Überriesen durch ihr eigenes Blut mächtige Waffen schaffen konnten und mit diesen quasi körperlich verbunden blieben, über den Tod hinaus, gruselte schon ordentlich. Selbst wenn die ursprünglichen Titanen längst zu Staub zerfallen sein mochten. Hieß das auch, daß ihre Waffen verwittert waren? Was wenn nicht? Julius wußte es nicht, und Millie hatte gerade andere Sorgen.

Beim Frühstück sprachen sie kein Wort über den Traum. Auch in Gedanken teilten Sie sich nichts darüber mit. Julius wußte nur, daß er dieses Nachterlebnis in das Denkarium einfüllen mußte. Er holte das große Steinbecken aus dem Schrank und vollführte den entsprechenden Zauber, um eine starke Erinnerung aus seinem Kopf auszulagern. Hierbei wendete er die Methode an, seine Erinnerungen zu verdoppeln, um eine der beiden gleichen Erinnerungen abzusaugen, ohne zu vergessen, was er da auslagerte.

"Viel Vergnügen bei Tante Babs' Kollegen aus der Kleintierabteilung!" verabschiedete Millie ihren Mann um viertel vor zehn. Dieser bedankte sich und flohpulverte nach Paris ins Voyer des Zaubereiministeriums. Er klopfte auf die Aktenmappe, in der er seine ganzen Unterlagen hatte. Würde er heute die erste Abfuhr seines Lebens als ausgebildeter Zauberer erhalten? Oder würde Monsieur Lamarck ihn mit Kußhand für sein Büro vorschlagen. Julius wußte, daß er wohl bei einer Anstellung ganz unten in der Rangordnung anfangen mußte, quasi bei null. Doch wenn er wirklich was vielseitiges machen wollte, dann mußte er diese zeitweilige Rückstufung wohl in Kauf nehmen.

__________

Es war Arne Björnson nicht leichtgefallen, den amtierenden Polizeichef, obersten Richter und Naturparkaufseher der Svalbard-Inseln dazu zu bekommen, ihn per Hubschrauber nach Nordostland zu begleiten. Doch die Schilderungen des Beamten, der in der Höhle des Hammers Probleme mit seinen elektronischen Geräten hatte, überzeugten den Chef der Ordnungskräfte, sich zumindest mal die Sache anzusehen. Er hatte zu diesem Zweck auch einen Professor für Geophysik und einen Metallurgen aus Longyearbyen mitgenommen. So trug der Helikopter mit dem Piloten zusammen fünf Personen.

"Ihnen ist klar, daß das sehr teuer wird, wenn Sie mich verulken wollen", schnarrte der Sysselmann über die Kopfhörer der Integralhelme, die zur optimalen Sprechverbindung im laut dröhnenden Hubschrauber getragen wurden.

"Gehen Sie davon aus, daß weder Ihr Untergebener noch ich Sie verulken wollen", erwiderte Björnson ganz gelassen.

Die Polizeimaschine mit den norwegischen Hoheitszeichen steuerte in knapp zweihundert Metern Höhe über das graue Polarmeer. Im Sommer war in diesen Breiten noch kein Treibeis zu sehen. Die Rauchfahne eines Schiffes wehte steuerbord voraus. Womöglich ein russischer Frachter, der zu einem der Kohlereviere der Inselgruppe unterwegs war. Zwar lohnte sich der Abbau wegen der langen und teuren Transportwege nicht mehr wie vor zwanzig Jahren noch. Doch was die Inseln an Kohle bargen wurde noch ausgebeutet. Vielleicht stieß man hier noch auf Öl oder Erdgas. Dann würde der Sturm auf die Svalbard-Inseln noch einmal an Fahrt aufnehmen, dachte Björnson, der den ruckeligen Flug in der lauten Maschine locker wegsteckte. Er war selbst Helikopterpilot und kam daher besser mit dem Flug zurecht als seine Mitreisenden. Eine Windböe packte den Hubschrauber und schüttelte ihn kräftig durch. Dann war wieder Ruhe.

Als der Hubschrauber in der Nähe des Gletschers ankam, in dem sich die Höhle verbarg sank er schnell ab. Der Pilot kämpfte gegen die vom Berg abgleitenden Luftmassen an, um seine Maschine sicher zu Boden zu bringen. Als ihm dies gelang atmeten alle auf. Der Sysselmann nahm seine Aktentasche und schloß die blaue Daunenjacke. Er tauschte den Integralhelm mit einer daunengefütterten Lemmingfellmütze und folgte dem Archäologen, der bereits nach dem spaltartigen Zugang in den Gletscher Ausschau hielt. Dann ging es hinein in die gewaltige Höhle. Der Riesenhammer lag noch da. Sofort gingen Dr. Fredrickson, der Geophysiker und Dr. Harden, der Metallurge, daran, den gewaltigen, ja gigantischen Hammer zu untersuchen. Allerdings spielten sämtliche elektronischen Meßgeräte verrückt. Und auch die Taschenlampen blieben dunkel. Björnson zündete zwei zurückgelassene Laternen an. Das Leuchtgas mochte noch drei Stunden reichen.

"Und, habe ich zu viel versprochen?" wollte Björnson wissen. Der Sysselmann bestaunte das gewaltige Werkzeug. Er ließ seine Experten mit Magneten, Meßgeräten und anderen mitgebrachten Sachen hantieren. Alles elektronische versagte jedoch in einem Umkreis von zehn bis zwanzig Metern seinen Dienst.

"Das kann es nicht geben", grummelte Dr. Fredrickson. "In einem Abstand von mehr als zwanzig Metern kann ich alle Instrumente ablesen. Kaum habe ich zwanzig Meter unterschritten, fällt alles aus. Dabei ist hier kein elektrisches oder magnetisches Störfeld anzumessen. So klar abgegrenzt wirkende Kraftfelder gibt es nicht."

"Das Metall ist mir auch unbekannt", grummelte Harden. Dann holte er aus seiner großen Metallkiste eine Sauerstoff- und eine Wasserstoffflasche hervor und schloß an diesen eine Vorrichtung an, die wie eine Düse mit Griffen aussah. "Wollen doch mal sehen, ob ich damit nicht ein Tröpfchen von dem Metall herauslösen kann", sagte Harden. Dann platzierte er einen Tiegel aus einer besonderen Keramik in die Nähe des Hammerkopfes. Dann richtete er seinen Brenner so ein, daß die Düse nur fünf Zentimeter vom fremden Metall entfernt war, regulierte die Gasmischung und zündete den Brenner. Mit einem lauten Knall schlug eine kaum sichtbare, blaue Flamme auf den Riesenhammer über. Harden regelte die Ausströmgeschwindigkeit höher ein. Die Flamme wurde stärker. Nach einer Minute hörte er mit der Bearbeitung auf. Sein erstaunen war groß, als er feststellte, daß es keine Veränderung an dem Metall des Riesenhammers gegeben hatte. Er prüfte behutsam, ob dort überhaupt Wärme entstanden war. Doch der Riesenhammer war so kalt wie vorher auch. Nichts zeigte an, wo die heiße Wasserstoff-Sauerstoff-Flamme aufgetroffen war.

"Das ist ein exzellenter Wärmeleiter. Der hat die zugeführte Hitze so schnell durch das ganze Artefakt geleitet, daß ich durch meine reinen Menschensinne keinen Temperaturunterschied erkennen kann."

"Ich kann mit der Wärmebildkamera prüfen, ob es einen Temperaturanstieg gibt", sagte Fredrickson. Er baute schnell das entsprechende Gerät und den Monitor auf. Dann setzte Harden noch einmal den Brenner an. Eine Minute lang traf die Flamme aus verbrennendem Sauerstoff und Wasserstoff auf die Metalloberfläche. Dann setzte Harden den Brenner wieder ab. "Kein Temperaturanstieg. Die von Ihnen behandelte Stelle hat sich auch um kein Zehntelgrad erwärmt. Dieses Material absorbiert Wärmeenergie wie ein Schwamm das Wasser. Laut Thermodynamik müßte dafür eine andere Art Energie frei werden."

"Was Sie nicht sagen", knurrte Harden und prüfte nun, wie säurefest das fremde Material war. Selbst mit Königswasser und Flußsäure gelang es nicht, Löcher in die Oberfläche zu brennen. Die Säuren tropften wie Regen herunter und brannten sich in den Boden. Doch der Riesenhammer blieb völlig unversehrt.

"Wir müssen den Hammer aus diesem Kraftfeld herausschaffen", schnarrte Fredrickson. In seinen Augen stand ein Leuchten, das nicht zu bestimmen war. War es Neugier oder gar Habgier. Harden wirkte ebenfalls so, als stünde er kurz vor einer gewaltigen Sensation. Die beiden Naturwissenschaftler sprachen nun auf den Sysselmann ein, während Björnson sich Gedanken um das wahre Alter des Hammers und dessen Herkunft machte. Am Ende war dieses Ding da wirklich nicht von dieser Welt, die Hinterlassenschaft einer außerirdischen Zivilisation. Ihm spukten in diesem Zusammenhang die alten Geschichten von Atlantis und dem legendären Nordreich Hyperborea durch den Kopf. Konnte es sein, daß es wahrhaftig vor vielen Jahrtausenden, lange vor Ägyptern und Sumärern, Besucher von anderen sternen gegeben hatte? So recht daran glauben wollte er nicht. Dafür war er zu sehr auf Fakten und plausible Erkenntnisse versessen. Jedenfalls durfte der Hammer nicht an die Öffentlichkeit, bevor seine Herkunft, Beschaffenheit und Funktion nicht weit genug geklärt waren, um den sogenannten Präastronautikanhängern und Esoterikern keine Munition für wilde Spekulationen zu liefern. Für das sogenannte Schatztrio Clifford Braxton, Myron und Judith McKartney wäre das hier der Fund des noch jungen Jahrtausends gewesen. Doch die drei waren bei ihrer letzten spektakulär angekündigten Expedition in der karibischen See versunken. Explosion im Maschinenraum hatte das Untersuchungsergebnis gelautet. Stand nun er, Professor Doktor Arne Björnson, vor einer die Welt verändernden Entdeckung? Er hatte den Hammer gefunden und wollte ihn auch als erster genauer untersuchen. Der Physiker und der Metallurge hingegen sahen ihm so aus, als wollten sie das mysteriöse Artefakt gleich in tausend Stücke zerlegen und damit reich werden. Denn ein Metall, daß Wärme einfach schluckte und gegen die aggressivsten Säuren immun war brachte gerade beim Militär, aber auch in der chemischen Industrie eine Menge Geld ein, wenn es gelang, die Zusammensetzung zu ermitteln und das Material künstlich herzustellen. Ähnliche Überlegungen stellte wohl auch der oberste Amtmann von Svalbard an. Er sagte sehr angeregt zu, das Artefakt aus der Höhle zu transportieren. "Das bleibt aber alles geheim, bis klar ist, woher das Ding stammt und woraus es gemacht ist", fügte er hinzu. Die drei Wissenschaftler nickten unverzüglich. Björnson stellte jedoch klar, daß der Hammer zunächst vermessen und in allen sichtbaren Einzelheiten dokumentiert werden müsse, bevor größere Zerstörungsaktionen an ihm vorgenommen wurden. Der Sysselmann schien zu überlegen, ob er nicht doch besser gleich auf die Verwertung des Metalls ausgehen sollte. Doch um die Sache voranzubringen willigte er in Björnsons Erstauswertungsanspruch ein. Dann wurde geplant, wie das Monsterwerkzeug aus der Höhle hinausgeschafft werden sollte, da ja alles elektrische den Dienst versagte. Blieben also nur Hebel und Seilzüge, um das überlebensgroße Werkzeug zu bewegen. Es sollte dann auf einem durch Sondergenehmigung auf die Insel gebrachten Halbkettentransporter verladen und zum Hafen gebracht werden. Von Spitzbergen aus sollte der Hammer dann nach Oslo geschafft werden, wo das königliche archäologische Institut lag, für das Björnson arbeitete.

__________

Julius kannte den Tierwesenexperten Lamarck noch von der Sache mit Rita Kimmkorn bei der Quidditchweltmeisterschaft. War das echt schon wieder ein Jahr her? Lamarck machte einen ordentlichen Eindruck. Sein schwarzes Haar war gescheitelt, und sein dunkelvioletter Umhang war ganz knitterfrei. Die dunkelbraunen Schuhe glänzten im von draußen hereinfallenden Tageslicht. Julius Latierre stellte sich neben den Besucherstuhl hin, bereit, sich darauf zu setzen, wenn er die Erlaubnis erhielt. So hatte er es von seinem Vater gelernt, wenn er bei wichtigen Leuten vorsprechen wollte. Nach nur zwanzig Sekunden kam die Einladung: "Sie dürfen Sich gerne hinsetzen, Monsieur Latierre." Julius nahm Platz und versuchte, möglichst entspannt, aber aufmerksam zu bleiben.

"Sie sind so pünktlich erschinen, daß ich nicht mal Gelegenheit bekam, mir eine Tasse Kaffee einzuschütten", begann Lamarck. Julius verkniff es sich gerade so, einen Widerspruch einzulegen, daß er eben zur Pünktlichkeit erzogen worden war, als der Tierwesenexperte fortfuhr: "Die meisten, die ich im Auftrag meines obersten Chefs zum Vorstellungsgespräch hatte hielten es für legitim, fünf bis fünfzehn Minuten zwischen Termin und Eintreffen verstreichen zu lassen. Dabei waren wir allesamt doch auch in Beauxbatons. Auf jeden Fall freue ich mich, Sie heute begrüßen zu dürfen. Haben Sie sich gut vom UTZ-Stress erholt?""

"Ja, sehr gut. Da wo ich wohne ist es schön ruhig, und wenn es zu ruhig wird freue ich mich, daß ich eine Familie habe."

"Daher wohl auch der Enthusiasmus, möglichst bald ins Erwerbsleben einzutreten, vermute ich mal", erwiederte Lamarck freundlich lächelnd. "Als ich so jung wie Sie war wußte ich nicht so sicher, was ich mal machen wollte. Das war mir damals auch egal, weil ich mir erst mal die Welt ansehen wollte. Aber das haben Sie ja zum Teil schon als Schüler, wenn ich den mir zugetragenen Schilderungen trauen darf. Sie waren bereits in Großbritannien, wo sie ja aufwuchsen, haben den australischen Kontinent besucht und bereits auch die US-amerikanische Westküste beehrt, richtig?" Julius bestätigte das. "Dann kommen wir gleich zu unserem eigentlichen Thema. Warum möchten Sie in der Abteilung für magische Tierwesen arbeiten?" Julius war verblüfft, daß Lamarck kein Wort über die UTZs verlor oder die beigefügten Zusatzzertifikate las, die er bei Madame Rossignol, sowie Professeur Fourmier und Professeur Delamontagne erhalten hatte. Er überlegte jedoch nicht lange und erwähnte, daß er sich seit seiner Einschulung in Hogwarts damit beschäftigt hatte, was es alles für echte Zaubertiere gab, wo er früher nur geglaubt hatte, daß diese Tiere nur in Märchenbüchern vorkämen. Er ließ aus, daß er bereits einen Kniesel und eine Latierre-Kuh zur Verfügung hatte. Wenn er gefragt würde, würde er schon antworten.

"Also haben Sie die Tier- und die Zauberwesen gleichermaßen interessiert. Sehe ich es dann richtig, daß Sie auch noch mit meinem Kollegen aus der Abteilung eigenständiger und sprachbegabter Zauberwesen sprechen möchten, bevor Sie eine endgültige Entscheidung treffen?" Julius nickte. Warum sollte er nicht ehrlich sein. Nur eine Bewerbung auf eine Stelle zu schreiben wäre Unsinn gewesen.

"Nun, ich hatte mit sechs Jahren einen Knuddelmuff. Haben Sie sich schon gefragt, welches von den kleineren Zaubertieren Sie vielleicht in Millemerveilles halten möchten?" kam Lamarck mit der Frage heraus, auf die Julius gewartet hatte. Dieser dachte erst, daß es dem Beamten doch klar war, daß Millie Sternenstaub alias Dusty und er Goldschweif als magische Haustiere bekommen hatten, und womöglich hatte Lamarcks Vorgesetzte Barbara Latierre auch schon erwähnt, daß eine ihrer geflügelten Riesenkühe offiziell in den Besitz der jungen Eheleute Latierre übergegangen war. Doch er tat so, als ginge er davon aus, daß Lamarck das eben noch nicht wußte und erwiderte:

"Seitdem mir in der dritten Klasse die Knieselin Goldschweif XXVI andauernd hinterhergelaufen ist und sich quasi zu meiner Begleiterin außerhalb der Schulstunden gemacht hat, habe ich ein Zaubertier. Denn die damalige Schuldirektrice Madame Maxime hat auf Grund dieses unumkehrbaren Verhaltens bestimmt, daß ich Goldschweif nach meiner Schulzeit bei mir wohnen lassen darf, sofern ich nicht in einer reinen Nachbarschaft aus Nichtmagiern wohne. Da ich in Millemerveilles untergekommen bin darf Goldschweif seit dem Schuljahresende ganz offiziell bei mir wohnen. Meine Frau hat seit einer Reise in die vereinigten Staaten mit offizieller Genehmigung Ihrer Behörde einen Kniselkater namens Stardust, den wir nur Dusty nennen. Soweit ich weiß ist dieser Kater bei Ihnen auch schon wegen erfolgreicher Begattungsaktionen aktenkundig."

"Ich habe die Akten selbst angelegt und bearbeitet", erwiderte Lamarck. Julius erwähnte dann noch, daß seine Frau und er zu seinem fünfzehnten Geburtstag die damals noch jungfräuliche latierre-Kuh Artemis vom grünen Rain geschenkt bekommen hätten, die aber weiterhin auf dem Latierre-Hof in Pflege gehalten werde. Darauf wurde er von Monsieur Lamarck gefragt, wieviel Madame Barbara Latierre für die Pflege und Futtermittel bekäme. Julius hätte sich fast verschluckt. Was sollte die Frage denn? Dann sagte er:

"Madame Latierre, Barbara hat mich darum gebeten, von der nach erfolgreichen Kalbens gebildeten Milch etwas abzubekommen und meine Frau und mich gebeten, für die Unterbringung von Artemis' Kindern sorgen zu dürfen, wodurch sie zumindest noch über die Nachzucht mitbestimmen darf. Daher entfallen die üblichen Pflegekosten. Abgesehen davon verbucht Madame Latierre, Barbara, die Pflegschaft für Artemis unter dem Begriff Familienangelegenheiten."

"Was ist das Ihrer Meinung nach gefährlichste Zaubertier überhaupt?" wollte Lamarck wissen und blickte auf die Flotte-schreibe-Feder, die dieses Gespräch Buchstabe für Buchstabe mitschrieb.

"Von den Tierwesen denke ich, daß die grauen Riesenvögel die gefährlichsten sind, noch vor dem Basilisken. Begründung: Sie können sehr schnell fliegen, haben eine noch zerstörerische Speiwaffe als Drachen und haben die Schlangenkrieger aus der Vorzeit getötet, die ich von einer Ausnahme abgesehen für die gefährlichsten Zauberwesen der Welt halte."

"Welche Ausnahme?" kam die zu erwartende Frage. Julius ließ keine Sekunde auf die Antwort warten.

"Die Töchter des Abgrundes, auch als Succubi bezeichnet, sind für mich die gefährlichsten Zauberwesen mit eigenem Bewußtsein überhaupt."

"Haben Sie mit einem dieser beiden von Ihnen erwähnten Zauberwesen bereits unliebsamen Kontakt?" Julius fragte sich jetzt doch, was diese überflüssige Frage sollte. Das pfiffen doch sämtliche Spatzen von allen Dächern, was er mit Hallitti erlebt hatte. Dann dämmerte ihm, daß er diese Frage ja nur für das Protokoll zu beantworten hatte, daß wer immer für seine Anstellung zuständig sein würde, einen nicht aus zweiter oder dritter Hand stammenden Bericht verwenden mußte. So beantwortete er die Frage mit "Leider ja" und schilderte kurz die für die Öffentlichkeit freigegebenen Einzelheiten des Zusammentreffens mit Hallitti und seine üble Erfahrung mit den Schlangenkriegern und die Folgen. Die Feder schrieb alles auf. Dann sagte Lamarck:

"Von Ihren Fächern und UTZs her drängt es sich förmlich auf, Sie in unsere Abteilung zu übernehmen. Allerdings möchte ich Ihnen die Gelegenheit bieten, weitere Berufsmöglichkeiten zu prüfen. Es ehrt uns jedenfalls, daß Sie zuerst mit uns gesprochen haben." Julius berichtigte Monsieur Lamarck, daß er sich bereits mit Madame Eauvive von der Delourdesklinik persönlich unterhalten habe, da diese von Madame Rossignol erfahren hatte, daß da ein vielversprechender Nachwuchsheiler in Aussicht stehen könnte. Lamarck fragte Julius dann, ob das Angebot Madame Eauvives nicht auch sehr ansprechend wäre. Julius erwähnte, daß er was arbeiten wolle, wo er abends noch zu seiner Familie hin konnte.

"Das hat mich in den Innendienst getrieben, junger Mann", seufzte Monsieur Lamarck. "Als meine Frau vor fünf Jahren verkündete, unser erstes Kind zu erwarten hat sie und ihre Verwandtschaft darum gebeten, daß ich eine etwas weniger gefahrenträchtige Betätigung suche."

"Oh, darf ich fragen, was Sie vor fünf Jahren gemacht haben?" zeigte Julius seine Neugier.

"Sie dürfen. Ich war einer der Hüter im Drachenreservat, daß Sie besucht haben. War sehr einträglich, vor allem durch die Gefahrenzulage. Aber das Gold war für meine Frau kein Grund, auf mich als lebenden Familienvater zu verzichten. Mittlerweile durften wir unser drittes Kind im Leben begrüßen. Insofern hoffe ich mal, daß falls Sie bei uns anzufangen wünschen, meine werte Vorgesetzte nicht befindet, sie in die Nogschwanzschadensersatzabteilung zu schicken, wo Sie die durch parasitierende Nogschwänze entstandenen Verluste an Borstenvieh muggeltauglich auszugleichen haben. Der Kollege, der dort gerade sitzt liebäugelt mit einer Versetzung in das Hauselfenzuteilungsamt, weil er keinen Sinn mehr darin sieht, in überfüllten Schweineställen mit geldgierigen Muggelbauern zu verhandeln, ohne die wahre Ursache für das Massensterben von jungen Ferkeln verraten zu dürfen. Insofern bedenken Sie bitte sorgfältig, welche anderen Möglichkeiten Ihnen bleiben! Nicht daß ich Sie nicht gleich morgen bei uns anstellen würde. Doch zum einen obliegt die Einstellung neuer Mitarbeiter meiner direkten Vorgesetzten, Madame Barbara Latierre, zum anderen könnte ihr und mein Vorgesetzter Monsieur Vendredi, den Sie sicher bei den Runden zwei und drei des trimagischen Turnieres gesehen haben werden, befinden, ob Sie nicht gleich in die Zauberwesenabteilung eintreten können. Da sie das Freizeitseminar intelligente Zauberwesen besucht haben könnte er einen gut vorgebildeten jungen Mitarbeiter ebenfalls gut gebrauchen. Aber wenn Sie sagen, daß Sie sich eh auch dort nach einer Anstellungsmöglichkeit erkundigen möchten ..."

"Ich habe zumindest einen Termin mit Ihrem Kollegen oder Ihrer Kollegin O. Ventvit", sagte Julius.

"Ah, Ornelle, also eine Kollegin. Sie kennt sich gut mit humanoiden Zauberwesen über der Jardinane-Line aus, also alles, was größer als Kobolde und Zwerge ist. Dann wünsche ich Ihnen ein vielversprechendes Gespräch! Ich werde Ihre Anfrage weitergeben und den Vorbehalt einfügen, daß Sie bis zum Ende der Schulferienzeit noch in Beratungen sind, welchen Berufsweg Sie einschlagen möchten. Findet das Ihre Zustimmung?" Julius bejahte es. Dann unterschrieb er zum einen ein Schriftstück, daß er zur erbetenen Zeit zum Vorstellungsgespräch erschienen sei und das Gesprächsprotokoll, daß die dort aufgeführten Erwähnungen von ihm so und nicht anders von ihm geäußert worden seien. Als er das getan hatte bedankte und verabschiedete er sich von Lamarck. Dieser gab ihm noch mit, seine Frau zu grüßen und gut auf die beiden Kniesel aufzupassen, damit die französische Knieselzucht weiterhin hervorragende Exemplare verbuchen dürfe.

Auf dem Weg zum Büro für den Leiter der Katastrophenumkehrtruppe begegnete ihm ein kleinwüchsiges Wesen mit langem Bart in einer dunkelroten, fleckigen Lederkleidung. Julius erkannte die kohleschwarzen, kleinen Augen und die leicht abstehenden Ohren des Wesens wieder. Auch der Zwerg hatte wohl erkannt, wem er da gerade über den Weg lief. Wie vor eine Glaswand geprallt blieb er stehen und funkelte Julius von unten her verdrossen an.

"Dich kenne ich doch. Du bist damals mit dabei gewesen, als diese Kobolddienertochter meinte, mich dumm hinstellen zu können und hast mich gefragt, ob ich meine Frau liebe." Julius hörte die Stimme und wußte nun endgültig, daß er sich nicht irrte.

"Wenn Sie Koldorin heißen stimmt das alles", sagte Julius.

"Hast du dich verlaufen oder suchst du dir ein Weib aus, daß dich rumkommandieren darf?"

"Zum einen, werter Monsieur Koldorin, bin ich seit einem Monat kein kleiner Schuljunge mehr. Zweitens geht Sie nicht an, warum ich gerade hier bin. Drittens brauche ich mir keine Frau auszusuchen, ob sie meint, mich herumkommandieren zu wollen oder so übermäßig unterwürfig ist wie die Gebärweibchen, die Sie in Ihren Höhlen halten. Oha, nicht wütend werden!" schnarrte Julius und spannte alle Muskeln an. Er wußte zwar, daß der Zwerg mindestens fünfmal so stark war wie ein gewöhnlicher Mensch. Aber sich von ihm einschüchtern lassen wollte er garantiert auch nicht.

"Unsere Frauen erhalten unser Volk. Sie sind damit glücklich", schnarrte Koldorin und ballte die Fäuste.

"Bis auf Lutetia Arno, die war nicht glücklich", landete Julius einen verbalen Tiefschlag.

"Diese Frau hat nie existiert", schrillte Koldorin und erzitterte. "Diese Frau gibt es nicht."

"Neh, is' klar!" erwiderte Julius. Der Zwerg senkte den Kopf und rannte los. Julius hüpfte ebenso locker zur Seite, das der nun laut brüllende Zwerg knapp einen halben Meter an ihm vorbeistürmte und mit dem zum Unterlaufen gesenkten Kopf voll durch die nächste Tür rammte. Die Holzstücke flogen wie morscher Lattenzaun durch die Gegend, während der Zwerg im hinter der Tür liegenden Büro verschwand und, dem lauten Rumsen nach zu urteilen, noch etwas traf. Julius mußte erst schadenfroh grinsen. Doch dann dämmerte ihn, mit welcher Wucht der Zwerg ihm fast den Kopf in den Unterleib gerannt hätte. Ein wimmernder Ton erklang. Offenbar war ein Alarm ausgelöst worden. Da flog eine weitere Tür auf, und Barbara Latierre schoß aus einem Büro hervor. Sie packte Julius so schnell am Arm, daß diesem keine Zeit blieb, sich darüber klarzuwerden. Ehe er es sich versah, hatte ihn seine Schwiegertante in ihr Büro gezogen und die Tür mit einem Zauberstabwink zufallen und verriegeln lassen.

"Mußte das sein, Julius?" zischte sie ihm zu, bevor sie auf einen freien Stuhl zeigte. "Bleib bitte solange bei mir, bis das mit diesem Krawallbart geklärt wurde. Oder hat der gesehen, wo du jetzt bist?" Julius schüttelte den Kopf. "Gut, dann bleibst du für die nächsten zehn Minuten bei mir!" bestimmte sie. "Ich habe gerade keinen Termin wahrzunehmen."

"Ähm, aber ich, in fünf Minuten bei deinem Kollegen Monsieur Lesfeux von der Truppe zur Behebung magischer Unglücksfälle. Der Gnom lief mir auf dem Weg zu euren Aufzügen in den Weg."

"Weil er wohl gerade bei meinem Kollegen aus dem Zwergenverbindungsbüro fertig war. Hörte sowas, daß es um denWechselkurs von Zwergen- und Zauberergold gehen soll. Aber da dies nicht mein unmittelbares Arbeitsfeld berührt habe ich mich da nicht näher mit beschäftigt. Aber daß du ihm nach dieser Sitzung den verbotenen Namen Lutetia Arno in die Ohren flüstern mußtest, Julius ..."

"Der hat mich provoziert. Ich habe gelernt, daß Zwerge keine Duckmäuser mögen. Als solcher wollte ich nicht bei dem rüberkommen."

"Ich habe es gehört. Wenn jemand vor meiner Tür herumsteht höre ich jedes Wort durch das Ding hier laut genug, als wäre er oder sie bei mir im Büro", sagte Barbara und deutete auf ein überdimensionales, besonders spitz zulaufendes Kuhhorn an der Wand. "Das ist von Erebos, dem ersten Stier, den meine Großmutter gezüchtet hat. Als er es im Kampf um eine stierige Fährse verloren hat hat mein Großvater einen Flurhorcher daraus gebaut, der auf das Holz der Tür geprägt werden kann, die näher als zehn Meter an ihm liegt. Mein Büro ist ein Dauerklangkerker. Aber was draußen passiert kann zu mir übertragen werden."

"Bei wem ist der Zwerg jetzt reingekracht?" wollte Julius wissen, während aus dem offenen Ende des hohlen Hornes aufgeregte Stimmen klangen, von denen die des Zwerges am lautesten war.

"Das war Kollegin Ventvits Büro. Die ist für alles zuständig, was größer als Zwerge ist, also Meermenschen, Veelas, Sabberhexen und Riesen. Nur für Vampire und Werwölfe gibt es noch eigene Büros."

"Und für Zentauren", warf Julius ein.

"Möchtest du da anfangen?" fragte Barbara Latierre verdrossen. Julius schüttelte den Kopf. "Wäre auch sehr peinlich gewesen, dich mit deinen UTZs dort anfangen zu lassen, wo andere aufhören. Wie lief es mit Lamarck?" Julius erzählte es seiner Schwiegertante. Dabei schenkte sie ihm und sich noch eine Tasse Kaffee ein und ließ einen großen Teller frischer Croissants auf ihrem Schreibtisch erscheinen. Währenddessen hörten sie über das bezauberte Latierre-Stierhorn mit, wie der Zwerg sich lautstark beschwerte und eine Hexe sehr unerbittlich darauf antwortete, was den Zwerg angewidert schnauben ließ. "Niemand, der hier arbeitet, würde Sie bewußt wütend machen. Aber Sie müssen sich auch beherrschen, nicht gleich mit dem Kopf durch die Wand zu krachen, Koldorin."

"Bartloser Kaltschoß", knurrte der Zwerg darauf.

"Oha, ich glaube, das war jetzt das falsche Wort von dem", grinste Julius. Die Hexe stieß erzürnt aus: "Was haben Sie da gerade zu mir gesagt, werter Monsieur Koldorin? Ich hoffe sehr, daß ich mich verhört habe."

"So, was hast du denn gehört", schnarrte der Zwerg. Die Hexe wiederholte das, was Koldorin gesagt hatte. "Dann hast du richtig gehört. Dich will doch kein Mann auffüllen, damit du was richtiges machst und ..." Ein lauter Schrei und ein schrilles Pfeifen ließen Barbara und Julius die Hände an die Ohren legen.

"Monsieur Koldorin wünscht, so schnell es geht das Ministerium zu verlassen", klang die Stimme der Hexe. Ein Zauberer lachte und sagte: "Ich werde dem etwas angespannten Herren behilflich sein."

"Wo ist dieser bartlose Halunke, der mich beleidigt hat. Ich will ihm alles aus dem schlabberigen Wanst rausreißen!!" schrillte der Zwerg, während weitere Pfeiftöne klangen. Offenbar wurde der Zwerg mit dem Sirennitus-Zauber bearbeitet, dem einzigen Zauber außer dem Todesfluch, gegen den seine dicke Zwergenhaut ihn nicht schützte.

"Oha, die gute Ornelle so zu beleidigen hat meinen Kollegen gerade neue Arbeit bereitet. Könnte sein, daß mein Kollege vom Zwergenverbindungsbüro demnächst viel mehr Freizeit hat als ihm lieb ist", grinste Barbara Latierre. Julius nickte nur. Offenbar war die Hexe im Bezug auf ihre Fruchtbarkeit ebenso empfindlich wie der Zwerg im Bezug auf seine Ehre. Doch das sollte ihn, Julius, nicht weiter stören. Der Zwerg wurde aus dem Ministerium geführt. Mehr mußte Julius im Moment nicht wissen.

"So, dein nächster Termin, Julius", wies Barbara Latierre ihren Schwiegerneffen auf sein nächstes Vorstellungsgespräch hin. Julius bedankte sich für den Unterschlupf und den Kaffee. Dann verließ er das Büro seiner Schwiegertante. Als er durch den Flur ging sah er, dass die von Koldorin eingerannte Tür nahtlos repariert worden war. Dann peilte er die Gittertür eines freien nach aufwärts fahrenden Aufzuges an und wartete, bis die Gitter zur Seite glitten. Julius hätte fast einen Schritt zurück gemacht als er sah, wer aus der Fahrstuhlkabine kam. Auch wenn es jetzt schon bald drei Jahre her waren erkannten er und Monsieur Pivert sich auf Anhieb wieder. Als der für kurze Zeit in Beauxbatons als Tierwesenlehrer eingestellte Zaubertierforscher Julius erkannte, flammte Verärgerung in seinem Gesicht auf. Doch Julius blieb ruhig. Grußlos ging Pivert an Julius vorbei und steuerte das Büro von Barbara Latierre an. Julius schlüpfte in die Fahrstuhlkabine. Die Gittertür glitt zu. Es ging weiter nach oben, richtung Abteilung für Strafverfolgung und magische Unfallbearbeitung. Unterwegs stieg Louisette Richelieu aus der Personenverkehrsabteilung zu. Sie lächelte Julius an und grüßte ihn freundlich. Sie fragte, ob er gerade eine Tour durch alle Abteilungen mache, um sich seinen künftigen Arbeitsplatz auszusuchen. Julius erwiderte lächelnd, daß er zunächst nur zwei Termine habe, von denen der erste schon abgehandelt sei.

"Schon daran gedacht, bei uns im Apparierüberwachungsamt anzufangen, Monsieur Latierre?" wollte Mademoiselle Richelieu wissen.

"Soweit ich weiß sind dort gerade alle Posten besetzt", erwiderte Julius. Beinahe hätte er sie gefragt, ob sie ihren Job aufgeben wolle, damit er ihn übernehmen könne. Doch das wagte er bei aller Ungehemmtheit doch nicht.

"Na ja, kundige Nachwuchsmitarbeiter sind immer willkommen, vor allem bei Außendiensteinsetzen zur Bearbeitung von Verstößen gegen die Apparitionsbestimmungen. Aber ich bin garantiert nicht die erste, die dir einen guten Posten anbieten möchte." Julius nickte zustimmend. Dann glitt die Tür wieder auf. Die magische Frauenstimme teilte mit, daß sie in der Abteilung für magische Gesetze und Behebung magischer Unglücksfälle angekommen waren. Julius nickte seiner Mitfahrerin zu und winkte, bevor er den Fahrstuhl verließ. Da sah er Laurentine, die im eleganten, grasgrünen Umhang um die Ecke kam und hastig auf die Fahrstuhltür zuhielt. Julius winkte ihr kurz, bevor sie in der Kabine verschwand. Die Türgitter glitten zu, und die Kabine setzte ihre Fahrt nach oben fort.

Julius blickte kurz auf den Bürobelegungsplan gegenüber den Fahrstuhltüren und merkte sich den Weg zum Büro von Monsieur Lesfeux. Einmal durch den Flur, dann links abbiegen, dann die dritte Tür rechts. Julius beeilte sich, durch den mit dickem Teppich ausgelegten Flur zu kommen, denn seine Uhr mahnte ihn, dass er nur noch eine halbe Minute bis zum angekündigten Termin hatte. Sicher nahmen es viele Franzosen mit genauen Zeiten nicht so ernst. Doch erstens war Julius immer noch auf englische Pünktlichkeit getrimmt. Zweitens hatte er genau wie alle anderen in diesem Gebäude in Beauxbatons gelernt, sich an ausgehandelte Zeiten zu halten. Er erreichte die Tür mit dem Schild "M. Granatus Lesfeux, Leiter der Truppe zur Umkehr verunglückter Zauberei" gerade in dem Moment, als Madame Grandchapeau, die Ministergattin und Leiterin des Büros für die friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie das Büro verließ. Sie wirkte ungehalten. Doch als sie Julius erkannte flog ein kurzes Lächeln über ihr Gesicht. Sie winkte und ließ Julius an die Tür. Er klopfte artig und wartete, bis die wechselnde Schrift unter dem Namenszug "Bitte eintreten" zeigte. Julius öffnete die Tür und betrat das Büro.

Monsieur Lesfeux wirkte mit seinem spindeldünnen, kurz geratenen Körper und der schwarzen Bürstenfrisur eher wie ein Halbkobold oder Schneiderlein aus dem Märchenbuch. Er trug einen rubinroten Umhang mit goldenen Halbmonden an Saum und Schultern. Auf seiner bleistiftspitzen Nase ritt eine silberne Brille mit hauchdünnen Bügeln. Er trug keinen Bart. Die Büroeinrichtung verriet Julius, daß Lesfeux Wert auf Ordnung und Gründlichkeit legte. Der Schreibtisch wies keinen Tintenfleck auf. Pergamente lagen ordentlich gerollt in einer silbernen Rolle. Drei Adlerfedern staken in einem elfenbeinfarbenen Federhalter. An den Wänden hingen Zaubergemälde, die ein sacht anbrandendes Meer, ruhig dahinschwebende Wolken und einen lichten Wald ohne Tiere zeigte. Lesfeux begutachtete Julius durch seine Brille. Die silbergrauen Augen des Zauberers wirkten sehr durchdringend, als wolle er seinen Besucher bis auf die Knochen blicken. Julius blieb nach dem Eintreten in der Nähe eines der drei braunen Besucherstühle stehen. Er wartete. Lesfeux schloß seine erste Begutachtung ab und deutete auf den Julius am nächsten stehenden Stuhl. "Nehmen Sie bitte Platz, Monsieur Latierre. Ich bedanke mich, daß Sie genau zur vereinbarten Zeit erscheinen", sprach Lesfeux. Seine Stimme wirkte kratzig, als ringe der Zauberer gerade mit einer schweren Erkältung oder habe in seinem Leben schon tausend Zigaretten geraucht. Julius spürte sofort die Unerbittlichkeit, die von diesem Ministeriumsbeamten ausstrahlte. Er machte eine Dankesgeste und setzte sich hin. Lesfeux glitt in den schwarzen Bürosessel auf der anderen Seite des Schreibtisches. Eine Schublade glitt von selbst auf und gab einen dicken Notizblock und eine giftgrüne Feder frei. Lesfeux steckte sich die Spitze der Feder kurz in den Mund und stellte sie dann an der oberen linken ecke der gerade beschreibbaren Pergamentseite auf. "Elf Uhr am vierten August zweitausend, Beginn des Vorstellungsgespräches mit Monsieur Julius Latierre zur Auslotung seiner Verwendbarkeit in der Truppe zur Behebung magischer Unglücksfälle", diktierte Lesfeux mit seiner rauhen Stimme. Die Feder schrieb von selbst mit. Dann begrüßte er Julius offiziell.

Das Gespräch verlief in einer wortkargen Atmosphäre. Lesfeux legte keinen Wert auf unnötige Ausschmückungen. Julius erwähnte, daß er wegen der bestandenen UTZs gerne bei der Truppe zur Behebung magischer Unglücksfälle mitarbeiten wolle. Daraufhin verlangte Lesfeux die Prüfungsergebnisse, das letzte Zeugnis aus Beauxbatons und die ZAG-Noten. Er las sich alles durch. Dann krächzte er: "Liest sich wunderbar und kontinuierlich überragend, Monsieur. Aber ohne zertifizierte Bestätigung, daß Sie auch in Muggelstudien ausgebildet wurden sehe ich für Sie in meiner Truppe keine Verwendung." Das war kurz und unmißverständlich fand Julius. Andererseits wollte er wissen, warum er nicht mitmachen dürfe. Er erwähnte, daß seine Eltern selbst in der magielosen Welt aufgewachsen seien und wollte auch ansetzen, daß er trotz der Zaubereiausbildung immer noch Kontakt zur Muggelwelt halte, als Lesfeux ein harsches "Interessiert mich nicht, welche Naturtalente Sie haben, Monsieur Latierre" ausstieß.

"Ich hörte von meinen muggelstämmigen Klassenkameraden, daß die Schulausbildung nur einen Teil dessen behandeln kann, was jemand aus einer magielosen Familie lernen und erleben kann", beharrte Julius darauf, doch noch wichtig zu sein.

"Was ja eindeutig von den Lebensumständen der Betreffenden abhängt, ob das für uns wichtig ist oder nicht, Monsieur. Ich bin verantwortlich, daß meine Leute denselben Bildungsstand vorweisen, um in der Gruppe einheitlich miteinander arbeiten zu können. Leute, die meinen, nur weil sie durch Zufall schon gewisse Lebenserfahrungen sammeln konnten neigen zur Selbstüberschätzung und stören das Gruppengefüge."

"Ähm, mit anderen Worten, Sie legen Keinen Wert auf neue Erfahrungen, die jemand in Ihre Truppe einbringen kann", grummelte Julius. Er war gewarnt worden, daß er derartig abserviert werden würde. Doch es dann selbst zu erleben war doch noch eine Stufe härter.

"Unnachprüfbare Erfahrungen, die dazu verleiten können, das jemand sich und die Umgebung unrichtig einschätzt und demzufolge fehlerhaft handelt. Da die von mir geleitete Truppe jedoch keine unnötigen Fehler machen darf, da jeder Fehler Zeit oder Menschenleben kostet, unterbinde ich derartige Selbstüberschätzungen lieber, bevor sie auftreten können. Ich frage mich ernsthaft, warum Sie überhaupt bei mir vorsprechen, wo es ministeriumsweit bekannt ist, welche akademischen Anforderungen ich an meine Mitarbeiter stelle. Legten Sie es darauf an, Ihre und vor allem meine Zeit unnötig zu belasten?"

"Ich legte es darauf an, daß jemand, dessen Beruf es ist, magische Unglücksfälle zu beheben, mit einem, der sich problemlos und unvoreingenommen in der magielosen Welt bewegen kann besser zurechtkommt. Ich wollte mir nicht nachsagen lassen, mein - wie nannten Sie es? - Naturtalent ungenutzt zu lassen. Ihre Kollegin Madame Grandchapeau ist in dieser Hinsicht wesentlich interessierter." Julius hatte bewußt provokant gesprochen, weil ihn diese unvermittelt von oben herab wirkende Art des zauberers da vor ihm mißfiel.

"haben Sie eben nicht zugehört? Ich erwähnte unmißverständlich, daß ich in meiner Truppe niemanden beschäftigen werde, der durch unüberprüfbare Eigenerfahrungen unnötige Diskussionen oder Aktionen anregt und damit Zeit vergeudet oder Menschenleben gefährdet. Was Madame Grandchapeau aus rein sentimentalen Gründen tut betrifft mich nicht, da sie nur bedingt mit meiner Truppe zu tun hat und ich nur dem Minister selbst weisungsgebunden bin. Erkennen Sie an, daß ich mit Ihren zugegeben überragenden Prüfungsergebnissen nichts anfangen kann, wenn Sie aus lauter Überheblichkeit, auf Grund ihrer Abkunft keinen Unterricht in Muggelstudien nötig gehabt zu haben, auf diesen Unterricht verzichteten und damit nicht im Einklang mit dem Bildungsstand meiner Mitarbeiter stehen."

"Entschuldigung, Sie unterstellen mir Überheblichkeit. Interessant, das hat mir bis heute keiner vorgeworfen", erwiderte Julius unvermittelt ernst klingend. "Kann Sein, daß Sie nur das glauben, was irgendwer aufgeschrieben hat, Monsieur aber ..."

"Sie vertun meine Zeit mit dieser unnötigen Diskussion. Außerdem beweisen Sie sich und mir gerade, daß meine Vorbehalte berechtigt sind. Sie haben die für meine Truppe wichtigen Grundanforderungen verfehlt. Finden Sie sich gefälligst damit ab! Ich gewähre Ihnen die Gunst, den Raum gesittet zu verlassen."

"Was ist das World wide Web?" feuerte Julius eine Frage ab, von der er wußte, daß dieser Zauberer sie wohl nicht beantworten konnte.

"Was sicher in England wichtiges aus der Muggelwelt, daß für meine Aufgaben wohl nicht von belang ist. Zwanzig Sekunden, Monsieur Latierre!" erwiderte Lesfeux und deutete auf die Ausgangstür. Julius' Stuhl erzitterte wie ein unruhiges Pferd, das nicht sicher ist, ob es gleich losrennen oder mit den Beinen ausschlagen soll.

"Dann wünsche ich Ihrer Truppe viel Erfolg bei der muggeltauglichen Behebung um die Welt gehender Zaubereibeweise. Danke für die paar Minuten Zeit, die sie mir gegönnt haben", sagte Julius und stand auf. Lesfeux starrte ihn wütend an. Julius war sich sicher, daß der spindeldünne kleine Mann wohl darüber nachdachte, ob er dem vorwitzigen Besucher einen Zauberfluch überbraten sollte. Julius prüfte schnell die verbleibenden Sekunden und stieß noch aus: "Falls Sie mal was mit dem sogenannten Internet zu tun kriegen, wenden Sie sich an Madame Belle Grandchapeau und Madame Martha Eauvive, die haben Ahnung davon. Noch einen schönen Tag!" Sprach's und eilte zur Tür. Lesfeux ließ seine rechte, knochige Hand in den Umhang gleiten. Doch da hatte Julius bereits die Türklinke gedrückt und die Bürotür aufgestoßen. Trotz seiner Größe von 1,93 Metern wischte Julius so behände durch die Türöffnung, daß Lesfeux nicht recht mit seinem Zauberstab zielen konnte. Hinter Julius schlug die Tür wieder zu.

"man hat mich gewarnt", grummelte Julius auf dem Weg zum Aufzug. Dann mußte er grinsen. Das World wide Web war also nur etwas für die englischen Muggel wichtiges. Mit der Einstellung würde die Zaubereigeheimhaltung das Jahr 2001 wohl kaum überleben, dachte Julius weiter. Er fragte sich, ob er nicht auch im Muggelkontaktbüro anfangen könnte, wo seine Mutter ja ab nächstes Jahr eher in den Staaten leben würde. Doch dann fiel ihm ein, daß er keine Lust auf einen Routineposten hatte, auch wenn das Erbe Altaxarrois ihn weiterhin verfolgen würde. Er fuhr mit dem Fahrstuhl wieder hinunter. Als er auf der Höhe der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe war sah er eine grauhaarige, hagere Hexe im fliederfarbenen Umhang. Diese wirkte erleichtert, Julius zu sehen und winkte ihm zu, den Fahrstuhl zu verlassen. Als sie sprach erkannte er ihre Stimme als die der Hexe, die Koldorin beleidigt hatte. "Schön, ich habe gehofft, daß sie nicht zu lange bei diesem Pergamentanbeter bleiben dürfen, Monsieur Latierre. Ich bin Ornelle Ventvit, Leiterin des Büros für eigenständige, humanoide Zauberwesen. Ich weiß, daß wir erst in den nächsten Tagen einen Termin haben. Aber da ich gerade wegen eines unrühmlichen Zwischenfalls eine Aufforderung zu einer Konferenz meiner Abteilung erhielt und im Moment zehn Minuten Zeit zur Verfügung habe wollte ich Sie fragen, ob wir beiden den vereinbarten Termin nicht auf jetzt vorziehen können." Julius bewunderte die Direktheit und Kurzentschlossenheit der Hexe. Er hatte ja noch Zeit. So sagte er:

"Gern, Madame Ventvit. Dann kann ich die ursprünglich vereinbarte Zeit anders nutzen."

"Mademoiselle Ventvit, Monsieur Latierre", berichtigte die Hexe den frisch von Beauxbatons abgegangenen Arbeitssuchenden.

"Entschuldigung, Mademoiselle, das konnte ich nicht wissen", sagte Julius.

"Das ich keinen Trauring wie Sie trage ist ja gut zu erkennen. Andererseits kenne ich auch verwitwete Hexen, die ihren Ehering nicht mehr tragen mögen und daher auch leicht als ledige Hexen eingestuft werden können. Aber wir sollten die uns zur Verfügung stehende Zeit in meinem Büro ausnutzen und nicht auf den Fluren", würrgte sich die grauhaarige Hexe selbst ab. Dann führte sie Julius zu jener Tür, die Koldorinmit seinem Kopf durchbrochen hatte. Julius konnte sehen, daß der Reparo-Zauber die zertrümmerte Tür tadellos wiederhergestellt hatte.

"Ich hoffe mal, Sie haben den Zwerg nicht geworfen. Dann müßte ich wohl einen Personenschützer herbitten", scherzte die Hexe, als sie sah, daß Julius ihre Tür musterte. Mildrids Ehemann schüttelte sofort den Kopf. "Na ja, Koldorin wollte sicher nicht bei mir vorsprechen", erwiderte die Büroinhaberin und stupste das Türschloß mit ihrem knorrigen Zauberstab an. Julius folgte ihr in ein geräumiges Arbeitszimmer, das mit Bildern und Nachbildungen von menschenähnlichen Zauberwesen erfüllt war. Anders als Lesfeux hielt Mademoiselle Ventvit wohl nicht viel von übersichtlicher Büroausstattung. Pergamente lagen kreuz und quer auf dem Schreibtisch herum. Verschiedene Schreibfedern lehnten oder lagen auf und an Nachbildungen von Meermenschen, Veelas und jenen Wesen, die Julius als galizische Meigas bei der Quidditchweltmeisterschaft und später im Zauberwesenseminar kennengelernt hatte. Rote, gelbe und weiße Kerzen standen auf den Fensterbänken und Ablagen herum, und an den Wänden tummelten sich Meermenschen, Sabberhexen und Einhörner in Zauberbildern. Dann sah Julius noch ein breites Poster einer Quidditchmannschaft. Die rot-goldenen Umhänge mit dem das Maul weit aufreißenden Löwenköpfen auf Brust- und Rückenteil verrieten ihm, daß es sich um die Lyon Löwen handelte. Er erkannte in einer jungen, dunkelhaarigen Treiberin jene Hexe wieder, der dieses Büro gehörte. Julius erkannte erst, daß er wohl zehn Sekunden auf das Mannschaftsbild gestarrt hatte, als die Büroinhaberin belustigt sagte: "Hätte mich auch gewundert, wenn Sie sich nicht an diesem Bild festgucken, Monsieur Latierre. Immerhin haben Sie ja selbst Quidditch gespielt und bei unserer grandiosen Weltmeisterschaft wichtige Arbeit geleisstet. Fangen Sie sich einen Stuhl ein und kriegen Sie ihn dazu, mir gegenüber stehenzubleiben!" Julius mußte erst grinsen. Doch als er sah, daß die vier Besucherstühle mit den je vier Storchenbeinen sich nicht anfassen lassen wollten und wieselflink auswichen erkannte er, was sie meinte. "Ähm, soll das so sein?" fragte er, während er einen der Stühle gegen eines der Regale zu drängen versuchte.

"Das frage ich meinen seligen Vorgänger auch immer wieder abends, wenn ich in meiner bescheidenen Heimstatt bin", lachte die Hexe. Julius versuchte, den gerade in die Enge gedrängten Stuhl zu packen, als ihm ein zweiter Stuhl mit dem rechten Vorderbein das rechte Bein wegzusicheln versuchte. Julius, der in Kampfsport und Tanzen eine gute Balance und Wendigkeit erworben hatte, glich die judoartige Sichelbewegung locker aus und warf sich über den gegen das Regal gedrängten Stuhl. Er schaffte es, das quirlige Sitzmöbel an der zitternden Lehne zu packen und hochzureißen. Sofort erstarrte der Stuhl. Die drei anderen Sitzmöbel huschten wie aufgeschreckte Hühner in alle Richtungen des Raumes davon. Julius trug den gerade gänzlich unbeweglich wirkenden Stuhl an den Schreibtisch und pflanzte ihn dem braunen Sessel gegenüber auf den Boden. Er sah noch, wie Mademoiselle Ventvit die Sitzfläche des Sessels streichelte, bis dieser seine Rückenlehne in eine angenehme Sitzposition zurückklappte. Die Hexe setzte sich. Julius warf sich schnell auf den bezauberten Stuhl, der noch einen Moment bebte, als wolle er seinen Besetzer gleich wie ein wildes Pferd abwerfen. Doch dann blieb der Stuhl ganz ruhig stehen.

"Die Leute sagen, mein Vorgänger habe absichtlich die Möbel verzaubert, daß sie nur dann besetzt werden, wenn jemand sie hochheben kann oder sie lange genug streichelt, so wie das bei diesem verrückten Monsterbuch aus England der Fall ist, das Sie womöglich kennen. Aber wir wollten ja über Ihre beruflichen Aussichten im Büro für intelligente Zauberwesen sprechen. Moment, ich mach gerade eine Feder mitschreibbar." Nachdem sie wie Lesfeux auch eine Flotte-Schreibe-Feder einsatzbereit gemacht hatte, begrüßte sie Julius offiziell und befragte ihn, was er im Zauberwesenbüro tun wollte, wenn die Grundlagen stimmten. Julius spulte seine Begründungsliste ab, daß er durch den Umgang mit verschiedenen Zauberwesen und die Schulfächer gelernt hatte, daß diese Wesen sehr wichtig seien und er mithelfen wolle, entweder mit diesen Wesen gut auskommen zu können oder sie davon abzuhalten, Menschen zu gefährden. Auf die Frage, mit welchen intelligenten Zauberwesen er unmittelbar zu tun gehabt hatte erwähnte er alle, die ihm über den Weg gelaufen waren, von Remus Lupin, dem Werwolf, über die verschiedenen Hauselfen, die grüne Waldfrau Aubartia, die Abgrundstochter Halliti, die Veela Léto und ihre Kinder und Kindeskinder, sowie die verschiedenen Zauberwesen aus dem Seminar, darunter die Vampireheleute Sangazon, die Huldren und die Meiga, bishin zu Mademoiselle Maximes Tante mütterlicherseits. Er merkte wohl, daß Mademoiselle Ventvit bei der Erwähnung von Aubartia, Halliti und der Meiga sichtlich aufhorchte.

"Welche unausgefochtene Fehde unterhalten oder unterhielten Sie mit dem Zwerg Koldorin?" wollte Mademoiselle Ventvit wissen und blickte Julius mit ihren himbeerfarbenen Augen eindringlich an. Julius erwähnte die Situation in Beauxbatons, wo er Koldorin vor seinen Kameraden vorgehalten hatte, sein Volk benehme sich unterwürfig wie das von Ameisen. Darauf mußte die Hexe hinter dem Schreibtisch lachen.

"Natürlich, und weil Ameisen in einem natürlichen Matriarchiat leben, in dem die Männchen nur zur Nachwuchssicherung dienen mußte sich Koldorin beleidigt fühlen. War das Ihre Absicht, diesen kleinen Herren zu beleidigen?"

"Zumindest wollte ich ihm nicht durchgehen lassen, daß er mich für unfähig hält, meine eigenen Ansichten zu äußern", rechtfertigte Julius sein damaliges Vorgehen.

"Womit Sie bei weitem nicht der erste sind, der daraus eine stille Gegnerschaft mit einem Zwerg entfacht hat. Nun, mein Vorgänger hätte Ihnen auf dieser Grundlage wohl geraten, sich nicht auf eine Stelle zu bewerben, bei der Sie mit Zwergen zu tun bekommen könnten, Monsieur Latierre. Aber ich wäre vom wilden Wichtel gebissen, Sie deshalb so harsch abzuweisen wie mein Kollege Lesfeux es wohl getan hat, weil Sie seine selbstgesteckten Grundanforderungen nicht erfüllt haben. Im Gegensatz zu ihm schätze ich Naturtalente und eigene Erfahrungswerte, auch wenn sie nicht durch ein beschriebenes Stück Pergament beurkundet werden. Abgesehen davon könnte ich das Interview, daß Sie nach Ihrer unangenehmen Begegnung mit jener Abgrundstochter gaben, als schriftlich fixierte Erfahrungsgrundlage werten, da Sie durch die unfreiwillig gewonnenen Erfahrungen mithelfen können, diese Wesen besser zu kontrollieren, sofern dies überhaupt möglich sein soll. Daß die Eheleute Sangazon im Zuge der Nocturnia-Krise umkamen wissen Sie sicherlich schon, da Professeur Delamontagne dies sicher erwähnt haben dürfte." Julius nickte. Er hatte es sogar im Traum miterlebt, wie die beiden Vampire gegen Professeur Tourrecandide gekämpft hatten. "Wie schätzen Sie die grüne Waldfrau Aubartia ein?"

"Nun, ich kenne nur das, was ich im Unterricht über grüne Waldfrauen gelernt und im Zauberwesenseminar mitbekommen habe", setzte Julius an. "Demnach ist Aubartia wohl sehr selbstbeherrscht und hat gelernt, mit Menschen gut auszukommen. Sie hat mir und Madame Faucon geholfen, daß ich meine Mutter sehen konnte, ohne von den magielosen Krankenpflegern wahrgenommen zu werden. Das muß ich ihr hoch anrechnen. Allerdings hat mich beunruhigt, daß sie gerne von einem Muggelweltgeborenen eine Tochter haben wollte und ich ihr da sicher gelegen gekommen wäre."

"Darin unterscheidet sie sich nicht von den anderen grünen Waldfrauen. Leider kenne ich sie nicht persönlich. ich wsoll demnächst nur eine Anfrage meines amerikanischen Kollegen beantworten, ob ich bereit bin, mich mit ihr und ihrem derzeitigen Schützling, Monsieur Hercules Moulin, in ihrem Wald zu treffen. Ein gewisser Grizwald Paddington hat dieses Treffen angeregt. Aber kommen wir zu den Meigas, inwieweit würden Sie sich zutrauen, mit diesen Wesen zu kommunizieren?" Julius überlegte und wandte ein, daß er dazu erst einmal Spanisch lernen müsse, auch wenn die Meiga, die im Zauberwesenseminar vorbeigeschaut hatte, mit den Schülern auch so hatte sprechen können.

"Es wäre wohl eher Galiego, was Sie erlernen müßten, was sich vom als Spanisch bezeichneten Castellano unterscheidet", korrigierte Mademoiselle Ventvit Julius. Er nickte. Sowas ähnliches hatte ihm Millie auch schon gesagt. Dann erwiderte er, daß er kein Problem damit hätte, mit einer Meiga zusammenzuarbeiten, solange diese nicht meinte, ihm aus einer aussichtslosen Lage heraushelfen zu müssen. Auf die unvermeidbare Frage, warum ihn das sorge, erwähnte er, was er über die Gegenleistungen für Hilfeleistungen von Meigas gehört und gelesen habe.

"Ja, diese Sorge teile ich, daß ich mein eigen Fleisch und Blut in die Obhut einer mir doch sehr unvertrauten Ziehmutter übergeben müßte. Mit Veelas kommen Sie soweit klar?" wollte sie noch wissen. Julius gestand ein, daß er sich sehr stark beherrschen müsse, der starken Ausstrahlung einer Veela nicht zu verfallen. "Das ist bisher keinem Zauberer länger als zwei Minuten gelungen, dem magischen Liebreiz einer Veela zu widerstehen. Wen eine Veela betören will, den betört sie. Zumindest gilt dies für reinrassige Veelas." Julius atmete auf. Zwar hatten Fleur Weasley geborene Delacour, ihre Mutter und ihre jüngere Schwester nie versucht, ihn herumzukriegen. Doch die Vorstellung, daß sie ihn vielleicht zu den größten Dummheiten hätten treiben können, es aber wohl wegen ihrer Teilmenschlichkeit nicht ganz schaffen mochten, beruhigte ihn sichtlich.

Das Gespräch drehte sich dann noch um Meerleute, Huldren und Riesen. Dann wurde er gefragt, wie er sich mit seinem Knieselweibchen Goldschweif verstehe und ob es stimme, daß er von ihrer Kollegin Barbara Latierre eine junge Latierre-Kuh zum Geschenk erhalten habe. "Dann dürften Sie, sofern Sie bei uns oder eingesessenen Zaubererweltunternehmen keine bessere Anstellung finden können, bei uns sicher sehr gut unterkommen, wobei ich da auch für den Kollegen Lamarck sprechen kann. Ich behalte mir jedoch vor, Sie bei meinem Vorgesetzten als neuer Mitarbeiter im Büro für Zauberwesen ins Gespräch zu bringen. Ist das Ihnen recht?" Julius bejahte das unverzüglich. Dann wurde er noch gefragt, warum er nicht zu den magischen Heilern gehen wolle, wo diese die überragenden UTZ-Noten sicher auch sehr hoch einschätzten. Er erwähnte das, was er auch Madame Eauvive gegenüber erwähnt hatte. Mademoiselle Ventvit schien mit dieser Erklärung zufrieden zu sein. Dann blickte sie auf ihre Uhr und seufzte: "Leider schon zwölf Minuten um. Ich werde mich wohl verspäten. Aber die beiden Zusatzminuten waren es allemal wert. Falls Sie sich weiterhin für eine Anstellung in unserer Abteilung interessieren, halten Sie sich zur Verfügung!" Julius bestätigte das und bedankte sich bei Mademoiselle Ventvit für das vorgezogene Vorstellungsgespräch. Dann verließ er das Büro und fuhr mit dem Fahrstuhl in das Foyer des Ministeriums zurück, von wo aus er ungehindert disapparieren konnte.

__________

Professor Björnson freute sich. Er hatte die Sondergenehmigung für den Abtransport des Riesenhammers in Händen. Der Sysselmann von Svalbard hatte keinen Tag gebraucht, die nötigen Formalitäten zu bearbeiten. jetzt ging es nur darum, daß ein ausreichend großer Halbkettentransporter nach Nordostland gebracht wurde. Björnsons Arbeitgeber hatte zwar erst einen Aufstand gemacht, weil die Frachtkosten und die Transportgebühren jedes bisherige Arbeitskonto sprengten. Doch als Björnson mit seinem gleichrangigen Kollegen, der als Museumsdirektor über das zu investierende Geld zu wachen hatte, ein längeres Telefongespräch geführt hatte, war alles klar. Das monströse Werkzeug, das Björnson als Thors Hammer bezeichnete, konnte abtransportiert werden. Allerdings wußte Björnson auch, daß die beiden anderen Wissenschaftler allzu wild danach waren, das Material, aus dem der Hammer bestand, zu untersuchen und wenn möglich nachzubilden, um damit hundertmal mehr Geld zu machen, als der Transport dieses Ungetüms kosten würde. Geld machte Freunde und Feinde, hatte Björnson gelernt. Als Archäologe war er immer wieder auf Spuren gewaltsamer Auseinandersetzungen gestoßen, wo es um Gold, Kupfer oder strategische Verkehrswege gegangen war, an denen man gut Zoll kassieren konnte. Er hatte sich schon oft mit dänischen Kollegen darüber unterhalten, daß die Vormachtstellung des dänischen Königreiches überwiegend der Meerenge zwischen Nord- und Ostsee zu verdanken war, wo die Schiffe reicher Kauffahrer wie die der von ihren Raubzügen heimkehrenden Wikinger immer wider einen Teil ihrer Ladung als Zoll abtreten mußten. Jetzt hatte er etwas gefunden, von dem er selbst nicht wußte, welche Auswirkungen es auf seine eigene Geschichte wie die der ganzen Menschheit haben mochte.

"Professor Björnson, wir kriegen einen Raupenschlepper", frohlockte Gunnar Haraldson am siebten August. "Der Sysselmann hat die Genehmigung erweitert. Allerdings legt er wert darauf, daß die königliche Akademie ausführlich davon erfährt, daß er uns bei der Bergung des Hammers geholfen hat."

"Will sagen, er möchte in jedem Buch, das darüber geschrieben wird, erwähnt werden", grummelte Björnson. Andererseits war dies das kleinere Übel, wenn er an den MetallurgenHarden und seine vor Faszination und Gier leuchtenden Augen dachte. Er tat sicherlich gut daran, den Hammer zu Staatseigentum des norwegischen Königreiches erklären zu lassen und vorerst jede Privatnutzung untersagen zu lassen, wenn er wollte, daß das metallene Monsterwerkzeug länger als einen Monat in einem Stück blieb. Doch erst einmal mußte es aus diesem merkwürdigen antielektrischen Kraftfeld herausgeholt werden. Sollte sich dabei erweisen, daß die Zusammensetzung des Hammers selbst diese Störquelle darstellte, dann mochte der Transport an sich ein Problem werden. Doch selbst mit seinen laienhaften Materialkenntnissen konnte er sich nicht vorstellen, daß es ein Metall geben sollte, daß jedes elektrische Gerät im Umkreis von zwanzig Metern unbrauchbar machte. Doch daran wollte er nicht denken. Ihm war wichtig, daß dieser Riesenhammer aus der Höhle geschafft wurde, bevor doch noch etwas davon an die Presse durchsickerte. Dabei fiel ihm ein, daß er noch einmal mit seinem englischen Kollegen Stuard sprechen wollte, ob dieser nicht vor dem Abtransport nach Spitzbergen fliegen wollte und von da aus mit einem Fährschiff nach Nordostland übersetzte. Am zehnten sollte der Transport losgehen. Bis dahin konnte Stuard locker bei ihm im hohen Norden sein. Denn er würde gerne die Runen entziffern, die ihm wie keltische Schriftzeichen vorgekommen waren. Oder war es in Wirklichkeit eine ganz andere, noch viel ältere Schrift? Das mußte er unbedingt vorher klären. Am Ende stand auf dem Hammer, wie das ihn umgebende Kraftfeld abgebaut werden konnte, um den Transport zu erleichtern.

Hier oben am Polarkreis ging die Sonne im Sommer nicht so ganz unter. Die Nächte wurden nicht richtig dunkel. Doch das konnte nicht verbergen, daß in wenigen Monaten die lange, eiskalte Polarnacht eintreten würde. Bis dahin mußte der Hammer auf das Festland gebracht werden.

Gegen neun Uhr Abends, was in London erst acht Uhr war, wählte Björnson auf seinem Satellitentelefon die Nummer von Professor Jonathan Stuard.

"Hallo, Jonathan! Ist das Katz-und-Maus-Spiel vorbei?" fragte Björnson.

"Hör auf, Arne! Wir mußten sämtliche Rechner vom Netzwerk abkoppeln und einzeln entseuchen. Dabei sind uns mindestens drei Gigabyte an Videodaten verlorengegangen, weil die alle durch Tom-und-Jerry-Trickfilme überspielt wurden. Im Moment sind wir weder internet- noch verwaltungsfähig", hörte Björnson die Stimme seines Kollegen aus dem Hörerteil des Telefons.

"Nun, vielleicht möchtest du dich von dem Streß ablenken und mal kühle Nordlandluft schnuppern", setzte Björnson an.

"Ach, Mjölnir?" wollte Stuard wissen. Björnson nickte, bevor ihm klar wurde, daß sein Gesprächspartner das nicht mitbekommen konnte. So bejahte er es laut und deutlich. Dann fragte er Stuard, ob er sich die gemailten Fotos angesehen habe.

"Ja, höchst interessant. Aber so recht glauben kann ich das nur, wenn du mir diesen Hammer auf den Tisch legst, Arne. Die Schriftzeichen sind präkeltisch, also sowas wie die ersten Gehversuche der Jungsteinzeitleute. Außerdem habe ich Buchstaben gesehen, die für diese Epoche zu gut ausgearbeitet wirken. Das sind keine Hieroglyphen oder andere Schriftzeichen, Arne. Entweder verzapfen du und deine Freunde da gerade den größten Bluff des angehenden Jahrhunderts, oder dieser Riesenhammer wurde von einer Zivilisation angefertigt, von der es auf der Erde keine weiteren Spuren mehr gibt."

"Tja, die Marsmenschen oder die Bewohner von Atlantis vielleicht, Jonathan?" fragte Björnson bewußt herausfordernd.

"Du weißt von unserer letzten großen Zusammenkunft, daß ich dem Atlantis-Mythos höchst ablehnend gegenüberstehe. Die scheinbaren Gemeinsamkeiten angeblich nie miteinander in Berührung gekommener Völker wurden doch längst als seltene aber doch zu beachtende Unternehmungen der Ägypter und Phönizier entlarvt, womit der Atlantis-Mythos so gut wie erledigt ist."

"Bis jemand diesen Riesenhammer analysiert und nachweist, daß er älter ist als euer Stonehenge und das Pharaonenreich zusammen, Jonathan. Insofern sollte es dich schon interessieren, dir den Megahammer mit eigenen Augen anzusehen."

"Du meinst, bevor mir jemand Ignoranz und bewußte Unbildung unterstellen wird? Ich komme. Wann soll dein Fund geborgen werden?" Arne Björnson gab das Datum durch. "Nicht mehr viel Zeit zum Packen. "Ich nehme die nächste Maschine nach Oslo und komme von da mit dem Tagesflug nach Longyearbyen. Kannst du mich dort abholen?"

"Wenn ich deine genauen Flugdaten bekomme kein Problem", erwiderte Björnson.

"Ähm, lass dann aber bitte den Met zu Hause! Dein letzter Begrüßungstrunk hat mir wie du weißt einen zwei-Tage-Kater eingebrockt."

"Banause", knurrte Björnson.

"Ich kann dir gerne Ale oder Lager mitbringen."

"Noch mal Banause", knurrte Björnson. Dann lachten die beiden.

__________

Sie kannten einander. Sie fühlten einander. Seit unfühlbarer Zeit lagen sie bereits einander gegenüber. Seit dem Tag, als er noch seinen Körper besessen hatte, kannte er dieses Ungeheuer, gegen das er seinen letzten Kampf unter der sonne geführt hatte. Das beinlose Ungetier hatte versucht, ihn und seine Gefährtin zu verschlingen, um dadurch alle Kraft von ihm in sich einzuverleiben. Doch er hatte es mit seiner Waffe Donnerschläger voll am Kopf getroffen und damit den Schlaf der Tausende auf das Untier übertragen. Töten ließ sich dieses Wesen leider nicht, da es so unverwüstlich war wie die Kraft aus dem Schoß der großen Erdmutter selbst. Er hatte es getroffen und wußte, daß es in einer Hundertsonne wieder aufwachen würde, wenn er keinen Weg fand, es von einem der Feuerschneider zerlegen zu lassen. Was er, Obark Donnerschläger, nicht wußte, als er das Ungetüm mit seiner Waffe am Schädel getroffen hatte, waren zwei der gefährlichen Zähne trotz seiner metallharten Panzerhaut in sein zähes Fleisch gedrungen und hatten ihn vergiftet. Das tückische an diesem Gift war, daß es alles von der großartigen Kraft getränkte Fleisch und Blut zu Feuer werden ließ, das ihn langsam verbrannte. Obark Donnerschläger fühlte die mörderische Hitze in seinem Leib und wußte, daß seine sonstige Unverwüstlichkeit ihm nun zum erbarmungslosen Schicksal wurde. Er wußte, daß ihn das Feuergift seines letzten Gegners innerhalb eines Zwölftteltages töten würde. Doch wenn er starb würde die Macht seiner Waffe von der beinlosen Bestie abfallen. Sie würde wieder aufwachen und versuchen, seine Gefährtin und seine beiden Kinder Hador Blitzklinge und Gatara Mondringerin zu fressen. Gelang dem Untier das, wurde es unbesiegbar und würde alle Krieger der Allüberragenden jagen, bis es durch ihre Kraft um ein vielhundertfaches größer und stärker würde und als unersättliche Allverschlingerin alle anderen, auch die Kleinkräftigen von dieser schönen, so gnädigen Welt herunterfressen würde. Ja, auch die anderen Artgenossen dieses Ungeheuers würden gefressen, so daß am Ende nur eine die ganze Welt umschlingende Bestie blieb, in deren Eingeweide alles lebendige vergehen würde. Er blies Herrufer, das mächtige Horn aus den Tränen der Sonne, um seine großen Gefährten Tark Eisenhand und Othan Einauge zu bitten, das Ungeheuer zu töten, wenn er, Obark Donnerschläger vom inneren Feuer des bösen Giftes aufgefressen worden wäre. Wie alle seine Vorausgegangenen Väter und Vorkämpfer würde er nur seinen Körper verlieren und eins mit seiner mächtigen Waffe werden. Doch das würde nichts ändern, wenn er nicht mehr war. Dann würde die aus dunkler Erdanrufung geborene beinlose Verschlingerin wiedererwachen und ihren Weg fortsetzen.

Die beiden gerufenen kamen mit bebenden Schritten, daß alle kleinen Steine durcheinanderpurzelten. Als Obark ihnen sein Leid geklagt hatte und sie sahen, wie seine Haut immer stärker erglühte, sagte Einauge: "Wünsche dir, den Schlaf dieser Beinlosen zu bewachen. Denn Feuer und Sonnenkraft können ihr nicht schaden, wenn sie wieder aufwacht! Wenn du mit dem Wunsch, dieses Ungeheuer zu bewachen vergehst, wirst du mit seiner und deiner Kraft eins mit Donnerschläger und kannst sie dort halten, wo sie gerade liegt."

"Dann wird sie weiterschlafen?" wollte Obark wissen, den die nächste Schmerzwelle zu übermannen drohte. Die beiden Gefährten bejahten es.

So ließ Obark von seinen Gefährten mit dem Sonnenschild das Ungeheuer in einen Mantel aus Sonnenferne einhüllen, worauf es in einem wandernden Eisstrom verschwand. Mit dem immer wieder geäußerten Wunsch: "Schlafe und wach nie wieder auf!" brüllte er seine letzten Gedanken im Leben heraus. Er hielt Donnerschläger in seinen Händen. Die mächtige Waffe glühte gelb auf. Dann war sein letzter Lebenskampf verloren. Sein Körper erstrahlte in einer Lohe aus weißen Flammen. Sie erhitzten das dicke Eis und ließen es zu Wasser werden. Eingehüllt in Dampfwolken versank Donnerschläger unter den Augen der beiden Mitkämpfer Obarks. Doch Obarks letzter Wunsch war mit seinem inneren Selbst in die mächtige Waffe eingekehrt, die er aus seinem Blut und den stärksten Metallen der großen Erdmutter geschmiedet und als Teil seines Lebens geweiht hatte. Die beiden Kämpfer sahen, wie das Eis zurückkehrte und Donnerschläger unter sich begrub. Daß unter dem Eis eine Spalte war, durch die die Waffe in eine Höhle hineinrutschte, bekamen sie nicht mit.

Obark hielt die Bestie mit seinen Wünschen, sie nicht mehr aufwachen zu lassen, im Bann des tiefen Schlafes. Er fühlte nicht die verrinnende Zeit. Er fühlte nicht den Strom des Eises. Er fühlte auch nicht, wie sich lebende Wesen seiner letzten Ruhestätte näherten. Denn in diesen wirkte nicht die mächtige Kraft, die ihn und seine Waffe einst verbunden hatte.

__________

Julius erhielt mehrere Anfragen von anderen Abteilungen des Zaubereiministeriums, jetzt, nachdem er sich dort einmal hatte blicken lassen. Alle wollten ihn einladen, über seine berufliche Zukunft zu sprechen, von der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit, die Abteilung für magischen Personenverkehr, sowie einzelne Büros der Abteilungen der magischen Strafverfolgung und der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe. Ja, sogar aus dem Koboldverbindungsbüro war eine Anfrage eingetroffen, ob er nicht daran interessiert sei, seine vielseitigen Begabungen zur Wahrung des Friedens zwischen Zauberern und Kobolden einzusetzen. Monsieur Boris Charlier aus dem Büro zur Überwachung von Vampiren fragte an, ob Julius nicht gleich zu ihm hätte kommen wollen, da er sowohl von der Erfahrung als auch den Prüfungsergebnissen eine Bereicherung für die Überwachungsmannschaft sei.

"Das passiert immer in der Zaubererwelt, Monju. Hat Martine auch gehabt, als sie mal in die Welt gewunken hat um zu sehen, wer sie bei sich arbeiten läßt. Wenn die UTZe passen wollen die alle dich gleich und für immer klarmachen. Die haben nur höflich gewartet, ob du was vom Ministerium wollen könntest. Da du nicht gleich bei Forcas, Ganymed, Cyrano oder Madame Esmeralda angeklopft hast konnten sie endlich loslegen", erwiderte Millie ein wenig verdrossen. Offenbar setzte es ihr doch ein wenig zu, daß sie ihre Prüfungen noch nicht hatte ablegen dürfen und Julius so überragend abgeschnitten hatte. Doch weil sie merkte, daß er sich deshalb schuldig zu fühlen begann legte sie schnell nach: "Tine hat mich damit immer aufgezogen, daß nur wer gut in den UTZen ist auch gefragt ist und nicht von selbst an alle möglichen Türen klopfen muß. Aber Ma hat dir keine Anfrage geschickt, oder?"

"Bis jetzt nicht", erwiderte Julius. Millie meinte dann noch: "Die wartet ab, wie du die anderen beantwortest. Sie will ja nicht die Verwandtschaft raushängen lassen." Dem konnte Julius nur zustimmen.

__________

Professor Stuard trug eine grüne Daunenjacke mit Kapuze und eine gefütterte graue Hose. An den Füßen trug er halbhohe Allwetterschuhe. In der temperierten Ankunftshalle des Flughafens von Oslo war diese Aufmachung ein wenig zu warm, erkannte der Archäologe, als er wie die anderen aus London angereisten Passagiere dem Lauf des Kofferkarussells zusah, auf dem nach und nach die Gepäckstücke aus dem Bauch der Linienmaschine aus Heathrow aufgelegt wurden. Hier und da eilten Fluggäste an das kreisende Band heran und pflückten Koffer oder Reisetaschen herunter. Einige wurden wieder zurück auf das Band gesetzt. Andere wurden von den glücklichen Passagieren fortgetragen. Dann sah Professor Stuard auch den schwarzen Hartschalenkoffer mit Kombinationsschlössern, auf dem ein Aufkleber mit einem roten Drachen prangte. Der Archäologe eilte an das immer rund herum surrende Band und hob seinen Koffer herunter. Nachdem er ganz sicher war, den richtigen Koffer gefunden zu haben zog er ihn auf seinen Rollen hinter sich her. Er mußte zum Terminal für Inlandsflüge. Die Maschine nach Longyearbyen auf Spitzbergen sollte in anderthalb Stunden starten. Nachdem er die Zollformalitäten wegen der Einreise in das norwegische Königreich überstanden hatte, suchte Jonathan Stuard den Flugschalter der staatlichen Fluglinie von Norwegen auf. Dort zeigte er seinen Flugschein vor und gab den schwarzen Koffer noch einmal auf, damit er in die richtige Maschine umgeladen wurde.

Während er auf seinen Weiterflug wartete dachte Jonathan Stuard daran, daß er seiner Frau die Dateien über Björnsons Fund dagelassen hatte. Björnsons Berichte hatten ihn vorsichtig gemacht. Ein Metall, das weder erhitzt werden noch mit Säure oder anderer Gewalt beschädigt werden konnte. Am meisten störte ihn die Erwähnung eines Störfeldes, das elektrische Prozesse im Umkreis von zwanzig Metern unterbrach oder ganz unmöglich machte. Sowas konnte es eigentlich nicht geben. Aber er würde ja bald selbst in diese Höhle gehen und den betreffenden Gegenstand zu sehen bekommen. Er holte noch einmal sein Mobiltelefon aus den Tiefen seiner Daunenjacke und schaltete es ein. Als es ihm zeigte, daß es eine Netzverbindung bekam wählte er aus dem eingebauten Telefonbuch Arnes Satellitentelefonnummer an. Er wartete, bis sich der norwegische Kollege meldete. "Bin jetzt in Oslo und warte auf den Transfer auf die Inseln, Arne. Bleibt es dabei, daß du mich am Flughafen abholst?"

"Ich habe Gunnar losgeschickt, weil mir die beiden Kollegen Frederickson und Harden zu eifrig sind, Jonathan. Nachher tanzen die Mäuse auf dem Tisch, wenn ich von Nordostland herunter bin. Hoffentlich geht alles mit dem Anschluß glatt. Morgen kommt der Raupenschlepper. Ich habe auch mehrere Druckluftrollen geordert, auf denen ich unser Fundstück aus seinem bisherigen Aufbewahrungsraum herausholen will. Bis nachher!" Jonathan Stuard drückte die Auflegentaste und schaltete das Mobiltelefon wieder ganz aus, da die Benutzung von Mobilsprechgeräten während einer Flugreise untersagt war.

Während er im Flieger nach Spitzbergen saß schlief der londoner Archäologe noch ein wenig. So überstand er die Zeit recht unproblematisch. Als er dann am Zielflughafen mit seinem schwarzen Koffer aus dem Ankunftsgebäude trat, blies ihm kalter Wind entgegen. Ja, er war wirklich im hohen Norden, einem der nördlichsten Punkte Europas überhaupt. Im Moment sah er zwar kein Polareis. Doch der Wind auf seinem Gesicht verhieß, daß es nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Dann entdeckte Professor Stuard den jungen Mann im grauen Parker, der ein Schild mit dem Namen Professor Stuard hochhielt. Auch so erkannte Jonathan Stuard den Mann. Es war Gunnar Haraldson, Arne Björnsons Assistent.

"Willkommen am nördlichen Ufer Europas, Professor Stuard!" grüßte Haraldson den Besucher aus England. Ich habe das Hotelzimmer für Sie reservieren lassen. Wenn Sie wollen können wir zunächst dorthin fahren, um Ihr Gepäck zu verstauen."

"Sehr aufmerksam, Mr. Haraldson", lobte Professor Stuard den Organisationseifer des jungen Norwegers. Dann fragte er ihn mit einer Mischung aus Höflichkeit und Interesse, was seine Dissertation mache.

"Nun, wenn dieser Fund nicht dazwischengekommen wäre, könnte ich weiter an der Entwicklung nordeuropäischer Runenschrift und ihre Beziehung zu Alltag und Religion der skandinavischen Völker forschen. Aber im Moment erscheint mir alles zweitrangig im Vergleich zu diesem Fund. Mehr möchte ich dazu nicht sagen, solange die Bergung noch nicht abgeschlossen wurde."

"Gut, dann bringen wir erst einmal meine Sachen ins Hotel. Wie kommen wir dann auf die andere Insel?"

"Ein Tragflügelboot verkehrt zwischen Spitzbergen und den anderen Inseln des Svalbard-Archipels. Auf der Insel selbst steht uns ein Pferdefuhrwerk zur Verfügung, da motorisierte Fahrzeuge dort nur mit besonderer Genehmigung des obersten Polizei- und Wildhüters fahren dürfen." Professor Stuard nickte. Das hatte ihm Arne Björnson schon erzählt. So fuhren sie mit einem Taxi zum wichtigsten Hotel der Stadt, wo der Besucher aus London ein Zimmer im dritten Stockwerk bekommen hatte. Kaum hatte er sein Gepäck dort verstaut, zog es ihn auch schon zum Hafen, um mit Haraldson auf die Insel Nordostland überzusetzen. Jetzt wollte er es wissen.

__________

Am elften August erhielt Julius Latierre einen Anruf über die Zweiwegspiegelverbindung zu Gloria Porter. Seine Hogwarts-Schulfreundin wirkte sichtlich verärgert. "Das mit dem LI will nicht hinhauen. Ich bin mindestens dreimal über den alten Friedhof gewandert und habe ganz ruhig darauf gewartet, daß mir Maries Geist erscheint. Doch statt ihr kamen nur irgendwelche Räuber aus der Muggelwelt, die mir alles wegnehmen wollten, mich womöglich noch vergewaltigen. Die konnte ich nur mit Oma Janes Friedfertigkeitshauch vertreiben. Oma Jane sagte, wem sie nicht von selbst erscheint, der oder die braucht sich auch nicht für das LI zu bewerben. Wenn du sie nicht getroffen hättest würde ich anfangen zu glauben, daß das mit Maries Geist nur eine Ausrede ist, um überneugierige Leute vom Institut fernzuhalten."

"sie gibt es, Gloria. Ohne sie hätte ich das mit meinem Vater nicht rausgekriegt", erwiderte Julius betrübt. Gloria nickte.

"Na ja, mein Vater meint, ich solte ruhig bei der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit anklopfen. Mit meinen Französischkenntnissen käme ich da sicher gut unter. Mum will nach den USA auch in Kanada eine Niederlassung eröffnen. Aber mir steht eher der Sinn nach vielfältiger Arbeit. Ich werde also zusehen, entweder bei den britischen Auroren anzufangen oder zur Gruppe für die Behebung verunglückter Magie zu gehen. Entsprechende Bewerbungsschreiben habe ich schon losgeschickt."

"Ich habe noch einige Anfragen von anderen Stellen gekriegt", sagte Julius. "Ich wollte eigentlich auch in die Truppe zur Behebung magischer Unglücksfälle. Doch der Chef von denen wollte Muggelkunde auf der UTZ-Liste haben", erwiderte Julius.

"Das habe ich ja gemacht. Ich habe übermorgen ein Vorstellungsgespräch. Mal sehen, was sich ergibt!" Julius wünschte ihr dafür viel Glück. "Und, ist Millie immer noch glücklich damit, Mutter zu sein?"

"Ja, ist sie", erwiderte Julius, der fühlte, daß sich Millie gerade entspannte. Das tat sie häufig, wenn sie in ihrem Umstandssessel saß und die kleine Aurore sicher und warm unter ihrer Stillschürze versorgte.

"Dann will sie nur noch Haushexe sein?" wollte Gloria wissen. Millie, die nur fünf Schritte entfernt war rief zurück:

"Die Arbeit ist schon was wert, gloria. Aber ich seh zu, für die nächsten Kinder auch ein paar Galleonen mitzuverdienen. Wenn Aurore auch andere Sachen essen und trinken kann lege ich damit los."

"Ich muß das nicht haben", schnarrte Gloria über die Spiegelverbindung zurück. Dann sagte sie noch: "Wenn ich bei der Unfallumkehrtruppe nicht mitmachen kann wird es eben die Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit. Vielleicht darf ich dann auch mal nach Paris, ganz offiziell." Julius schloß das nicht grundweg aus. Dann plauderten sie noch über das vergangene Jahr und wer nach den Abschiedsfeiern wo unterkommen wollte. Gloria wollte wissen, ob Julius was von Kevin gehört hatte. Dieser verneinte das. Seit der Hochzeit hatten Kevin und Patrice sich wohl gut versteckt, um ungestört zu bleiben. Céline und Robert bereisten die Karibik. Ob sie dabei auch diesen fragwürdigen Cocktail zu trinken bekamen, der Sandrine und Gérard zu verfrühtem Kindersegen verholfen hatte, wußte julius nicht und wollte es auch nicht wissen. Pina Watermelon hatte sich bei Tim Abrahams' Abteilung für die friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie beworben. Sie würde am ersten September bereits anfangen. "Kann sein, daß jemand den beiden geraten hat, zusammenzuarbeiten", grummelte Gloria. Julius konnte ihr nachfühlen, was sie meinte. Ob Pina bereits eine der verschwiegenen Hexenschwestern war? Immerhin hätte ihre Mutter, wie auch Lady Genevra Hidewoods, deren Tochter Alexa oder Ceridwen Barley sie dort hinführen können. Laut wollte und durfte er das aber nicht fragen. Vielleicht erfuhr er es eines Tages auf die eine oder die andere Weise.

Nach einer Stunde Geplauder beendete Gloria die Spiegelverbindung wieder. Julius und Millie waren wieder mit Aurore alleine.

"Kevin wird sicher nicht nach Hogwarts zurückgehen, ohne zu wissen, daß er Patrice nicht ganz alleine zurückläßt", schnurrte Millie. Julius fiel ein, daß Kevin ja von ihm wissen wollte, wie sich körperliche Liebe anfühlte. Jetzt wußte er das garantiert. Ob er enttäuscht oder freudig überrascht war wußte Julius natürlich nicht.

Gegen Mittag klapperte es im Eulenbriefkastenvor dem Apfelhaus. Julius vermutete weitere Schreiben aus dem Ministerium. Er hatte sogar recht. Es waren gleich drei Umschläge im Briefkasten. Er konnte sogar noch ein stattliches Uhu-Weibchen sehen, das mit ruhigen Flügelschlägen in Nordrichtung davonglitt.

"Ui, ich soll beim großen Boss von der Abteilung für magische Geschöpfe antreten, wo Tante Babs, Lamarck und Mademoiselle Ventvit dabei sind. Das treffen ist am vierzehnten. Dann ist hier noch ein Schreiben von Hera Matine und eines von Zaubereiminister Grandchapeau. Zumindest war es mit seinem Siegel beglaubigt. Er las erst den Brief von Hera. Sie schrieb ihm, daß sie sich mit Antoinette Eauvive unterhalten habe und ihm anböte, seine Mentorin für eine externe Heilerausbildung zu sein, falls er alle anderen Anfragen und Angebote zurückwiese und am 1. September bei ihr einen Ausbildungsvertrag unterschriebe. Sie hatten also noch nicht aufgegeben, Antoinette Eauvive und die anderen Heiler. Er gab seiner Frau den Brief zu lesen und sah sich den Brief von Minister Grandchapeau an.

Sehr geehrter Monsieur Latierre,

es freut und ehrt mich, daß Sie sich entschlossen haben, Ihre vielfältigen Begabungen für das Zaubereiministerium zu verwenden und damit den Frieden, das Recht und die Ordnung in der magischen Welt zu erhalten. Ich erfuhr von Monsieur Lesfeux, daß er Sie nicht in seine wichtige Truppe aufnehmen könne, da Sie den ultimativen Test Zauberfertigkeiten im Fach Studium der nichtmagischen Welt nicht belegt haben. Sicher könnte ich Kraft meines Amtes in die Anstellungsentscheidungen meiner Mitarbeiter eingreifen. Doch mache ich von diesem Vorrecht nur dann Gebrauch, wenn sich der Bewerber keiner anderen Möglichkeiten sicher sein kann, Anstellung im Ministerium für Magie zu finden. Da dies nach meiner Kunde nicht der Fall ist vertraue ich darauf, daß Sie Ihren bereits vielversprechenden Weg in in die Zaubererwelt im Zaubereiministerium fortsetzen werden.

Da ich auf Anfrage bei Monsieur Vendredi von der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe erfuhr, daß dieser Sie zu einem endgültig abklärenden Gespräch am vierzehnten August geladen hat, möchte ich Sie auf diesem Wege bitten, nach dem Gespräch für einige Minuten zu mir zu kommen, unabhängig davon, welches Ergebnis das Gespräch erbringen mag. Über den Anlaß dieser Unterredung außerhalb der offiziellen Vorstellungsgespräche werde ich Sie dann unterrichten. Da ich hörte, daß Ihre Gattin eine berufliche Laufbahn außerhalb des Ministeriums anstrebt, kann ich im Moment nur Sie zu mir einladen. Sie dürfen Ihrer Gattin jedoch von meiner Einladung erzählen, aber bitte nur ihr alleine. Denn ich möchte kein unnötiges Gerede hervorrufen, ich würde meinen Mitarbeitern auferlegen, in wessen Abteilung Sie Anstellung finden mögen. Ebenso trachte ich danach zu vermeiden, daß irgendwer der Meinung nachhängt, ich wolle Sie ausschließlich für meine Abteilung verpflichten. Ich hoffe auf Ihre Diskretion und sehe der ersten Zusammenkunft nach Ihrem herausragenden Abschluß in Beauxbatons mit großer Vorfreude entgegen und verbleibe

mit freundlichen Grüßen

ZM Armand Grandchapeau

"Klar, dann kriegst du bei Hera dein Mittagessen und darfst nachts für Tante Trice neue Kundschaft auf den Weg rufen, sofern ich mich nicht doch von ihr beschwatzen lasse, sie an unsere nächsten Kinder ranzulassen, damit sie sicher ans Licht kommen."

"So steht das da", sagte Julius. Er fühlte sich merkwürdig. Einerseits ehrte es ihn, daß der Minister ihn persönlich anschrieb. Andererseits wußte er, daß Grandchapeau niemals etwas machte, ohne einen Grund zu haben. Den wollte er gerne wissen. So konnte er nur hingehen, wenn das Gespräch mit den Leuten aus der Zaubergeschöpfeabteilung überstanden war.

"So wie es wohl aussieht müssen die sich noch drüber klarkriegen, bei wem du am Ende anfängst, Monju", meinte Millie, als sie vom offiziellen Termin ihres Mannes hörte. Als dieser ihr auch den inoffiziellen Termin verriet meinte sie:

"Der ist wie Antoinette. Der will sicher sein, daß du seinen Leuten nicht mehr vom Besen springst. Aber dann mußt du der gestrengen Hera einen großen Korb geben."

"Das ist genau das Problem, das ich habe. Ohne Hera Matine wäre ich kein Pflegehelfer geworden. Ohne das Silberarmband hätte ich Hallitti und Bokanowski nicht überlebt, von den Wächtern in Khalakatan ganz zu schweigen. Die hat jetzt genau da gekitzelt, wo ich mich nicht totstellen kann."

"Wie viel Zeit läßt die dir?" wollte Millie wissen. Julius sagte es seiner Frau. "Bis dahin hast du die beiden Sachen im Ministerium durch", erkannte Millie ganz richtig. Julius konnte ihr darum nur zunicken.

__________

Das Schlauchboot brauste über die Wellendahin. an und für sich hätten Professor Stuard und Gunnar Haraldson auch die Fährverbindung nutzen können. Doch Jonathan Stuard wollte so schnell es ging zur Gletscherhöhle hin. Das große Zodiac tanzte wie ein Delphin über die grauen Wellenkämme. Professor Stuard hatte sich zu seiner winterlichen Kleidung noch eine wasserdichte Decke umgelegt. Sein Körper konnte sich der hier vorherrschenden Lufttemperatur noch nicht anpassen. Zwar floß irgendwo im Westen noch ein Ausläufer des Golfstroms. Doch die davon ausgehende Wärme reichte nicht bis hier an das Boot heran.

Nach vier Stunden fahrt landete das Zodiac in einer Bucht einer kargen Insel mit wenigen Bergen. Gunnar Haraldson blickte auf seine Uhr und machte ein Satellitentelefon bereit. Über dieses wollte er mit seinem Vorgesetzten sprechen. Doch die Verbindung kam nicht zu Stande.

"Wahrscheinlich ist er in der Höhle, wo keine Signale durchkommen", seufzte Haraldson. Stuard nickte kurz. Dann viel ihm auf, daß er dann ja eine Mitteilung hätte hören müssen, daß der gewünschte Gesprächsteilnehmer zur Zeit nicht erreichbar sei.

Wie kommen wir überhaupt zu der Höhle?" wollte Stuard wissen. Haraldson wiegte den Kopf. Dann deutete er auf einen Pfad, der auf den in der Ferne sichtbaren Gletscher zustrebte. Ohne Björnsons Pferdekarren mochten sie mindestens zwei Stunden marschieren, um jenen Punkt zu erreichen, wo der Höhleneingang zu finden war. Professor Stuard nickte resignierend. Dann marschierten beide Wissenschaftler los.

Jonathan Stuard mußte einmal mehr der Unerbittlichkeit seiner Frau danken, die ihn zum einen immer angehalten hatte, nicht mehr zu essen, als er gerade brauchte und mindestens einmal in der Woche durch einen der Londoner Parks zu joggen. Daher besaß er eine dem jungen Doktoranden ebenbürtige Ausdauer. Hinzukam, daß der Anstieg nicht so steil war, daß sie ihn nicht in ruhigen Schritten hätten schaffen können. Sie mochten gerade eine Stunde und zehn Minuten stramm marschiert sein, als Haraldson verwundert stehenblieb und den Kopf in den Nacken warf. sein zwanzig Jahre älterer Begleiter folgte dem Beispiel. Er starrte in den von der bleichen Nordlandsommersonne blaßblau aufgehellten Himmel und lauschte angestrengt. Dann war er sich sicher. Haraldson, der sicher noch bessere Augen und Ohren hatte, begann den Kopf zu schütteln. Er hob den rechten Arm zu einer hilflosen Geste und deutete nach vorne und oben. Über dem bläulich-weißen Eisstrom des Gletschers schwebte eine glitzernde Erscheinung, wie ein merkwürdiges Insekt. Jonathan Stuard fixierte das Objekt über dem Gletschereis. Er lauschte und hörte das weit entfernte wilde Schrappen in der Luft. Das Geräusch war unverkennbar. So klang ein fliegender Hubschrauber, womöglich einer mit Zwillingsrotoren. Haraldson hantierte derweilen an seinem Rucksack und entnahm diesen ein lichtstarkes Fernglas. Er setzte es an und regulierte die Schärfeneinstellung so, bis er das über dem Gletscher nach oben gleitende Ding genau betrachten konnte. Er blickte fünf lange Sekunden durch den Feldstecher. Dann ließ er diesen wieder sinken und seufzte: "Militärmaschine, Superlastenträger. Ich kenne die Dinger, habe vor zehn Jahren in einer Heereseinheit gedient, die diesen Lastesel einsetzt. Und an dem Heli hängt der Hammer aus der Höhle."

"Ach neh", stieß Stuard aus. Er glaubte, nun vollkommen verschaukelt zu werden. Weil Haraldson das wohl sicher annahm gab er dem Professor aus London den Feldstecher. Stuard nahm ihn an und brachte ihn vor die eigenen Augen. Dann suchte er das immer weiter nach oben schwebende Flugobjekt und mußte unwillkürlich nicken. Er sah einen aus dieser Entfernung schon beachtlichen Helikopter, auf dessen Dach sich zwei Rotoren wild drehten. Das fliegende Ungetüm mochte die Ausmaße eines großen Sattelschleppers haben und sicher auch so viel Last befördern können. Als er dank der Vergrößerung der Linsen vier schmale, im Sonnenlicht glitzernde Streifen sah und an diesen hinunterpeilte, konnte er ihn sehen. Im Vergleich zu dem Hubschrauber war der Hammer zwar winzig. Doch im Vergleich zu den größten Hämmern, die Stuard schon ausgegraben oder in Museen besichtigt hatte, machte sich der an glitzernden Halteketten pendelnde Hammer wirklich gigantisch aus. Er sah noch, daß zwischen dem Hammerstiel und der Hubschrauberunterseite gut und gerne fünfundzwanzig meter Luftlinie lagen. Das riesenhafte Werkzeug glitzerte im bleichen Sonnenlicht rosiggolden. Stuard verwünschte den Umstand, den Hammer nicht noch näher heranholen zu können, um zu erkennen, ob auf seinem Kopf wirklich alte keltische Schriftzeichen eingraviert worden waren. Doch er nahm jetzt an, daß der Hammer wirklich so groß war. Sicher, es konnte eine Atrappe sein, ein Stück Alufolie oder ein besonders gut zurechtgenähtes Luftkissen. Doch nun entschwebte der Hammer. Der Lastenhubschrauber machte eine Wende in Sonnenrichtung, also wollte er nach Süden. Jetzt erkannte Stuard die norwegischen Armeehoheitszeichen. Woher wußten die vom Heer über den Hammer bescheid?

"Sie haben den Hammer aus der Höhle geholt", seufzte Gunnar Haraldson. Professor Stuard konnte dem nicht widersprechen.

"Ich dachte, Professor Björnson hätte Stillhalten befohlen, bis dieser ominöse Hammer in Sicherheit ist", bekannte Stuard seine große Verwunderung.

"Wir hatten ja zwei Kollegen aus der Naturwissenschaft, einen Physiker und einen Metallurgen. Ich glaube nicht, daß Professor Björnson von sich aus auf dieses Artefakt verzichtet hätte."

"Dann muß einer von Ihren Kollegen die Armee informiert haben", grummelte Stuard. Dann stockte ihm der Atem. Immer noch hielt er den davonfliegenden Hubschrauber unter Beobachtung. Doch was er jetzt sah konnte nicht wirklich passieren. Wie aus dem Nichts war ein Mann im wehenden, rostroten Umhang aus dem nichts getaucht. Der Fremde trug einen hohen, spitzen Hut und unter einem Arm einen schlanken - nicht so recht zu erkennen. Das konnte ein Wanderstock, ein Dreschflegel oder ein Besen sein. Was der Fremde in der anderen Hand hielt vermochte Stuard nicht zu bestimmen. Es sah stabförmig aus. Der Fremde zielte mit dem Stab nach oben auf den Hubschrauber. Doch es geschah nicht mehr, als daß der Helikopter nun Kurs auf die Ostseite nahm, um möglichst rasch aus dem norwegischen Luftraum entkommen zu können. Der Fremde sprang in die Luft. Dann zog er den mitgebrachten langen Gegenstand zwischen seine Beine und stieß sich damit vom Boden ab. Im nächsten Moment stieg der Fremde dem Hubschrauber entgegen.

__________

Es war für General Bergström schon unheimlich gewesen. Erst hatte er mit zehn Gefreiten die Höhle gestürmt, nachdem Björnson und seine Wachmannschaft dem geruchlosen Betäubungsgas erlegen waren. Dann hatte er den Hammer gesehen, das Objekt seiner Begierde. Hardens Assistent hatte seine Einheit darauf gebracht, daß hier womöglich ein Stück außerirdischer Technologie zu holen war. Die nächste Verwunderung war das unsichtbare Kraftfeld, das jedes elektronische Gerät im Umkreis von zwanzig Metern außer Funktion gesetzt hatte. Dann hatte Bergström sich jedoch wieder gefangen. Er ließ zwei seiner Leute auf den Hammer schießen, jedoch so, daß die Kugeln nicht frontal aufprallten, sondern quer aufschlugen. Das war auch richtig so. Denn die Geschosse prallten auf den Hammer und sirrten stark deformiert als Querschläger davon. Das metall parierte alle Geschosse, von den angesägten Mantelgeschossen, den Bronzevollmantelgeschossen, sowie Stahlmantelgeschossen. Einer seiner Leute feuerte vier panzerbrechende Geschosse ab. Das war zwar riskant, mußte aber erprobt werden. In blauen Blitzen zerstoben die Panzerbrecher mit Urananteilen. Dann hatte Bergström das Feuer einstellen lassen. Mit den Infrarotsichtgeräten stellten die Soldaten fest, daß der Beschuß weder Hitzeflecken noch eine gesamte Temperaturanhebung bewirkt hatte. Doch dann ließ der General seine Truppen in Aktion treten. Außerhalb der Höhle gab er über verschlüsselten Funk die Meldung "Sleipnir für Mjölnir" durch. Damit war gemeint, daß der gewaltige Transporthubschrauber von See her anfliegen sollte. Norwegen besaß zwar keine so mächtigen Flugzeugträger wie die USA, Rußland oder Großbritannien. Doch wie man schwere Sachen transportfertig machte wußte der General ganz sicher. So ließ er aus einen der Lastenhelikopter von einem nahebei stationierten Trägerschiff starten. Als der Pilot erfuhr, daß er das Transportgut nicht an Bord nehmen dürfe, schon sichtlich geflucht hatte. Und jetzt hing die gute Tante Trude einhundert Meter über dem Gletscher. Die Cockpitbesatzung stierte auf den Höhleneingang. eine Mannschaft in Armeeuniform war gerade dabei, gewaltige Generatoren in Gang zu setzen. Einige Minuten Später bekam der Pilot den Befehl, dreißig Meter vom Höhleneingang zu landen. Für den Piloten war dies ein sehr kitzliges Stück arbeit gewesen. Doch als die Kufen seiner Maschine festen Grund unter sich hatten eilte die Bodenmannschaft mit schweren Ketten heran, die an den dafür vorgesehenen Ösen fest eingeklinkt wurden. Was an den Ketten hing konnte der Pilot nicht sehen. Er bekam über Funk die Anweisung, sofort mit der Fracht in die Nähe eines verschwiegenen Sicherheitsstützpunktes. Als dann zu sehen war, was aus der Höhle geholt wurde, hätte der Pilot am liebsten geflucht. Sowas durfte doch nicht sein!

"Wo haben die das Ding denn her?" wollte der Copilot der Maschine wissen, als über eine Reihe von Druckluftkissen der gewaltige Hammer hinwegpurzelte, bis er frei in der Luft pendelte. "Durchstarten und Auftrag ausführen. Kein weiteres Wort außer Bestätigung!" hörten sie die Stimme von General Bergström in den Kopfhörern. Dann stieg der Hubschrauber nach oben.

Sie mochten gerade zweihundert Meter hoch und wohl vierhundert Meter weit geflogen sein, als etwas von hinten auf den Hubschrauber zuraste, jedoch fünfzig Meter vor der Maschine wie in einen Brotteig geraten abgebremst wurde. Das Etwas war ein langer Stiel mit langen Reisigbündeln, auf dem ein Mann im roten Umhang mit hohem Spitzhut saß. Jetzt meinte der Pilot endgültig, an seinem Verstand zu zweifeln. Der Fremde glitt mit wild vibrierendem Besen immer näher an den wild pendelnden Hammer heran. Dann zielte er auf die Ketten, die wild Funken sprühten. Dabei kam der Mann auf dem fliegenden Besen dem Hammerkopf so nahe, daß dieser ihn am Oberkörper traf. Was dann passierte raubte dem Piloten endgültig den Glauben an seine Augen.

Unvermittelt wurde der mann auf dem Besen in grüne Lichtblitze gehüllt. Sein Besen sprühte blaue und rote Funken und warf seinen Reiter ab. Dieser bekam jedoch den Hammerstiel zu fassen und hing nun im Gewitter grüner und roter Blitze. Dabei schien es, als ob der Mann im wilden Lichterspiel immer größer wurde, auch der Hubschrauber verhielt sich jetzt merkwürdig. Er bockte und schüttelte sich. Der Grund waren Ausläufer der grünen und roten Blitze, die nach oben schlugen und dabei die empfindliche Elektronik der Maschine durcheinanderbrachten. Dann ließ das Blitzgewitter nach. Doch nun hing unter dem Hubschrauber ein mindestens zwölf meter großer, nackter Mann mit blondem Vollbart, der wild gestikulierend an den Ketten zerrte, die den Hammer hielten. Dann hörten sie trotz des Motorenlärms: "Ihr Vollidioten!! Ihr elenden Muggelschwachköpfe! Ihr habt mich von ihr weggeholt. Jetzt kann sie aufwachen!!! Bringt mich sofort wieder zu ihr, damit ich sie wieder in den Schlaf schlagen kann!!" Die Stimme war wie ein Donnerwetter. Der Rufer wuchs weiter an, diesmal ohne Blitze zu schleudern. "Los!! Dahin zurück, wo ihr mich rausgezogen habt, ihr Vollidioten!!!!"

"Das kann es nicht geben", stöhnte der Pilot. Da hörten sie den General über Funk. "Abschütteln, das Monster abschütteln! Hammer zum sicheren Haus mit höchstgeschwindigkeit!!" Der Hubschrauberpilot bestätigte den Ruf und beschleunigte die Maschine. Der Riesenhammer pendelte noch wilder, und der immer noch an Größe zunehmende Mann kämpfte dagegen an, weggeschleudert zu werden. "Ich bin euch zu stark!! Los! Meinen Hammer Donnerschläger wieder dahin, wo ihr ihn hergenommen habt!!!" donnerte die Stimme des Überriesens.

"Ich versuche, den mit der Panzerfaust abzuschießen", schlug der Copilot vor und suchte bereits nach der erwähnten Waffe.

"Nein, wir könnten den Hammer abschießen. Ich versuche, den Altriesen loszuwerden", erwiderte der Pilot. Er kam sich gerade vor wie eine Figur in jenen alten Göttersagen der Nordvölker, in denen von Riesen und Hammerwerfenden Göttern erzählt wurde. Er beschleunigte den Hubschrauber weiter. Der Hammer und der ihn langsam sicher haltende Riese wirbelten bei gewagten Kurskorrekturen herum. Die Maschine flog nun über das Meer. "Bringt mich wieder zurück, bevor der Schlaf von ihr weggeht!!" brüllte der Riese über das Turbinengeheul und die sicher sitzenden Kopfhörerpolster hinweg.

"Wenn er sein Maul noch mal aufreißt reinschießen!" befahl der Pilot, weil der Riese nun versuchte, durch Zerren an den Ketten die Richtung des Hubschraubers zu bestimmen. Überhaupt hatte der aus dem fliegenden Zauberer gewachsene Riese die Ladegrenze der Maschine überschritten. Der Hubschrauber sank in die Tiefe. Einer der Begleiter ließ die schwere Ladetür auffahren. Der wilde Flugwind und das schrille Turbinenheulen drangen in die Maschine. Dann zielte der eine Soldat, den seine Kameraden mit einem langen Gurt sicherten, mit einem Raketenwerfer auf den Kopf des Riesens. Dieser brüllte noch einmal los. Dabei löste der Soldat die Rakete aus. Laut fauchend und eine feurige Bahn durch den Himmel zeichnend raste die eigentlich für den Boden-Luft-Einsatz gebaute Rakete mit Infrarotsucher auf das Maul des Riesens zu. Dieser brüllte nun noch wilder und bot der Rakete damit die ideale Einflugöffnung. In einem gleißenden Feuerball verschwand der Kopf des Riesens. Doch die Hubschrauberbesatzung bekam keinen Grund zu Jubeln. Wild und krachend umtosten grüne, blaue und rote Blitze den Helikopter. Die Elektronik versagte. Die Rotorblätter begannen zu glühen. Eine der Turbinen gab laut kreischend und krachend den Geist auf. Dann schossen Flammen aus den kurzschließenden Hochspannungsleitungen. Treibstoff geriet in Brand. Der Transporthubschrauber stand auf einmal in Flammen und stürzte wie ein großer Meteorit auf die graue Wasseroberfläche zu. Die Mannschaft an Bord schrie. Doch es half nichts mehr. Der Hubschrauber sackte endgültig durch. Um ihn und in ihm tobte ein Flammenmeer, daß durch den Fallwind noch mehr nahrung erhielt. Für die Soldaten kam jede Hilfe zu spät.

Doch auch für den aus einem Zauberer im Umhang erwachsenen Riesen war es aus und vorbei. Die Wucht der Rakete hatte ausgereicht, ihm Kopf und Oberkörper zu zerstören. Damit hatte die Besatzung aber das eigene Grab geschaufelt und noch schlimmer, einer bis dahin unbekannten Bestie die Möglichkeit gegeben, wiederzuerwachen.

Der ganz in Flammen aufgehende Helikopter schlug acht Kilometer von der Felsenküste entfernt ins Meer. Dampf wallte auf. Der Riesenhammer zog den Rest der Maschine mit sich in die Tiefe. Seine antielektrische Aura verhinderte, ihn mit Radarstrahlen anzumessen. So hatte niemand die Vernichtung der Maschine und den Ort ihrer Versenkung bestimmen können.

__________

Stuard verfolgte den Hubschrauberflug, der sich nun trotz der Entfernung als immer schnellere Reise zeigte. Er schaffte es noch, mit anzusehen, was mit dem roten Zauberer oder Hexenmeister geschah, der den Hammer von den Ketten lösen wollte. Er konnte noch zusehen, wie der normalgroße Mensch zu einem Riesen aufgebläht wurde. Dann verschwand die Maschine aus der Optik.

"Das kann es nicht gegeben haben", stöhnte Stuard. Haraldson wollte wissen, was es nicht gegeben haben konnte. Stuard schilderte es ihm.

"Das kann es nicht geben. Dann hat Professor Björnson ja doch recht gehabt", stöhnte Haraldson. "Das war Thors Götterhammer."

"Ja, und der fliegt gerade irgendwo hin, wo wir ihn nie mehr zu fassen kriegen", knurrte Stuard. Dann beobachtete er durch das Fernglas, wie die Soldaten, die den Hammer transportfertig gemacht hatten, auf Halbkettenwagen davonfuhren.

"Warten wir, bis sie fort sind und untersuchen die Höhle", sagte Stuard leise. Er fürchtete zwar, daß Björnson und seine Leute in den Halbkettenwagen gefangenlagen. Doch er konnte auch nicht ausschließen, daß sie tot in der Höhle lagen. Die Soldaten wollten garantiert keine Zeugen zurücklassen.

"Haben die keine Wache zurückgelassen?" wollte Haraldson wissen. Stuard peilte durch das Fernrohr und hoffte, daß dessen Objektiv nicht spiegelte. Er gab es dem jüngeren Wissenschaftler wieder, der damit die Umgegend betrachtete. Dann stürmte er vorwärts. Stuard blieb im sicheren Abstand von zwanzig Metern hinter dem jungen Norweger.

Es ging einen hang hinauf, über Eis- und Geröllbrocken, bishin zu einer gerade drei meter breiten Spalte, durch die der Hammer gerade in Längsrichtung hindurchgepaßt hatte. Sie betraten die Höhle und sahen nur die Spuren der hier verwendeten Luftkissen. Auch der Abdruck des Hammerkopfes war noch zu erkennen. Haraldson richtete das Licht seiner starken Handlampe auf den hinteren Bereich der Höhle. "Moment, die Höhle ist größer geworden", sagte er und schritt sofort aus, hinein in das Dunkel. Stuard eilte ihm nach. Er wagte nicht, laut zu rufen. Denn die über ihren Köpfen hängende Decke aus Eis und zermalenem Stein mochte bei neuerlichen Erschütterungen einbrechen. Er folgte Haraldson in einen immer weiter ausufernden Gang hinein, bis er meinte, zwei bogenförmig angeordnete Reihen von Stalaktiten und Stalakmiten zu erkennen. Zwei der armdicken und oben scharf und spitz endenden Säulen waren auf halber Höhe abgebrochen. Dennoch überkam Stuard ein Schauer. Denn für ihn sah dieser Eingang in eine weitere Höhle aus, wie ein versteinertes Maul, das Maul eines urwelthaften, alle Dimensionen sprengenden Ungeheuers. Haraldson hatte entweder nicht die Phantasie, das auch zu erkennen oder wollte wissen, ob sein Vorgesetzter noch irgendwo in der Höhle war. Er zwengte sich zwischen zwei aufragenden Säulen hindurch und lief in die weite Höhle hinein, die an ihrem Hinterende in einen eliptisch geformten Tunnel mündete. Stuard blieb nichts anderes übrig, als Haraldson zu folgen. Auch wenn ihm die beiden drohenden Reihen aus spitzen Steinsäulen von oben und unten sichtliches Unbehagen bereiteten, mußte er bei Haraldson bleiben. Denn der hatte die Lampe.

Die Decke änderte sich. Stuard konnte im Streulicht erkennen, daß sie irgendwie wellig aber steinhart verlief, ja gewisse Stränge bildete, als verliefen in ihr dicke Rohrleitungen. Der Eindruck in das Innere eines mythischen Monsters einzudringen, drängte sich immer mehr auf. Stuard dachte an die Göttersagen aus dem Norden. Auch wenn er nicht alles davon kannte, so wußte er doch, daß den Göttern ein blutiger Endkampf bevorstand. Am Ende ihrer Zeit würden sich der Fenriswolf und die Midgardschlange gegen das Göttergeschlecht erheben. Dabei würden Götter und Dämonen den Tod finden und die ganze Welt in Trümmern gehen. An diese alte Geschichte mußte der Professor aus London denken, als er seinem jüngeren Kollegen in einen unendlich erscheinenden Stollen nachlief, bis Haraldson unvermittelt auf der Stelle stehen blieb. Stuard verharrte. Was war passiert? Er sah auf Haraldson. Die Lampe erlosch unvermittelt. Dunkelheit überfiel Stuard. Die Angst, in dieser unergründlichen Finsternis zu vergehen trieb ihn, zurückzulaufen. Doch als er sich umdrehte überkam es ihn. Er fühlte nicht mehr, wie seine Beine, sein Unterleib und dann der ganze Körper erstarrte und wie ein konturscharfer, seltener Tropfstein im tiefdunklen Stollen zurückblieb.

__________

Julius mußte noch einmal all die Fragen beantworten, die ihm schon bei seinen ersten Vorstellungsgesprächen gestellt worden waren. Dann sagte die Hexe Namens Ventvit:

"Auch wenn die Kollegen Latierre und Lamarck mich gerne zum Futtergras ihrer Riesenkühe oder einem hutzeligen Plimpy im Glastank verwandeln mögen möchte ich Sie, Monsieur Latierre, eindringlich darum bitten, in meinem Büro als neuer Zauberwesenüberwacher anzufangen. Sicher können Sie gut mit Knieseln. Sicher können Sie auch gut mit Latierre-Kühen oder Abraxarieten oder Thestralen umgehen. Doch die wahrhaft größte Herausforderung für Sie sind die denkfähigen Zauberwesen."

"Wenn man bei Trollen vom denken sprechen darf", lachte Barbara Latierre. Sie schien nicht verärgert, daß Julius nicht in ihrer Abteilung arbeiten mochte.

"Aber sie können in gewisser Weise Lautsprache", erwiderte Mademoiselle Ventvit. Julius nickte und erwähnte die von Scamander geschilderten Begebenheiten bei den Zauberweseneinstufungskonferenzen, wo Kobolde den Trollen genug Sprache beigebracht hatten, um sich als sprachfähige und damit denkfähige Zauberwesen einstufen zu lassen. Dann sagte Monsieur Lamarck:

"Ich weiß, was Ihnen im Kopf herumschwirrt, Ornelle. Monsieur Latierre soll für Sie mit den Australiern und Nordamerikanern über deren Zauberwesen diskutieren. Außerdem wollen Sie die Sache mit der großen Eheanbahnung durchziehen, wofür Sie wen brauchen, der die beiden Überwacher und Anverwandten kennt, nicht wahr?"

"Nur, wenn Monsieur Latierre sich dazu bereiterklärt. Für diese Aufgabe kann ich nur Freiwillige nehmen", erwiderte Ornelle Ventvit schmunzelnd. Dann sah sie Julius Latierre an. Dieser überlegte. Er wußte, was mit der großen Eheanbahnung gemeint war. Ja, wenn er da als Moderator was machen konnte, hätte er schon was geschafft. Er würde zwar auch gerne zur Imazov-Konferenz gehen, um sich anzuhören, was die Zaubertierexperten über ihre Züchtungen und Naturgeschöpfe berieten. Doch irgendwie hatte er sich seit der Begegnung mit Hallitti wohl schon für ein Leben als Zauberwesenüberwacher vorgemerkt. Er überlegte noch dreißig Sekunden. Keiner der drei leitenden Mitarbeiter, auch nicht Monsieur Vendredi, der im Hintergrund saß, unterbrach seine Überlegungen. Dann sagte er: "Ich möchte, wenn Sie dies wollen, bei Mademoiselle Ventvit anfangen. Sollte das nicht so funktionieren, wie wir beide es uns wünschen, besteht vielleicht die Möglichkeit, den Posten zu wechseln."

"Wer bei mir anfängt hört mit mir oder nach mir auf", sagte Mademoiselle Ventvit unvermittelt ernst. Barbara Latierre nickte. Dann deutete Mademoiselle Ventvit auf ihren direkten Vorgesetzten.

"Ich stimme Ihnen zu, Ornelle, daß der junge Zauberer hier mit denk- und handlungsfähigen Zauberwesen besser gefordert wird als mit stumpfsinnigen Tierwesen oder menschenfressenden Monstren."

"Hallo, meine Latierre-Kühe sind weder stumpfsinnig noch fressen sie Menschenfleisch", protestierte Barbara Latierre. Doch der Zauberer im Hintergrund lächelte sie an. Sie nickte. Julius unterschrieb dann einen zunächst auf fünf Jahre befristeten Ausbildungs- und Assistentenvertrag. War er am Ende dieser Zeit noch zufrieden mit dem Posten, konnte er sich als mittlerer beamter für die Leitung einer kleinen Arbeitsgruppe qualifizieren, die eine Zauberwesenart gesondert betreute.

"Dann darf ich Sie am ersten September zusammen mit allen anderen Amtsanwärtern im großen Foyer begrüßen, wo Minister Grandchapeau Ihnen den Eid der magischen Amgsträger abnehmen wird, Monsieur Latierre", sagte Mademoiselle Ventvit. Julius nickte zustimmend und bedankte sich für das klärende Gespräch. Er hatte seinen Platz gefunden. Wie komfortabel er war oder wie anstrengend mußte sich zeigen. Doch er hatte noch einen Besuch vor sich, über den er niemanden hier informiert hatte.

"Gut, da ich jetzt von jedem Verdacht frei bin, dich für unsere Tierwesenabteilung sichergestellt zu haben darf ich dich im Namen meiner beiden Erstgeborenen fragen, ob Millie und du am sechzehnten zu uns auf den Hof kommt", sagte Barbara. Julius sagte, daß er gerne kommen würde. Ob allein oder mit seiner Frau und seiner Tochter, würde Millie selbst entscheiden. Dann verließ er die Etage der Abteilung für magische Geschöpfe. Im Fahrstuhl begegnete er Laurentine Hellersdorf und Madame Nathalie Grandchapeau, die eine angeregte Unterhaltung unterbrachen, als Julius zustieg.

"Guten Tag die Damen", grüßte Julius die beiden Hexen.

"Na, noch in einem Stück und vollständig, wie ich erkennen darf", setzte Madame Grandchapeau an. "Sicherer Posten oder weitere Bedenkzeit?"

"Sie dürfen mich am ersten September wohl im Foyer bei der Vereidigung der Neulinge begrüßen", sagte Julius darauf. Laurentine grinste. Dann sagte Madame Grandchapeau:

"Dann werden Sie Ihre Jahrgangskameradin Mademoiselle Hellersdorf wohl auch dort antreffen. Immerhin darf ich mir zur Ehre anrechnen, die zweite außerordentlich graduierte UTZ-Absolventin dieses Jahrganges für meine wichtige Abteilung gewonnen zu haben." Laurentine errötete an den Ohren. Doch dann nickte sie.

"Ich werde wohl einige Tage in Célines Zimmer wohnen, wo die mit Robert schon was eigenes in Aussicht hat, Julius. Hoffentlich verstehe ich mich mit Connie und Cythera."

"Auf jeden Fall was, was dich bei allem fordert und fördert, was du gelernt hast", sagte Julius. "Monsieur Lesfeux wollte mich ja nicht in der Unfallumkehrtruppe haben."

"Sein Nachfolger wird es wohl irgendwann einsehen, daß Muggelgeborene mehr Grundwissen über die nichtmagische Welt mitbringen, als jedes Schulfach lehren kann", erwiderte Madame Grandchapeau. Dann verkündete die magische Frauenstimme, daß sie im nächsten Stockwerk angekommen waren.

Im Stockwerk für die internationale magische Zusammenarbeit, wo auch das Büro für die friedliche Koexistenz von Muggeln und Magiern lag, verließen Madame Grandchapeau und Laurentine den Fahrstuhl, und Belle Grandchapeau stieg zu. Mit ihr fuhr Julius bis zur obersten Etage, wo der Zaubereiminister, seine direkten Assistenten, das Amt für magisches Finanzwesen und das Büro für magische Ausbildung und Studien untergebracht waren. Julius wußte nicht, wie er Belle vorgaukeln konnte, zu einer Unterredung zu gehen, die nichts mit dem Minister selbst zu tun hatte, als diese schon sagte: "Hat er dich auch eingeladen. Dann will er es wirklich durchziehen, Julius. Wo der Herr Zaubereiminister residiert weißt du ja wohl noch." Julius bestätigte es. Immerhin war er schon einige male im Büro Grandchapeaus gewesen, das erste mal, um ihm etwas über Atombomben zu erzählen.

Belle klopfte an die Tür, hinter der ihr Vater die Zaubereiverwaltung dirigierte. Als das Wechselschrifttürschild "Bitte eintreten" zeigte, sah Julius mit einem Blick, daß hier gerade etwas besonderes angesetzt war. Denn im Büro des in seinem Sessel thronenden Zaubereiministers waren bereits mehrere andere Besucher. Julius sah Madame Faucon, Professeur Delamontagne, Hera Matine, Madeleine L'eauvite und Catherine Brickston. Alle diese Leute hatten von ihm die vier alten Zauber aus Altaxarroi gelernt. Dann fauchte noch jemand aus dem Flohpulverkamin. Es waren Millie und Madame Delamontagne. Danach kam noch Monsieur Pierre aus Millemerveilles herüber. Jetzt war die Truppe vollständig, bis auf Professeur Tourrecandide, die allen Anschein nach beim Kampf gegen die Vampire Sangazon für immer verschwunden war. Dann fiel Julius noch was auf. Von der Decke hing eine langstielige weiße Rose herab. Also ging es um eine Angelegenheit sub Rosa, wie zweimal in Beauxbatons.

Der Zaubereiminister begrüßte alle Anwesenden und wies darauf hin, daß er das Büro zum Dauerklangkerker gemacht habe. Dann kam er gegen alle langatmigen Ausschmückungen eines Politikers auf den Punkt:

"Wir müssen davon ausgehen, daß trotz der möglichen Schwächung oder Vernichtung des Vampirreiches Nocturnia gerade von jener Seite her Gefahren drohen, der Sie alle die Kenntnis von vier mächtigen Schutz- und Abwehrzaubern verdanken, allen voran Monsieur Latierre. Da ich Sie, Monsieur Latierre, nicht als offiziellen Beauftraggten für die Artefakte und Hinterlassenschaften des alten Reiches einstellen kann, bin ich zu dem Schluß gekommen, daß Sie in hoffentlich einhellig begrüßter Zusammenarbeit mit den anderen hier anwesenden, eine Sondereinheit bilden, die mit Sondervollmachten ausgestattet wird und parallel zur Truppe für die Behebung magischer Unglücksfälle, die Gruppe zur Erforschung und Sicherstellung bösartig bezauberter Artefakte und den Desumbrateuren weitere Einzelheiten ergründet, die unmittelbar auf die Zeit des alten Reiches zurückgehen, jetzt, wo es keinen Zweifel mehr geben kann, daß es existiert hat. Ich möchte diese Sondergruppe als eine Art stillen Dienst bezeichnen, etwas, daß über keines der Verwaltungsbücher abgerechnet wird und daß kein Hauptbüro im Zaubereiministerium erhält. Ich habe dieses Vorhaben lange bedacht, seitdem Ihnen der beinahe unumkehrbare Zusammenstoß mit einem Schlangenkrieger geschah, Monsieur Latierre. Sicher könnte ich auch mit den Kollegen in anderen Ministerien konferieren. Aber dann müßten Sie, Monsieur Latierre, Ihr erworbenes Wissen weitergeben, ohne sicherzustellen, daß damit kein weiterer machtsüchtiger Zauberer wie Tom Riddle herumhantiert." Julius wollte schon einwenden, daß Voldemort mit den alten Zaubern nichts hätte anfangen können. Doch dann erkannte er, worauf der Minister hinauswollte. Je weniger Leute wußten, daß es noch mächtige Verkehrswege aus dem alten Reich gab oder Artefakte mächtiger Magier auf der Welt verteilt waren, um so übersichtlicher blieb die Lage. Julius wartete, bis der Minister alle seine Vorschläge auf den Tisch gelegt hatte. Dann sagte er:

"Ich habe mir das Wissen nicht ausgesucht. Ich wollte nicht zum Erben dieses alten Wissens werden. Daher kann ich Ihnen, Herr Minister, nur meine Versicherung bieten, daß ich nicht darauf ausgehe, es nicht in falsche Hände fallen zu lassen. Daher werde ich Ihrem Vorschlag zustimmen. Als Abkürzung für diesen stillen Dienst schlage ich SerSil vor, falls keiner etwas besseres nehmen möchte." Die Anwesenden nickten ihm zu. Dann arbeiteten sie ein Verständigungssystem aus, daß außenstehenden erschwerte, etwas von SerSil mitzubekommen. Hierbei wurde eine Modifikation des Vocamicus-Zaubers angedacht, der allerdings durch Verstärkerartefakte über mehrere Kilometer weit getragen werden konnte. Wie das mit den Broschen und den Pflegehelferschlüsseln in Beauxbatons ging, so konnte es auch mit den SerSilkontaktartefakten gehen. Darum sollten sich dann die erwiesenen Zauberkunstexperten kümmern, zu denen ja auch Catherine Brickston und Monsieur Pierre gehörten. Nach einer Stunde war die erste SerSil-Sitzung beendet. Nur der Minister durfte von den Vorhaben und Ergebnissen dieser neuen, heimlichen Sondertruppe unterrichtet werden. Rein offiziell würden alle hier ihre Berufe weiter ausüben. Nur die zur Tarnung zu gründende kleine Firma für herausragende Artefakte mochte am Ende genug abwerfen, um SerSil-Operationen zusätzlich zu finanzieren. Darum wollte sich dann Belle Grandchapeau kümmern, die Freunde in der freien Zaubererwirtschaft hatte. Der Minister wollte alle auf einen Eidesstein schwören lassen, keines der Mitglieder zu verraten. Doch Millie und Julius erklärten SerSil und seine Bestimmung zum Latierre-Familiengeheimnis, so daß nur sie es von sich aus weitererzählen konnten, wenn sie es von sich aus wollten. Das reichte dem Minister auch schon aus. Danach durften alle, die noch im Ministerium bleiben wollten durch die Tür hinausgehen. Julius, Millie und die anderen Bewohner von Millemerveilles flohpulverten in das weitläufige Zaubererdorf zurück.

"Wenn Temie dir wieder einen Traum schickt, teile ihn bitte gleich mit uns", bestand Madame Faucon darauf, daß Julius nun nicht mehr selbst entschied, welchen Traum aus Temmies Schlafleben er weitererzählen sollte oder nicht. Damit konnte er leben. Auch damit, daß er nun nicht mehr alleine damit war, die Sachen aus dem alten Reich zu behandeln, erleichterte ihn sichtlich. Er wußte jetzt, wo er arbeiten würde, für wen, und was er darüber hinaus zu tun hatte. Konnte das jeder gerade achtzehn Jahre alt gewordene Junge von sich behaupten? Als er mit Millie bei Aurore in der Wohnküche saß, überkam ihn plötzlich etwas, als ziehe jemand ihn aus seinen Körper heraus. Er flog durch einen Wirbel aus Lichtern und Farben, bis er knapp über dem Kopf der geflügelten Riesenkuh Artemis hing. "Nicht weiter zu mir, sonst könnte es dir passieren, daß du mit mir den Körper teilen mußt und erst wieder freikommst, wenn ich ein weiteres Kind erwarte, in dessen Körper du dann hineinwachsen kannst", hörte er Temmies Celloklangstimme im Kopf. Dann teilte sie ihm noch mit: "Ich habe dich aus der Ferne beobachtet, auch in dem Raum, der eigentlich keinen Ton hinausläßt. Aber da du und ich durch so vieles zusammen sind konnte ich doch durch deine Ohren hören, daß ihr einen Geheimbund gegründet habt, der mit dem, was du von mir und Ianshira gelernt hast die Welt beobachten und beschützen wollt. Das ist wohl auch nötig. Denn ich habe vorhin den Wutschrei eines alten Kriegers gehört, der aus langer Gefangenschaft befreit wurde und doch so schnell wieder starb. Er wollte nicht fortgebracht werden und war wütend, weil ihn etwas großes, fliegendes ohne Kraft fortgezogen hatte. Er rief etwas von einer alten Bestie, die nur durch ihn in tiefem Schlaf gehalten wurde. Doch jetzt ist der alte Krieger aus dem neuen Körper gerissen und in seine Waffe zurückgebannt worden. Wo die Waffe ist habe ich nicht mehr erfühlen können. Doch irgendwas lauert jetzt. Ich habe die Welle der Erleichterung gefühlt. Etwas tief schlafendes beginnt, sich wieder in die Wachwelt zurückzutasten. Was für ein Geschöpf das ist kann ich nicht sagen. Doch es muß da gefangen sein, wo die mit dem Sein des toten alten Kriegers gefüllte Waffe verborgen lag. Finde bitte heraus, wer der alte Krieger war und wo sein letzter großer Gegner schläft und mach, daß er weiterschläft!"

"Und wenn ich nicht will?" fragte Julius.

"So steht es dir frei, dein Sein in meinen neuen Körper zu tauchen und mit meinem Sein darin zu wohnen, bis ich mit neuem Kind bin und du dann in dessen Körper neu in die Welt zurückkehrst oder lasse es einfach zu, daß die schlafende Gefahr erwacht! Oder hoffe darauf, daß sie nicht mehr erwacht, weil etwas wichtiges fehlt, um sie zu erwecken oder vergiß, was ich dir gerade gesagt habe!" Julius wußte, daß Temmie wußte, daß er garantiert nicht tatenlos zusehen würde, wie ein unbekanntes Monster aufwachte und dann über die Welt herfiel. Er konnte es sich überlegen. Er hatte es in der Hand, was er tat und wie er es tat. Doch wie sollte er nach dieser Waffe suchen, ohne aufzufallen. Denn, das war ja Sinn und Zweck von SerSil: Möglichst ohne Auffallen die bösen Sachen wegschaffen und die guten Sachen so unterbringen, daß nur die guten Leute damit hantieren durften. Zumindest wußte er jetzt, warum Temmie ihn damals auf die Traum-Zeitreise in die Schlacht der großen Krieger, der Vorbilder der legendären Titanen, mitgenommen hatte. Ja, deren Gräber gab es wohl noch. Auch mochte es sein, daß diese Überriesen ihre Feinde gebannt hatten und diese erwachten, wenn die Gräber der Titanen geöffnet und geplündert wurden. Tolle Aussichten, dachte Julius. Dagegen war Lesfeux magische Feuerwehrtruppe ein Kasperletheater. Mit dieser leicht despektierlichen Einschätzung fand sich Julius wieder in seinem eigenen Körper und mußte Millie berichten, was ihm passiert war.

"Das fehlte noch, daß die dich doch noch ganz bei sich behält und sich mit dir Beine und Zitzen teilt, bis Perseus oder wer anderes von Tante Babs' Hornträgern sie mit dem nächsten Kalb beläd und du dann Orions kleine Schwester wirst. Das verbiete ich dir, Monju. Hast du gehört?!"

"Ja, Maman Mildrid", knurrte Julius. Doch dann konnte er nur noch grinsen. Millie klatschte ihm die rechte Hand ins Gesicht, gerade sanft genug, um ihm keinen Handabdruck ins Gesicht zu hauen, gerade hart genug, daß er es spürte. Dann lagen sich die beiden in den Armen und küßten sich leidenschaftlich. Für mehr war der Tag noch zu hell, und sie wußten nicht, wer nicht doch noch was von ihnen wollen könnte.

Tatsächlich kam nach dem Mittagessen Hera Matine zu Julius und Millie und sagte nur: "Ich werde Antoinette mitteilen, daß auch der letzte Versuch nicht zum Erfolg führte. Denn mir ist jetzt klar, daß du dich nicht auf einen einzigen Ort der Erde festlegen lassen darfst, Julius. Mehr möchte ich nicht. Geh deinen Weg aufrecht und zielstrebig. Beachte die Steine, über die du stolpern kannst und verschone die kleinen Pflanzen, die dir im Weg wachsen! Den Rat habe ich jedem meiner drei Kinder mit auf den eigenen Weg gegeben, Julius." Sie umarmte Julius und küßte ihn auf jede Wange. Dann kehrte sie in ihr eigenes Haus zurück.

"Langsam wird mir die Dame sympathisch. Sie kann zumindest mit Anstand verlieren." Julius nickte seiner Frau nur zu. Etwas zu sagen traute er sich nicht.

ENDE

Nächste Story Verzeichnis aller Stories | Zur Harry-Potter-Seite | Zu meinen Hobbies | Zurück zur Startseite

Seit ihrem Start am 23. Februar 2013 besuchten 4967 Internetnutzer diese Seite.