Was bisher geschah | Vorige Story
Julius, der mit dem Nachnamen Andrews in Hogwarts angefangen hat, ist nun als Julius Latierre mit der Zaubereiausbildung in Beauxbatons fertig. Seine Frau Mildrid muß die wichtigen Abschlußprüfungen zwar noch nachholen. Doch beide richten sich nun darauf ein, ihr eigenes Leben zu leben. Die während Julius' Schulzeit erhaltenen Zaubergegenstände wurden in einem mit mehreren Schutzzaubern umschlossenen Schrank deponiert. Denn vor allem der Lotsenstein für die alten Straßen Altaxarrois ist ein machtvolles Ding, das nicht in unbefugte Hände geraten darf. Die Heilerzunft hat schon angefragt, ob er sich dort zum Heiler ausbilden lassen möchte. Doch Julius schwebt eher etwas in Richtung Umgang mit Zaubertieren oder Zauberwesen oder Zauberkunst vor. Inwieweit das alte Erbe, das er mit dem Lotsenstein übernommen hat, weiterhin sein Leben bestimmen mag weiß er noch nicht. Denn zunächst stehen mehrere Feiern an.
Zum einen feiern Millie und er die Verlobung von Julius' Mutter Martha in Viento del Sol. Auf der Reise dorthin versucht die Heilzunftsprecherin Antoinette Eauvive, die Martha Andrews' magische Adoptivmutter ist, Julius für ihre Zunft zu gewinnen. Seine zukünftige Stiefgroßmutter Hygia Merryweather hingegen rät Julius, nur das zu tun, für das er auch mit ganzem Herzen eintreten will. Wieder in Millemerveilles feiern die Latierres die Ankunft von Aurore Béatrice mit allen wichtigen Nachbarn und Freunden. Kevins Cousine Gwyneth bringt Kevin heimlich nach Millemerveilles. Denn Kevins Vater hat versucht, ihn durch auferlegten Zauberschlaf davon abzubringen, die belgische Junghexe Patrice zu heiraten. An die Ankunftsfeier für Aurore schließt sich die Feier zu Julius' achtzehntem Geburtstag an.
Kaum sind alle Geburtstagsgäste fort, wird Julius von Tiberius Odin, dem Vater Camille Dusoleils, in dessen Haus gebeten. Ein von der körperlich verstorbenen Aurélie Odin präparierter Zeittresor ist erschienen und hält drei letzte Erbstücke nur für Julius bereit. Dieser fürchtet, nun endgültig auf eine bestimmte Linie gebracht zu werden. Doch er nimmt die drei im Zeitwürfel liegenden Dinge an sich: Ein uraltes Buch über die Herrscher des alten Reiches, einen magischen Pokal, der durch Blutsbindung ermöglicht, mit allen sonst sprachunfähigen Lebewesen wie mit Menschen zu sprechen, die eigenes Blut oder Milch freiwillig in den Pokal fließen lassen. Zum dritten erhält Julius eine Flasche voller Erinnerungen, die Aurélie Odin von ihren weiblichen Vorfahren zusammengetragen hat. Als er sie in sein Denkarium füllt und mit Millie betrachtet, erfährt er, wann die erste Trägerin von Ashtarias Heillstern lebte, die eine Linie in Frankreich begründete. Sie verfolgen haarsträubende Kämpfe mit dunklen Magiern und dem gefährliche Schattenwesen steuernden Riesengehirn Kanoras mit. Sie bekommen mit, wie der mächtige Silberstern von einer weiblichen Trägerin zur nächsten erstgeborenen Tochter oder Enkelin weitergereicht wird, bis Aurélie Odin mit ihrem Vater Lucian Binoche das Elternhaus gegen eine Armee von Grindelwald-Unterstützern verteidigen muß. Das Landhaus der Binoches wird durch Fidelius-Zauber verborgen. Doch Aurélies Vater stirbt bei einem Duell mit Gellert Grindelwald. Julius erfährt, daß Gloria eine entfernte Verwandte eines Sohnes von Ashtaria sein muß, weil ihre Großmutter mütterlicherseits einen Vorfahren hatte, der den Silberstern tragen und benutzen durfte. Außerdem erfährt er, daß es noch einen zweiten Lotsenstein gibt, der jedoch in den Wirren von Machtkämpfen in den Besitz der Familie Steinbeißer gelangte, die jedoch nichts mit ihm anfangen können, solange sie die magischen Formeln zur Benutzung der alten Straßen nicht herausfinden können. Das alles bleibt nur Millie und Julius vorbehalten. Denn was sie erleben und geheimhalten wollen wird durch den Geheimniswahrungszauber der Latierre-Dynastie magisch versiegelt. Dennoch fühlen sich beide noch mulmiger als sonst.
Julius gehört wie Laurentine und Gloria zu den besten UTZ-Absolventen seines Jahrgangs. Bis auf ein E hat er nur unterstrichene Os erzielt. Damit kann er quasi jeden Beruf innerhalb des Zaubereiministeriums ergreifen, wenn er es will und eine Stelle frei ist.
Madame Eauvive, die oberste Heilerin Frankreichs, muß erfahren, daß Julius wegen seiner Familie nicht gewillt ist, sich weitere vier Jahre zum Heiler ausbilden und dann auf einen bestimmten Ort oder Arbeitsplatz festlegen zu lassen. Mit dem mürrischen, schon an selbstherrlichkeit grenzenden Zauberer Lesfeux von der Truppe zur Behebung von verunglückten Zaubern findet er keine Übereinstimmung, weil dieser unbedingt eine offizielle Muggelkundeabschlußprüfung im Zeugnis haben will. Dagegen stößt er bei Vertretern der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe auf höchstes Interesse, ihn in ihre Abteilung aufzunehmen. Letztendlich unterschreibt er einen Vertrag, der ihn für die nächsten fünf Jahre in Mademoiselle Ventvits Abteilung für humanoide Zauberwesen über Zwergen- und Koboldgröße anstellt. Danach folgt er einer inoffiziellen, streng geheim aufgemachten Einladung des Zaubereiministeriums. Dort trifft er alle die, denen er die alten Zauber Altaxarrois beibrachte. Minister Grandchapeau trägt seine Idee vor, eine von den anderen unabhängige Einsatztruppe zu bilden, die ausschließlich nach Hinterlassenschaften des alten Reiches sucht und aufpassen soll, daß von den mächtigen dunklen Artefakten und Wissensquellen keine neue Gefahr mehr ausgeht. Der als Service silent (Stiller Dienst) bezeichnete Einsatztrupp soll nur dem Minister selbst berichten. Seine Mitglieder arbeiten nach außen weiterhin für ihre bisherigen Arbeitgeber. Julius weiß, wie wichtig diese neue Truppe sein kann. Denn über die in Temmie wiederverkörperte Darxandria weiß er von mächtigen Hinterlassenschaften aus der Zeit, wo Überriesen sich in blutigen Schlachten mit den normalgroßen Altaxarroin bekriegt haben. Diese den altgriechischen Titanen als Vorlage dienenden Zauberwesen haben sich mit den selbstgeschmiedeten Waffen verbunden, was über den körperlichen Tod hinausgeht. Durch den magischen Pokal Aurélies und Temmies frisch dort hineingemolkener Milch verstärkt Julius die Verbindung zu Temmie/Darxandria. Auch seine Frau Mildrid darf diese Verbindung eingehen, wodurch die drei nun über vier magische Bindungsarten miteinander verbunden sind: Das Lebenskraftritual von Millies Großmutter, die beiden Herzanhänger, das erste gemeinsame Kind und nun durch das Trinken freiwillig gegebener Milch aus dem Pokal der Verbindung.
Daß der norweger Archäologe Arne Björnson eine uralte Waffe der Überriesen gefunden hat weiß dieser nicht, als er in einer Gletscherhöhle einen gigantischen Hammer untersucht, der jedes elektrische Gerät in seiner unmittelbaren Nähe stört. Er läd seinen britischen Kollegen Jonathan Stuard ein, sich den angeblichen Hammer des Donnergottes Thor näher anzusehen. Doch das Artefakt wird von der Armee requiriert. Professor Stuard, der gerade auf der nördlichen Insel Nordostland eintrifft, beobachtet, wie der Riesenhammer von einem Transporthubschrauber aufgenommen und fortgetragen wird. Dann sieht er einen auf einem Besen fliegenden Mann, der versucht, den Hammer zu ergreifen und dabei zum Riesen anwächst. Dieser Riese reißt den Hubschrauber in die Tiefe. Der Hammer verschwindet im Meer. Doch damit ist ein Jahrtausende alter Bann gebrochen, mit dem ein mächtiges Ungeheuer in ewigen Schlaf gehalten wurde. Ahnungslos begeben sich Professor Stuard und Björnsons Mitarbeiter in die leergeräumte Höhle und entdecken dort etwas, das unbegreiflich ist. Sie bekommen jedoch keine Gelegenheit, der Außenwelt davon zu berichten.
Er nannte sich Sigur Nansen. Er besaß Papiere, die ihn als Hauptmann der königlich-norwegischen Armee auswiesen und ihm die entsprechende Befehlsgewalt einräumten. Er war 1,89 m groß. Sein hellblonder Schopf war fast bis zur Kopfhaut geschoren. Auf seiner schmalen Nase ritt meistens eine Brille mit dünnem, nichtreflektierendem Rand. Er wirkte schmächtig. Doch das täuschte. In wirklichkeit war er athletisch austrainiert und konnte mehrere fernöstliche Kampftechniken anwenden. Das er neben seinem abgeschlossenen Physikstudium in der Armee auch neun Sprachen fließend sprach, wozu auch der gewöhnungsbedürftige Dialekt der Leute aus Kiruna gezählt wurde, stand nicht in seinen Papieren.
Gerade war der Hauptmann dabei, mit einem Suchtrupp Soldaten die Insel Nordostland abzusuchen. Sie waren schon alle unterwegs richtung Festland gewesen, als der Verteidigungsminister persönlich dem Truppentransporter den Befehl erteilt hatte, mitten auf hoher See vor Anker zu gehen und die Quarantäneflagge zu hissen. Drei Hubschrauber waren dann im Tiefflug herübergekommen und hatten je fünf Gefreite mit besonderer Spezialisierung auf Bergsteigen und Gletschereis nach Nordostland zurückgebracht. Von Marinekreuzern war ein breitfächerndes Radarstörfeuer abgestrahlt worden, um die Verfolgung der drei Maschinen für ausländische Beobachtungseinheiten zu erschweren. Sicher, was in der Höhle unter dem Gletscher gelegen hatte war so brisant, daß der Staat, auf dessen Boden es lag, sehr gut daran tat, keine fremden Interessenten darauf zu bringen. Doch genau die Gefahr bestand nun. Denn genau zehn Stunden nach dem Scheitern der Mission Sleipnir hatte der Minister persönlich zusammen mit dem Chef des norwegischen Inlandsgeheimdienstes geordert, daß der Transporter stoppen mußte. Jetzt befanden sich die Männer vor der Gletscherhöhle, aus der der Riesenhammer herausgeholt worden war. Nansen fühlte unmittelbar etwas bedrohliches, etwas, daß auf sie alle lauerte. Er kannte dieses Gefühl zu gut. Es hatte ihn schon fünfmal im Leben ergriffen. Er wußte deshalb, daß es die erste von insgesamt vier Warnstufen war, die ein ihm unerklärlicher Instinkt, den schon sein Vater besessen hatte, in sein Bewußtsein flößte. Dieser unerklärliche aber hundertprozentig zuverlässige Spürsinn war von Nansen als innerer Notausgang bezeichnet worden.
Am Höhleneingang fühlte er es wie heißen Atem, der ihm von allen Seiten selbst durch die Kälteschutzkleidung auf die nackte Haut behaucht wurde. Jetzt wußte er, daß in der Höhle etwas gefährliches steckte. Er befahl seinen Leuten sofort, sich zurückzuziehen. Ein junger Obergefreiter namens Fredrickson hegte keinen Wert, den von Bergström erteilten Befehl zu vergessen. Er widersprach Nansens Order und drohte ihm, ihn wegen Befehlsverweigerung anzuzeigen.
"Ich habe einen sechsten Sinn für Gefahren", verriet Nansen dem jungen Soldaten. "Sowas kriegen Sie auch, wenn Sie lange genug gedient haben."
"Ach, unfug", lachte der Obergefreite. Seine Kameraden standen unschlüssig um ihn und den Hauptmann herum.
"Irgendwas ist da in der Höhle. Ich kann nur nicht sagen, was es ist", zischte Nansen. Seine zugeteilte Mannschaft murrte. "Funken Sie den General an und richten Sie ihm bitte aus, daß Sie uns nicht in die Höhle gehen lassen wollen", stieß Fredrickson aus. Nansen nickte schwerfällig. "ich tue es", seufzte er. Er meinte für einen Moment, im dunklen Spalt der Gletscherhöhle dunkle Schatten tanzen zu sehen. Für ihn war das aber keine reine Halluzination, die aus übersteigertem Verfolgungswahn entstehen konnte, sondern die dritte Vorwarnstufe seines seltenen Gefahrenspürsinns. Doch die ihm eingetrichterte Disziplin zwang ihn, die an ihn gerichteten Warnsignale zu verdrängen und den General anzufunken. Als er mit viel Störgeräuschen und Geknackse den General erreichte, zeigte sich dieser erbost. "Was soll denn in der von uns leergeräumten Höhle so gefährliches sein, Nansen? Los, Einmarsch und durchsuchen!" Nansen wußte, daß die ihn gerade erwartungsvoll Lauschenden jedeVortäuschung falscher Tatsachen verderben würden, wenn er versuchte, den Befehl zu ignorieren. So bat er noch einmal um die Bestätigung, unter Aufbietung größtmöglicher Eigenschutzmaßnahmen die Höhle betreten zu dürfen.
"Lassen Sie meinetwegen die Panzerfäuste oder Handgranaten bereithalten. Aber wenn die beiden Gesuchten in der Höhle sind, müssen wir sie herausholen. Haben Sie das verstanden? Die beiden gesuchten Subjekte unbedingt in Gewahrsam nehmen! Das ist ein Befehl."
"Verstanden, General", erwiderte Nansen seufzend. Denn als der General seinen Befehl bekräftigte sah er und nur er ein Dutzend dunkler Schatten in der Höhle tanzen. Dort lauerte Gefahr, und zwar eine tödliche. So war er vor fünfzehn Jahren davor gewarnt worden, in den Zug nach Pilsen einzusteigen, weil er neben dem Gefühl der Belauerung, dem heißen Hauch auf der Haut und vielen dunklen Schatten auf dem mittleren Wagen auch die Umrisse von fünf Männern wahrgenommen hatte, die am Bahnsteig warteten. Er war gerade noch einem Greifkommando des mit der damaligen CSSR verbündeten KGB entwischt, weil ein Maulwurf aus seinem Heimatland sein Bild weitergeleitet hatte. Ein Jahr später hatte ihn dieser vierstufige Frühwarnsinn davor bewahrt, in das Haus eines angeblichen iranischen Untergrundkämpfers zu gehen. Sein Kamerad war damals in diesem Haus überwältigt und zu Tode gefoltert worden. Ihm war nur die Flucht aus Teheran gelungen, weil er auf eine ebenfalls unerklärliche, ja übersinnliche Weise erfahren hatte, wie er aus dem Stadtviertel entkommen konnte, das von getarnten Mitgliedern der iranischen Geheimpolizei Pasdar umstellt wurde. Erst da hatte er sich daran erinnert, daß er schon als kleiner Junge einer auf Prügel ausgehenden Bande hatte ausweichen können, obwohl er sich noch nie in deren Stadtviertel aufgehalten hatte und trotzdem geheime Fluchtwege fand, die die brutalen Burschen noch nicht kannten. Und jetzt stand er hier vor dieser Höhle und fühlte genau die ersten drei Stufen jener unheimlichen, ihm jedoch wohlgesinnten Vorwarnung, die er nach der Sache in Teheran als inneren Notausgang bezeichnete. In der Höhle war etwas schlimmes, lauerndes, tödliches. Die mit ihm mitmarschierten Soldaten waren dabei, in eine gnadenlose Falle zu tappen. Da er ihnen jedoch weder erklären konnte, warum er in der Höhle Gefahr vermutete, noch erklären wollte, woher er das wußte, konnte er nur zusehen, wie die Soldaten Anstalten machten, die Höhle zu betreten. Nansen rief sie mit einem scharfen Befehl zum halten. "Sie haben den General gehört. Die Höhle wird unter Aufbietung aller Eigensicherungen durchsucht. Wir können nicht mit Sicherheit annehmen, daß die Deckenstruktur dort noch intakt ist. Außerdem könnte nach der Entfernung des Artefaktes X ein Fallenmechanismus in Betrieb sein, der jedes weitere Vordringen vereitelt. Denken Sie an die Fallen in altägyptischen Grabmälern, meine Herren! Seilschaften bilden und Leuchtmittel wie Feuerwaffen einsatzbereit führen! Sie fünf sichern den Eingang nach außen!" befahl er und zählte per Hand fünf Männer ab, die Wache halten sollten. Erst als er sicher war, daß alle ihre Maschinenpistolen und starken Handlampen bereit hatten, folgte er ihnen in die Gletscherhöhle. Doch dort umtanzten ihn sofort die Schatten, und er sah vor seinem inneren Auge ein gefräßiges Maul auf- und zuschnappen. Er hatte schon mit zwei jahren aufgehört, an Monster oder schwarze Männer im Schrank zu glauben. Aber nun, wo ihm dieses Riesenmaul entgegenstieß fragte er sich doch, ob nicht doch was an den Kinderschreckgeschichten dran sein mochte. Er sah, wie seine Leute in eine weitere Höhle vordrangen. Dann sah er, wie ihre Handlampen flackerten und erloschen. Gerade als er die Höhle betreten wollte, meinte er, gegen eine massive Wand zu stoßen. Doch die Wand schien zu leben, aus Armen und händen zu bestehen, die ihn unerbittlich zurückstießen. Er versuchte gar nicht erst, weiter nach vorne zu gehen. Denn er fühlte eine immer größer werdende Angst. Er durfte dort nicht hinein. Da war was großes böses, daß ihn und seine Leute fressen wollte. Er rief ihnen noch zu, daß sie zurückkehren sollten. Doch Da fühlte er, wie auch von den fünf Wachen her Gefahr verströmt wurde. Er wirbelte herum und sah, daß die fünf Mann ihre MPs schußbereit hielten. Sofort sah er eine Unzahl Schatten um sie herumtanzen. Dann trat Stufe vier in Kraft. Wie von starken Neonröhren ausgeleuchtet sah er einen schmalen Weg, der in den toten Winkel der Wachmannschaft durch einen kleinen Spalt im Gestein führte. Er wandte sich noch einmal um. Gerade sah er, wie die Handlampen der Männer erloschen, als habe jemand eine schwarze Steinwand zwischen ihnen und ihm herabgelassen. Die Wachen kamen auf ihn zu. Sie bewegten sich träge und hölzern wie willenlose Marionetten, seelenlose Kreaturen. Er dachte an die lebenden Toten aus Horrorfilmen. Die wurden meistens auch als dahertorkelnde Gestalten dargestellt. Ähnlich wie solche Zombies bewegten sich die Soldaten. Nansen fühlte, wie die Schatten ihn umschwirrten, ihm ihre nichtstofflichen Hände auf den Körper zu drücken versuchten. Doch es gelang nicht. Der Hauch von Hitze war zu einem pulsierenden Glutgebläse geworden, und der schmale Fluchtweg glomm klar und unübersehbar.
""Weiter da rein. Unsere Kameraden sind schon am Ziel", grummelte einer der Soldaten den Hauptmann an. Dieser tauchte wieselflink aus der Ausrichtung der Maschinenpistole weg und sprang genau in den schmalen Felsenspalt hinein, der wie hell erleuchtet vor ihm lag. Er warf sich flach auf den Boden. Da peitschten auch schon mehrere Dutzend Kugeln über ihn hinweg und klatschten von den Wänden zurück. Altes Gestein und Gletschereis begannen zu bröckeln. Nansen fühlte nun auch Gefahr von der Decke ausgehen. Er robbte wie wild über den Boden. Da krachte es hinter ihm. Große Stücke Eis und Geröll waren aus der Decke gebrochen und verschütteten den schmalen Zugang zu diesem Einschnitt in den Felsen. Weiteres Prasseln und Krachen trieb den Hauptmann an, nun auf seinen Füßen durch den rumorenden, knirschenden Gang zu laufen. Im Moment fühlte er weder Müdigkeit noch Schmerz. Angst und Überlebenswille luden ihn mit ungeahnten Energien auf. Sein besonderer Spürsinn führte ihn wie mit einem Leitstrahl sicher durch das schmale Labyrinth aus Gletschereis, unter messerscharf herabhängenden Eiszapfen hindurch, sicher auf unvereiste Bodenstellen tretend bis zu einer Wand aus dünnem Eis. Er sah zwei Fußabdrücke in dieser Wand aufleuchten und wußte sofort, was er zu tun hatte. Mit drei kräftigen Kung-Fu-Tritten beseitigte er die Eiswand vor sich und sprang gerade noch hinaus, bevor die Wand klirrend und krachend zusammenbrach und von nachrutschendem Gletschereis begraben wurde. Doch er war draußen, wieder unter freiem Himmel. Er fühlte noch den Hitzehauch der drohenden Gefahr und blickte sich um. Die eigentliche Höhle war noch frei zu sehen. Er erkannte etwas wie zwei beindicke Schatten, die aus der Höhle hervorkrochen. Er hatte bisher nie hinterfragt, warum er diese Visionen hatte. Doch nun wußte er nicht, ob es nicht doch die Trugbilder in ihm lauernden Wahnsinns waren, die ihm zusetzten. Denn er meinte, die gespaltene Zunge einer mehr als dreißig Pythons großen Schlange zu sehen, die nach ihm tastete, seinen Geruch aus der Luft schmecken und ihn einwickeln wollte. Doch die aus einem dunklen Schatten bestehende Zunge zitterte, als sie den Höheneingang verlassen hatte. Sie flatterte hektisch hin und her. Dann zuckte sie so plötzlich zurück, daß Nansen nicht wußte, ob sein Verstand nun endgültig ausgesetzt hatte. Erst als ihm der klare Gedanke durch das Hirn schoß, schnellstmöglich von der Insel zu verschwinden und den Code für seine endgültige Flucht zu funken, wußte er, daß er noch nicht dem Wahnsinn verfallen war. Denn ihm wurde mit einem mal klar, daß seine Truppenkameraden gerade Opfer einer ihm bis heute unerklärlichen Macht geworden waren. Doch niemand würde ihm glauben. Oder vielleicht doch, wenn er behauptete, die Gletscherhöhle sei zusammengebrochen? Nein, nicht, nachdem er seine Bedenken gemeldet hatte. Bergström würde ihn verdächtigen, die fünfzehn Mann selbst in eine tödliche Falle gelockt zu haben und nach dem Grund forschen. Sicher, er war in harten Schulungen auf anstrengende und körperlich schmerzhafte Verhöre vorbereitet worden. Doch das war achtzehn Jahre her. Außerdem erkannte er noch etwas, die Bilder, die Nansen von der gescheiterten Operation gesehen hatte, der fliegende Mann, der zum Riesen wurde, bevor der Hubschrauber vom Radar verschwand, das alles hatte mit der grauenvollen Bedrohung in der Gletscherhöhle zu tun. Hatte er da was ausgesprochen, was sich tatsächlich ereignet hatte? War durch die Entfernung des Hammers ein Prozeß in Gang gesetzt worden, der für jeden tödlich war, der in die Höhle zurückkehrte? So mochte es auch Stuard und Haraldson bereits erwischt haben. Denn sonst waren sie nirgendwo auf der Insel.
Nansen fragte sich, was passierte, wenn er so tat, als sei er mit den anderen in der Höhle verunglückt. Sie würden weitere Suchtruppen schicken. Auch die würden in die Falle geraten. Wieso er nicht davon ausging, daß die Falle beim Zuschnappen nicht automatisch für weitere Menschen unschädlich wurde wußte er nicht. Doch irgendwie ließ ihn die Vision einer gewaltigen Schlangenzunge nicht in Ruhe. Die Bedrohung hatte etwas lauerndes, lebendiges an sich. Sollte er noch einmal zur Höhle zurück und mit vier kräftigen Sprengladungen den ganzen Gletscher einstürzen lassen? Das war wohl die einzige Möglichkeit, nachrückenden Kameraden den Tod zu ersparen. So ging er zum bereitgehaltenen Depot für Waffen und Sprengmittel und lud sich mehrere Pakete Plastiksprengstoff auf den Rücken. Ebenso klaubte er Werkzeug und Bauteile für einen Fernzünder auf.
Als er sich der Höhle näherte, fühlte er wieder den Hitzehauch auf der Haut. Ja, die Gefahrenquelle war noch aktiv. Er trat vorsichtig an die Höhle heran und sah die tanzenden Schatten. Sie warnten ihn davor, weiter vorzurücken. Gleichzeitig sah er eine Szene wie einen durch dicken Qualm vernebelten Film im Kino. Er sah einen Mann, der eine Bombe zu zünden versuchte. Doch die Zündschnur wollte nicht brennen. Stattdessen fiel die Bombe ohne weiteren Schaden anzurichten auseinander. Da verschwamm die Szenerie völlig. Der Mann, der sich die Identität des Hauptmanns Nansen zugelegt hatte, stutzte erst. Sollte das heißen, daß er die Sprengladung nicht zünden konnte? Er versuchte es dennoch, die Bombe scharf zu machen. Doch als er sah, daß die Anzeige des Empfangsgerätes leer blieb und er ebenfalls sah, daß die Anzeige seiner funkgesteuerten Digitaluhr leer war, wußte er, daß irgendwas massiv auf alle Elektronik einwirkte. Er wagte es erst gar nicht, die Bombe mit den Initialzündkapseln zu versehen. Nachher genügte ein ungerichteter Stromimpuls, sie ihm selbst um die Ohren fliegen zu lassen. Vielleicht ging aber eine rein mechanische Panzerfaust. Er hatte eine Mitgenommen und nahm den nötigen Sicherheitsabstand. Den Sprengsatz ließ er im Höhleneingang. Auch wenn das Gemisch nur durch das nötige Zündmaterial die volle Explosionswucht entfesseln würde, konnte es sein, daß die Panzerfaust die nötige Zündenergie lieferte, auch wenn die eigentlichen chemischen Reaktionen ausblieben. Er zielte auf die Stelle über dem Höhleneingang und betätigte den Abzug. Doch außer einem lauten Klicken passierte nichts. Das Sprenggeschoß löste sich nicht von der Waffe. Er zog noch mal ab. Doch die Panzerfaust löste nicht aus. Er sicherte die Waffe erneut und legte sie auf den Boden. Dann blickte er sich um. Weiter im Süden würde jetzt schon tiefe Nacht sein. Doch in diesen Tagen hier oben im Norden ging die Sonne nicht ganz unter. Sie schaffte es gerade einmal zum Horizont. Außer dem alten Gletscher und dem kargen Gelände darum herum und den Bergen in der Ferne war nichts und niemand zu sehen. Die Hubschrauber würden erst wiederkommen, wenn sie die "Rettung" von Professor Stuard und Gunnar Haraldson meldeten. Nansen nahm sein Funkgerät und versuchte, es einzuschalten. Es tat sich jedoch nichts. Weder der Lautsprecher noch das Kontrollicht erwachten zum leben. Er versuchte dennoch, einen kurzen Impuls abzusetzen. Als dies mißlang prüfte er andere Geräte aus der Ausrüstung. Alle Elektronik versagte. Aber die Panzerfaust war rein Mechanisch, wie ein besonders großkalibriges Gewehr. Warum versagte sie ebenfalls. Er nahm eine Armeepistole zur Hand und prüfte Magazin und Mechanik. Dann versuchte er, drei Schüsse in die Luft abzugeben. Es klickte nur laut und metallisch, und die Patrone wurde unabgefeuert ausgeworfen. Er versuchte, eine Leuchtrakete zu zünden. Dabei erkannte er, daß alles, was mit Feuer zu tun hatte versagte. Denn er schaffte es nicht, auch nur einen Funken aus dem Sturmfeuerzeug zu schlagen. Er zerrieb den Schwefelkopf eines Streichholzes an der rauhen Reibfläche, ohne eine Flamme zu zünden. Welche Macht auch immer nun wirkte. Sie unterband jedes Feuer. Er sah zur Sonne hinauf. Nur ihr Licht fiel fahl aus dem Himmel herab. Das größte Feuer im Sonnensystem wurde nicht von dieser Kraft Beeindruckt. So verfiel er darauf, mit den Linsen eines Feldstechers ein Brennglas zu bauen, um damit die Rakete zu zünden. Doch die Sonnenstrahlung war bereits zu schwach, beziehungsweise traf in einem ungünstigen Winkel auf die Erde. Er konnte damit nichts ausrichten. Noch einmal ging er zur Höhle. Wieder überkamen ihn die Vorwarnzeichen, die er schon gefühlt hatte. Als er tiefer in die Höhle eindrang prallte er wieder auf eine Wand aus schattengleichen Armen und Händen, die ihn energisch zurückstießen. Doch durch diese wabernde Wand hindurch konnte er sie sehen, die beiden Reihen aus spitzen Stalakmiten und Stalaktiten, die für ihn wie das halb offene Maul eines versteinerten Urzeitungetüms aussahen. Dann trieb ihn die Kraft zurück, die ihn bisher beschützt hatte. Etwas an oder in ihm hielt ihn ab, tiefer in die Höhle einzudringen. Er fürchtete, die unheimliche Schlangenzunge erneut zu sehen. Doch diese zeigte sich nicht noch einmal. Dennoch flüchtete er aus der Höhle und lief zu dem Zodiac, das am Strand lag. Unterwegs erkannte er, daß die Zone der Feuerunterdrückung und Elektronikstörungen gerade fünfhundert Meter weit reichte. Er hoffte, daß die auf einem gut isolierten Chip gespeicherten Daten über die Operation Sleipnir, der in seinem rechten Schuh verstaut war, noch intakt waren. Denn diese Informationen und seinen Bericht über die Höhle und das unheimliche Störfeld mußte er schleunigst zu seinen wahren Auftraggebern zurückbringen.
Er bestieg das Zodiac und benutzte die Notpaddel, um ohne verräterische Infrarotsignatur die Insel zu verlassen.
Er paddelte gleichmäßig und ausdauernd. Vier stunden lang ging das so, wobei er sich tunlichst auf der Linie der höchsten Berge der Insel hielt, um jedes hinter ihm hergeschickte Radarsignal abzublocken. Er dachte darüber nach, wie er Kontakt mit seinen Leuten aufnehmen konnte. Hier oben im Norden waren seit Ende der gegenseitigen Belauerung zwischen Ost und West, die allgemein als kalter Krieg bezeichnet wurde, keine Horchposten mehr vorhanden. In der Öffentlichkeit unbekannten Verträgen war vereinbart worden, jede Spionageapparatur zu demontieren, die den nördlichen und südlichen Polarkreis überwachte. Das galt zumindest für die erdgestützten Horchgeräte. Leider hatte der angebliche Hauptmann Nansen keinen leistungsstarken Sender, der auf Satellitenfrequenz funken konnte. Er hatte Geschichten, in denen Agenten solche Sender in winziger Form in Ringen, Armbändern oder Kragenknöpfen tragen konnten, immer als blanke Spinnerei abgetan. Sicher gab es Mikroelektronik, die für sich einem kleineren Heimcomputer Ehre machte. Aber ohne leistungsstarke Energiequelle konnte kein Minisender einen weit da oben herumfliegenden Satelliten erreichen. Dazu brauchte man schon größere Sender und Batterien und entsprechende Antennen. So was steckte in seinem Radiowecker in Oslo. Aber hier oben auf dem Nordmeer brachte ihm das nichts.
Wieder schlug sein Gefahreninstinkt an. Sanft zwar, aber unmißdeutbar. Jemand, der ihm böses wollte näherte sich. Er lauschte mit geschlossenen Augen. Doch außer den an den prall mit Preßluft gefüllten Schlauch des Zodiacs schlagenden Wellen hörte er nichts. Dennoch fühlte er das Unbehagen, daß jemand ihn bedrohte. Erst als er den ersten heißen Schauer wie auf die rechte Wange gehauchten Atem verspürte, hatte er die Richtung, aus der sein Feind oder seine Feinde anrückten. Sofort legte er sich in die Riemen. Er wollte immer noch auf den Motor verzichten, weil er zum einen Treibstoff sparen wollte und zum anderen keine deutliche Hitze- und Wellensignatur in das Meer zeichnen. Er griff in die Kiste, die als eine Art Werkzeug- und Proviantcontainer im Bugraum des großen Schlauchbootes verstaut war. Hier fand er nicht nur eine Leuchtpistole mit passender Signalmunition, sondern auch zwei Nioprenanzüge, noch dazu solcher Art, wie sie Taucher benutzten, die keinen Tropfen Wasser an ihre Haut lassen wollten. Er entdeckte sogar Pullover aus Rentierfell und pfiff durch die Zähne. Offenbar hatten die Besitzer des Bootes mit einem Sturm gerechnet und wollten nicht im eiskalten Wasser erfrieren, wenn davon was in das Boot schlagen wollte. Der falsche Nansen überlegte keine Sekunde mehr. Er riß sich förmlich die Uniform vom Leib, knüllte sie zusammen und beschwerte sie mit seinen Waffen. Dann ließ er das Zeug über Bord fallen, schlüpfte bibbernd in die warme Unterkleidung, dann die warme Oberbekleidung und zog sich erst den einen und dann den anderen Nioprenanzug über. Er achtete darauf, daß die Reißverschlüsse, die Hose und Jacke verbanden, sorgfältig geschlossen waren. Das alles geschah unter dem Druck der immer deutlicher fühlbaren Warnzeichen seines inneren Notausganges. Als er sein Gesicht mit Fetter Butter eingerieben und die beiden Kapuzen fest über den Kopf gezogen hatte, entrollte er das Tau, mit dem das Boot festgemacht werden konnte und band es sich um den Körper. Dann sprang er über Bord. Jetzt mußte sich zeigen, ob sein Freitauchtraining noch hielt. Er hatte es schon einmal auf vier minuten ohne Einatmen zu müssen gebracht. Er fühlte, wie die Gefahr näher kam, aber nur aus einer Richtung. Er atmete ruhig ein und aus. Noch fühlte er das eiskalte Wasser nicht. Die beiden wärmeisolierenden Anzüge und die ebenfalls warmhaltende Unterkleidung erfüllten ihren Zweck. Als Nansen fliegende Schatten sah und einen Moment sowas wie eine geisterhafte Libelle mit schwirrenden Flügeln zu sehen glaubte, wußte er, daß sein Gegner in einem Hubschrauber angeflogen kam. Er konzentrierte sich und holte so gut er konnte Luft. Dann verschwand er, am langen Tau hängend, unter das nun führerlos wirkende Boot. Er hoffte nur, daß der Hubschrauber keine Infrarotortungsgeräte an Bord hatte. Denn damit ließ sich sein Wärmeabdruck auf der Ruderbank und an den Paddeln feststellen.
Unter dem Boot konzentrierte er sich. Er durfte keine Bewegungen ausführen. Zum einen durfte das Boot sich nicht anders bewegen, als es die Strömung, der Wind und die Wellen ihm aufzwangen. Zum zweiten wollte er keine Unterwassergeräusche erzeugen. Sein Herz war wohl schon laut genug. Doch im Freitauchtraining hatte er gelernt, seinen Pulsschlag willentlich zu verlangsamen, um den Sauerstoffverbrauch zu senken. Drittens hatte er gelernt, daß bei Schwimmen im kalten Wasser erst die Glieder auskühlten und bei all zu wilden Schwimmbewegungen das abkühlende Blut noch schneller zu den lebenswichtigen Organen vordringen würde. Am Kopf fühlte er zumindest die zunehmende Kälte. Die Fettschicht auf seiner Gesichtshaut hielt das Wasser zurück. Doch die Kälte durchdrang diese glibberige Maske. Auch würde das Meersalz die isolierende Fettschicht bald so sehr durchsetzt haben, daß sie sich ablöste. Dann würde zumindest seine Gesichtshaut einer Temperatur von zwischen null und vier Grad Celsius ausgesetzt. Bei Salzwasser konnte die Temperatur sogar noch unter dem Wassergefrierpunkt sinken. Keine schönen Aussichten.
Sein Gefahreninstinkt schlug noch einmal richtig wild Alarm, als er den Hubschrauber hörte. Ja, sie suchten ihn. Er konnte aber jetzt nicht mehr flüchten. Verstecken, sich bedecken war nun die Devise. Sich verstecken und totstellen.
Die Maschine kam näher. Offenbar hatte der Pilot das Boot gesichtet und sank nun, um es zu untersuchen. Das Gewummer der die Luft zerquirlenden Rotorflügel wurde selbst hier unter Wasser unerträglich laut. Der Untergetauchte vergaß die Sekunden, die ihm noch blieben. Er konzentrierte sich, um den Drang zum Einatmen niederzuhalten. Sein Herz schlug nun mit weniger als fünfzig Schlägen pro Minute. Da er nicht auf große Tiefe ging, war der auf den Lungen pressende Außendruck erträglich, so daß er die darin gestaute Luft einhalten konnte. Immer noch flog der Hubschrauber über dem verlassenen Boot dahin. Für Nansen schinen zehn Minuten zu verstreichen, bis das Rotorenschrappen und Turbinengeheul wieder leiser wurde. Sein Gefahreninstinkt, der in dieser Zeit auf Stufe drei gewarnt hatte, beruhigte sich nun wieder. Die unmittelbare Bedrohung war vorbei. Wenn der Pilot das leere Boot als leeres, dahintreibendes Boot gemeldet hatte, dann hatte er wohl eine wortwörtliche Atempause herausgeholt. Er wartete noch, bis auch die unterste Warnstufe abklang. Dann zog er sich an dem ausgeworfenen Tau nach oben und enterte mit ausgekühltem Gesicht das Zodiac. Er blieb in seiner doppelten Isolierkleidung und suchte mit dem Fernglas aus der Kiste den Horizont ab. Kein Hubschrauber oder anderes Flugzeug war in Sicht.
Er wartete noch einige Zeit, in der er ruhig ein- und ausatmete und sich in Warme Decken gehüllt wieder aufwärmte. Heißer Tee und kräftige Gemüse-Fleischsuppe aus einer selbsterhitzenden Konservendose gaben ihm die nötige Betriebstemperatur.
Zwei Stunden später riskierte er es doch, den Motor zu starten, als er sicher sein konnte, weiterhin unangefochten zu bleiben. Er fuhr in richtung Spitzbergen.
Heimlich landete er an einer für größere Schiffe unzugänglichen Stelle und schwamm zu einer weniger steilen Stelle der Küste, wo er an Land kletterte. Dabei kam er sich vor wie eines der ersten Tiere überhaupt, die das bis dahin so schützende Meer verlassen mußten, weil der Feinddruck dort für sie zu groß geworden war. Die hatten auch mit der Schwerkraft zu kämpfen gehabt. Doch sein Training und seine Klettererfahrungen zahlten sich wieder einmal aus. Er betrat Spitzbergen. Wer ihn in seiner schwarzen Nioprenhaut erblicken mochte konnte glatt dem Gedanken verfallen, einen Außerirdischen vor sich zu haben. Nansen merkte jedoch bald, daß der Schutzanzug ihn an schnellen Bewegungen auf festem Grund hinderte. Er legte einen der hautengen Anzüge ab, wobei er sich nun wie eine Schlange fühlte, die die verbrauchte Haut abstreift. Dabei dachte er unwillkürlich an die Visionen in der Gletscherhöhle. Hatte er dort wirklich eine gewaltige, steinerne Schlange gesehen? Das würde er unbedingt noch klären müssen, wenn er aus dem nun zu Feindesland gewordenen Land herauskam.
In Longyearbyen vertraute er seinem Spürsinn und wich mehreren Polizeistreifen aus. Bisher hatte wohl niemand befunden, öffentlich nach ihm fahnden zu lassen. Er mußte wohl nur auf Geheimagenten und Militärpolizisten achten, die in Zivilkleidung Jagd auf ihn machten. Doch eine Regel beim Jagen lautete: Wer den Gegner eher ausmacht hat größere Chancen, am Leben zu bleiben oder Beute zu machen.
Da er mit einer Truppentransportmaschine der königlichen Luftwaffe Norwegens nach Spitzbergen befördert worden war, hatte er natürlich kein Geld und keine Reisepapiere eingesteckt, um mal eben zu einem Flughafen hinzugehen.
Mit seinem Fernglas beobachtete er aus sicherer Deckung heraus die Starts und Landungen am Flughafen. Dabei konnte er gerade so noch einen Jubelschrei unterdrücken. Er sah einen schnittigen Privatjet, der elegant wie ein Falke über dem Flugfeld niederglitt und auf einer der kurzen Landebahnen aufsetzte. Wenn er diese Maschine kapern und schön unter dem Radar bis zum Festland bringen konnte, dann war er außer Gefahr.
Der gebannte war gefangener von Träumen. Träume von wilden Jagden, wilden Kämpfen und leidenschaftlichen Vereinigungen mit anderen Artgenossen. Diese Träume hatten ihn die Zeit vergessen lassen. Das einzige, woran er sich zu gut erinnerte, war der mörderische Schlag auf den Kopf gewesen. Jetzt fühlte der Gebannte, wie der Druck von ihm wich. Die Träume wurden durchscheinender. Doch er konnte sich nicht bewegen. Er war noch zu schwach. Erst als er zwei Lebensträger fühlte, die in seinen erstarrten Leib hineinkletterten, fühlte er mehr Wachheit. Doch er konnte sich nicht bewegen. Zwar gelang es ihm, das Leben der beiden Gefangenen mit seinem träge dahinkriechenden Leben zu verbinden. Doch das reichte nicht. Er mußte mehr haben. Dann kamen die kleinen Krieger, die nach den beiden Lebensträgern suchten. Sie stürmten hinein in seinen Schlung. Der Gebannte fühlte, wie seine Gier nach Vertilgung wuchs. Doch er beherrschte sich, bis sie tief genug in seinen wie stein daliegenden Leib eingedrungen waren. Dann nahm der Gebannte die ihm zugelaufenen Leben in sich auf. Sie restlos in sich aufgehen zu lassen konnte er noch nicht. Der Schlag mit der Waffe aus Kraft und Entschlossenheit hatte seinen Körper so heftig erstarren lassen, daß er sich nicht wie üblich ernähren konnte. Aber sein Atem der Gier zog fünf weitere Krieger zu ihm hin, in sich hinein. Doch dann schwanden ihm wieder die Kräfte. Es waren einfach noch zu wenige Leben. Er brauchte mehr. Doch er witterte niemanden mehr. Er dämmerte wieder dahin in einen von wilden Träumen bevölkerten Schlaf, wartend, lauernd, hoffend.
Bergström versuchte es immer wieder, mit Nansen oder den fünfzehn Soldaten zu sprechen. Das Gefasel des Hauptmannes von einer nicht sicht- und greifbaren Gefahr ärgerte den General. Erneut hörte er, wie sein Funker im schalldichten Besprechungsraum eine Verbindung mit dem Trupp herstellen wollte. Wieder keine Antwort.
"Die drei Helis zur Insel, wenn aufgetankt!" befahl der General. Der Marinekreuzer, der über drei kleinere Truppentransporthubschrauber verfügte, durfte zwar nicht zu einer der Inseln. Doch das bedeutete kein Startverbot für die Hubschrauber. Nacheinander stiegen die Maschinen mit lautem Turbinengeheul und wilden Rotorgeräusch in den Abendhimmel. Die noch über dem Horizont stehende Sonne gab so viel Licht ab, daß gerade die Silhouette des Mondes im dunstigen graublau des Himmels zu sehen war.
Eine halbe Stunde später meldete der Staffelführer, daß die Hubschrauber über Nordostland flogen. Die Infrarotkameras wurden eingeschaltet und fanden Resthitze von menschlichen Körpern, aber keine sichtbaren Wärmequellen. Selbst das gemeldete Schlauchboot war nicht mehr am Strand. Dann kam eine Meldung, die den General aufhorchen ließ.
"Melden Unortbarkeit des Gletschers. Radarkontakt negativ!" Bergström wollte nachfragen, was diese Meldung zu bedeuten hatte, als mit einem unangenehmen Krachen und Prasseln die Funkverbindung abbrach. Selbst die über Satellit empfangenen Peilsignale der Maschinen waren verstummt. Der Funker rief den Staffelführer. Doch dieser meldete sich nicht. Das schiffseigene Radar war zu schwach, um über diese Entfernung nach ihnen zu suchen. Aber vor der Insel lag ein Patrouillenboot. Dieses wurde angefunkt und meldete, daß sie die Maschinen bis auf fünfhundert Meter über Grund klar erfassen konnten. Dann seien sie auf einmal vom Bildschirm verschwunden. Also hatte irgendwas in dieser Flughöhe alle elektromagnetischen Impulse unterbrochen. Sowas gab es bisher nur in Zukunftsgeschichten, dachte der General. Oder hatten die Unbekannten, die den Hammer in der Höhle zurückgelassen hatten, tatsächlich einen Abwehrmechanismus ausgelöst, der nun alle fliegenden Objekte neutralisierte? Er mußte auch an den Mann auf dem Besenstiel denken. Nur er und die unmittelbar am Einsatz beteiligten Offiziere hatten die Aufzeichnungen gesehen. Natürlich auch der Verteidigungsminister.
"Insel anlaufen! Das Schlauchboot ist auch weg. Haben Sie auf Ihrem Posten geschlafen?"
"Keineswegs. Aber wenn da ein Boot war, konnte es an den Felswänden entlang fahren, ohne als klares Echo unterschieden zu werden", rechtfertigte der Radarmann auf dem Patrouillenboot das Versäumnis. Bergström mußte verdrossen nicken. Sich ganz nahe an Felswänden entlangfahrend um einne Insel zu schleichen oder fast in Berührung mit einem größeren Schiff zu fahren war schon ein brauchbarer Radarabwehrtrick. Wenn der, der das Boot genommen hatte auch noch ohne Motor losgefahren war konnte er noch nicht mal anhand einer Wärmespur im Wasser entdeckt werden. Doch im Moment war wichtiger, was mit den Hubschraubern passierte. Darauf hätte der General gerne eine Antwort erhalten.
Als zwanzig Minuten vergangen waren, ohne daß eine Meldung von einer der Maschinen erfolgt war, ließ das Patrouillenboot eine Aufklärungsdrohne starten. Da die neuralgische Zone der Funkstörungen bei fünfhundert Metern über Grund begann, ließ der Operator das kleine Flugzeug erst einmal auf eintausend Meter über Grund steigen. Dann schaltete er auf Teleoptik und gab die Koordinaten des Gletschers ein. Die Drohne flog über die Insel. Mittlerweile war mit Genehmigung des Ministers eine verschlüsselte Satellitenverbindung zwischen dem Boot und dem Kreuzer errichtet worden. So konnten auch Bergström, der Kreuzerkapitän und der Verteidigungsminister in Oslo selbst sehen, was passierte.
Die Drohne schwirrte über die Bergspitzen und näherte sich dem Gletscher. Dabei bekamen die aufgeschalteten Beobachter die schreckliche Bestätigung, daß die Hubschrauber nicht nur vom Radar verschwunden, sondern vom Himmel gesackt waren. Zwar hatten sie mit Autorotation einigermaßen weich aufgesetzt. Doch dabei waren zwei Maschinen gegen einen Felshang gekracht. Die Kanzeln waren aufgesplittert. Die dritte Maschine war mit ihren Kufen genau auf der Höhe des Gletschers gelandet und gleich einem Rodelschlitten den Gletscher hinuntergerutscht. Zumindest konnte die Drohne entsprechende Schleifspuren aufzeichnen. Von den Besatzungen fehlte jede Spur. So blieb die Drohne eine Minute auf tausend Meter Höhe. Als sie auf Befehl des Kapitäns auf sechshundert Meter abstieg, dachten alle, die Höhe sei sicher. Doch als unvermittelt alle Funkverbindungen zur Drohne ausfielen wurde den Offizieren schlagartig bewußt, daß die Zone der Funkstörungen sich weiter ausgedehnt hatte. Die Drohne war kein Rotorfluggerät. Sie glich vielmehr einem Modellflugzeug, nur daß es mindestens tausendmal teurer war als eines, mit dem Kinder spielen konnten. Den Militärs in der OPZ des Kreuzers wurde klar, daß nicht nur Funksignale blockiert wurden. Denn die Bruchlandungen der Hubschrauber bewiesen, daß da jemand gezielt elektrische Vorgänge unterbrach, also auch die, um einen Hubschrauber in der Luft zu halten. Die Drohne war also verloren, und die Männer wußten nicht, ob sich das Störfeld noch weiter ausdehnen würde. Sie konnten ja nicht wissen, daß die vier überlebenden Männer aus den beiden Hubschraubern geradewegs in die Gletscherhöhle eingedrungen waren. Dort hatte sie dasselbe Schicksal ereilt, das ihre Kameraden vor anderthalb Stunden getroffen hatte.
"Die Insel wird absofort zur Überflugssperrzone erklärt. Alle verfügbaren Boote sollen einen Sperrgürtel um die Insel bilden", befahl der Verteidigungsminister, nachdem er den mündlichen Bericht der Techniker verstanden hatte. Er wollte gerade Befehl geben, die Insel komplett zum Sperrgebiet erklären und von in ABC-Kleidung steckenden Suchmannschaften durchkämmen zu lassen, als ein Mann in einem dunkelroten Umhang mit einem scharfen Knall aus dem Nichts bei ihm im gut gesicherten Büro erschien. "Ich fürchte, Herr Minister, Sie haben schon genug Ihrer treuen Krieger geopfert", sagte der Fremde, ein großer, rothaariger und rotbärtiger Mann, bevor er einen hölzernen Stab auf den Minister richtete. Dieser war vom Auftauchen des Fremden so überrascht, daß er weder auf den unter seinem Schreibtisch angebrachten Alarmknopf trat noch um Hilfe rief. "Obleviate!" hörte er noch. Doch dann schwanden ihm die Sinne und auch das Gedächtnis.
Eine halbe Stunde später tauchten zwanzig Männer und Frauen in langen, kältefesten Umhängen an Bord des Kreuzers auf. Einige Soldaten versuchten auf sie zu schießen. Doch die Waffen lösten nicht aus. Funker, Radarüberwacher, Bordingenieur und Kapitän wurden fast zeitgleich von den Eindringlingen umstellt und mit dem Gedächtniszauber Obleviate belegt. Die restliche Schiffsbesatzung hatte keine Chance gegen das urplötzlich aufgetauchte Enterkommando. Fünf Minuten später waren alle Besatzungsmitglieder der Ansicht, auf Nordostland sei eine von der nicht mehr bestehenden Sowjetunion unbemerkt eingerichtete Forschungsbasis mit einem hochgradig tödlichen Virus in die Luft geflogen. Die Aufzeichnungen über einen auf einem Besen fliegenden Mann wurden aus den Rechnern gelöscht, und die noch vorhandene Daten-CD wurde gegen einen unberührten Rohling ausgetauscht. Was die Einsatztruppe jedoch nicht wußte war, daß jemand die Bilder von dem Besenreiter und seiner Verwandlung in einen von Blitzen umtosten Riesen außer Landes geschmuggelt hatte und gerade unterwegs war, um seine Beute abzuliefern.
Wie eine Katze vor dem Mauseloch, dabei immer auf herumsuchende Wachhunde gefaßt, beobachtete der falsche Hauptmann Nansen den Learjet. Dieser wurde in keinen Hangar gebracht. Ein älterer Herr mit ein paar guten Freunden hatte die kleine Düsenmaschine verlassen. Auch der Pilot hatte seinen Arbeitsplatz verlassen. Wie man so ein Flugzeug steuern konnte hatte der Flüchtige gelernt. Immerhin hätte er ja durchaus mal mit einer solchen Maschine ein Land verlassen müssen.
Er hatte natürlich auch den Passagier erkannt, der mit der Maschine geflogen war. Es war der norwegische Wirtschaftsminister. einer in Form scheinbar chaotisch hintereinandergereihter Zahlen, die sein Radiowecker zu einer geheimen Botschaft umgewandelt hatte, war zu entnehmen gewesen, daß der Wirtschaftsminister sich mit seinem russischen Kollegen wegen der weiteren gemeinsamen Nutzung der Kohlevorräte des Svalbard-Archipels unterhalten wollte. Die Öffentlichkeit durfte davon erst etwas wissen, wenn vollendete Tatsachen geschaffen waren. Nun, ob die Öffentlichkeit es auch erfuhr, wenn dem Minister sein zweistrahliger Flugteppich unter den Füßen weggezogen wurde? Der Mann, der sich bis vor einem Tag noch Hauptmann Nansen hatte nennen lassen, wollte nicht länger warten.
Er schlich sich im Schutz von Containern und Tanks an einen Mechaniker heran, der gerade eine kleine Linienmaschine überprüfte. Lautlos, schnell und präzise fiel der Flüchtige über den arglosen Flughafenarbeiter her und raubte ihm mit einem wohlplatzierten Würgegriff das Bewußtsein. Dann räumte er den Überwältigten hinter einen anderen Container, wo er auch dessen Montur anzog. Jetzt erst merkte er, wie warm ihn die Niopenumhüllung gehalten hatte, aber wie geschmeidig er sich nun wieder bewegen konnte.
Als harmloser Mechaniker gekleidet pirschte sich der falsche Armeeoffizier an den Learjet heran. Er nahm zehn Wächter wahr, die die Maschine umstanden und aufpaßten, daß kein Terrorist daran herumhantieren oder etwas unliebsames darin verstecken konnte. So ging er einmal im weiten Bogen um die Maschine herum und näherte sich einem Airbus der kleineren Baureihe. Vielleicht sollte er diese Maschine als Fluchtmittel benutzen. Als er um die vorderen Räder des Fahrgestells herumging reagierte sein Gefahreninstinkt wieder. Dieses mal übersprang sein besonderer Sinn die beiden ersten Stufen. Da, wo die Wachen standen tanzten nun Schatten, die wilde Drohbewegungen gegen ihn ausführten. Dann sah Nansen, wie vier Wächter ihre Posten verließen und ihre Waffen schußbereit machten. Wodurch hatte er sich verdächtig gemacht? Egal. Jetzt mußte er flüchten. Aber auf dem Flugfeld war er den anderen ausgeliefert, ob sie nun auf ihn schossen oder nicht. Aber da kam ihm der Einfall, die Fluchtwegenthüllungsfähigkeit seines inneren Notausgangs auszunutzen. Er verließ die Deckung des Fahrwerkes und rannte scheinbar kopflos auf eine der noch stehenden Wachen zu. Dadurch geriet sein Gefahrenspürsinn gänzlich in Wallung. Er sah wie in hellem Licht die Treibstofftanks der Maschine. Sie waren noch halb voll. Das würde bis zum Festland reichen. Dann sah er noch ein hinter einer druckdichten Klappe am Einstieg gelegenes Schaltfeld und wußte sofort den gültigen Zutrittscode. Er schlug zwei Haken, so daß die ihn in die Zange nehmenden Wachen ins Leere liefen und preschte mit gut eingeteilter Atemluft zur Maschine. Er tauchte kurz unter eine der Tragflächen weg. Die Männer wagten nicht, auf ihn zu schießen. Ein Wachmann meinte wohl, ihn von schräg hinten angehen zu können. Doch im letzten Augenblick warf sich der falsche Hauptmann herum und landete einen ansatzlosen Handkantenschlag auf dem Nasenrücken des Wächters. Dieser kippte um und blieb liegen. Er fühlte, daß die Verfolger gleich die letzte Hemmung verlieren und auf ihn feuern würden. Er sprang an der maschine hoch und hantierte mit einer unglaublichen Geschwindigkeit an der Abdeckung vor dem Tastenfeld. Als es freilag stießen seine Finger so flink auf die Membrantasten nieder wie Wespen auf einen Bienenstock voller Honig und Larven. Es piepte, summte und Klackte. Zischend glitt der Einstieg auf. Der falsche Hauptmann warf sich gerade noch zu Boden, bevor vier Stahlmantelgeschosse über ihn hinwegsirrten. Der Schütze hatte gerade noch so gezielt, daß keine der Kugeln die empfindliche Außenhaut des Flugzeuges treffen konnte. Der falsche Hauptmann erkannte, daß die Maschine seine Lebensversicherung war, sprang aus der Deckung und enterte mit einem mächtigen Klimmzug den Einstieg. Seine Verfolger kamen näher. Der falsche Hauptmann zog eine Signalpistole und feuerte eine Leuchtkugel nach draußen. Die drei ihn verfolgenden ließen sich fallen, als die rote Leuchtkugel auf Höhe ihrer Oberkörper heranzischte. Die drei Sekunden, die sie am Boden blieben nutzte der dreiste Flüchtling, um den Einstieg wieder zu verschließen und die Zündschalter für die Triebwerke auf "An" zu stellen. Sofort begannen die Turbinen erst mit tiefem, dann immer höher ansteigendem Ton zu singen, bis ihr Arbeitsgeräusch ein lautes Heulen und Fauchen war. Sicher, daß der angehende Flugzeugentführer niemals eine Starterlaubnis erhalten würde, warf er sich in den Pilotensitz. Er fühlte im Moment, daß ihm keiner eine Kugel nachjagen würde. Sein dreister Coup hatte die Wachen, die nur auf Personenabwehr nach außen eingestimmt waren, der Lächerlichkeit preisgegeben.
Er löste die Bremsen und gab gas. Die Maschine rollte auf das Feld hinaus. Da Longyearbyens Flughafen nicht so stark ausgelastet war wie beispielsweise London Heathrow, konnte sich der dreiste Düsenflugzeugdieb sogar die Startbahn aussuchen. Das Funkgerät ließ er gleich ganz abgeschaltet. Er schwenkte auf den Weg zur nächsten Startbahn ein. Tatsächlich versuchten gerade gepanzerte Polizeiwagen, den Weg der kleinen Maschine zu verstellen. Doch er spielte mit den Servosystemen der Lear wie ein Junge, der an seiner Spielekonsole den neuesten Höchststand erzielen will. im Grunde war das hier auch gerade nichts anderes. Er mußte Gegnern ausweichen und zusehen, das Flugzeug zu starten. Womöglich würde dann die Luftwaffe alarmiert und Abfangjäger losschicken. Doch bis die da waren war er schon unterwegs zum norwegischen Festland. Besser noch, er flog Richtung Norden weiter, um nach Kanada zu kommen. Die Lear würde mit der Menge Treibstoff mindestens noch dreitausend Kilometer schaffen. Über die Zone um den Nordpol herum war der amerikanische Kontinent nicht mehr so weit weg. War er in kanadischem Luftraum konnte er ganz gemütlich seinen Geheimcode und die nur dem MI6 bekannte Nummer seiner geheimen Stationierung durchgeben. Selbst wenn sie ihn am Boden verhaften würden, war er dann zumindest unter Leuten, die der britischen Königin dienten und nicht dem norwegischen König.
Die kleine Maschine schlingerte und schlidderte zwischen den sie einkreisenden Fahrzeugen hindurch und erreichte die Startbahn. Hier gab der Flugzeugräuber vollen Schub. Der Learjet fegte laut fauchend und Feuerspeiend über die Piste, die auf Grund des Permafrostbodens immer wieder gewartet werden mußte. Da die Maschine leichter war als ein Touristenbomber, brauchte sie nicht die ganze Startbahn. Schon nach der Hälfte hob sie ihre Nase und stieß in den polaren Sommerhimmel hinein.
Nach nur fünf Sekunden Steigflug brachte der Flüchtige die Maschine in waagerechte Fluglage und ließ sie in Richtung Südosten auf das offene Meer hinausschießen. Sicher würden schon die ersten Düsenmaschinen aufsteigen. Doch wenn er unter dem Radar blieb, mußten sie ihn erst einmal suchen. Als er sich sicher war, nicht sofort verfolgt worden zu sein, ging er mit der Maschine so tief, daß er fast die Kämme der Wellen berührte. Er wußte, daß er damit Treibstoff verheizte, weil der Luftwiderstand und die Turbulenzen der vom Meer zurückgedrängten Luftmassen die Maschine auslaugten. Doch er mußte mindestens noch zehn Minuten so weiterfliegen, bis er sicher war, die Gegner verwirrt zu haben. Er wechselte bereits den Kurs auf Nordwest. Er wartete noch eine Minute, bis er den genauen Kurs hatte. Dann schaltete er das Kollisionswarngerät ein, um rechtzeitig vor Gegenverkehr gewarnt zu werden. Dann ging er wieder auf Höhe, um den restlichen Treibstoff einzuteilen und auf das kanadische Festland zuzufliegen.
Fast holten ihn zwei überschallschnelle Phantom-Jäger ein. Doch bevor diese auf ihn feuern konnten, verließ er den norwegisch kontrollierten Luftraum und näherte sich den höchsten nördlichen Breitengraden. Unter sich lag das Eis. Einige Wissenschaftler unkten, daß es keineswegs so ewig war, wie es aussah. Doch den Flüchtenden kümmerte im Moment keine Debatte um Umweltschutz und Klimaveränderungen. Er sah die ihn jagenden Militärflugzeuge, die noch eine Zeit neben ihm herflogen. Offenbar hatten die Piloten Probleme, ihn in internationalem Luftraum abzuschießen, solange er keine anderen Maschinen bedrohte. Erst fünf Minuten nach dem Beginn der Verfolgungsjagd drehten die Jagdmaschinen ab. "Gute Heimkehr!" wünschte der rechtswidrige Pilot der Learjet. Er wußte, daß Hauptmann Nansen soeben gestorben war und sich wie ein Vampir im grellen Sonnenschein zu nichts als Staub und Erinnerung auflösen würde. Ab jetzt war er ein geflüchteter Geheimagent. Falls die Norweger es nicht schafften, die Kanadier und die Briten davon zu überzeugen, ihn festzunehmen, konnte er sogar einige Zeit unbehelligt weiterleben. Seinen Geburtsnamen wollte er aber nach Möglichkeit nicht mehr benutzen: Wie waren seine Eltern auch darauf gekommen, ihn Heathcliff zu nennen. Gut, die gleichnamige Zeichentrickkatze war wesentlich jünger als er. Doch mit dem Namen hatte er immer nur Stress gehabt. Sein Großvater väterlicherseits hatte mit drittem Vornamen so geheißen. Aber das war jetzt völlig drittrangig. Er mußte nur die Maschine des norwegischen Wirtschaftsministers sicher auf kanadischen Boden bringen.
Als die Treibstoffanzeige bereits kritische Unterversorgung anzeigte, bekam er Gesellschaft. Drei Harrier näherten sich ihm. Sofort wählte er die Militärfrequenz der königlichen kanadischen Luftwaffe, die er wie eine wichtige Telefonnummer im Kopf hatte. Er rief die Piloten der Maschinen mit einem Code an, der nur Angehörigen der britischen Luftstreitkräfte und dem Geheimdienst vorbehalten war. Keine fünf Minuten später wurde die Lear zu einem küstennahen Militärflughafen an der Ostküste beordert. Als die gestohlene Maschine aufsetzte wurde ihr Dieb nicht etwa in Handschellen abgeführt, sondern in einem gepanzerten Wagen mit verspiegelten Scheiben vom Flugfeld heruntergefahren. Eine Viertelstunde später sprach der entwischte Geheimagent bereits mit seinem Führungsoffizier. Die über ein besonderes Glasfaserkabel geführte Unterhaltung wurde von Bild- und Tonzerhackern verschlüsselt.
"In einem Monat hätten wir Ihren ehrenvollen Tod arrangiert, Agent siebzehn Strich neunzehn. Was hat Sie veranlaßt, Ihre Tarnung aufzulösen?" Der Agent erwähnte es und schickte die verschlüsselten Aufzeichnungen über die Operation Sleipnir über eine gesicherte Datenleitung an seine Zentrale.
"Sie fliegen morgen mit einer anderen lear nach Edinburgh und melden sich dort im sicheren Haus. Dort bleiben Sie, bis wir Sie für neue Aufgaben freistellen können. Die Norweger werden nun wie ihre kriegerischen Vorfahren brüllen und nach Rache lächzen. Denn Sie haben denen eines ihrer größten Geheimnisse entwendet."
"Ich habe den Hammer gesehen, Sir. Er war eindeutig echt."
"Wir prüfen die Aufzeichnungen. Was sagten Sie, daß Professor Stuard vom britischen Museum in die Sache verwickelt wurde?" Der Agent nickte. "Verstanden. Dann sollten wir prüfen, ob er seinen Angehörigen noch irgendeine Nachricht hat zukommen lassen. Zu keinem anderen ein Wort über die Bilder, vor allem nicht über diesen Hexenmeister auf dem Besenstiel!" Der Agent nickte.
"Nervös, weil die gute Ornelle Ventvit dich in vierzehn Tagen durch jeden von ihr hingehaltenen Reifen springen lassen darf?" wollte Ursuline Latierre von ihrem Schwiegerenkel wissen, nachdem sie zu seiner und ihrer Zerstreuung eine ausgiebige Schachpartie beendet hatten. Julius wußte nicht, welche Antwort er geben sollte. Nervös war er nicht. Sonst hätte er die Schachpartie wohl kaum so lange durchgehalten und nur wegen eines leichtsinnigen Stellungsfehlers den eigenen König ins Matt laufen lassen. Er sagte seiner noch gut gerundeten Schwiegeroma:
"Kann sein, daß sie mich als Übersetzungshilfe einspannt und mich mal hier und mal da hinscheucht. Aber da mache ich mir keinen Kopf drum."
"Sie war ja einige Jahre über mir und Blanche in Beaux. Hatte damals einigen Jungs die Köpfe verdreht. Aber sie hat immer klargestellt, daß ohne Hochzeitsfunken keiner in ihr Schlafzimmer rein darf. Sie hatte eine Art drauf, streng zu sein, aber auch lebenslustig zu bleiben. So wie du sie mir beschrieben hast hat sich da nichts dran geändert."
"Ich bin gespannt, was ich in der Behörde machen kann oder soll. Bei deiner Tochter Barbara hätte ich gleich gewußt, daß sie mich zum Melkhelfer abkommandiert", erwiderte Julius.
"Jetzt, wo eure Temmie nicht mehr ausschließlich für Orion Mittrinkt und -frißt solltest du dich wirklich gut in den Melkzaubern üben. Könnte sein, daß sie beleidigt ist, wenn du nichts von ihr trinken möchtest."
"Ich denke, Orion beansprucht sie noch ganz ordentlich. Der kann ja nicht mal eben zur Tante nebenan hin oder eine ältere Schwester - ähm, anpumpen."
"Zumal er ja noch eine ergiebige Oma hat", erwiderte Ursuline verschmitzt grinsend. "Ich habe es schon erlebt, daß Demmie die Kälber ihrer Töchter und Nichten gesäugt hat. Deshalb guckt meine werte, achso anständige Schwester Cynthia ja auch immer so neidisch auf meine eigenen Milchvorräte, weil Babs es uns mal erzählt hat, daß Demmie ihre milchschwachen, weil erstkalbenden Verwandten unterstützt hat. Weil Temmie ihre Erbanteile hat geht die garantiert auch gut als Ammenkuh."
"Genau wie du?" wollte Julius wissen.
"Millie würde dich zwar vierteilen. Aber wenn du das wirklich wissen willst, müßtest du mir die kleine Aurore geben, wenn sie wieder Hunger hat. Wird sie satt und spuckt nichts von mir wieder aus, dann muß ich wohl mit "Ja" antworten."
"Millie ist da sehr eigen", sagte Julius. "Ihr Kind, Ihre Mutterpflichten."
"Dann muß sie aber gut aufpassen, wenn sie die Kleine zu lange bei Jeanne läßt", lachte Ursuline. "Die hat mit dem Stillen fremder Babys kein Problem."
"Ja, weiß ich", erwiderte Julius darauf.
"Apropos Trinken und Satt werden. Hat meine mir brav nacheifernde Enkeltochter für dich was zum Abendessen vorbereitet?" Julius verneinte es. Er wolle sich selbst was machen, zumal Millie wohl nicht vor zehn Uhr von Jeanne zurückkommen würde. Eine Kleinigkeit essen, dann noch mal ausgiebig den Rechner laufen lassen, E-Mails austauschen und Nachrichten lesen. Doch seine Schwiegergroßmutter sah das anders.
"Wir zwei haben eine anstrengende Partie gespielt. Du wirst mir hier nicht halbhungrig sitzenbleiben, auch wenn du den Kochuspokus-Kurs bei Blanche und deiner Landsmännin mit dem schönen, dunklen Haarschopf bestanden hast. Ich nehme dich mit zu uns. Josianne und Béatrice wollten heute ein siebengängiges Menü machen. Meine vier ganz kleinen schreien wohl auch schon. Ich fühl's zumindest in den Nippeln, daß sie mich bei sich haben wollen."
"Oma Line, ich bin volljährig und daher im Stande, zu wissen, wann und wie viel ich essen möchte", versuchte Julius, das als strickte Aufforderung verkleidete Angebot zurückzuweisen. Doch er wußte, daß Ursuline wußte, daß er wußte, daß sie ihn nicht groß anhalten mußte. Sicher hatte er hunger. Millie würde bei Jeanne auch genug zu essen kriegen. Also was sollte es? Er hatte zwar gedacht, noch vier weitere Stunden Urlaub von der eigenen Familie machen zu können. Doch wenn es nicht ging, dann ging es nicht. So mentiloquierte er Millie, daß Oma Line ihn mit ins Sonnenblumenschloß nehmen würde.
"Solange du den vier ganz kleinen nichts wegschlürfst kein Problem", hörte er die Gedankenstimme seiner Frau in seinem Kopf, als säße sie in beiden Ohren gleichzeitig.
Während des Abendessens unterhielt er sich mit seinen zwei Schwiegertanten, der Familienhexe und der Heilerin. Auch Otto Latierre, sein auf Zauberkunst spezialisierter Schwiegeronkel war da und bereicherte die Unterhaltung mit interessanten Ergebnissen. Eine Stunde später kam Barbara Latierre noch von dem Treffen der internationalen Magizoologievereinigung (IMAZOV) und nahm Julius bei Seite.
"Auch wenn du es mir nicht glauben möchtest, du hast nichts verpaßt. So ein ermüdendes Durcheinandergeplapper, weil der eine dem anderen nicht zuhören will und die eine der anderen unbedingt klarmachen will, die einzige wahre Fachhexe für Tierwesen X oder Tierwesen Y zu sein. Ich soll dir aber von Magistra Rauhfels schöne Grüße ausrichten. Ihr Großneffe ist mit seiner Frau gerade im Riesengebirge unterwegs um nach den Spuren seiner Namensgeber zu suchen."
"Rübezahl?" wollte Julius wissen.
"Hmm, stimmt, diesen Namen ließ Magistra Rauhfels fallen. Hattet ihr den im Zauberwesenseminar?"
"Nein, der gehört zu den Märchen und Sagen der Muggel, weiß ich von Laurentine", erwiderte Julius.
"Morgen ist eine Podiumsdiskussion vor interessiertem Fach- und Laienpublikum auf meinem Hof. Wenn Millie und du wollen kommt doch zu uns herüber."
"Dürfen wir Aurore mitbringen?" fragte Julius.
"Frag besser, ob sie euch mitbringen darf. Immerhin kommt meine Frau Mutter ja auch mit ihren vier jüngsten Erfolgen", knurrte Barbara Latierre.
"Ich frage Millie nachher", sagte Julius. Er interessierte sich wirklich dafür, was die IMAZOV-Leute für Laien interessantes vortragen und diskutieren würden. Er fragte dann noch, ob Hagrid auch zur Versammlung gekommen sei.
"Nein, ist er nicht, weil er in irgendwelchen Familienangelegenheiten unterwegs ist, was bei seiner Abstammung ein wenig suspekt klingen mag. Für ihn beziehungsweise Hogwarts ist eine Professor Rauhe-Pritsche dazugekommen, und Professor Forester auch. Ich konnte sie wegen der hitzigen Diskussion mit ihrer italienischen Kollegin Pontegallo nicht fragen, ob ich dir was ausrichten darf. Die beiden hatten es da gerade von den Harmonovons. Da hat sich dann auch der Fachlehrer der griechischen Heliagoras-Schule eingeschaltet, der diese Zaubertiere lieber nur in Südeuropa erhalten möchte. Aber sie wird morgen bei der Diskussion um die Grenzen der Züchtung magischer Nutz- und Haustiere dabei sein. Nuagette hat ein Zwillingspaar Kälber zur Welt gebracht, zwei künftige Kühe. Du kennst Nuagette doch sicher noch?""
"Immerhin hat sie mich voll an Temmie rangeschmissen, daß ich mal für einige Sekunden enger mit der verbunden war als ... mit meiner eigenen Mutter." Babs Latierre blickte ihn warnend an, mußte dann aber lächeln. Er wiederholte dann noch einmal, seine Frau zu fragen, ob sie mitkommen wolle. Er wollte auf jeden Fall hin.
"Mum, ich komme mit der nächsten Maschine aus San Francisco zurück. Angelica hat sich unmöglich betragen", hörte Amanda Stuard die verärgert klingende Stimme ihrer Tochter.
"Du wolltest mit den beiden Mädchen doch erst am ersten wieder ins gute alte England. Was hat Angelica denn angestellt?" wollte Amanda Stuard wissen.
"Nicht mehr und nicht weniger, als sich ihren tierhaften Gelüsten hinzugeben und diese mit einem halbafrikanischen Halodri ausgerechnet in jenem Bett auszuleben, in dem sie und ich zu übernachten pflegten", knurrte Moira. Dann erzählte sie, daß Rosemarie und sie Angelica fast auf frischer Tat erwischt hatten. Nur das protestierende, rhythmische Quietschen aus ihrem Zimmer hatte erst Rosemarie auf die richtige Idee gebracht und dann auch Moira verraten, daß ihre gemeinsame Komilitonin ihre Amerikareise mit einer haltlosen Liebesnacht würzen wollte. Den burschen hatten sie sogar noch gesehen, es war der Strandcasanova Alejandro Burgos, der schon beim ersten Mal Gefallen an der goldblonden Angelica gefunden hatte. Rosemarie hatte nur ihren Freundschaftsring vorgestreckt und Moira eine eindeutige Abwehrhaltung eingenommen, um ihm zu zeigen, daß sie nicht an ihm interessiert waren.
"Hat deine Kameradin das Bett wenigstens neu beziehen lassen?" wollte Mrs. Stuard wissen.
"Sie läutete gerade den Zimmerservice, um die Bettwäsche wechseln zu lassen, Mutter. Doch das reichte mir nicht aus. Ich sah und sehe keinerlei Veranlassung, in einem Lotterbett zu nächtigen, auch wenn die Laken frisch aus der Wäsche stammen.""Angelica ist genauso volljährig wie du, Moira. Jedem Tierchen sein Pläsierchen", verteidigte Amanda das Treiben von Moiras Reisebegleiterin.
"Sie mag sich mit allen testosteronüberladenen Burschen der ganzen Westküste paaren und dabei riskieren, außerehelich ein Kind zu empfangen. Aber dies muß sie doch nicht ausgerechnet in dem Zimmer tun, in dem Rosemarie und ich mit ihr Erholung von den anstrengenden Reiseerlebnissen finden möchten. Ich komme jedenfalls mit der nächsten Maschine zurück. Rosemarie will mit Angelica noch nach Los Angeles.
Bevor ich es vor lauter Unmut zu fragen versäume, Mutter: Hast du neues von Vater erfahren?"
"Genausowenig wie du, Moira. Seit seiner kurzen SMS aus Oslo hat er sich nicht mehr gemeldet. Aber das will nichts heißen, wenn er auf eine Insel des Spitzbergenarchipels weiterreisen wollte. Da gibt es sicher noch keine ausgebauten Mobilfunknetze oder gar Internet."
"Ja, aber wenn er wirklich mit Professor Björnson zusammentreffen wollte könnte er doch um Erlaubnis bitten, dessen Satellitentelefon zu benutzen, um zumindest uns und seinen Mitarbeitern im Museum zu berichten, wie es um ihn steht und wann er seine Rückkehr einrichten kann."
"Das stimmt. Aber wenn die beiden sich einmal in einer Fachdiskussion verheddern, kommt von denen keiner drauf. Und Björnson hat keine Familie, die sich um ihn sorgen macht", erwiderte Amanda Stuard. Moira grummelte darauf nur etwas unverständliches. Dann kündigte sie an, in zehn achtzehn Stunden in London Heatrhow einzutreffen. Ihr Flieger würde in drei Stunden starten. Sie sei bereits dabei, ihr Gepäck reisefertig zu machen.
"Geh nicht davon aus, daß Ms. Wakefield oder das Reisebüro dir die Hotelkosten für die nächsten Tage zurückerstatten", sagte Mrs. Stuard noch.
"Daran liegt mir nichts", erwiderte Moira und verabschiedete sich.
"Natürlich nicht", grummelte Amanda Stuard, als die sündteure Mobilfunkverbindung getrennt war. "Das haben sie dir im Internat in den Kopf gesetzt, daß Kinder wohlhabender Eltern sich nicht um ihr Taschengeld sorgen sollen. Hätten dich doch besser in die städtische Oberschule schicken sollen, um mehr Respekt vor nicht so überreichen Leuten zu lernen. Aber dein Vater vergöttert dich zu sehr." Dann dachte sie wehmütig daran, daß ihr Mann, Moiras Vater, vielleicht schon tot war, verunglückt, ohne eine letzte Meldung in die Heimat abgesetzt zu haben. Sie dachte an jenes in der Quantenphysik zitierte Wundertier, Schroedingers Katze, die in einer Kiste eingesperrt war und jederzeit durch ein zufällig vorbeifliegendes Neutron eine Giftgasvorrichtung ausgelöst werden konnte, die das Tier tötete. Solange die Kiste verschlossen blieb war die Wahrscheinlichkeit gleichhoch, daß die darin eingesperrte Katze sowohl tot als auch lebendig war. So ähnlich empfand sie gerade den Zustand ihres Mannes. Denn es hatte früher nie länger als fünf Tage gedauert, bis Jonathan sich gemeldet hatte, egal, ob er in der Nähe eines Telefons arbeitete oder einen Briefträger beauftragte, ein Telegramm zum nächsten Amt zu überbringen. Das er nun schon seit einer Woche kein Lebenszeichen mehr geäußert hatte war ihr unheimlich. Insofern konnte sie dieser jungen Frau Angelica Wakefield insgeheim dankbar sein, daß sie Moira aus den Staaten zurück ins warme Elternhaus getrieben hatte.
Sie blickte auf die funkgesteuerte Wanduhr mit silbernem Rand und las ab, daß es hier in London gerade sieben uhr abends war. Dann war es in Kalifornien erst elf Uhr vormittags. Sie rechnete im Kopf aus, um wie viel Uhr Londoner Zeit Moira dann in Heathrow landen würde: Ein Uhr Nachmittags.
"Mrs. Chambers, meine Tochter wird bereits morgen um ein Uhr in Heathrow landen. Bitte notieren Sie sich die Zeit für Gilbert, er möchte sie bitte am Terminal für internationale Flüge abholen!" rief Amanda Stuard durch das Haus. Die rüstige Haushälterin Anne Chambers bestätigte die Anweisung und fragte, ob es bei dem Termin heute Abend bliebe.
"Mrs. Carfax und Mrs. Fields werden wie vereinbart um acht Uhr eintreffen. Bis dahin werde ich noch einige elektronische Nachrichten prüfen."
"Sehr wohl, Madam", erfolgte die Bestätigung der Haushälterin, die gleichermaßen Butlerin, Köchin und Zimmermädchen verkörperte.
Die Reise zurück nach Großbritannien war nun schon fünf Tage her. Der geflohene Geheimagent hatte seinen Bericht abgefaßt und in versiegeltem Umschlag zu seiner Dienststelle bringen lassen. Jetzt hockte er da und langweilte sich. Er genoß zwar das Fernsehprogramm in seiner Heimatsprache, und die dienstbaren Geister des Hauses sorgten für sein leibliches Wohl. Ja, sie hatten ihm sogar in Aussicht gestellt, ihm eine besondere Dienstleisterin zu besorgen, um jeden angestauten Trieb kontrolliert abzureagieren. Er hatte dann nur gegrinst und gesagt: "Ich mag zwar ein klein wenig wie James Bond gewesen sein, als ich aus Norwegen abgereist bin. Aber alles muß ich dann doch nicht so haben wie der."
Fünf Tage war er nun in diesem Haus. Heute schrieben sie den 17. August des so symbolträchtigen Jahres 2000. Wenn er bedachte, wie schnell dieses Jahr bereits voranschritt und wie viel Unruhe es vor seinem Eintreffen gegeben hatte, mußte er schmunzeln. Doch die gute Laune verging ihm, als sich nach diesen fünf Tagen sein Gefahrenspürsinn wieder meldete. Irgendwer im Haus oder außerhalb trachtete ihm nach Freiheit oder Leben. Er lauschte. Doch noch konnte er nicht erfassen, wo die Gefahr herkam. Sonst fühlte er es bei Stufe zwei, woher der Feind kommen würde, also, in welche Richtung er sich absetzen konnte. Doch als das Gefühl von heißem Hauch ihn traf, kam es von allen Seiten, außer von unten. Mochte es sein, daß jene, deren Geheimnis er angetastet hatte, ihm bereits auf der Spur waren? Er hatte sich seit seiner Flucht aus Norwegen gefragt, ob dieser eine Zauberer nur einer von wenigen oder einer von vielen gewesen war. Falls zweites der Fall war, dann konnten diese Leute sich organisiert habenund eine Art Schattendasein außerhalb der restlichen Zivilisation führen. Vielleicht lebten sie aber auch mit und unter ihnen, durch geheime Identitäten und Rückzugsmöglichkeiten geschützt wie er und seine anderen Feldeinsatzkollegen. Dann konnte er im Grunde von Glück sprechen, daß er bisher unbehelligt geblieben war. Denn wenn es wirklich Nutzer einer überirdischen Kraft waren, dann lag diesen sicher nicht daran, ihre Existenz bekannt werden zu lassen.
Jetzt tanzten die ersten Schatten um Agent Heathcliff Bingham herum. Sie wedelten heftig mit ihren Phantom-Armen. Dann trat bereits Stufe vier in Kraft. Er sah die Feinde. Es waren Blitze, die im Augenblick ihres Erscheinens leuchtende, menschliche Gesichter bekamen und fühlte etwas in seinem Kopf, als wolle ihm jemand etwas daraus herausreißen. War das schon der Angriff? Nein, es war die Warnung vor der Art des Angriffs. Er sollte seinen Verstand, vielleicht auch sein Gedächtnis verlieren. Die einzige Fluchtmöglichkeit war der geheime Schrank im Wohnzimmer. Der hatte eine getarnte Hintertür, die in einen Keller führte. Die beiden Dienstboten hatten frei und waren zu ihren Freunden oder Verwandten gefahren. Er war allein im Haus. Er machte sich keine Illusion, es unbemerkt durch die Türen oder Fenster verlassen zu können. Doch der Schrank stand ihm offen, weil ihm keiner davon erzählt hatte, glaubten wohl alle, er wisse es nicht.
Er sprang aus seinem gemütlichen Fernsehsessel und hieb auf den Knopf der Fernbedienung. Mit einem lauten Knack und knisternden Entladungen verschwand das Bild vom Schirm. Er rannte zu einer Wand und fingerte an der Tapete, bis er die mit den Augen nicht zu findenden Membrantasten fand. Er drückte die richtige Reihenfolge. Sofort glitt ein scheinbar nahtlos wirkendes Wandstück nach hinten und dann zur Seite. Bingham sprang in den Schrank und drückte schnell den anderen Knopf. Die Wand glitt wieder in ihre ursprüngliche Lage. Bingham hantierte am Kombinationsschloß für die Hintertür und bekam diese auf Anhieb auf. Er sprang auf die erste Stufe der engen Wendeltreppe. Die Tür fiel hinter ihm wieder zu. Sie würde sich auch wieder neu verriegeln, wenn er drei Stufen der Treppe berührt hatte. Also hastete er die Treppe hinunter in den Keller. Dort öffnete er eine feuer- und Sprengsichere Eisentür mit einem dazu passenden Schlüssel. Da hörte er den scharfen Knall wie eine weit von ihm abgefeuerte Pistole. Er verharrte hinter der geschlossenen Tür. Er hörte jedoch nichts. Nur sein innerer Notausgang zeigte ihm, daß der Feind bereits im Haus war, und daß drei Gegner sogar wie Aasgeier über dem Haus kreisen mußten. Bingham schlich so leise aber auch schnell wie er konnte weiter. Würden die Türen die Angreifer aufhalten? Oder konnten sie diese einfach aus dem Weg sprengen? Er dachte auch daran, daß die Angreifer vielleicht die phantastische Kunst des Raumspringens, des Beamens oder auch der Teleportation beherrschten, um jede Mauer oder Tür zu überwinden. Hoffentlich konnten sie nicht auch noch seine Gedanken erfassen oder seine Körperausstrahlung anmessen. Dann saß er gerade wie die Maus in der Falle.
Er blieb vor der tür Zurück, die zu einem unterirdischen Fluchttunnel führte. Er fühlte, wie die Angreifer das Haus durchsuchten. Dann sah er mehr als zwei Meter um sich herum silberne Funken tanzen. Sein Instinkt ließ ihn auf dem Punkt verharren. Noch einmal flirrte etwas silbernes mehr als zwei Meter um ihn herum. Dann glomm sogar soetwas wie fluoreszierendes Licht um ihn auf. Es geisterte um ihn herum, bildete einen weiten Ring um ihn und erlosch. Dann fühlte er, wie fast alle feinde auf einen Schlag verschwanden. Die sieben Angreifer, die er instinktiv wahrgenommen hatte, waren auf einmal weg. Drei verbliebene Angreifer kreisten wohl noch über dem Haus. Doch nach nur zehn Sekunden schwirrten sie davon. Sein innerer Notausgang schloß sich wieder. Er beruhigte sich. Der Angriff war ins Leere gestoßen. Sie hatten ihn nicht gefunden. Aber was waren das für Leuchterscheinungen gewesen? Hatten sie damit das Haus abgesucht? Warum hatten sie ihn dann nicht gefunden? Er überlegte und rief sich alle Eindrücke seiner Flucht in den Keller ins Gedächtnis zurück. Er kam zu dem Schluß, daß die Gegner wahrhaftig den zeitlosen Raumsprung beherrschen mußten, etwas, woran er, der Physik und Elektronik studiert hatte, niemals hatte glauben wollen. Die Frage war, war es eine den meisten Menschen unbekannte, ihnen Jahrtausende vorauseilende Technologie, die das bewirkte, oder handelte es sich um übernatürliche Kräfte, die unter dem Sammelbegriff Magie abgehandelt werden konnten? Wenn es Magie war, dann hatten sie wohl eine Art Auffindezauber gewirkt. Er hatte jedoch nichts verspürt, sondern nur diese silbernen Funken gesehen, die in weitem Bogen um ihn herumgetanzt hatten. Ebenso hatte ihn das geisterhafte Grünlicht nicht berührt. Irgendwie hatte ihn irgendwas oder irgendwer mit einer Art Schutz- oder Tarnschirm umgeben, der diese Suchmaßnahmen von ihm ferngehalten hatte. Jetzt fragte er sich doch, was ihm solche Fähigkeiten gab, daß ihn derartige Dinge nicht anrühren konnten? Er ließ seine Gedanken in die Vergangenheit zurückreisen, zu seinen Großeltern. Sein Großvater Wilbur Arnold Heathcliff Bingham hatte ihm gesagt, sich vor irgendwelchen Typen mit Spitzhüten in Acht zu nehmen. Nicht alle von denen seien friedlich. Er hatte es damals für die ersten Auswirkungen von Altersdemenz gehalten. Doch außer diesem Hinweis auf etwas abwegige Leute hatte ihm sein Großvater nie was gesagt, was unnormal oder schlicht versponnen klang. Auch hatte der noch im stolzen Alter von einhundertfünf Jahren seinen Lieblingsmonolog gesprochen, Prosperos letzte große Rede vor der Verabschiedung seiner unfreiwilligen Gäste und seiner Tochter Miranda. Prospero hatte sich laut Shakespeare der Zauberei ergeben und sich den Luftgeist Ariel dienstbar gemacht. Als er damit seine Tochter nicht vor den Menschen seiner Zeit beschützen konnte, hatte er sie und die im von ihm beschworenen Sturm auf seiner Insel gestrandeten ziehen lassen und seinen Zauberstab zerbrochen, um in Frieden allein zu sterben. Da war es also auch um Magie gegangen, erkannte Bingham nun. Zehn Jahre war sein Großvater nun tot und begraben. Jetzt erinnerte sich Bingham, daß auch sein Vater Jeff einen sechsten Sinn für Gefahren hatte, nicht unbedingt für Angriffe, aber für bevorstehende Unfälle. Er hatte seinen Sohn, den seine Mutter immer Heathy gerufen hatte, vor einem niederstürzenden Baum geschützt, war einmal plötzlich auf die Bremse gestiegen, obwohl nichts auf einen von links kommenden Wagen deutete, um keine sekunde später einem aus der Seitenstraße vorbeirasendem Motorradfahrer nachzublicken. Wäre er mit unverminderter Geschwindigkeit weitergefahren, hätte das Motorrad die Beifahrerseite getroffen und Heathcliffs Mutter Jenny schwer verletzt oder getötet. Ja, der Gefahrenspürsinn war ihm von seinem Vater, der mit seiner Frau den Ruhestand auf Jamaika verbrachte, in die Wiege gelegt worden. War einer seiner Vorfahren ein Zauberer oder eine Zauberin, Fee oder Hexe gewesen? Im haus seiner Großeltern väterlicherseits in der Nähe von York hing das Ölbild seiner Ururgroßmutter, einer gewissen Pavonia Hights. Sie war in einem smaragdgrünen Kleid abgemalt worden und trug ihr dunkelbraunes Haar in sanften Wellen bis zu den Hüften. Er hatte immer schon geahnt, daß sie eine würdige Erscheinung gewesen sein mußte, wenn der Maler sie nicht hoffnungslos falsch portraitiert hatte. Er hätte sich nicht gewundert, wenn seine Ururgroßmutter mit Lady Pavonia oder Lady Hights angesprochen worden wäre. Er wollte sich das Bild noch einmal ansehen. Doch wenn die Zauberergilde nun das Haus überwachte, vielleicht einen Alarmzauber darüber gelegt oder alle Ausgänge magisch verriegelt hatten ...? Er öffnete die Tür zum Tunnel und machte sich auf, das in fünfhundert Metern gelegene Gehöft zu erreichen, daß als geheimer Fluchtausgang angelegt worden war.
Er lief gebückt durch den schmalen Gang. Dabei lauschte er auf seinen besonderen Sinn. Tatsächlich war da nach zweihundert Metern wieder dieses Gefühl, heißen Atem auf der Haut zu spüren. Er war sich sicher, daß der stärkste Eindruck von hinten kam. Doch noch war er nicht in unmittelbarer Gefahr. Er beschleunigte sein Tempo. Doch keine fünf Sekunden später tanzten zwei Schatten um ihn herum. Er wirbelte auf der Stelle herum und sah, wie sich die Schatten teilten, zu vier, acht und sechzehn Abbildern ihrer selbst wurden. Dann überkam ihn der Eindruck, gleich gegen einen Feind kämpfen zu müssen. Er blieb unvermittelt stehen, während die nur für ihn sichtbare Vervielfachung der drohenden Schatten weiterging. Jetzt wuselte eine Wand aus einhundertachtundzwanzig Schatten vor ihm. Er hatte die plötzliche Eingebung, von einem Gegner direkt von vorne angesprungen zu werden. Reflexartig schnellte sein rechter Arm zurück und holte zu einem Karateschlag aus. Es war wie ein Stromstoß, der ihn durchzuckte und die Handkante durch die Luft pfeifen ließ. Im gleichen moment ploppte es laut. Keine Hundertstelsekunde später landete Binghams wuchtiger Hieb gegen die solide Stirn eines wahrhaftigen Angreifers. Dieser prallte zurück und stürzte. Im selben Moment lösten sich die Schatten auf, und das ersticken des heißen Hauches ließ Bingham einen Moment frösteln. Doch die Gefahrenzeichen waren alle erloschen. Hatte er damit die Gefahr als solches ausgeschaltet?
Er sah nach unten. Vor ihm lag ein breitschultriger Mann am Boden. Bingham ließ sein Feuerzeug aufflammen und sah den gefällten Gegner genauer an. Der Widerschein der Flamme irrlichterte vom glattrasierten Gesicht mit den mittelhellen Augen über den dunklen Haarschopf und wieder zurück, über die Knollennase bis zum weißen Hemdkragen. Der am Boden liegende trug einen dunklen Anzug mit Krawatte, ganz wie ein Geschäftsmann. Nur der bei seinem Sturz entfallene Holzstab paßte nicht zu dieser Aufmachung. Bingham nahm den Stab vom Boden und bewegte ihn. Ihm war, als vibriere das Stück Holz in seiner Hand. Doch mehr empfand er nicht. Hatte er wirklich einen Zauberer niedergestreckt? So ein Zufall passierte wohl nur einmal alle tausend Jahre, dachte Heathcliff Bingham. Zumindest wußte er jetzt, daß die Fremden tatsächlich ohne Bewegung an einen entfernten Standort überwechseln konnten. Das machte sie brandgefährlich für jeden Geheimdienst, aber auch für jede auf Sicherheit bedachte Firma, Bank oder Militärbasis. So ein Teleporter konnte, das wußte er aus den einschlägigen Comics und Zukunftsgeschichten, in jeden nur gegen dreidimensionale Angriffe gesicherten Raum eindringen, Bomben legen, Menschen einschleusen oder mit einem Handgriff ins Nichts mitreißen. Nur sein Gefahrensinn hatte ihn exakt geführt, den aus dem Nichts auftauchenden gleich in der ersten Viertelsekunde niederzuschlagen. Die Frage war, kamen da noch mehr?
Bingham überlegte nur eine halbe Minute, was er mit dem anderen anstellen sollte. Ihn hier zurücklassen, bis er aufwachte erschien ihm zu gefährlich. Ihn ins sichere Haus zurückschaffen ging nicht. Wenn die Dienerschaft in den Überfall eingeweiht war würde sie ihn sofort freilassen. Er mußte den Mann also mitnehmen. Im Moment ging von ihm keine Gefahr aus. Damit das so blieb wollte der Flüchtende den Besiegten in Dauertiefschlaf halten. Er hatte bei der kurzen Vision über den Fluchtpunkt mitbekommen, daß dort Narkosemittel und eine Apparatur zur Erzeugung eines künstlichen Komas vorhanden waren. Zu seiner Ausbildung gehörte auch der Transport von aktionsunfähig gehaltenen Personen. Nicht nur der Mossat griff zwischenzeitlich auf das Mittel der Entführung zurück, wenn dadurch die nationale Sicherheit bewahrt oder erwiesenes Unrecht geahndet werden sollte.
Mühsam schleppte er den Gefangenen durch den restlichen Tunnel, immer darauf gefaßt, ihn sofort fallen zu lassen, wenn er wieder das ungute Gefühl eines bevorstehenden Angriffes verspürte. Er erreichte die kleine Verbindungstür, die durch ein Codeschloß gesichert war. Er stellte an den großen Rädern den ihm als richtig erscheinenden Code ein und zog in genau abgestimmter Reihenfolge einen roten, blauen und gelben Hebel mehrmals, bis es laut klackte, und die Tür aufsprang. Bingham wuchtete den Bewußtlosen in den Raum dahinter. Es war ein Lagerraum. Noch einmal ließ er das Feuerzeug aufflammen, um zumindest ein wenig Licht zu haben.
Er war in einem Vorratskeller gelandet. Regale voller Konservendosen und Einmachgläser wuchsen bis auf zwei Meter die Wand empor und streckten sich mehr als zwanzig Meter lang. Eine Tiefkühltruhe begann gerade ihren nächsten Abkühlvorgang, und in einem Metallschrank fand Bingham Flaschen mit Spiritus, Maschinenöl und Klebstoff.
Von einer mehr als einen Meter durchmessenden Kabeltrommel schnitt Bingham genug ab, um den Gefangenen zu fesseln. Dann suchte er das Haupthaus des weitläufigen Gehöftes ab. Von außen wirkte es abbruchreif und angekokelt. Allein die beiden Scheunen sahen aus wie teilweise abgebrannt. Hier würde sich wohl auch kein Landstreicher wohlfühlen. Abgesehen davon, daß um das Gehöft eine wilde, mehr als drei Meter hohe Hecke wucherte, fast wie im Märchen von Dornröschen. Überhaupt war die Frage, wie jemand diesen Platz betreten konnte. Er oder sie müßte sich da wohl schon von einem Hubschrauber abseilen lassen. Denn für einen gewöhnlichen Helikopter war dasGelände wegen der unregelmäßigen Bodenbeschaffenheit zu unsicher. Offenbar blieb nur der Keller als Zugang, ein idealer Rückzugsraum für Agenten, die für nicht all zu lange Zeit von der Bildfläche verschwinden wollten, jedoch auch nicht unter Zeitdruck standen, möglichst bald wieder aufzutauchen. Bingham fragte sich, ob seine Gegner diesen Ausweichpunkt kannten. Da er keinen drohenden Angriff vorausgefühlt hatte, mußte er im Moment davon ausgehen, daß die Fremden dieses Gehöft nicht mit dem einen halben Kilometer entfernten, gut eingezäunten Haus in Verbindung brachten.
Die Maschinen und Medikamente zur Herbeiführung eines künstlichen Komas waren für Heathcliff gut zu bedienen. Hier konnte er den Gefangenen handlungsunfähig halten, bis er geklärt hatte, wer er war und wer alles hinter ihm stand.
Er kehrte mit einer Betäubungsspritze in den Keller zurück. Der andere war wohl gerade dabei, wieder aufzuwachen. Blitzschnell setzte Bingham ihm die Injektion. Der andere, noch benommen von dem Karateschlag, verlor gleich wieder das Bewußtsein. Bingham schleppte ihn in den Behandlungsraum. Hier tauschte er die Fesseln gegen breite Lederriemen, mit denen er den Anderen auf das Behandlungsbett schnallte. Eigentlich wäre ihm ein Deprevationstank lieber. Er wußte noch, daß der KGB und andere, nicht so freiheitsliebende Geheimdienste mit dieser Technik hantierten, um Gefangene geistig zu brechen oder gar in den Wahnsinn zu treiben, wenn sie völlig von allen Sinneseindrücken abgeschottet wurden. Hier gab es so eine Vorrichtung nicht. Die medizinischen Anlagen zur Erzeugung eines künstlichen Komas waren auch so schon mehr als genug für jeden auf Humanität pochenden Mitbürger.
Fünf Minuten dauerte es, bis Bingham seinen Gefangenen an alles angeschlossen und die Infusionsanlage sowie die Beatmungsvorrichtung entsprechend eingestellt hatte, daß der Gefangene nur noch dann aufwachen würde, wenn Bingham dies wollte. Das rhythmische Piepen des EKG-Gerätes war für Bingham beruhigend und unheimlich zugleich. Er wollte bloß nicht zu lange in diesem Haus bleiben.
Nachdem er festgestellt hatte, daß der "Patient" mehr als eine Woche in diesem Dauerzustand gehalten werden konnte, suchte bingham nach einer weiteren Möglichkeit, das umwucherte Gehöft zu verlassen. Er fand sie unter dem Boden der halb niedergebrannten Scheune. Auch hier war es eine getarnte Luke. Darunter begann ein Gang, der wohl vor vierzig Jahren gegraben worden war. Bingham vertraute voll und ganz auf seinen Gefahrensinn. Dieser schwieg. Also war der Tunnel ungefährlich. Er lief los, um zu erkunden, wo er nun herauskommen würde.
Der Tunnel führte nach drei Meilen in einen Kanal. Bingham übersah die vor ihm vorbeihuschenden Ratten. Was ihn mehr störte war der Gestank. Als er dann ein Elektroboot fand, das in einer Nische am Ufer des Abwasserstromes festgemacht lag, jubelte er innerlich. Er enterte das Boot, löste die Vertäuung und startete den Motor. Leise Surrend und schmutzigbraunes Kielwasser aufwühlend pflügte das Boot durch die Brühe aus flüssigen Ausscheidungen, Wasch- und Putzmittelrückständen und anderen für Haut und Verdauungssystem garantiert ungesunden Sachen. Die Batterieladung reichte aus, um den Agenten bis in die nächste Stadt zu bringen. Dort verließ er den Kanal, nachdem er das Boot so eingestellt hatte, daß es langsam immer weiter fuhr. Er wollte sicherstellen, daß niemand, der das Boot mit einem Peilsender oder dergleichen markiert hatte, herausbekam, wo Bingham gerade steckte. Er dachte daran, daß er sein Mobiltelefon mit in das Nordmeer geworfen hatte. Er würde sich sowieso ein neues kaufen müssen, eines, daß sein Nachrichtendienst nicht mit einem heimlichen GPS-Peiler versehen hatte.
Für den ausgebildeten Geheimagenten war es kein Problem, einen alten Austin aufzubrechen und den Motor kurzzuschließen. Mit dem gestohlenen Wagen ging es nun dorthin, wo er hoffte, Antworten auf die Frage nach seinen Eigenschaften finden zu können.
Der Gebannte fühlte, wie die von ihm einverleibten Leben versuchten, sich von ihm loszumachen. Doch er durfte sie nicht mehr entwischen lassen. Sie gehörten ihm. Was er einmal in seinem Körper hatte gehörte ihm und wurde von ihm gnadenlos verdaut. Doch solange er nicht richtig wach werden konnte, waren die in ihm steckenden Lebewesen noch zu entreißen. Ein Alptraum rüttelte an ihm. Für seine verlangsamten Bewegungen dauerte dies Stunden und war daher nicht zu erfassen. Er sah, wie drei der übergroßen mit langen Stangen mit drei Spitzen in seinen Hals hineinstachen und die darin feststeckenden Lebensträger aufspießten. Sie starben dabei. Doch ihre labende Lebenskraft floß nicht in ihn, den Gebannten, sondern in die drei Überriesen. Sie stachen ihm alles einverleibte Leben wieder aus. Dann hieb einer der drei mit seinem Metallspeer auf ihn ein, bis er meinte, zu zerspringen. Doch es war nur der Fall in einen anderen Traum, einem Traum, wo er seine vier Gefährten hörte, mit denen er auch schon mehrere Dutzend Abkömmlinge auf die Welt gelegt hatte. Er träumte von einem Kampf um das Recht der Weiblichkeit. Denn sein großer Erschaffer hatte ihn und die anderen vier mit beiden Geschlechtern ausgestattet. Wer zu einer Paarung zusammenkam mußte darum kämpfen, wer die lebendigen Nachkommen in sich ausbrüten und auf die Welt legen durfte. Der schwächere wurde nur zum Befruchter, der nach erfolgreicher Arbeit davonkriechen mußte. Doch das war lange her. Seit dem letzten Kampf um die Paarungsrollen war er männlich geblieben, bis dieser Überrise ihm seinen Hammer auf den Kopf gehauen hatte. Er hatte ihm zwar seine Giftzähne in den Leib schlagen können. Doch dieser viel zu große Krieger war dadurch mit seiner Waffe zusammengewachsen und hatte ihn damit im Schlaf gehalten. Deshalb wußte er ja auch nicht, wie viele Sonnenkreise schon vollendet waren. Er fühlte nur, wie er in seinen eigenen Erinnerungen, Angst- und Wunschvorstellungen kreiste. Zwischendurch sah er auch in die Erinnerungen derer, die es gewagt hatten, in seinen Körper einzudringen und sich ihm damit hingegeben hatten. Er hörte ihre Sprache. Es waren zwei Sprachen, die er hörte. Doch anfangen konnte er damit nichts. Es waren eben nur die Träume eines zu magischem Schlaf verdammten Geschöpfes, das einmal für den großen Sprecher der kriechenden Wesen und seinen großen Herren die kleinen Lebensträger niederhalten sollte.
Julius Latierre saß mit seiner Frau und der kleinen Aurore auf der großen Nordwiese. Ringsherum flogen die majestätischen Latierre-Kühe. Daß Temmie genau einhundert Schritte vom Rand des Podiums entfernt an den ein Meter hohen Futterpflanzen rupfte war garantiert kein Zufall.
Eigentlich hatte Julius sich darauf gefreut, den Fachleuten bei ihrem Vortrag zuhören zu können. Doch am letzten Abend, bevor Millie von ihrem Besuch bei Jeanne zurückgekehrt war, hatte er gelesen, daß Professor Jonathan Stuard vermißt wurde. Moira Stuard, die wohl gerade ihre Ferien in den vereinigten Staaten zubrachte, hatte wohl auf keine Anfrage eines Reporters reagiert. Wohin genau der Professor für Archäologie gereist war wußte keiner. Nur daß auch sein Kollege Arne Björnson verschollen war hatte die Internetgemeinde zur kenntnis genommen. Julius dachte deshalb gerade an Moira. Sie war nicht die Art von Freundin für ihn gewesen, mit der ein Junge gerne mal ganz nahe und allein sein wollte. Aber sie waren gute Schulfreunde gewesen und hatten gemeinsam gegen allen Hohn und Spott der anderen den zweiten Platz im Abschlußball der Tanzschule errungen. Seitdem er mit Claire und jetzt mit Millie erfahren durfte, wie verbindend gemeinsamer Erfolg sein konnte, sah er die gerne mit ihrer akademischen Kinderstube auftrumpfende Moira noch lockerer als vorher. Er wußte auch, wie es sich anfühlte, einen Angehörigen zu verlieren und hoffte, daß Moiras Vater nur sein Telefon verlegt hatte. Doch Temmies Warnung vor einer Bestie, die irgendwo in der Welt schlief und jetzt durch irgendwas wiedererwachen konnte, spukte im Zusammenhang mit Moiras Vater durch seinen Kopf. Immerhin hatte Professor Stuard beinahe Dairons Grab geöffnet. Wer wußte schon, welche Hinterlassenschaften der dunkle Druide dort noch aufbewahrt hatte. Am Ende war sein Skelett selbst dazu fähig, sich einen neuen Wirtskörper überzustreifen. In der dunklen Magie ging so vieles, daß Julius sich das sehr gut vorstellen konnte.
"Britts Maman will was von dir!" mentiloquierte Millie ihrem Mann. Seitdem sie beide Temmies frischgemolkene Milch aus dem Pokal der Verbundenheit getrunken hatten, genügte nur ein konzentrierter Gedanke an den Partner, um eine rein geistige Botschaft zu übermitteln.
"Ich hab's gesehen. Sie kommt schon zu uns", schickte Julius zurück. Er stand auf und begrüßte Professor Forester, die hier gerade fließendes Französisch sprach.
"Ich wollte Ihnen gratulieren, daß Sie so schnell in gute Anstellung gefunden haben, Monsieur Latierre. Aber das verdanken Sie ja nicht zuletzt Ihren guten UTZs." Julius nahm das Lob mit einem bescheidenen Lächeln hin. "Ich freue mich auch, daß Sie heute hier sind. Ich war schon gespannt, ob Sie von Ihrer Schwiegertante gleich nach Schuljahresende engagiert wurden. Na ja, die Tätigkeit, mit der Sie Ihren eigenen Lebensunterhalt erzielen wollen, ist nicht minder interessant, abwechslungsreich und vor allem wichtig." Julius bejahte es. "Ich kam her, weil ich unter anderem mit deiner Schwiegertante über die Kinder von Nuagette sprechen wollte. Sie hat, wie du sicher mitbekommen hast, zwei kleine Mädchen geboren, die sicher mal große und starke Latierre-Kühe werden. Deine Schwiegertante hat ihn davor gewarnt, die beiden nach der Entwöhnung voneinander zu trennen, da alle in der Geschichte der Latierre-Kühe geborenen fünf Zwillingspaare eine untrennbare Verbundenheit entwickeln. Da die Herde für unseren Tierpark schon zu groß ist, bliebe nur, irgendwo in Südamerika oder Spanien eine neue Herde anzusiedeln, wo auch einer der in den letzten zwei Jahren neugeborenen Bullen dazugesellt werden kann. Damit sind wir schon bei dir und Temmies Baby: Hättet ihr was dagegen, wenn Orion, der rein rechtlich euch gehört, weil euch seine Mutter geschenkt wurde, in diese neue Herde eingegliedert wird, wenn seine Mutter ihn nicht mehr milchen muß.?
"Hmm, Irgendwo muß er ja hin, und besser dorthin, wo er nicht Gefahr läuft, seine eigene Großmutter zu schwängern oder von den anderen Bullen verletzt zu werden, damit er denen nichts wegnehmen kann. Aber ich werde Temmie erst von ihrem Sohn trennen, wenn die beiden ohne einander auskommen können. Wie heißen die beiden Kleinen von Nuagette denn?"
"Nivea und Nebula", erwiderte Lorena Forester.
"Huch, wie kamen Sie denn auf diese Namen?"
"Das war Brittany. Wir haben in VDS eine Patenschaft für Großtierbabys eingeführt. Brittany hat den Wurf von Nuagette übernommen. Da wußte sie noch nicht, daß es zwei Mädchen werden. Aber sie meinte, zwei zum Preis von einer wäre auch ganz schön. Sie hat dann zwei mit dem Wetter bezogene Namen mit N gesucht, weil es bei den Abraxas-Pferden üblich ist, den Fohlen Namen mit den Anfangsbuchstaben des geschlechtsgleichen Elternteils zu geben. Nivea ist spanisch für Schneeweiß und Nebula kennst du ja sicher aus deinen Lateinstudien."
"Schneefall und Nebel, hat beides mit einer kleinen Wolke zu tun", erwiderte Julius. "Aber da würde ein Orion sicher nicht ganz hineinpassen."
"Die Herde wird sicher noch um zwei Kühe ergänzt und einen Bullen zur freien Wahl. Insofern könnte da noch was für Orion mit dabei sein."
"Zumal die beiden Mädels ja die Töchter einer Cousine seiner Mutter sind", warf Julius ein.
"Das wäre züchterisch noch zu vertreten", erwiderte Professor Forester. Julius wollte gerade was dazu sagen, als Temmies Gedankenstimme so stark in ihm erklang, daß er ihre Worte ungeblockt aussprach:
"Nuagette hat nicht denselben Vater wie Temmie. Wenn Orion die beiden für seine Kälber richtig findet, soll er mit denen zusammensein." Die Tierwesenlehrerin merkte wohl, daß Julius diese Worte nicht so frei heraus gesprochen hatte. Deshalb fragte sie ihn, wieso er so weltentrückt dreingeschaut hatte. Julius, der um keinen Preis der Welt verraten wollte, was ihm da gerade passiert war sagte: "Ich habe mir nur vorgestellt, daß Temmie das sicher ganz spaßig fände, wenn eine ihrer Lieblingscousinen mit ihr zusammen Enkelkinder haben würde."
"War zu Darxandrias Zeit nicht selten, daß zwei Familien in der Kindeskindreihe fester zusammengefügt wurden", mentiloquierte Temmie Julius, aber diesmal nicht so überheftig wie eben.
"Wir können Temmie ja fragen, ob Orion mit den beiden Töchtern von ihrer Lieblingscousine zusammenwohnen darf", schlug Julius vor.
"Auch ein interessantes Experiment. Ich erfuhr ja, daß Madame Barbara Latierre ein größenangepaßtes Cogison erworben hat", erwiderte Lorena Forester. Julius nickte.
Sie verabredeten sich für die Zeit nach der Diskussion, die sicher noch richtig gefühlsbetont werden würde. Denn zwischen der italienischen Tierwesenlehrerin Donatella Pontegallo und den beiden Kolleginnen aus Hogwarts und Thorntails hatte sich schon vorher ein Streit über die Zucht oder Präsentation außerregionaler Zaubertiere entzündet. Julius sprach mit Mademoiselle Ventvit, die ebenfalls als interessierte Zuhörerin dazugekommen war. Diese lobte Millie für ihren Mut, so früh schon ein Kind haben zu wollen. "Ich habe mit Ihrer Frau Großmutter Mütterlicherseits schon einige leidenschaftliche Debatten ausgefochten, worin der Sinn besteht, eine Hexe zu sein und kein zwiegeschlechtlicher Flubberwurm. Bitte erinnern Sie Sie daran, daß ich noch weiß, daß sie damals gesagt hat: "Wer nur Angst hat, zu schnell dick zu werden und deshalb keine wirklich leckeren Sachen essen kann, verhungert irgendwann. Ich mag vielleicht nicht so gutgenährt aussehen wie Ihre Frau Grandmaman, Madame Latierre. Aber es gibt auch genug Essen, was nicht dick macht. Sagen Sie ihr das so!"
"Das würde meine Tante Béatrice mir übelnehmen, Mademoiselle Ventvit. Meine Oma könnte sich über diese Antwort möglicherweise totlachen. Und das wollen wir nicht."
"Stimmt, die Gefahr besteht, vor allem, wo sie ja vor kurzem gleich vierfache Mutter werden durfte."
"Das könnte sie jetzt als schwer unterdrückten Neid auslegen", warf Millie frech ein. Julius fragte sich, ob Mademoiselle Ventvit das nicht als Beleidigung verstehen mochte. Doch diese lächelte und erwiderte:
"Nun, die einen bringen mit ihren Körpern Kinder aus Fleisch und Blut auf die Welt. Die anderen zeugen aus sich heraus oder im Zusammenspiel mit mehr als einem Partner Kinder des Geistes, die ganze Bücherregale füllen können. Suum cuique, Madame Latierre."
"Bitte was?" fragte Millie. Julius übersetzte es ihr. "Und jeder das ihre", fügte Millie dann noch hinzu. Die beiden Hexen aus zwei Generationen lachten über diese Ergänzung.
Wie Professor Forester angekündigt hatte entspann sich eine wortgewaltige, teilweise lautstarke Debatte über Harmonovons, Goldpanzerameisen, Jackalopen und grüne Riesenkänguruhs. Die kleine, leicht untersetzte Donatella Pontegallo sprach sehr schnell und gestenreich, wobei ihre an jedem Arm zehn Silberreifen lautstark aneinanderklirrten, was bei einigen Zuhörern den Eindruck erweckte, sie mache eine besondere Art von Musik. Als die italienische Zaubertierlehrerin von der Scuola magica di Gattiverdi auch noch von der Verbreitung der gefräßigen Latierre-Kühe in die empfindlichen Lebensräume Südamerikas und Australiens anfing, mußte die Moderatorin, Barbara Latierre, sich doch zu Wort melden und beteuern, daß die Latierre-Kühe eben im Bezug zu ihrer Körpergröße fraßen und ihre Nahrung gründlicher verwerteten als jeder Mensch und zum anderen nur dort angesiedelt wurden, wo die natürliche Umwelt eine derartige Tierform belastungsarm ernähren konnte und wegen der Latierre-Kühe kein tropischer Urwaldbaum gefällt werden mußte. Dafür erhielt sie Applaus von allen anwesenden Latierres, Professor Forester und Magistra Rauhfels, die wegen der Goldpanzerameisen heftig von Pontegallo angegriffen worden war. am Ende kamen alle IMAZOV-Mitglieder darüber ein, durch einen Mehrheitsbeschluß am 20. August, dem Geburtstag von Scamander, festzulegen, ob magische Tierwesen außerhalb ihrer Entstehungs- und Erstverbreitungsregion gehalten oder vorgeführt werden dürften, jetzt, wo alle Argumente dafür und dagegen mehrmals genannt worden waren. Damit endete die über drei Stunden andauernde Debatte.
Wie abgesprochen trafen sich Lorena Forester und die jungen Eheleute Latierre zusammen mit Barbara Latierre nach der Verabschiedung der Gäste bei Temmie und Orion. Der künftige Latierre-Bulle hatte mit seinen jüngeren Jahrgangskameraden gespielt und war entsprechend durstig. "Er wird ganz stark", cogisonierte Temmie, als Lorena den kleinen Orion bewundert hatte. Julius sagte Temmie in einfacher Sprache, daß Orion auch mal eigene Kinder haben könnte. Nuagette hatte gleich zwei, die eigene Kinder tragen und Milch geben könnten.
"Nuagette immer sehr schnell und stark, ist ganz gut, wenn mein Kind mit kindern von der Kinder hat."
"Ähm, darf ich das jetzt als eine Zustimmung werten?" fragte Lorena Forester. Julius nickte.
"Gut, wenn Larissa sagt, daß sie was erlaubt muß das nicht heißen, daß ihre Mutter das auch erlaubt", wandte die Thorntails-Lehrerin ein.
"Gut, wenn eine Tochter was will, was die Mutter nicht will ist das was anderes, meinte Barbara Latierre dazu. Millie und Julius mußten sich sehr anstrengen, keine Regung zu zeigen. Temmie sagte durch das Cogison:
"Orion soll an denen riechen. Will er sie, sollen die an ihm riechen. Wollen die ihn, sollen die Kinder haben."
"Wie hoch schätzen Sie nach den Erfahrungen mit dem Cogison das Selbstbewußtsein einer Latierre-Kuh ein, Barbara?" wollte Lorena Forester wissen.
"Bei Demeter und ihren Abkömmlingen kann ich nach allen Studien sagen, daß sie ein ausgeprägtes Ich-Bewußtsein und eine für Tierwesen weitreichende Voraussicht zeigen. Ansonsten spielen die instinktiven Fähigkeiten eine Rolle, wann etwas nützlich und wann nur unsinnig ist, Lorena. Insofern kann ich die von Ihnen zwischen den Zeilen versteckte Frage guten Gewissens mit Ja beantworten: Temmie ist fähig, einzuschätzen, was für ihre Nachkommen richtig ist. Den Vorschlag, den sie macht können wir als aus ihrer Lebenserfahrung erwachsen gewichten und umsetzen." Lorena Forester nickte dann noch und bedankte sich bei Temmie. Julius erzählte seiner kolossalen Begleiterin durchs Leben noch, daß Brittany auf Nuagettes kleine Mädchen aufpaßte. Temmie kannte Brittany ja schon vom sehen und ja auch von der heimlichen Auswanderungshilfe für Gloria, Betty, Jenna und Kevin.
"Wenn die auch mal mit Kind sein will muß sie das, was sie ißt zweimal essen wie ich, sonst ist Kind beim Rausgedrückt werden zu klein und schwach." Lorena Forester mußte über diese einfach gehaltene Diagnose lachen.
"Brittany kann nicht zweimal essen, Temmie. Weil wir haben nur einen Magen", sagte die Mutter Brittanys und klopfte sich auf den Bauch. Julius hätte fast gesagt, daß Brittany ja kein Stück Tierfleisch essen würde. Doch das vor einem Geschöpf zu erwähnen, dessen Vorfahren selbst nur als Milch- und Fleischlieferanten gezüchtet wurden?
Nach dem Gespräch zwischen den Fachhexen für Zaubertiere und der Mutter Orions aßen die Latierres mit Lorena Forester noch zu abend.
"Madam Merryweather besteht wohl darauf, daß ihr Oma Hygia zu ihr sagt. Ich lege zwar nicht so großen Wert darauf, von euch mit Tante Lorena angesprochen zu werden. Doch ich fände es familiärer, wenn wir uns nach der Hochzeit deiner Mutter alle beim Vornamen nennen würden. Warum nicht gleich damit anfangen?" So tranken sie einander zu, wobei Millie wegen ihrer nachgeburtlichen Verpflichtungen nur Traubensaft trank.
Der zaubereiminister Großbritanniens lächelte seinen Kollegen aus Norwegen freundlich an, als dieser, die unterdrückte Wut ins Gesicht gemeißelt, das Büro von Kingsley Shacklebolt betrat. Lasse Sigurson hatte sich für seine Reise in den gemäßigten Teil Europas einen grünen Samtumhang angezogen, der den kahlköpfigen Kingsley Shacklebolt an den Belag eines Billardtisches erinnerte. Das wiederum ließ ihn dran denken, daß ihm Leroy Ronstett aus dem Büro für muggeltaugliche Entschuldigungen noch eine Partie Pool schuldete.
"Hallo, Mr. Sigurson! Hatten Sie eine angenehme Anreise?" fragte der Minister, nachdem Sigurson ihn in akzentfreiem Englisch "Guten Tag, Minister Shacklebolt" gewünscht hatte.
"Ich wollte ja nicht hergekommen sein, Minister Shacklebolt. Aber die sowohl für die Muggel wie auch Magier Norwegens ist es dringend zu klären, warum der Muggelspionagedienst Großbritanniens die Streitkräfte unterwandert und dann für uns alle brisante Bilder und Berichte außer Landes schmuggeln konnte."
"Setzen Sie sich doch, Lasse! Es könnte ein wenig länger dauern", erwiderte Shacklebolt. Sigurson brummte wie ein verärgerter Eisbär. Doch dann erkannte er, daß er hier auf fremden Boden war und sich besser im zaum hielt. Er nahm auf einem der Besucherstühle Platz. Dann fragte er Shacklebolt:
"Haben Sie wenigstens sichergestellt, daß die Muggel aus dem Geheimdienst keine Veranlassung haben, echte Magie zu akzeptieren?"
"Das ist schon die zweite Frage. Muß ich die erste dann nicht mehr beantworten?" erwiderte Shacklebolt. Sigurson verzog das Gesicht. "Aber im Grunde kann ich beide Fragen mit einer Antwort abhandeln: Der MI6-Geheimdienst pflegt auch in Ländern Kundschafter zu halten, die offiziell mit Großbritannien befreundet sind, allein schon, um nicht auf deren Nachrichtenverbreiter oder Regierungssprecher angewiesen zu sein. Da dabei auch Magie offenbart werden könnte ist von uns her ein Feuermelder im MI6 untergebracht, Elmo Fairbanks mit Namen." Shacklebolt tippte mit dem rechten Zeigefinger einen Kristallzylinder an. Unvermittelt erschien über diesem die räumliche Abbildung eines Mannes mit dunklem Haar und Knollennase. Die dunkelgrauen Augen blickten aufmerksam den norwegischen Zaubereiminister an. "Er sollte sicherstellen, daß die aus Ihrem Land hinausgeschafften Informationen nicht erhalten bbleiben. Ich erwartete eigentlich längst eine Volzugsmeldung aus dem Amt für Desinformation, das diesen Zauberer beauftragt hat."
"So, Sie erwarteten eine Vollzugsmeldung. Ist Ihnen klar, daß ich gerade mit dem Rücken zur Wand stehe, weil meine Leute wissen wollen, warum wir bis zum Fund dieses Arne Björnson nichts von einem magischen Artefakt aus grauer Vorzeit gewußt haben. Ich kann unsere Zeitung und den Rundruf noch gerade zurückhalten. Aber einer meiner Einsatzzauberer ist verschwunden. Er hinterläßt eine Frau und vier Kinder. Bevor alle Trolle Norwegens aus ihren Höhlen ausbrechen und über mein Ministerium hinwegtrampeln muß ich wissen, ob uns von euren Muggelspionen noch mehr Ungemach droht. Immerhin sind mehrere Drehflügelflugmaschinen bei dieser Sache abgestürzt. Wir konnten die Bewaffneten der Muggelwelt bei uns gerade so noch davon überzeugen, daß auf Nordostland ein uralter Krankheitserreger freigesetzt wurde, ein Sirus oder wie die Heilmagier das nennen."
"Virus, Minister Sigurson", korrigierte Shacklebolt. "Sie haben die Kriegsknechte der Muggel also darauf gebracht, die Insel zu einem Sperrgebiet zu erklären und keinen Normalmenschen mehr dorthin zu lassen."
"War nicht anders möglich. Wo ich mit Ihnen hier sitze landet gerade eine Expedition aus Fachleuten für Flüche, magische Erkrankungen und bösartige Kreaturen auf Nordostland. Falls dort mehr als nur dieses alte Artefakt verborgen ist, müssen wir dieses etwas wohl aus der Welt schaffen."
"Was für ein Artefakt sollte das denn sein?" wollte Shacklebolt wissen. Zur Antwort erfuhr er, daß es sich um einen gewaltigen Metallhammer gehandelt haben soll, den die Streitkräfte aber schon fortgeschafft hatten. Als Sigurson dann noch erwähnte, daß der Finder, Arne Björnson, einen britischen Kollegen hinzugebeten hatte und den Namen Jonathan Stuard nannte, wurde Kingsley Shacklebolt hellhörig. Der Name Stuard war ja auch im Geheimdienst ihrer Majestät erwähnt worden. Das gehörte zu den bisher letzten Meldungen von Fairbanks.
"Nun, was uns angeht, so legen wir keinen Wert darauf, daß Sachen, die irgendwann mal irgendwer bei euch hingelegt hat für die Muggel hier interessant werden könnten. Stuard ist, soweit ich erfuhr, abgereist, haben die Muggel herausgefunden."
"Ja, und bei uns ist er angekommen und dann verschollen, wohl in jenem Versteck, in dem das Artefakt lag."
"Ohohoho! Könnte es sein, daß dieses Ding, daß Sie als Riesenhammer beschrieben haben, eine andere, weitaus gefährlichere Quelle von Magie verschlossen halten sollte und eure Waffenträger jetzt sozusagen den Korken aus der Flasche gezogen haben, so daß der darin gefangene Geist entweichen kann?"
"Genau deshalb stehe ich so unter Druck, Minister Shacklebolt. Genau diese eindringliche Warnung bekam ich von meinem Experten für dunkle Wesen auch. Er hat erwähnt, daß es sich um eine Hinterlassenschaft jenes alten Reiches handeln soll, dessen Existenz bisher von allen Gelehrten heftig umstritten wird."
"Gehen Sie bitte davon aus, daß dem so ist", brummte Shacklebolt. "Anders läßt sich das Verschwinden der Muggelkrieger und von meinem Landsmann Professor Stuard nicht erklären. Insofern müssen wir auch fragen, ob es mit der Abriegelung der Insel getan ist und ob Ihre Leute dem gewachsen sind, was dort überdauert hat."
"Sie werden es ergründen, begreifen und bekämpfen", sagte Sigurson. "Wenn das nicht gelingt müssen wir die Insel wohl unauffindbar zaubern und hoffen, daß der Gefahrenherd dann kein neues Opfer mehr fordern kann."
"Dann müßten Sie sich mit unserem Kollegen Grandchapeau unterhalten. Die Franzosen kennen sich mit unortbaren Inseln besser aus als wir", grummelte Shacklebolt.
"Ich werde niemanden außerhalb unseres Landes mit der Nase darauf stoßen, daß es vielleicht Überbleibsel eines überlegenen magischen Reiches gab. Das würde nur zu Furcht auf der Einen und Begehrlichkeiten auf der anderen Seite führen. Ich kam nur zu Ihnen, um Sie zu veranlassen, daß Ihr sogenannter Feuermelder das Feuer auch löscht, was entstanden ist. Sollte dieser Stuard doch noch den Weg nach Hause finden, so sollten Sie ihn und seine Familie gedächtnismodifizieren."
"Sie lassen Sich nicht von mir vorschreiben, wie Sie Ihre Arbeit machen, Lasse, dann müssen Sie auch akzeptieren, daß ich mir von Ihnen nicht vorschreiben lasse, wie ich meine Arbeit zu erledigen habe", wies Shacklebolt die Forderung des norwegischen Kollegen zurück. "Wenn Sie möchten, dürfen Sie noch einige Tage hierbleiben. Wenn wir dann alles an Informationen haben, was die Muggel aus Versehen ergattern konnten, können Sie mit der Zuversicht heimreisen, daß hier in Großbritannien niemand fragt, was bei Ihnen dort oben im Norden aus dem ewigen Eis gekrochen ist."
"Ich werde stehenden Fußes zurückkehren. Ich bitte Sie nur, diese amtliche Verlautbarung zu unterschreiben. Sie ist auf Englisch und Norwegisch verfaßt." Kingsley Shacklebolt nahm die Pergamentrolle und las den in smaragdgrüner Tinte verfaßten Text. Er nickte. Er verpflichtete sich, jede Anfrage nach Vorgehensweise und Ergebnissen der norwegischen Kollegen zu unterlassen und daß er mit dem norwegischen Zaubereiminister übereinkam, möglichst wenige Leute darüber in Kenntnis zu setzen, was passiert war.
Als Sigurson das Ministeriumsgebäude wieder verlassen hatte bat Kingsley Shacklebolt die Mitarbeiter Weasley und Abrahams zu sich, um die Angelegenheit zu klären. Dabei störte ihn, daß er bis zu dieser Stunde nichts von Elmo Fairbanks gehört hatte. Aber auch Heathcliff Bingham war verschwunden. Der kleine Trupp Vergissmichs hatte das Versteck durchsucht, aber kein Lebewesen außer den am Einsatz beteiligten Hexen und Zauberern aufgespürt. Fairbanks hatte wohl noch einmal genauer nachsehen wollen. Seitdem fehlte von ihm jede Rückmeldung. Seine Zwillingsschwester Adelaide Wintermoon war als Melo-Vermittlerin im Desinformationsamt eingesetzt. Sie hatte aber bisher keine Gedankenbotschaft von ihrem Bruder erhalten. Das hieß nichts gutes.
Die Familie von Professor Stuard steht bei uns auf der Liste zu beobachtender Bürger ohne Magie", sagte Tim Abrahams. "Zum einen war Moira Stuard, die gerade wohl eine Auslandsreise mit ihren Studienkameradinnen unternimmt, mit Julius Latierre geborener Andrews in der Grundschule. Zum anderen hätte ihr Vater beinahe das Grab Dairons geöffnet, der in seinem dunklen Testament klar gewarnt hatte, daß jeder, der seine Ruhe stört sein Erbe übernehmen und verzehnfachen muß."
"Ich weiß, die Angelegenheit wurde außerministeriell von der Liga gegen dunkle Künste geregelt", schnarrte Shacklebolt. "Besteht noch Kontakt zwischen Ms. Stuard und Monsieur Latierre?"
"Da müßten Sie den besagten jungen Zauberer selbst fragen", erwiderte Abrahams. Shacklebolt nickte.
In dem Moment schwirrte einer der im Ministerium gebräuchlichen Memo-Flieger durch eine kleine Klappe herein und landete auf dem Schreibtisch des Ministers. Er entfaltete die Nachricht und verzog das Gesicht.
"Mrs. Wintermoon berichtet, daß sie keinen mentiloquistischen Kontakt mehr zu ihrem Bruder herstellen kann. Er ist jetzt seit sieben Stunden unerreichbar."
"Wenn er sich dieses sichere Haus angesehen hat müssen wir das wohl auch tun", meinte Tim Abrahams.
Ja, am besten gehen wir und fünf Auroren und ein Heiler mit, der sich auch mit Heilverfahren der Muggel auskennt."
"Ist wohl besser", erwiderte Arthur Weasley.
Zehn Minuten später standen der Zaubereiminister, Arthur Weasley, Tim Abrahams, so wie die Auroren Campbell, Jennings, Potter, Sandhurst und Willows in jenem versteckten Haus, in dem der MI6 seine Leute verbarg, wenn sie sich eine Zeit lang draußen nicht mehr blicken lassen durften. Für den im zweiten Jahr seiner Ausbildung stehenden Kadetten Harry Potter war dies der erste Einsatz außerhalb der Lerneinheiten. Der Held der Zaubererwelt hielt sich bescheiden im Hintergrund, während die älteren Zauberer das Haus Raum für Raum nach magischen und technischen Fallen absuchten.
"Schön, eine Narkosefalle", stellte Tim fest, als er unter der Anrichte der Küche eine Schalttafel mit ihm bekanntenSymbolen für Gaszufuhr und die Abkürzung I.A. entdeckte. "Instantane Anästhesie, bei Bedarf auch per Funkauslöser einzuleiten", sagte Tim. "Die Gastanks dürften gut geschützt in Keller und Dachstuhl verbaut sein. So konnte sichergestellt werden, daß bei einem Angriff ein Raum oder alle mit Betäubungsgas geflutet wurden." Tim prüfte nach, ob die Anlage vor kurzem benutzt worden war. Doch sie war noch nicht in Betrieb gesetzt worden. Dann setzte Shacklebolt eines der nur drei Retroculare auf, die das britische Zaubereiministerium aus Frankreich erhalten hatte. Shacklebolt stellte die Rückschauzeit so ein, daß er alles sah, was eine halbe Stunde vor dem Zugriffsversuch der Vergissmichs geschehen war. Zu seinem Erstaunen konnte er jedoch nur einen grauen Nebel erkennen, der sich dort besonders konzentrierte, wo der "Hausgast" untergebracht worden sein sollte. An einen Defekt glaubend stellte er die Rückschaubrille auf die Zeit vor gerade einer Stunde ein. Der Nebel war nicht mehr zu sehen. Behutsam stellte er die Rückschauzeit immer weiter von der Gegenwart fort, bis er wieder die Ereignisse sah, die mit dem Vergissmich-Einsatz zusammenhingen. Wieder sah er nur einen grauen Nebel. Doch er fluktuierte. Es war so, als verteile ein großer Ventilator dichten Qualm in einer brennenden Halle. Nur daß er keine Glut und keine Flammenzungen sehen konnte.
"Höchst interessant, wie auch sehr unangenehm, Gentlemen. Ich fürchte, auf Mr. Bingham liegt ein persönlicher, an sein Blut oder seine Lebensaura angepaßter Unortbarkeitszauber. Er ist wohl nicht so stark wie der, den die Vampirin Nyx und ihre Nachfolgerin Lamia verwenden konnten. Aber er reicht aus, um den genauen Standort eines Menschen in Raum und Zeit wirksam zu verhüllen", bemerkte Shacklebolt und ließ den Untergebenen Arthur Weasley durch die Rückschaubrille sehen. sein Schwiegersohn Harry Potter sah ihm dabei zu. "Ja, unbestreitbar, Kingsley. Den hat jemand wohl mit einem Unortbarkeitszauber belegt. Zwar kriege ich kein vollkommen schwarzes Bild zu sehen wie bei starken Unortbarkeitszaubern, aber für die allermeisten Aufspürzauber dürfte dieser Muggel nicht zu packen sein. Wenn er überhaupt ein Muggel ist."
"Ein Zauberer kann das nicht sein, weil der sonst vom Geburtsanzeiger im Ministerium und Hogwarts gemeldet worden wäre", grummelte der etwas untersetzte Homer Willows Arthur Weasley an.
Es ploppte im Flur. Sofort hielten alle am Einsatz beteiligten Auroren ihre Zauberstäbe bereit. "'tschuldigung, daß ich mich verspäte, Minister Shacklebolt. Mußte noch einem Patienten helfen, der meinte, einen sogenannten Hochspannungsmast hinaufzuklettern, um da die, wie er nannte, Migränebrummdrähte der Muggel durchzuschneiden. War ein ganz schönes Stück Arbeit, alle inneren und äußeren Verbrennungen zu kurieren und ihn in ein Erholungsbad zu legen, damit seine Haut und sein Fleisch sich wieder vollständig nachbilden", sagte ein junger Zauberer. Er trat ein. Er trug die grüne Kluft der Heiler im St.-Mungo-Krankenhaus für magische Verletzungen und Krankheiten. "Oh, einige der Gentlemen kenne ich noch nicht. Pye der Name, Augustus Pye, Heiler im St. Mungo, Fachheiler für muggelweltinduzierte Schädigungen an magischen Menschen. Minister Shacklebolt, Sie baten mich um Unterstützung." Der erwähnte nickte bestätigend. Dann erläuterte er dem Heiler die Sachlage. Dieser interessierte sich auch für die Betäubungsanlage. "Oh, hätte unseren Einsatztrupp sicher gründlich narkotisiert. Interessant. Ich bitte um die Erlaubnis, eine Probe des gasförmigen Betäubungsmittels entnehmen zu dürfen."
"Wenn Sie Ihren eigentlichen Auftrag erledigt haben, Augustus", brummte der Minister. Der junge Heiler nickte. Arthur Weasley mußte lächeln. Er erinnerte sich noch zu gut an den enthusiastischen Heiler, der keine Hemmungen hatte, auch die von seinen alteingesessenen Kollegen für unsinnig gehaltenen Behandlungsmethoden der Muggel anzuwenden, wenn mit Zaubern und Tränken nicht so schnell zu helfen war.
Nun zu neunt suchten sie das Haus ab. Shacklebolt, Weasley und Potter verwendeten dabei den Aufspürzauber für versteckte Türen und Gänge. Deshalb fanden sie auch den hinter der Schranktür liegenden Zugang. Sie öffneten die Tür und folgten dem Tunnel im Schutze von Kopfblasen. Denn sie mutmaßten, daß Fairbanks vielleicht in eine Gasfalle hineinappariert war. Doch sie fanden ihn nicht. Auch mit dem Retrocular ließ er sich nicht finden. Entweder war er nie in diesem Tunnel gewesen, oder der bereits erkannte Unortbarkeitszauber um Bingham schluckte alles Licht unter halber Tageslichtstärke. Zumindest gelangten sie an die Entsprechende Zugangstür der anderen Seite. "Homenum Revelio!" murmelte der Minister. Er stand einen Moment ruhig da und konzentrierte sich. Dann ließ er die Tür mit "Alohomora" aufspringen.
Keine Minute später standen sie vor einem Bett. Auf diesem Bett lag ein bewußtloser Mann mit breiten Riemen festgeschnallt. Er atmete durch ein Rohr, das mit einer mechanische Geräusche von sich gebenden Maschine verbunden war. Rhythmisches Piepen zerlegte die Zeit in kleine Portionen. Pye machte große Augen. Dann nickte er heftig.
"Das ist eine Vorrichtung zur Gewährleistung eines komaähnlichen Zustandes, der normalerweise bei der Gesundung eines schwerverletzten Patienten zum Einsatz kommt", stellte der Heiler fest. "Diese Vorrichtung ist im Vergleich zu einer als bionischer Uterussimulator kurzzeitig erwähnten Daueraufbewahrungsvorrichtung zwar sehr störanfällig und nur für wenige Tage oder Wochen zu empfehlen. Doch um einen Gefangenen dauerhaft aktionsunfähig zu halten reicht sie allemal aus. Möchten Sie, daß ich den Angeschlossenen von den Geräten löse und wiedererwecke?"
"Unverzüglich. Denn das ist Elmo Fairbanks", sagte Shacklebolt.
"Schade, daß wir nicht bei der Entscheidung dabei sein dürfen", grummelte Millie, als sie am Morgen des neunzehnten Augusts die Temps de Liberté las. Gilbert Latierre hatte erwähnt, daß am nächsten Tag eine weitreichende Entscheidung im Bezug auf die tierhaften zaubergeschöpfe getroffen würde. Das könne sowohl die Nutztierhaltung und -zucht, aber auch die Unterrichtsmöglichkeiten verändern.
"Tja, Mademoiselle Ventvit hat Tante Babs davon überzeugt, daß ich besser mit eigenständig handlungsfähigen Zauberwesen zu tun kriegen soll."
"Dann müßtet ihr Temmie als so ein Wesen eintragen lassen", bemerkte Millie. Doch sie grinste dabei schelmisch. Julius nickte und schmunzelte. Eine Frauenstimme räusperte sich. Es war Viviane Eauvives gemaltes Ich in der Wohnküche.
"Julius, deine Mutter und Catherine Brickston bitten dich, zu ihnen hinüberzukommen. Es könnte sein, daß etwas vorgefallen ist, daß mit der dir aufgeladenen Bestimmung verquickt ist."
"Okay, wohin, bei Catherine oder meiner Mutter?" wollte Julius wissen. "Bei deiner Mutter", war Viviane Eauvives Antwort. Julius nickte und nahm aus der verschließbaren Flohpulverdose eine Prise. Dann küßte er seine Frau zum Abschied.
"Wenn es wieder was wird, was dich in irgendwelche heftigen Abenteuer reinzieht sag mir das bitte früh genug, Monju, damit ich dir irgendwie helfen kann!" Julius versprach es seiner Frau. Jetzt, wo sie durch vier Einflüsse fast zu einer Seele in zwei Körpern geworden waren, würde Millie es sofort merken, wenn er in Schwierigkeiten geriet. Außerdem konnte sie ihm auch aus der Ferne helfen, wenn ein starker Vermittler ihnen half wie damals bei der Party der Sterlings oder den Erlebnissen mit der Himmelsburg.
Als Julius aus dem großen Kamin "Ponnt des Mondes" herausskletterte begrüßte seine Mutter ihn zuerst. Dann winkte sie ihm, ihr in ihr Arbeits- und Schlafzimmer zu folgen. Dort lief der Rechner, der an ein DSL-Modem angeschlossen war und damit zehnmal schneller und störungsfreier Daten umsetzen konnte als Julius' Laptop.
"Ich habe Moiras Blog verfolgt, Julius. Ich habe dir ja geschrieben, daß immer mehr Interrnetnutzer solche für alle lesbaren Zwischenformen von Tagebuch und Zeitgeschehensmeldung ins Netz stellen. In der Hinsicht habe ich das Blog von deiner früheren Schulkameradin Moira Stuard gefunden und lasse jeden neuen Eintrag auf Hinweise prüfen, daß sie oder ihr Vater erneut mit magischen Dingen in Berührung kommen."
"Von dir aus, Mum?" wollte Julius wissen. Seine Mutter wiegte den Kopf und sagte dann, daß Catherine sie darauf gebracht habe, weil Moiras Vater damals die magischen Verhüllungen von Dairons Grab durchdrungen hatte und somit zu befürchten stand, daß er erneut was fand.
"Im Wesentlichen schreibt sie eher von ihrem Studentenlebenund ihrer Meinung zur gegenwärtigen Politik und Wissenschaft. Aber in den letzten Tagen erwähnt sie immer wieder, daß sie Angst hat, ihrem Vater könnte was passiert sein, Julius. Außerdem paßt das mit einigen Meldungen aus England zusammen, denen nach Professor Stuard seit dem zehnten August keinen Kontakt mehr mit seinen Verwandten und Mitarbeitern aufgenommen hat. Dann habe ich heute morgen das hier gelesen, Julius." Martha hielt ihrem Sohn einen Packen Papier hin. Er las, daß Moira im Internet herumfragte, wo ihr Vater sei. Das letzte, was sie von ihm wisse war, daß er am zehnten August nach Norwegen gereist wäre. Angeblich sollte er auf Spitzbergen seinen Fachkollegen Björnson treffen. Seitdem fehle jede Spur. Ihre Mutter habe nur deshalb noch keine Vermißtenanzeige gestellt, weil ihr Vater schon einmal mehr als zehn Tage nichts von sich hatte hören lassen. Dies, so Moira Stuard, sei jedoch schon zwanzig Jahre her, wo es nur Autotelefone für reiche Leute gab.
"Natürlich wird kein Hotelangestellter verraten, wer bei ihm im Haus abgestiegen ist. Und wenn Moira keine Polizei einschaltet, kann sie wohl lange warten", sagte Martha Eauvive. "Zumindest dachte ich das, bis ich diese Antwort fand, worin Moira erzählt bekommt, daß Björnson mit ihm auf Nordostland gewesen sei, um eine alte Gletscherhöhle zu erforschen. Was genau dort gewesen sei wisse der Schreiber nicht. Ich habe dann nach den Stichworten Arne Björnson, Nordostland, Spitzbergen, und Professor Jonathan Stuard gesucht. Da ich einige Netzwerke mehr absuchen kann als der Normalnutzer, bekam ich heraus, daß Moiras Vater wirklich erst nach Oslo und dann nach Longyearbyen auf Spitzbergen gereist ist. Er hat sich sogar im Hotel Polaris angemeldet. Mehr kam jedoch nicht heraus."
"Ähm, hast du das im Auftrag von Madame Grandchapeau gemacht, Mum?" wollte Julius wissen.
"Nein, in meinem, weil ich damals auch die Angelegenheit mit Dairons Grab durchgeführt habe", sagte Catherine Brickston. "Seitdem sind die Stuards sozusagen priviligierte Mitglieder eines Clubs besonders zu beachtender Muggel in der Liga. Wir dürfen nicht ausschließen, daß er wieder mal auf etwas magisches stößt." Das konnte Julius nicht grundweg abstreiten."Eine Gletscherhöhle kann tausende von Jahren alt sein, bevor sie zugänglich ist", sagte Martha Eauvive. Catherine und Julius nickten. Dann sagte Catherine:
"Deine Mutter hat auch über viele Umwege herausgefunden, daß Nordostland seit dem zwölften August komplett abgesperrt ist. Angeblich sei dort ein ansteckendes Virus freigesetzt worden, das Krankheiten wie AIDS und Ebola übertreffen könnte. Merkst du was?"
"Klar, die haben da was gefunden, was keiner sonst haben darf", sagte Julius. "Die Frage ist nur, ob das für die Zaubererwelt wichtig ist, so leid mir das um Moira und ihre Mutter täte, wenn ihr Vater von übereifrigen Geheimniskrämern gefangengenommen oder getötet worden sein könnte." Catherine nickte.
"Ich höre mich in der Liga um. Vielleicht bekomme ich ja doch noch eine genauere Auskunft." Julius nickte.
Er stand vor dem lebensgroßen Bild, das seine Ururgroßmutter Pavonia Hights zeigte. Er wußte nicht, ob die Zauberer ihn auch hier aufspüren konnten. Für den Fall, daß der Zauberstab als Peilsender diente hatte er diesen im inneren eines hohlen Baumes deponiert, der seinem früheren Mentor und ihm als toter Briefkasten gedient hatte. Erst dann war er in das alte Haus gefahren, in dem seine Großeltern gewohnt hatten. Hier hatte er auch ein Zimmer, wenn er den Lärm und Gestank der Großstadt mal für einige Tage ausblenden wollte.
"Ich weiß nicht, ob du auch eine von denen warst, Uurroma Pavonia. Falls ja, warum haben meine Großeltern da nichts von erzählt oder meine Eltern? Aber ich glaube, du kannst das mir nicht verraten."
"Natürlich kann ich das", erwiderte eine angejahrte Frauenstimme vom Bild her. Heathcliff Bingham fuhr jäh zusammen, als er sah und hörte, wie die Frau auf dem Ölgemälde die Lippen bewegte und ihre Stimme in seine Ohren drang. Dann sah er noch, wie sich die gemalte Frau bewegte, ihre Arme und Beine erst hölzern und dann fließend reckte, streckte, beugte und ausschwang. "Tut das gut, mal zwischendurch die alten Glieder zu bewegen. meine Vorlage hätte sich ruhig als junges Mädchen malen lassen sollen", sprach die Frau auf dem Bild. Sie sah den kreidebleichen Geheimagenten mit ihren dunkelgrünen Augen an, fing seinen Blick ein und lächelte wie die Urahnin der Mona Lisa.
"Verdammt, was für ein Film läuft hier ab? Werde ich jetzt wahnsinnig oder was?!" stieß Heathcliff Bingham aus.
"Nur wenn du dich weigerst, anzuerkennen, was du bist und was meine Vorlage war. Nein, du bist kein vollwertiger Zauberer. Das hätten sie dir früh genug gesagt. Deine Großeltern schämten sich, weil dein Großvater, dessen dritten Vornamen du bekommen hast, kein Zauberer werden konnte. Auch wenn mein Sohn mit einer vollwertigen Hexe zusammenkam, war Wilbur leider nur ein Squib, ein von magischen Eltern geborener, der jedoch zu schwache Kräfte für wirklich gute Zauber ausbildet. Das ist vergleichbar mit einem, der ohne Beine oder gesunde Augen und Ohren zur Welt kommt. Man kann damit leben. Man muß nur auf vieles verzichten und sich das, was für andere alltäglich ist, durch Hilfsmittel und andere Vorgehensweisen ermöglichen. Setz dich bitte hin!" Heathcliff wankte. Seine Beine waren wie aus Pudding. Er torkelte zu einem Stuhl und setzte sich. Zitternd starrte er das Bildnis seiner Ururgroßmutter an. "Du willst vieles wissen. Das wichtigste zuerst: Weil ich wußte, daß wir starke Feinde haben, habe ich den Segen des ungreifbaren Körpers gewirkt. Dadurch erhält der, dem dieser Segen gewährt wird, die Vorahnung, wann und woher Gefahr entsteht und wie sie ihn betreffen wird, aber auch einen bis zum eigenen Tode wirkenden Schutz vor magischer Entdeckung. Hast du dich niemals gefragt, wieso du allen haarsträubenden Sachen entgangen bist, die dir in deinem Beruf passiert sind?" Bingham nickte. "Nein, du bist nicht das Kind eines Wesens von einem anderen Planeten. Meine Vorfahren und ich wurden in das Licht der gleichen Sonne hineingeboren wie du, haben dieselbe Luft geatmet, die auch dich umgibt und mußten lernen, uns gegen die gleiche Anziehungskraft zu stemmen, um auf eigenen Beinen zu stehen, die dich auf dem Boden hält. Warum es Menschen wie uns gibt und solche, zu denen du dich rechnest, wissen wir nicht. Wir wissen nur, daß es weniger magisch begabte Menschen als solche ohne magische Begabung gibt. Sicher möchtest du alles wissen, was dich gerade umtreibt. Aber ich fürchte, die Zeit reicht nicht aus. Nur so viel, solange du lebst kann dich niemand überraschen und angreifen. Ich erfuhr von einer Doppelgängerin von mir, daß du diesen Elmo Fairbanks niedergeschlagen hast. Man hat ihn doch gefunden, weil es ja nicht gelungen ist, ihn in ein auch für unsereins unortbares Versteck zu schaffen. Aber dieses Haus beherbergt einen Stein, den meine Mutter, mein Vater und ich mit unserem Blut getränkt haben, um ihn zur magischen Festung zu machen. Hier findet dich niemand, den du nicht zu dir hinführen willst. Aber nun erzähle, was das auf Nordostland war. Meine Zweitausgabe konnte mir nur Bruchteile davon berichten."
"Moment, du beziehungsweise dein Original war eine echte Hexe, so mit Besen, Spitzhut, Blubberkessel und Warzen auf der Nase?" wollte Heathcliff Bingham wissen.
"von den Warzen abgesehen alles richtig. Aber jetzt möchte ich hören, was das mit dem Hammer war. Hat wirklich wer behauptet, es sei der Hammer des altnordischen Donnergottes?"
"Gut, denen in Norwegen fiel nichts besseres ein, obwohl das Ding schon mehrere tausend Jahre alt sein mußte, also von den Wikingern und andren Nordvölkern kaum gekannt worden sein kann, wenn es andauernd in diesem Gletscher gelegen hat", setzte Heathcliff an, der sich hier keinen Moment unsicher fühlte, nun, wo der Schreck über das lebendige Bild verflogen war. Er beschrieb die verunglückte Bergung des Riesenhammers und den Versuch, Professor Stuard zu finden.
"Eine versteinerte, aber nicht tote Riesenschlange? Das klingt wahrlich gefährlich. Am Ende saugt sie Seelen lebender Menschen in sich ein, bis sie stark genug ist, sich wieder zu bewegen."
"Ja, und wozu der Hammer?" wollte Heathcliff wissen.
"Womöglich war er die Waffe, mit der die Schlange gebannt wurde. Solange er in ihrer Nähe blieb konnte sie nichts tun. Jetzt könnte sie aufgewacht sein oder zumindest wieder stark genug, um arglose Menschen zu verschlingen. Das was du unter der Wirkung meines Ungreifbarkeitssegens gesehen hast war sicher ihre Leben ansaugende Kraft. Daß sie dich nicht berührt hat verdankst du deiner Unauffindbarkeit für Aufspürzauber. Wie groß schätzt du das Maul, das du noch gesehen hast?" Bingham beantwortete diese Frage. "Dann ist sie größer als die in Ägypten und Südamerika hausenden Riesenschlangen. Sie könnte die Urmutter dieser Kreaturen sein oder zumindest eine Urahnin. Weißt du, ob noch andere diesen Ort betreten wollten?"
"Von eurem Volk weiß ich nichts. Ich weiß, daß die norwegische Armee die Insel abgesperrt hat. Wird wohl wegen der Feuerdämpfungszone um die Höhle sein."
"Ja, und weil - wie nanntest du sie? - mein Volk sicher daran interessiert ist, sowohl den großen Hammer als auch die neue Gefahr für das, was du dein Volk nennen würdest unbekannt zu machen." Sie erzählte ihm dann, warum die Zauberer und Hexen im geheimen lebten, daß die auch in den Märchen erwähnten Tierwesen immer noch existierten und warum es nötig war, bestimmte Ereignisse vergessen zu machen.
"Dann sollten die mir wirklich das Hirn umkrempeln", knurrte Bingham. Sein Gefahrenspürsinn hatte ihm tatsächlich verraten, was ihm gedroht hatte. Gedroht hatte? "Was passiert, wenn ich das Haus verlasse und in meine Firma zurückfahre? Wenn sie diesen Typen gefunden haben, der mich zu überrumpeln versucht hat, dann packt der doch aus und die warten da auf mich."
"Sie können dich nicht angreifen. Selbst wenn sie eine tödliche Falle stellen und sich Meilen weit davon entfernen würdest du die Falle erspüren und ihr ausweichen. Außerdem bist du uns mit deinem genauen Wissen von dem Ort wichtiger als mit verändertem Gedächtnis."
"Wer ist wir?" wollte Bingham wissen. Das antrainierte Mißtrauen unbekannten gegenüber meldete sich wieder.
"Die Bundesschwestern meiner selig entschlummerten Vorlage. Bitte bleibe hier und fürchte dich nicht! Dir droht keine Gefahr."
"Wenn doch, dann merke ich es früh genug", grummelte Heathcliff.
Er sah, wie die gemalte Ahnin einfach durch die linke Seite des Bilderrahmens verschwand. Er stand auf und ging durch das Haus. Es wirkte alles so, als würden seine Großeltern noch hier leben. Wie lange war es schon her, daß er das letzte Mal hier gewesen war?
Nach zwei Minuten war er wieder in dem Raum, wo das Bild seiner Urahnin hing. Er sah den gemalten Hintergrund. Es wirkte so, als sei das Bild ursprünglich so entstanden, einfach ein cremefarbener Hintergrund ohne weitere Motive. Dann sah er Pavonia Hights zurückkehren. Doch sie war nicht allein. Einen Moment meinte Heathcliff, in einen Strudel aus warmem Wasser zu versinken. Doch dann beruhigte er sich. kein Hauch der Gefahr, keine drohenden Schatten. Die weißblonde Frauengestalt mit der halbmondförmigen Goldrandbrille wirkte auch schon sehr alt, aber keineswegs vergreist, sondern würdig, wie eine zweite Königin Victoria, wie die Matriarchin einer großen Familie, die auf ihre Enkel und Urenkel niederblickt.
"Nicht erschrecken, ich komme zu Ihnen hinüber", hörte er die Stimme der Fremden. Dann hörte er eine Zauberformel, sah die andere einen scheibenförmigen Gegenstand vor sich halten und dann eine Lichtspirale, aus der heraus die Unbekannte als vollständige, dreidimensionale Erscheinungsform heraustrat. Er fühlte keine Bedrohung, aber eine unbeschreibliche Unterlegenheit. Besonders als die Andere ihren Zauberstab fortsteckte meinte er, sie wisse, daß er ihr nichts anhaben könne.
"Ich bin Sophia. Sie brauchen nichts zu fürchten. Ich bin nur hergekommen, um Sie in Sicherheit zu bringen. Sind Sie bereit, sich mir anzuvertrauen?"
"Bleibt mir eine Wahl?" wollte Bingham wissen.
"Ja, Ihr Leben lang Gejagter zu sein, nie an einem Ort lange wohnen zu können. Auch wenn Sie mit magischen Mitteln weder überwacht noch aufgefunden werden können, müssen Sie immer damit rechnen, daß ein Mensch mit unserer Welt in Verbindung steht und jene alarmiert, die Ihnen unbedingt das Wissen um den unglücklichen Zauberer entreißen wollen, der unter dem Einfluß eines Riesenhammers selbst zum Riesen wurde."
"Wer sind Sie?" wollte Bingham wissen. Die Ausstrahlung der Frau faszinierte ihn. Irgendwie fühlte er sich bei ihr geborgen, wie es sonst nur ein Kind bei seiner Mutter empfinden konnte.
"Ich bin Sophia Hights, eine sehr folgsame Schülerin Ihrer Ururgroßmutter Pavonia Hights. Näheres dort, wo uns wirklich niemand behelligt. Hmm, am Besten trinken Sie das hier. Es ist ein leichter Schlaftrank, der nur wenige Minuten vorhält. Beriechen Sie ihn, ob er Ihre Gefahrenintuition alarmiert!" Sie zog eine kleine Phiole aus ihrem himbeerfarbenen Samtumhang hervor und hielt sie Bingham hin. Er nahm das Fläschchen, zog den kleinen Korken ab und roch an dem Inhalt. Er fühlte zu keinem Moment eine akute Gefahr. Auch nicht, als die Welt um ihn herum in einem Rauschen und dann in Dunkelheit versank.
Sophia Whitesand fing den bewußtlos gewordenen auf und nahm ihm die Phiole mit dem Schlafdunst fort, gegen den sie einen wirksamen Schutztrank eingenommen hatte. Dann vollführte sie mit ihrem Zauberstab einen Einschrumpfungszauber. Auf nur zehn Zentimeter verkleinert ließ sich der Bewußtlose leicht unter dem Umhang verbergen. Keine zehn Sekunden danach wechselte Sophia Whitesand mit dem auf sie selbst geprägtem Intrakulum in die gemalte Welt der Pavonia Hights zurück.
"Dir ist bewußt, daß er wach sein muß, wenn du mit ihm das Ritual vollziehen möchtest, Schwester?" fragte Pavonia die nun in ihrer Daseinswelt stehende.
"Ja, natürlich. Er muß es freiwillig von mir annehmen, bei vollem Bewußtsein. Ich werde aber nur so vorgehen, wenn Patience mir sagt, ob es sich lohnt. Wenn er unter 0,3 liegt muß ich es erst gar nicht versuchen."
"Die größere Schwierigkeit dürfte darin bestehen, ihn wieder in die freie Welt zurückzuschicken."
"Auch das wird mir gelingen, wie es mir und unseren Schwestern auch gelang, Mike und seine Schwester zu vollwertigen Mitgliedern der Zaubererwelt zu machen. Gehab dich einstweilen wohl, Schwester!"
"Semper Sorores, Lady Sophia!"
"Semper Sorores, Lady Pavonia!" erwiderte Sophia Whitesand, bevor sie sich von Pavonias gemaltem Ich in das Bild hinüberführen ließ, daß in ihrer nur für Eingeweihte betretbaren Galerie aushing. Dort entstieg Sophia Whitesand der Bilderwelt und kehrte in ihre Stammwelt zurück. Sie legte den noch eingeschrumpften Geheimagenten auf ein frisch bezogenes Bett und dachte daran, daß auf diesem Bett einmal Rodney Underhill geschlafen hatte. War es vielleicht nötig, Heathcliff Bingham über Wochen in Zauberschlaf zu versenken? Besser war das wohl, befand die Führerin der schweigsamen Schwestern Großbritanniens.
Alle Vorrichtungen zum Aufspüren dunkler Kräfte waren voll ausgeschlagen. Ole Thorwaldson, der Leiter der aus zwanzig Zauberern bestehenden Einsatzgruppe, blickte auf die Anzeigevorrichtung seines Malediktometers, das auf stationäre Flüche reagierte. Gerade glitt die Nadel wieder richtung gelber Markierung, die für "schädlich bis nachhaltig" stand.
"Die Seriositätssonden sind uns verbrannt. Da drinnen muß eine unheimlich starke dunkle Magie wirken", bemerkte ein anderer Zauberer aus der Truppe.
"Ja, und zwar eine langsam anschwellende und wieder abschwellende Kraft. Ich habe jetzt die genaue anzahl. Anstieg und Abklingen bis auf den Wert Gelb dauern zusammen sechs Minuten. Irgendwas dort drinnen pulsiert sehr langsam."
"Sollen wir dann trotzdem da rein?" wollte ein weiterer Einsatzzauberer wissen.
"Breitbandfluchzerstreuer bis zum Ende der Höhle schicken!" befahl Thorwaldson.
Die Einsatzzauberer bündelten ihre Kräfte zu einer Welle aus Fluchzerstreuern. Doch die Zauberstrahlen bogen sich nach unten, sobald sie den Höhleneingang erreicht hatten und zersprühten prasselnd am Boden.
"Das gibt es nicht. Keine schwarzmagische Barriere hält das aus", schnaubte Thorwaldson. "Okay, Eigenschutzzauber anwenden. Wir gehen rein!" befahl der Einsatzleiter.
Nachdem sich alle jeder für sich oder in partnerschaftlicher Abstimmung mit gegen Flüche und bösartige Geistesbeeinflussung wirkenden Zaubern belegt hatten betraten sie die Höhle, wo vor wenigen Tagen noch der merkwürdige Kriegshammer eines Riesens gelegen hatte. Sofort glühten um sie alle Auren in flirrendem Blutrot. Sie gingen noch zwei Schritte weiter. Doch die sie umfließenden Leuchterscheinungen blieben, ja nahmen im selben Rhythmus an Stärke ab und zu, wie die Puls- oder auch Atemzahl aus der Höhle war. Thorwaldson stutzte, als er herausfand, daß die Leuchterscheinungen stärker wurden, während eigentlich ein Rückgang der schwarzen Magie stattfand. Doch er ließ sich nicht beirren. Er trieb seine Leute voran, bis sie durch die große Höhle waren und auf die merkwürdige Anordnung von Stalaktiten und Stalakmieten blickten. Diese wirkten wie ein riesenhaftes Maul. Thorwaldson erschauerte. Wo kam dieses Ungetüm her und warum war es in dieser alten Gletscherhöhle?
"Mein Schutz hält nicht mehr lange durch", keuchte Marten Ivarsen, ein junger Zauberer, dessen Spezialgebiet verhexte Artefakte waren.
"Verstanden, Ivarsen, sofort wieder raus aus der Höhle und Wache halten!" befahl Thorwaldson. Er spürte auch, daß ihm irgendwas Kraft aus dem Körper zog. Die mit dunkler Magie wechselwirkende Aura glühte wieder mehr. Doch das Malediktometer zeigte gerade das Abschwellen jener Kraft. Wieso verhielt sich der Schutzzauber dann entgegengesetzt?
"Noch mal alle starken Breitbandentflucher in diesen Durchgang!" befahl Thorwaldson und hob selbst den Zauberstab an. Er zählte an und zielte zwischen die Reihen von spitzen Steingebilden, die er als übergroße Zahnreihen ansah. "Drei!" rief Thorwaldson und schickte laut gesagt den stärksten ihn bekannten Fluchzerstreuer los. Doch kaum hatte der Zauberspruch seine Lippen verlassen, hieb ihm eine brutale Gewalt den Zauberstabarm nach unten. Prasselnd und spotzend fuhr die gesamte Magie des Fluchzerstreuers direkt neben Thorwaldson in die Erde.
"Das kann doch nicht wahr sein", knurrte Thorwaldson. Sein hellblonder Vollbart bebte. Seine Armmuskeln schwollen an. Jetzt wirkte er wie einer seiner Vorfahren, ein Wikingerhäuptling, der zugleich auch Priester des altnordischen Göttervaters Odin gewesen sein sollte. Zwei Männer hatten ihre Zauberstäbe aus den Händen verloren. Sie bückten sich danach. Dabei berührten die rotflirrenden Ausläufer ihrer Schutzauren den Boden. Mit lautem Plopp erloschen die Schutzzauber. Thorwaldson ahnte das Verhängnis. "Guntram, Peer, sofort raus hier!!" rief er. Doch die beiden angesprochenen hörten nicht mehr auf ihn. Sie torkelten wie betrunkene auf die beiden Steinzapfenreihen zu.
"Stupor!" rief Thorwaldson mit auf Guntram zielendem Zauberstab. Der rote Blitz des Schockzaubers flog aus Thorwaldsons Stab. Er traf Guntram zwar, prallte aber von diesem ab und schlug gegen die rechte Wand. Diese schluckte den Schockzauber wie ein Schwamm das Wasser. Nicht einmal ein Brandfleck blieb zurück. Noch einmal setzte Thorwaldson den Schockzauber auf Guntram an, der schon fast durch die beiden Reihen war. Wieder krachte der Blitz von dem Kameraden zurück und verschwand mit einem leisen Fauchen in der Wand. Thorwaldson versuchte, den offenbar unter bösem Einfluß stehenden mit Zauberseilen zu fesseln. Doch die beschworenen Seile rissen sofort durch, als sie Guntram umwickelten. Der zweite Zauberer ohne Schutz wurde von drei Kameraden gepackt, die ihn zurückreißen wollten. Doch Peer, der sich gerade noch wie ein Wiedergänger bewegt hatte, schleuderte die Kameraden von sich. Sie stürzten. Auch ihre Schutzauren verpufften bei Bodenberührung.
"Rückzug! Rückzug!" befahl Thorwaldson. Einer seiner Leute versuchte noch, den Sprengfluch Reducto zwischen den Zahnreihen hindurchzujagen. Tatsächlich drang der Zauber unabgelenkt ein. Doch nach nur einer Sekunde schlug ein gleichfarbiger Blitz aus dem maulartigen Durchgang zurück und landete zielsicher auf dem Zauberstab des Einsatztrupplers. Krachend zerbarst der Stab in grellem Licht. Der so ungewöhnlich wie unumkehrbar entwaffnete schrie auf. Alle sahen, daß sein Unterarm halb verkohlt war. Vor Schmerz rasend prallte er gegen eine Wand. Damit erlosch auch seine schon bedenklich flackernde Schutzaura. Sofort danach hörte er zu schreien auf. Er torkelte nun wie seine anderen Kameraden auf das steinerne Riesenmaul zu. Die anderen zogen sich bereits zurück. Thorwaldson dirigierte mit seinem Zauberstablicht die Absetzbewegung nach draußen. Nicht das noch wer stolperte und dadurch seinen Schutz verlor. Doch auch der Einsatzleiter merkte, daß seine Abwehraura ihm immer mehr Kraft entzog. Noch war die Abklingphase der Kraft nicht beendet. Doch hier schienen alle meßtechnischen Prinzipien der Magie auf dem Kopf zu stehen. Denn Thorwaldson fühlte, wie etwas wie dreißig am Körper hängende Blutegel immer mehr Kraft entriß. Er konnte sich gerade so auf den Beinen halten. Er sah, wie die ihrer Schutzzauber beraubten Männer in den stollenartigen Gang hineinschwankten. Er wollte sie noch zurückrufen. Doch ihm war da schon klar, daß das völlig sinnlos war. Die Macht, die hier wirkte, hatte die sechs Zauberer unrettbar unterworfen. Sie schritten immer tiefer in den Stollen hinein, bis Thorwaldson sie nicht mehr sehen konnte. Er merkte, wie der Boden schwankte. Nein, er war es, der taumelte. Er mußte aus der wortwörtlich verfluchten Höhle hinaus, bevor auch seine Schutzaura erlosch. Er kämpfte um sein Gleichgewicht und mühte sich ab, den Höhlenausgang zu erreichen. Drei seiner Leute, die noch wirkende Schutzzauber besaßen, stürzten noch einmal in die Höhle hinein und packten ihren Anführer. Sie rissen ihn vom Boden hoch und luden ihn sich auf die Schultern. So gelangten sie zum Höhlenausgang. Einer stolperte. Dadurch verloren sie die Balance. Thorwaldson glitt von den Schultern seiner Retter und landete auf dem boden. Das laute Plopp, mit dem seine Schutzaura erlosch, war das letzte Geräusch, daß er bei klarem Bewußtsein vernahm. Der letzte verzweifelte Gedanke von ihm war, daß er es nicht geschafft hatte. Dann überkam ihn ein unsagbarer Rausch, der ihm das Gefühl gab, unbesiegbar zu werden, wenn er in den Stollen hineinging. Niemand würde ihn aufhalten. Für ihn erschienen die anderen gerade anderthalb mal so schnell. Er ging los, die Erfüllung seiner Seele entgegenzunehmen. Er fühlte, wie sechs Hände ihn zu packen versuchten. Doch mit einer heftigen Drehung schüttelte er die drei Kameraden ab. Sie fielen zu Boden und verloren auch ihren Schutzzauber. Er hörte sie in Gedanken jubeln. Dann waren sie wieder neben ihm, schritten unbeholfen aber ebenso unaufhaltsam ihrem Schicksal entgegen. Mit jedem Schritt vergaßen sie ihre Umwelt, ihre eigentliche Aufgabe und alle Angst und allen Schmerz. Sie durchschritten die untere Säulenreihe und wankten durch den erst breiten Zugang in den auf vier Meter verengten Stollen. Sie schritten an Gebilden vorbei, die menschliche Form besaßen, immer tiefer in den Tunnel des Verderbens, der nichts anderes war, als der halbtote Leib einer vorzeitlichen Kreatur, an deren Existenz kein Mensch der Gegenwart hätte glauben mögen. Dann waren sie am Ziel. Sie fühlten, wie die Glückseligkeit wuchs. Doch dann schwanden ihnen die Sinne. Daß ihre Körper erstarrten und mit dem welligen Boden verwuchsen bekamen sie nicht mehr mit.
Vor der Höhle berieten die verbliebenen Zauberer, was sie jetzt machen sollten. Ivarsen, dem seine schwache Zauberkraftausdauer die Freiheit, ja wohl auch das Leben gerettet hatte, schlug vor, die Höhle zu verschließen, um keinen mehr hineinstolpern zu lassen.
Doch alle Mühen, die Höhle von außen zu verschließen scheiterten. Sämtliche Erdbewegungszauber verpufften. Sprengflüche zerplatzten in bunten Funkenwolken. So blieb nur noch, Felsen der Umgebung mit Federleichtzaubern und Bewegungszaubern vor die Höhle zu bugsieren. Womöglich konnte man auch den Gletscher wieder zufrieren lassen.
Doch sie mußten feststellen, daß jede auf Gestein einwirkende Magie unwirksam blieb. Offenbar war die böse Kraft, die hier wirkte, unmittelbar mit dem Element Erde verbunden. Die Eismassen des Gletschers ließen sich mit so wenigen Zauberern nicht bewegen.
"In Ordnung, Leute. Es geht nicht anders. Ich hole Sigursons Genehmigung ein, ein Dutzend Wachleute um den Eingang zu postieren, die jeden, der oder die in die Höhle hinein will, ohne Vorwarnung niederfluchen und abtransportieren soll."
"Gut, ich nehme die erste Wache", sagte ein stämmiger Zauberer.
"Gut. Wir anderen fliegen zurück auf unser Schiff", sagte Ivarsen.
Als sie versuchten, auf ihren Besen zu ihrem vor der Insel ankernden Schnellsegler zu fliegen, stellten sie Fest, daß die Besen keine Kraft mehr hatten. Sie waren wie x-belibige Haushaltsbesen. Prüfungen mit dem Zauberkraftfinder zeigten, daß in ihnen nur noch ein winziger Rest Magie steckte, der nicht ausreichte, die Fluggeräte zu benutzen.
"Was ist das für eine Magie, die hier aufgewacht ist?" stieß Ivarsen aus.
"Etwas, das besser hätte weiterschlafen sollen", erhielt er zur Antwort.
So traten die meisten verbliebenen Zauberer ihren Rückweg zu Fuß an. Fünf Mann des verbliebenen Trupps bildeten die erste Wache, nicht ahnend, daß sie auch außerhalb der Höhle nicht außer Gefahr waren.
"Wer hat bei euch denn da so tief geschlafen, daß er oder sie nicht mitbekam, daß dieser Bingham eine Hexe und einen Zauberer in der Ahnenlinie hat?!" polterte Elmo Fairbanks, als er zu Tim Abrahams vorgelassen worden war. Dieser blieb jedoch ganz gelassen und bot dem sogenannten Feuermelder im Auslandsgeheimdienst der Muggel erst einmal einen Platz an. Elmo Fairbanks zerrte den Stuhl zurück und warf sich auf die Sitzfläche. "Noch mal, welches Gnomgehirn hat da nicht aufgepaßt?"
"Meine Sekretärin hat gerade Tee gemacht. Wünschen Sie eine Tasse, Mr. Fairbanks?" fragte Tim.
"Ihre Tintenklekserin kann mit dem Tee die Blumen gießen, Abrahams. Ich will wissen, wieso mir keiner gesagt hat ..."
"Hallo, nicht in diesem Ton, Mister!" versetzte Tim nun sehr laut und sehr ungehalten. "Punkt eins! Das ist mein Büro. Wenn hier einer rumbrüllen darf bin ich das. Punkt zwei: Auch wenn das Desinformationsamt offiziell der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe untergeordnet ist, besteht seit dem ersten Juni 1998 ein Kooperationsabkommen mit den Abteilungen für magische Gesetzgebung und der Abteilung für die friedliche Koexistenz zwischen Menschen mit und ohne magische Kräfte. Insofern bekleide ich einen höheren Rang als Sie. Das heißt, Sie treten mir gegenüber mit dem gebotenen Respekt auf und nicht wie ein kläffender Straßenköter, dem jemand den hart erbeuteten Knochen abgejagt hat." Fairbanks öffnete den Mund. Doch Abrahams war noch nicht fertig. "Drittens und wichtigstens: Es ist Ihre Aufgabe gewesen, Angehörige des MI6 auf mögliche zaubererweltliche Verbindungen zu überprüfen. Dafür wurden Sie in dieses Amt eingeschleust. Damit müßte ich die von Ihnen so unpassend ungehalten vorgebrachte Frage, wer da geschlafen haben soll, mit Ihrem Namen beantworten, Mister." Die Körperhaltung des Büroinhabers und die Strenge im Tonfall wirkten auf Elmo Fairbanks ein wenig wutmindernd.
"Ich wollte lediglich klarstellen, daß mir solche Überraschungen nicht schmecken, gleich beim apparieren auf die Bretter geschickt zu werden und dann noch in einer halbausgegorenen Muggelvorrichtung angeschlossen zu werden. Da hätte wer-weiß-was passieren können. Haben Sie wenigstens herausbekommen, wo dieser Kerl abgeblieben ist? Die Muggel suchen schon nach dem, und wenn das so weitergeht, muß ich denen wieder einen Gedächtniszauber aufhalsen, damit sie diesen Typen vergessen.""
"Alle entbehrlichen Außeneinsatzkräfte suchen nach ihm. Finden wir ihn nicht in den nächsten vier Tagen, hat er das Land verlassen oder ist in einem magischen Versteck untergekommen", erwiderte Abrahams nun wieder ganz ruhig. "Wissen wir in dieser Zeit nicht, wo er ist, sorgen Sie mit den Ihnen zugeteilten Vergissmichs dafür, daß Heathcliff Bingham aus den Erinnerungen und Aufzeichnungen der MI6-Angehörigen verschwindet!"
"Ich will wissen, wo dieser Kerl ist und wieso der genau wußte, wo und wann ich appariere?"
"Sie hatten eben erwähnt, daß er magische Vorfahren hatte. Dann wissen Sie auch wohl, welche das waren, Mr. Fairbanks", entgegnete Tim Abrahams nun mit einer Spur Erheiterung in der Stimme.
"Pavonia Hights geborene Trelawney", grummelte Fairbanks.
"Richtig. Pavonia Hights war das zweite Kind und die einzige Tochter von Cassandra Trelawny, der bekannten Seherin, deren Ururenkelin Sibyl seit 1981 das Fach Wahrsagen in Hogwarts unterrichtet", vervollständigte Abrahams. "Die Fachleute für ererbbare Fähigkeiten in meiner Abteilung sehen eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, daß sie in Heathcliff Bingham, dessen Eltern Muggel waren, die seherische Begabung seiner Urururgroßmutter gebündelt haben und er daher eine vielfach höhere Intuition besitzt, als der von den Heilern ermittelte Durchschnitt der Bevölkerung. Womöglich konnte er sich deshalb rechtzeitig aus Norwegen absetzen. Womöglich konnte er deshalb vor unseren Vergissmichs in Deckung gehen, und wahrscheinlich aus dem Grund konnte er sich goldrichtig stellen, um genau im richtigen Augenblick zuzuschlagen."
"Ich will wissen, wo der Kerl jetzt ist, Mr. Abrahams. So einfach kommt der mir nicht davon."
"Was für ein leeres Wort, wo er es schon mindestens dreimal bewiesen hat, wie leicht er Ihnen davonkommt", feuerte Abrahams eine verächtliche Antwort ab.
"Man hätte Sie damals bei dieser brünftigen Grünfratze lassen sollen", zischte Fairbanks und stand auf. "Ich kriege den Kerl noch. Egal wie hoch seine Intuition ist."
"Halt mal, die Behauptung, man hätte mich besser bei einer wie auch immer gestimmten Grünfratze lassen sollen nehmen Sie bitte zurück. Sonst dürfen Sie demnächst im Pergamentdepot Rollen stapeln, falls Minister Shacklebolt sie nicht wegen Gefährdung der Geheimhaltung in die Muggelwelt verbannen läßt."
"Das bin ich doch schon, weil dieser Drecksack meinen Zauberstab hat. Ich will meinen Zauberstab wiederhaben oder Ersatz vom Ministerium!" polterte Fairbanks und rüttelte am Türknauf.
"Mr. Fairbanks, wenn Sie gerechtfertigte Anliegen vorbringen wollen, dann tun Sie dies bitte dort, wo sie auch bearbeitet werden können und in einem wesentlich angenehmeren Ton! Bitte nehmen Sie das zurück, was Sie mir eben an den Kopf geworfen haben. Sonst könnte es mir einfallen, Sie auf Ihren Geisteszustand untersuchen zu lassen."
"Das sollten die mit Ihnen machen", knurrte Fairbanks. "Wilde Zeiten mit einer grünen Waldfrau hinterlassen auch zu viel Dreck in der Seele."
"Ja, genau deshalb konnte ich froh sein, daß ich die Prüfungen in Hogwarts schon hinter mir hatte, bevor ich mich von diesem Ereignis erholen konnte. Daß ich es konnte durften alle zur Kenntnis nehmen, als das dunkle Jahr zu Ende war, das Ihrer beruflichen Karriere ja überhaupt keinen Schaden zugefügt hat."
"Unterstellen Sie mir jetzt, ich hätte mit dem Unnennbaren gemauschelt, Mister?" schnaubte Fairbanks und fuchtelte mit den Fäusten.
"Wenn ich genug Anhaltspunkte für einen solchen Verdacht hätte wären Sie niemals bis zu mir vorgelassen worden, Mister", konterte Tim. "Gerade weil ich im dunklen Jahr immer wieder meinen Hals riskieren mußte, um unschuldigen zu helfen, das Land zu verlassen, dürfte ich bei den noch flüchtigen Anhängseln dieses Wahnwitzigen ziemlich weit oben auf der Liste der abzufertigenden Feinde stehen. Trotzdem muß ich mich von Ihnen nicht beleidigen lassen."
"Nur weil der Minister die Hand über Sie hält heißt das nicht, daß Sie lange auf diesem warmen Stuhl da sitzen bleiben. Ich habe schon mehrere Abteilungsleiter überlebt und vier Zaubereiminister. Und ich werde auch noch meinen Job machen, wenn Shacklebolt eines Tages sein in übergroßer Euphorie aufgeladenes Amt niederlegt. Schönen Tag auch!" Fairbanks versuchte wieder, die Tür zu öffnen. Abrahams bestand darauf, daß der sogenannte Feuermelder im Geheimdienst seine abfälligen Reden gegen ihn widerrief. Fairbanks tat dies widerwillig. Da ging die Tür für ihn auf. "Sie kennen den Spruch, daß man sich immer zweimal im Leben sieht?"
"Ja, der ist mir geläufig. Hoffen Sie aber nicht darauf, daß wir uns noch mal unter solch unangenehmen Umständen sehen müssen."
"Kommt darauf an, für wen unangenehm", erwiderte Fairbanks, bevor er das Büro verließ.
Noch so einer, der glaubt, der Minister dürfe das Land nicht ohne ihn verwalten, dachte Tim Abrahams.
Die nächsten Stunden brachte er mit Anliegen von Ehepaaren zu, bei denen ein Partner magisch begabt war. Das war dröge Bürokratie, ohne die seine Abteilung jedoch nicht gedeihen konnte.
Gegen Nachmittag erhielt er eine Eule von seinem Computerexperten, der seit der wichtigen Zusammenarbeit mit Frankreich und Amerika sein Büro weit ab vom Ministeriumsgebäude betrieb.
Moira Stuard reist vorzeitig ab. Habe gerade eine auf ihren Namen lautende Buchungsbestätigung gesichtet.
Ankunft London Heathrow 20. August 13.15 Uhr Ortszeit. Soll sie von einem von uns abgeholt werden?
"Della, ich muß alle Termine für Morgen Nachmittag umbuchen", wandte sich Tim an seine Sekretärin Della Jorkins, eine gerade neunzehn Jahre alte Hexe mit nachtschwarzen Locken.
"Ist nicht so einfach, weil morgen Ms. Flowers mit Ihnen über den Fall Gillian Monday sprechen möchte, der in Sheffield in einem Waisenhaus untergebracht ist."
"Ob er vielleicht ein Ruster-Simonowsky-Zauberer ist, ja, ich weiß", grummelte Tim. "Apropos, in der elektronischen Korrespondenz von vorgestern finden Sie den mir aus Frankreich zugegangenen Inhalt eines sogenannten Internettagebuches von Moira Stuard, die damals mit Julius Latierre geborener Andrews die Grundschule besuchte. Ich möchte noch einmal lesen, was sie für die Internetnutzer für erwähnenswert gehalten hat. Dann muß ich jemanden mit Muggelweltkenntnissen und erwisenem Einfühlungsvermögen zu der Familie Stuard schicken, da wir noch zu klären haben, ob der verschollene Professor Stuard möglicherweise über Art und Einzelheiten seiner Reise berichtet hat."
"Wenn ich Ihnen einen Vorschlag machen darf, Sir, schicken wir Edwina Silverlake zu Moira Stuard, um sie zu interviewen und gegebenenfalls gedächtnismodifizieren zu können", sagte Della. Tim nickte. Er mußte sich hüten, nicht auszuplaudern, was er über Edwina wußte, daß sie einer bestimmten Hexenschwesternschaft angehörte zum Beispiel.
Nachdem er die auf dünnes Endlospapier gedruckten Passagen aus dem Blog der Moira Stuard gelesen hatte bat er Edwina Silverlake in sein Büro. Die Hexe, die mindestens fünf Jahre älter als Tim war, besaß kupferrotes Haar, daß ihr in drei dünnen Zöpfen den Rücken hinabreichte. Sie war hochgewachsen und schlank. Ihr Gesicht wirkte wegen der großen, hellblauen Augen wie das eines Kindes. Dadurch allein konnte sie schon einiges Vertrauen und Zuwendung erwerben. Ihre Stimme klang mittelhoch und samtweich, als sie Tim fragte, wie sie ihm helfen könne. Er gab ihr eine Kopie des Computerausdrucks und einen Zettel mit seinen Instruktionen und bat sie, mit den Stuards zu sprechen. Edwina nickte zustimmend und versprach, den Auftrag so diskret wie möglich zu handhaben.
Die Sonne blieb gerade noch eine Handbreit über dem Horizont. Es würde noch fünf Tage dauern, bis sie erstmalig nach vier Monaten wieder untergehen würde. Das konnte man wirklich nicht Nacht nennen. Deshalb trugen die fünf in den zwei getarnten Wonzelten schlafenden Kollegen von Horkon Ericksen lichtdichte Schlafmasken, um die nötige Erholung zu finden. Horkon war gerade erst fünfundzwanzig Jahre alt und eigentlich Trollgrenzer. So wurden in in Norwegen und Schweden die hauptsächlich aus Zauberern zusammengestellten Einsatzkräfte genannt, die aus ihren wilden Bergrevieren in Muggelsiedlungen einfallende Bergtrolle zurücktrieben oder gar töten mußten. Meistens reichte dazu schon aus, einen Troll solange zu beschäftigen, bis ihm das Sonnenlicht in die Augen drang und ihn von innen her versteinern ließ. Jetzt bewachte er den Eingang zu einer Höhle, in der ein wohl soeben noch schlafendes Ungeheuer lag. Doch es übte auch im handlungsunfähigen Zustand bereits eine bösartige Zauberkraft aus, die mit magischen Spürgeräten sogar exakt vermessen werden konnte.
Horkon Ericksen starrte wieder auf die Höhle. Wenn er trotz der fahlen Nordpolarsonne müde zu werden drohte, reichte der Gedanke daran, daß die noch schlummernde Bestie ausbrechen mochte, um ihn stark genug aufzuregen, daß er wieder hellwach war. Seine vier Kollegen waren auf ihren Posten in Illusionszaubern eingehüllt. Denn niemand durfte sie sehen. Sie hatten den Befehl vom Zaubereiminister persönlich, jeden Menschen sofort mit einem Betäubungs oder Fangzauber niederzustrecken, der sich der Höhle auf weniger als fünf Schritt näherte. Einer von Horkons Kollegen hatte mit einer Art Wünschelrute ausgemessen, ob es gelingen konnte, in die Höhle hineinzuapparieren. Das Ergebnis war erschütternd. Irgendwo innerhalb der Höhle befand sich das Zentrum eines Locattractus-Zaubers. Das war eine Falle für Apparatoren. Denn der Zauber zwang sie dazu, an einem ganz bestimmten Punkt anzukommen, sofern ihr ursprüngliches Ziel weniger als zwei Kilometer vom Wirkungszentrum des Zaubers entfernt lag. Horkon war klar, daß das Zentrum des Zaubers die schlafende Bestie war. Bisher waren die in der Höhle verschollenen Kollegen nicht mehr herausgekommen. Das hieß für Ericksen, daß das Ungetüm sie gefangen oder gar gleich vertilgt hatte.
Horkon Ericksen erschrak fast, als er das leise Rascheln von Zeltstoff hörte. Sogleich blickte er zu einem der Zelte hinüber. Wie aus dem Nichts tauchten die drei eigentlich schlafenden Kollegen auf. Doch sie gingen nicht normal. Sie schlichen dahin wie Schlafwandler. Ihr Ziel war die Höhle. Warum wollten sie dahin? Horkon sprang befehlswidrig aus seiner getarnten Stellung und eilte den drei anderen entgegen. Da verließen auch die beiden anderen ihr Zelt. Horkon stieß einen kurzen, lauten Alarmruf aus. Seine Kollegen reagierten. Sie zielten auf die daherschleichenden Zauberer, deren Gesichter höchste Erwartung verrieten. Vier Betäubungszauber fauchten auf die dahertorkelnden zu und prallten wie von einem unsichtbaren Panzer ab. Horkon versuchte es mit dem Stromschlagzauber Iovis. Doch der Entladungsblitz zersprühte einen Zentimeter vor dem Brustkorb des Kollegen. Dieser nahm nun kurs auf Horkon, während die vier anderen jene Kollegen ansteuerten, die gerade versucht hatten, sie umzufluchen. Horkon schickte den Impedimentazauber los. Dieser zersprühte laut prasselnd um den Angezielten herum. Die anderen auf Wache befindlichen Kollegen griffen wieder mit dem Schockzauber an. Dabei zielten sie aber so, daß die roten Blitze auf ihre Absender selbst zurückprallten.
"Der große Wächter ruft uns zu sich! Kommt mit uns", leierte einer der scheinbar schlafwandelnden.
"Wie macht er das?" fragte Horkon, bevor der offensichtlich unter einem Bann stehende Kollege ihn erreichte.
"Er ruft, und wir kommen", raunte sein Gesprächspartner. Horkon versuchte, den ihn ansteuernden mit der Ganzkörperklammer zu fesseln. Doch diese entlud sich in krachenden blauen Blitzen, die direkt in die Erde fuhren. Horkon sprang zurück, als der andere seine rechte Hand vorschnellen ließ. Aus den Augenwinkeln sah er noch, wie seine von den eigenen Zaubern ausgeschalteten Kollegen von den anderen Behexten wie Federkissen so leicht aufgehoben und geschultert wurden. Horkon riskierte es: Lieber im Turm der tausend heulenden Winde eingesperrt sein als von dieser Bestie in der Höhle vertilgt zu werden. "Crucio!" rief er. Einen Moment lang verschwamm das Bild des schlafwandelnden Kollegen in einem silbrigen Wabern. Dann knackte es, und Horkon sah, daß nichts weiteres passiert war. Sein Gegner kam noch näher. "Imperio!" rief Horkon. Er hatte diesen Fluch noch nie gegen einen Menschen benutzt. Gelernt hatte er ihn für den Kampf gegen Trolle, die aber wegen ihrer dicken Haut und ihres träge arbeitenden Gehirns so gut wie immun gegen diesen Zauber waren. Ericksens Zauberstab erhitzte sich schlagartig. Der zum Wachdienst eingeteilte Trollgrenzer schrie auf, als er den Zauberstab aus seiner leicht verbrannten Hand fallen ließ. Qualmend landete der Stab auf dem felsigen Boden. Horkon wollte ihm nachspringen, als sein unter fremdem Zauber stehender Kollege kraftvoll den Fuß nach unten stieß und den Stab zertrat. Ericksen war nun waffenlos. Dennoch wollte er nicht einfach davonrennen, wo seine neun Kollegen gerade die Auswirkungen der bösen Zauberkraft zu spüren bekamen. Er sprang vor und hieb dem Schlafwandler seine Faust auf die Nase. Das Nasenbein brach unter dem Hieb. Doch der Schlafwandler fiel nicht um. Im Gegenteil. Wie eine Beute machende Fangheuschrecke umklammerte er Horkon mit seinen Armen und riß ihn vom Boden. Horkon trat um sich. Seine Arme waren in der stahlharten Umarmung gefangen. Doch sein Kollege und Gegner reagierte nicht darauf. Zwar schwankend, doch nicht im Ansatz umkippend, trug er den wild um sich tretenden zum Höhleneingang.
Horkon rief den Kollegen. Er flehte ihn an, wach zu werden. Doch die immer größere Freude, die in den Augen seines Kameraden glomm, sowie die Zielstrebigkeit, mit der die Schlafwandler ihren Weg fortsetzten, bewiesen ihm, daß jede Gegenwehr sinnlos war.
Als er in der Höhle ankam fühlte auch er den Rausch und das Verlangen, in das Zentrum der Glückseligkeit vorzudringen. Er merkte nicht, wie er wieder auf die Beine gestellt wurde. Er sah, wie er durch die beiden Zahnreihen hindurchstolzierte, die in den steinernen Schädel hineinführten. Er bekam noch mit, wie er immer tiefer in einen Tunnel vordrang. Dann sah er gerade noch seine verschollenen Kollegen. Sie wirkten wie perfekt gefertigte Standbilder. Als er an den anderen vorbeiging sah er, daß der Tunnel noch genug Platz bot. Doch er kam keine zwanzig Schritte weiter. Denn unvermittelt durchfuhr ihn eine Lähmung, die ihn am Boden festnagelte. Er hörte sich und die anderen in einer Mischung aus Freude und Verzückung rufen. Dann versank sein Bewußtsein im Sog einer uralten Macht, die sein Leben in sich einsog, um so schnell es ging wiederzuerwachen.
Es war am einundzwanzigsten August, als Catherine Julius noch einmal in ihr kleines Arbeitszimmer bat.
"Julius, Moira und ihre Mutter sind von den britischen Sicherheitszauberern vernommen worden, ob sie Nachrichten von Professor Stuard erhalten haben. Eine als Scotland-Yard-Beamter getarnte Hexe hat sie vernommen und dabei legilimentiert. Da Kingsley Shacklebolt seit dem dunklen Jahr sehr viel Wert auf gute Beziehungen zur Liga gegen dunkle Künste legt, konnte ich das erfahren. Demnach hat ein zur Zeit unauffindbarer Feuermelder im MI6 versucht, einen in der norwegischen Armee eingeschleusten Agenten zu befragen, der Daten über einen fliegenden Zauberer, der einen großen Hammer angefaßt haben soll, aus Norwegen hinausgeschmuggelt hat und dabei allen Such- und Greifkommandos ausgewichen ist, was ohne eine sehr gute Intuition nicht möglich ist." Julius erstarrte. Dann nickte er. Also hatte Temmie doch recht gehabt. Er erklärte Catherine auch sofort, was Temmie ihm und Millie auf einer Traumreise über die echten Titanen erzählt hatte.
"Oha, und den darf kein Magier anfassen? Das hätten Sigursons Leute besser vorher mal wissen sollen. Aber von wem?"
"Öhm, und seitdem der Hammer nicht mehr in der Höhle liegt verschwinden da Menschen wie im Bermudadreieck?" wollte Julius wissen. Seine Lockerheit konnte nur schwer verbergen, was in ihm vorging. Wenn da wirklich eine Waffe der Titanen gefunden worden war und deshalb jetzt eine unheimliche Kreatur erwacht war oder noch aufwachen würde, dann wohl nur, weil der Hammer das Biest solange in Schach gehalten hatte.
"Minister Grandchapeau hat dir und mir eine Sondergenehmigung ausgestellt, in Verkleidung nach Norwegen zu reisen und vor Ort zu überprüfen, ob es ein Fall für SerSil ist. Er hat mir freigestellt, ob wir auf Muggelart reisen oder als offizielle Besucher das Flohnetz benutzen. Ich denke aber, daß die Norweger und deine früheren Landsleute sehr pingelig sind, was auch immer vorgefallen ist für sich zu behalten. Daher möchte ich dich fragen, ob du Temmie für uns als Reisehilfe ausborgen kannst."
"Ich muß sie nicht ausborgen. Ich muß sie nur fragen, ob sie Orion zurücklassen möchte. Sicher wird sie nicht wollen, daß mir was passiert, nur weil sie mir nicht helfen konnte oder durfte. Ich kläre das mit Tante babs. In sagen wir mal zwei Stunden bei ihr auf dem Hof?" Catherine nickte heftig. Daß Julius so schnell darauf kam, die Reise anzutreten, behagte ihr.
Julius traf Barbara auf dem Latierre-Hof. Als er ihr im Schutz eines Klangkerkers erzählte, was Catherine mit ihm und Temmie vorhatte zuckte ihre Hand kurz nach oben, als wolle sie ihm eine Ohrfeige geben. Doch dann sank ihr ausgestreckter Arm wieder hinunter. Sie blickte ihn niedergeschlagen an und seufzte:
"Hätte nichts gebracht, dir eine zu scheuern, Julius. Zum einen hätte sich die Lage nicht geändert. Zum anderen kann ich Temmie eh nicht daran hindern, von meinem Hof zu verschwinden, selbst wenn ich ihr wieder einen Rückhaltering anlegen würde. Da sie sicher mitbekommen hat, daß du zu mir gekommen bist wird sie sicher wissen wollen, warum du bei uns warst, ohne sie zu besuchen. Auch wenn die Früheren Erinnerungen dieser in ihr eingekehrten Darxandria immer mehr freigesetzt werden, verhält sie sich in der Hinsicht immer noch wie ein junges Mädchen, trotz der Mutterschaft. Vielleicht auch gerade wegen ihres Fürsorgebedürfnisses könnte sie auf die Idee kommen, daß sie dich unbedingt begleiten muß, sofern du es ihr zumentiloquieren würdest, warum du bei mir bist."
"Abgesehen davon, daß ihr mir Temmie rein rechtlich geschenkt habt und ich meinen Besitzanspruch auf sie durchsetzen kann würde ich trotzdem immer fragen, ob es dir was ausmacht, sie mitzunehmen."
"Wie nett, Julius. Natürlich macht es mir was aus, wo ich ihrer Mutter zugesehen habe, wie sie Temmie auf die Welt gebracht hat. Natürlich macht es mir was aus, wenn ich mir vorstelle, daß Temmie vor diesem Experiment mit Trice und Catherine ein zwar ungebärdiges, aber doch vielversprechendes junges Mädchen war. Jetzt ist sie fast die Herrin dieses Hofes. Es gibt nur zwei Wesen, vor denen sie echten Respekt zeigt: Ihre Mutter und meine Großmutter."
"Sie übertreibt stark, muß an der vielen Arbeit und den beiden ganz Jungen von ihr liegen", hörte Julius Temmies Gedankenstimme. Da wußte er, daß sie selbst durch den Klangkerkerzauber eine Exosenso-Verbindung mit ihm hergestellt hatte.
"Im Grunde ist es nur Orion und das Versprechen, daß Darxandria alias Temmie mir gab, daß sie weiterhin die Aufgaben erfüllen möchte, die ihre Lebensform zu erfüllen hat. Aber denke daran, daß sie eben sehr groß und hungrig ist. Wenn du mit ihr irgendwo hinwillst, wo es wenig zu essen gibt, könnte sie daran zu Grunde gehen. Bei fehlendem Wasser passiert das dann noch schneller. Ich denke nicht, daß sie das will."
"Sag ihr, daß ich genug Essen und Trinken tragen kann!" Klang Temmies Stimme in Julius Geist. Er befolgte diese eindeutige Anweisung, bevor Temmie wieder auf die Idee kommen mochte, durch ihn zu sprechen. Das eine Mal war schon gruselig genug gewesen."
"Für wie viele Tage, Julius? Ihr wollt in den Norden, weil da was sein soll, was gefährlich für uns alle sein kann. Ihr wißt aber nicht, was es ist und wie gefährlich es ist. Soll wieder sowas passieren wie damals, wo Blanche Faucon, Camille und du über diese uralten Straßen gereist seid?"
"Sage ihr, daß du mich dabei haben mußt, als beweglichen Krafterspürer und daß ich ja auch den Mantel der Verhüllung um uns legen kann!" souflierte ihm Temmie direkt ins Gehirn. Julius gab es mit leicht verändertem Wortlaut weiter.
"Stimt, das kann Goldschweif alles nicht", grummelte Barbara Latierre. Julius nickte. "Und was ist mit Orion, falls Temmie nicht mehr zurückkommen kann?" wollte Barbara noch wissen. Julius wiegte den Kopf.
"Mein Sohn wird die nötige Milch von seiner Muttermutter und ihrer Schwestertochter bekommen. Das konnte er schon mehrmals", bot Temmie ihm eine Lösung an. Er fragte Barbara, ob es bei den Mutterkühen nicht üblich sei, die Kälber abwechselnd zu säugen. Barbara Latierre nickte verdrossen. Sie erwähnte dann, daß sie Orion auch schon an Demmies Zitzen hatte saugen sehen können. Für den künftigen Latierre-Stier war es nicht so wichtig, ob er die Milch seiner Mutter trank oder die von einer anderen Verwandten.
"In Ordnung, Julius. Ich besorge euch genug Nahrung für Temmie. Dank deiner Idee vom nie leerlaufenden Trog habe ich vier bezauberte Wasserfässer da, die randvoll sind. Frag sie, ob sie ihren Sohn für einige Stunden oder Tage bei ihrer Mutter lassen kann!" Julius schwieg einige Sekunden. Dann bejahte er die Frage.
"Nehmt auch für euch viel Essen mit und etwas, wo ihr drin schlafen könnt, ohne daß euch zu kalt wird", fügte Temmie der Anweisung noch für Julius unhörbar hinzu.
Julius Latierre belauschte mit der neuerworbenen Fähigkeit, Temmie und ihre leiblichen Verwandten miteinander sprechen hören zu können, wie Temmie ihre Mutter dazu brachte, sich um Orion zu kümmern. Dann trabte sie auf ihn zu und schnaubte befriedigt.
"Wenn Orion nicht an ihr saugt muß Temmie regelmäßig gemolken werden. Ich habe leider nur zwei Maschinen hier, die auch gebraucht werden. Aber einen rauminhaltsbezauberten Eimer mit Deckel kann ich euch mitgeben."
"Dann habt ihr zumindest was gutes zu trinken", brummte Temmie. Barbara Latierre hörte es und verstand es wohl auch. Sie sah Temmie verdutzt an. Doch weil sie offenbar keine schlafenden Hunde wecken wollte ging sie lieber zum Haus und holte den erwähnten Eimer. Dann säuberte sie Temmies Zitzen, daß diese immer wieder behaglich schnaufte und brummselte. Danach schnallte sie ihr den Zweisitzaufsatz auf den Rücken, hängte fünf scheinbar nur einen Zentner Heu fassende Säcke und an jeder Seite ein großes Eichenfaß an.
Julius kehrte noch einmal ins Apfelhaus zurück. Millie wartete schon auf ihn. Er erklärte ihr auf gedanklichem Weg, daß er heute noch verreisen würde. Sie forderte von ihm, bloß nichts anzustellen, woran er sterben konnte. Dann küßten sie sich noch einmal zum abschied.
Mit einem Practicus-Rucksack vom Typ Weltenbummler kehrte Julius auf den Latierre-Hof zurück. "Goldie kam angeflitzt, als du los bist, Monju. Doch ich habe ihr gesagt, daß du mit starken Begleitern unterwegs bist, die auf dich aufpassen."
"Danke, Mamille", schickte Julius zurück.
"Gut, die Sonnenlichtkugel hast du auch eingepackt", sagte Catherine und gedankenfragte: "Den Lotsenstein nicht eingepackt?" Julius mentiloquierte zurück, daß sie nicht über die alten Straßen gehen würden, da auf Spitzbergen sowieso kein Ausgang lag.
"Kommt bloß in einem Stück zurück!" gab Barbara Latierre den drei Reisenden mit auf den Weg. Catherine versprach es. Dann ging es los.
Solveig Ericksen, die Zwillingsschwester des Trollgrenzers Horkon, fühlte, wie ihr die Kräfte schwanden. Irgendwas schien ihr das Blut oder gleich das Leben auszusaugen. Sie hörte erst einen Angst- und dann einen Jubelschrei und sah ihren Bruder, der kopfüber in ein gewaltiges Maul hineinsprang. Sie schrie auf. Schweißgebadet fand sie sich in ihrem Bett wieder. Was für ein Alptraum war das? Er war so wirklichkeitsnah gewesen. Einmal hatte sie im Schlaf mitbekommen, wie ihr Bruder mit einer Kollegin aus der Asgardschwan-Reservation das Lager geteilt hatte. Daraufhin hatte sie ihn wütend angefahren, was ihm eingefallen sei, da sich beide versprochen hatten, unberührt füreinander da zu sein. Als dann noch herauskam, daß die wilde Liebesnacht wohl von jenem dubiosen Geheimbund Vita Magicae herbeigeführt worden war und die erste und bislang einzige Geliebte in Horkons Leben ungewollt schwanger geworden war, hatte sie ihrem Zwillingsbruder verziehen. Denn es hätte ja auch sie erwischen können. Doch dieser Alptraum eben. Das war nicht wirklich passiert, oder? Sie mußte ihren Bruder rufen. Der war weit im Norden auf einer menschenleeren Insel, weil er dort etwas bewachen mußte. Sie mentiloquierte. Das hatte sie schon mit zwölf Jahren hinbekommen. Doch sie hörte nicht den beruhigenden Nachhall ihrer Gedanken. Horkon war unerreichbar. Sie versuchte es wieder und wieder. Doch sie bekam keinen Kontakt. So stand sie auf und zog sich an. Sie mußte mit dem Minister persönlich sprechen.
Sigurson war nicht gerade begeistert, daß Solveig Ericksen bei ihm vorsprechen wollte. Doch als sie als Grund für ihr Gesuch angab, ihrem Zwillingsbruder nichts mehr zumentiloquieren zu können horchte er auf und ließ sie in sein Büro bitten. Er hörte sich an, wie intensiv die beiden Ericksen-Kinder körperlich und geistig verbunden waren. Er nahm es sehr ernst, wenn Zwillinge eine so gute Mentiloquismus-Verbindung herstellen konnten. Nach zehn Minuten beschloß er, der Sache auf den Grund zu gehen. Er ließ einen Trupp Einsatzzauberer auf Besen vorausfliegen. Er selbst ließ zwei Asgardschwäne vor eine Kutsche spannen, auf deren Dach zwei große Flügel zusammengefaltet waren. Dann flog er mit drei Leibwächtern los, den Besenreitern hinterher.
Abseits der Muggelweltrouten zu Wasser und zur Luft jagten die beiden gigantischen Vögel mit ihrem Gespann dahin. Es würde sechs Stunden dauern, bis sie das Svalbart-Archipel erreichten. Dort wollten sie eine Pause machen, bevor sie die Insel Nordostland anflogen.
"Stimmt das mit dem Locattractus-Zauber, Herr Minister?" fragte Sigursons Untersekretär Gunnarson.
"Die Messungen waren eindeutig. Die Sprechfackelkette hat es gestern gemeldet. Wir können also nicht apparieren", erwiderte der Minister.
"Die Besen sind schneller als die Schwäne", murrte Gunnarson. "Warum sind wir nicht auch auf Besen geflogen?"
"Weil wir in unserem Himmelsstreiter besser vor hinterhältigen Zaubern sicher sind." Gunnarson nickte.
Der gebannte fühlte die Kraft, die ihm zufloß. Er hatte wieder zehn kleine aber starke Träger der belebenden Kraft in sich hineingezogen, sie mit seiner Macht, sie in ihren Träumen zu sich zu rufen, in seine immer noch starre Leibeshöhle gelockt. Er fühlte, wie er bald aufwachen würde. Noch einmal zehn von denen, und er konnte sich wohl wieder bewegen. Dann konnte er selbständig nach Nahrung suchen. Inneres Leben, das was die kleinen Zweibeiner so stark und für ihn so belebend machte.
Jetzt, halb wach halb schlafend, fühlte er, wie sich ihm gleich zwanzig fliegende Kraftträger näherten. Sie waren ihm zu schnell. Doch er wollte sie haben. Doch wenn sie vorbeiflogen ... Da fühlte er, wwie die Fliger schlagartig in die Tiefe sackten, immer schneller. Der gebannte hätte geschrien, wenn er es gekonnt hätte. Doch er konnte überhaupt nichts tun. Für ihn nur einen Augenblick später fühlte er, wie die Flieger auf den Boden schlugenund erloschen. Ihre labende Lebenskraft zerstreute sich völlig ungreifbar im Gefüge der Elemente. Der Gebannte fühlte Wut. Er zitterte. Für die dort draußen mochte es ein Erdbeben sein.
Er fiel in unruhige Träume zurück, in denen die einverleibten seine Kinder wurden. Ja, er würde nach seinem Erwachen einen wie ihn suchen und dabei alles Leben in sich hineinschlingen, um zu wachsen, neue Haut zu bilden und dann einen Gleichartigen zu finden, mit dem er um die Paarungsrolle kämpfen konnte. Denn er wollte diese starken Träger der Kraft als seine Kinder zurück auf die Welt stoßen.
Unvermittelt drang ein greller Lichtschein in seine Gedanken. Etwas fliegendes, das die Kraft in sich hatte, kam zu ihm.
Julius fürchtete bei jeder der vier Apparitionen, gänzlich in Temmies Körper hineingezogen zu werden. jedesmal, wenn ihn die dunkle, zusammenstauchende Phase zwischen Ausgangsort und Zielort überkam, meinte er, gleich vollständig mit Temmie verbacken zu sein. Deshalb atmete er jedes mal tief durch, wenn der Transit zwischen Hiersein und Dortsein überstanden war.
Nach dem letzten magischen Ortswechsel flog Temmie über dem weiten Meer dahin. Die polare Sommersonne schien verhältnismäßig warm vom Himmel. Doch der Wind blies ihnen eisige Kälte in die Gesichter.
"Fast wie damals am Südpol", sagte Julius zu Catherine. Hier oben, mindestens siebenhundert Meter über dem wogenden Meer, waren sie vor Lauschern sicher.
"Hat meine Mutter mir geschildert. Das war schon abenteuerlich genug. Ohne diese Glücksflasche hättet ihr diese Reise nicht überstanden. Hättest du Hippolyte nicht noch einmal darum bitten sollen?"
"Damals konnte ich nicht wissen, daß in die Flasche ein Hochgeschwindigkeitsflugzauber eingewirkt ist. Wir hatten im Grunde Glück, daß ich die Flasche nicht vor dem Riesenturm des alten Wissens aufgemacht habe. Die wäre da nämlich keinen Meter weit gekommen."
"Wegen der Flugartefakte lähmenden Kraft?" fragte Catherine.
"Die toten Flughilfen versagen im Schutzkreis der Elemente. Wer in den Turm will muß ihn auf eigenen Beinen erreichen und berühren", mentiloquierte Temmie Julius und dann wohl auch Catherine. Dann wollte sie von Julius wissen, wo Spitzbergen lag. Er konzentrierte sich auf die Landkarte, die er kurz vor dem Abflug studiert hatte. Er sah sie förmlich vor sich und meinte, vor seinem geistigen Auge einen Lichtpunkt zu erkennen, der wie ein Leuchtkäfer flimmerte. Ihm war klar, daß diese Markierung seinen derzeitigen Standort zeigte. Woher wußte Temmie das? Er sollte sich wirklich langsam das Wundern abgewöhnen.
"Die Insel backbord voraus sollten wir mal als Landestelle nehmen, um zu prüfen, wo wir sind", schlug Catherine vor. Julius wollte es Temmie sagen. Doch diese änderte bereits den Kurs.
Sie nahm noch einmal Fahrt auf. Dann breitete sie die Flügel weit aus und segelte mit ihren zwei Reitern sacht in die Tiefe, bis sie die Insel erreichte. Sie schaffte es, in einem von vier Bergen umfaßten Tal zu landen.
"Okay, die Dame und der Herr, Essenszeit und Kleiderwechsel, bevor du mir noch erfrierst, Julius!" bestimmte Catherine.
Temmie lauschte erst, ob sie bereits die Nähe eines magischen Wesens fühlte. Doch offenbar war da nichts. So mampfte sie gleich fünf Heuballen, die Julius ihr aus einem der Säcke vorlegte. Er füllte einen entschrumpften Trog mit dem Wasser aus dem Faß.
"Hoffentlich schmeckt das nicht nach Meerwasser", scherzte Julius. Temmie bot ihm an, zuerst davon zu trinken, bevor sie den Trog leertrinken wollte. Julius probierte das Wasser. Es war klares, ja sauberes Süßwasser.
Temmie schlürfte und schluckte das Wasser wie eine gewaltige Absaugpumpe. In der Zeit wechselte Julius seine Kleidung. Er hatte eine gleichwarm bezauberte Daunenhose, eine dito Jacke und gefütterte Stiefel. Die Jacke war signalrot, die Hose schneeweiß. Als hätten seine Schwiegercousinen Callie und Pennie von irgendwem mitbekommen, daß er auch mal zu den eisigen Polen der Erde reisen mochte.
Catherine hatte sich in einen gut gefütterten Sportanzug aus Warmwolle und Daunen gehüllt.
"Gut, ich lasse das nicht mehr zu haltende aus mir raus. Dann können wir weiter", brummselte Temmie. Julius bedeutete Catherine, Abstand zu nehmen. Temmie trabte an und suchte sich eine Stelle unter einem Felsüberhang. Dann ließ sie einen breiten Strahl Wasser ab, bevor ein zentnerschwerer, schmutziggrüner Fladen auf den Boden klatschte. Lautstark entfuhr Temmie eine Blähung. Catherine und Julius hielten sich die Nasen zu. Tatsächlich umfloß sie etwas wie warme Luft. Sie warteten, bis die übelriechenden Gase sich weit genug verflüchtigt hatten.
"Leichter ist immer schön", brummte Temmie zufrieden. Catherine verstand Temmie nicht. Doch daß Temmie sich in jeder Hinsicht erleichtert fühlte erkannte sie auch so.
Julius trat mit Temmie noch einmal in Gedankenverbindung. Wie ein Navigationscomputer bildeten sie beide auf einer nur für sie erkennbaren Karte den weiteren Weg. Temmie gedankensprachzu Julius:"Da wir nicht wissen, was auf der Insel liegt möchte ich nicht direkt dort vom kurzen Weg herab. Aber wir müssen ganz nahe ran. Hilf mir, den genauen Punkt zu sehen!" Julius dachte an Nordostland und schob mit seinen Gedanken den Lichtpunkt, den Temmie bildete, drei Kilometer von der Küste entfernt. Temmie erklärte sich einverstanden. Dann wartete sie, bis ihre beiden Mitreisenden über die aus- und Einfaltbare Treppe auf ihren Rücken zurückgekehrt waren und sich in den bequemen Sitzen festgekettet hatten. Temmie konzentrierte sich. Dann überkam sie alle wieder jene Schwärze und Beengtheit einer Apparition.
"Vom Vorauskommando keine Nachricht", verkündete der Zauberer auf dem Bock des geflügelten Reisewagens.
"Immer wieder rufen!" befahl der norwegische Zaubereiminister.
"Jawohl, Minister Sigurson", kam die Antwort zurück.
"Wie weit noch bis Spitzbergen?"
"Dreißig Flugminuten", wurde geantwortet. Sigurson fragte sich ernsthaft, was mit dem Vorauskommando geschehen war.
WIR SIND FAST EINS. ICH MUß WIRKLICH AUFPASSEN, DAß JULIUS UND ICH NICHT DOCH WIEDER GANZ EINS WERDEN. MILLIE WÜRDE MIR DAS NIEMALS VERZEIHEN.
DAS VIEL ESSEN WAR RICHTIG NÖTIG. ICH FLIEGE GERADE ÜBER DEM KALTEN MEER. JA, DA IST DIESE INSEL. DIE RICHTUNGSLINIEN STIMMEN, AUCH WENN HIER OBEN ALLE LINIEN ENGER ZUSAMMENLAUFEN UND WEITER IN ABENDRICHTUNG ZUSAMMENSTOßEN:
ICH FÜHLE ES. DA IST WAS STARKES: OH! DA IST ETWAS ATMENDES, GRÖßER ALS ICH. O NEIN, ICH DACHTE, ES WÄREN NOCH VOR DEM UNTERGANG MEINES HEIMATLANDES ALLE GEFUNDEN UND GETÖTET WORDEN. HAT EINES DIESER WESEN HIER GESCHLAFEN? ES ATMET LANGSAM. ES SCHLÄFT WOHL NOCH. ABER ES SCHLÄFT NICHT MEHR SEHR TIEF. ES FÜHLT MICH AUCH: DA IN DEM FLUß AUS EIS IST EINE ÖFFNUNG. DA IST DIE HÖHLE, WO DIESES ALTE SCHEUSAL SCHLÄFT. O NEIN! DA UNTEN SIND VIELE TOTE MENSCHEN. SIE SIND WOHL MIT BESEN HINGEFLOGEN. ALSO WIRKT DIE UMHÜLLUNG DER GROßEN MUTTER SCHON BIS DAHIN. ICH MUß CATHERINE UND JULIUS SAGEN, WIE GEFÄHRLICH DIESES UNWESEN AUCH IM SCHLAF NOCH IST. ICH FLIEGE LANGSAMER. JULIUS WILL WISSEN, WAS ICH FÜHLE. ICH SPRECHE IN SEIN INNERES SELBST HINEIN UND ZEIGE IHM DIE SCHLAFENDE SCHLANGE IAXATHANS, EINEN DER FÜNF WÄCHTER DER FINSTEREN ERDKRÄFTE.
Julius schrak förmlich zusammen, als erst Temmies Angst und dann Verdrossenheit über ihn hereinbrach. Dann sah er ein in seinen Kopf projiziertes Bild, das Bild einer gewaltigen, schwarz-grau-rubinrot gemusterten Schlange, die aus einer Höhle herauskam und rattengroße Menschen jagte. Rattengroße Menschen? Wenn das richtige Menschen waren, dann mußte dieses Ungetüm, das er mal die Mutter aller Monsterschlangen nennen wollte, entsprechend riesig sein. Er sah für zwei Sekunden die gespaltene Zunge des Riesenreptils, neben dem sich jeder Dinosaurier als mausgroßer Winzling ausmachen mußte. Dann fühlte er die warmen Ströme, die der Herzanhänger in seinen Körper schickte.
"Oha, nix für Tante Diane. Die hat Megaangst vor Schlangen", hörte er Millies Gedankenstimme. Also waren sie nun alle drei im Geist verbunden, um das beinlose Entsetzen zu sehen.
"Catherine, wenn Temmie mir das gerade richtig zwischen die Ohren gesetzt hat liegt da auf der Insel mächtig viel Ärger", seufzte Julius. Dann erzählte er Catherine, was er erfahren hatte, wobei er verschwieg, daß er die Schlange und ihre Opfer in bildhaften Eindrücken kennengelernt hatte.
"Wer ihre Schlafstätte betritt verfällt ihr, Julius. Wir müssen weit genug davon weg runter", mentiloquierte Temmie. Catherine hatte derweil wohl ihr Superomniglas aus der rauminhaltsbezauberten Handtasche gefischt und angesetzt.
"Oha, mindestens zehn zerschmetterte Menschen und Bruchstücke von Besen", stöhnte sie. Julius ahnte, was das hieß. In der Nähe der Höhle fiel die Flugmagie von Besen und anderen toten Flughilfen aus. Offenbar geschah dies nicht langsam wie beim Turm in Khalakatan, sondern sofort, übergangslos, ganz ohne jede Vorwarnung. Er fragte Temmie, ob sie noch frei fliegen konnte.
"Auf die aus Leben kommende Kraft wirkt das nicht, was die unglücklichen dort aus dem Flug gerissen hat. Aber ich gehe mindestens zwanzig meiner Längen entfernt vor dem großen Fließeis runter."
Temmie umrundete den imposanten Gletscher in sicherer Höhe von siebenhundert Metern. Allerdings, so teilte sie Julius und Catherine nacheinander mit, wirke die Ausstrahlung der schlafenden Schlange bis hier oben. Sie könne nicht einschätzen, was davon alles betroffen wurde. Doch es könnte auch für magielose Flugmaschinen gefährlich sein. Sie fühlt mich, kann aber noch nichts von sich aus tun, außer darauf warten, daß ihr Lebewesen in die Falle gehen."
"Wie eine Spinne im Netz?" wollte Julius wissen. Temmie verneinte es.
"Diese Wesen wachsen, wenn sie andere Wesen lebend verschlingen, vor allem, wenn in diesen die Kraft schwingt. Es ist gerade sehr träge und langsam, weil etwas dieses Ungetier mit einem starken, der Erde und der Luft verbundenem Schlaf getroffen hat. Doch der wird nicht mehr lange dauern. Wird der große Wächter einmal wach, wird ihn weder Feuer noch Kälte noch zerstörende Kraft was tun können. Er kann dann auch die wachen Lebewesen zu sich hinrufen."
"Moment, die schlafenden kann es jetzt schon rufen?" führte Julius Temmies Gedankengang weiter.
"Ich habe Angst, daß das wirklich passiert. Wenn einer der großen Wächter schlief, kamen andere Lebewesen zu ihm hin, die vorher auch geschlafen haben. Deshalb wurden sie ja von allen denkenden Wesen am meisten gefürchtet und gehaßt und gejagt. Vier von ihnen sind getötet worden. Doch wie viele es davon noch gibt weiß ich nicht."
"Was teilt sie dir mit?" fragte Catherine. Julius erzählte es ihr, während Temmie in etwas mehr als hundertfünfzig Metern von jenem Gletscher aufsetzte.
"Temie, wenn die Schlange schläft, aber schon andere Menschen in sich einverleibt hat, leben die dann noch oder sind sie tot?" wollte Catherine wissen.
"Meiner Mutterschwester Tochter Ianshira hat ihren Gefährten Olarian noch in ihren Geist hineinrufen gehört, als er in einem solchen Ungetüm verschwunden ist. Erst als dieses aufwachte hörten die letzten Hilferufe auf", antwortete Temmie nur für Julius verständlich. Er erbleichte. Doch dann gab er die Antwort an Catherine weiter.
"Dann leben die Opfer dieses Ungeheuers noch, solange es nicht aufwacht? Vielleicht können wir sie retten, bevor die Schlange aufwacht."
"Dazu müßten wir aber in das Vieh reinkriechen, Catherine. Wenn sein Verdauungsmechanismus schon jetzt gut funktioniert könnte es uns dabei zerbröseln oder zu Bestandteilen dieses Monsters machen."
"Du hast Recht, Julius, war ein wenig zu überhastet, der Gedanke. Aber wenn die bereits in diesem Unding verschwundenen noch am Leben sind, muß ich alles tun, um sie zu befreien. Womöglich schwächt das diese Riesenschlange auch so sehr, daß sie wieder ganz erstarrt."
"Die muß Jahrtausende lang in Überdauerungsschlaf gelegen haben", setzte Julius zu einer Vermutung an. "Was macht diesen Schlaf jetzt zunichte? Besser, was hat den Schlaf solange erhalten und fehlt jetzt?"
"Du denkst an die Berichte über das Militär, daß die Insel abgesperrt hält, Julius?" Der gefragte nickte.
"Ich horche in das Scheusal hinein. Es träumt. Doch ich fühle, daß da noch mehrere andere sind, Träger der Kraft, die aber mit Körper und innerem Selbst gefangen sind. Ihre Träume kämpfen mit denen des großen Wächters", gedankensprach Temmie.
"Kann der Fluchumkehrer sie befreien, Temmie? "wollte Catherine wissen. Temmie schüttelte den Kopf. Die Geste war eindeutig. Ohne verzögerung durch das Zudenken und übersetzen lassen sprach sie nun durch Julius' Mund, wobei dieser einen leicht geistesabwesenden Gesichtsausdruck zeigte, aber beim sprechen klar und deutlich betonte:
"Der Übelwender, den Ianshira gelehrt hat, muß das ganze erfassen, was voll Übel ist, wie mit der Kuppel aus Haß."
"Julius, was ist mit dir los?" fragte Catherine sehr besorgt. Julius bekam die Herrschaft über seine Stimme und Gedanken zurück und sagte: "Öhm, wußte nicht, daß Temmie so stark mentiloquieren kann, daß ich ihre Worte einfach so laut ausspreche. Ist echt gruselig, als wäre ich dieses goldene Mädchen, Amatira, daß in dem Versteck mit dem goldenen Drachen aufgepaßt hat." Catherine nickte. Auch davon hatten er und ihre Mutter unabhängig voneinander erzählt.
"Kennst du einen Zauber, Temmie, mit dem wir gefahrlos in das innere der Schlange vordringen und vielleicht den Aufwachvorgang rückgängig machen können?" wollte Catherine wissen und hielt Julius' Hand. Wieder übernahm Temmies Gedankenkraft Julius Sprechorgane und antwortete:
"Nur wer nicht die Erde berührt, , aus deren dunkler Kraft der Wächter geboren wurde, kann in sie vordringen. Er darf aber zu keiner Zeit mit ihr in Berührung kommen. Ich bin zu groß, um hineinzufliegen."
"Julius, wenn wir diesen Wahnsinn überleben sollten, sofern wir nicht jetzt und hier den Rückzug antreten, wirst du mir persönlich erzählen, wieso die geistige Verbindung zwischen dir und Temmie so stark ist, daß sie durch dich sprechen kann wie ein Dibbuk."
"Sie entfaltet ihre alten Kräfte weiter", log Julius. Catherine wollte ihm das nicht so einfach abkaufen.
"Ich bin einige Jahre länger auf der Welt als du, Julius. Und ich habe in den Jahren auch sehr viel gelernt. Es gibt eine Möglichkeit, daß Zauberer und Tierwesen so eng miteinander verbunden werden können, daß sie sich gegenseitig beeinflussen können. Allerdings benötigt man dazu ein gewisses seltenes Artefakt und freiwillig gegebene Körperflüssigkeiten des Tierwesens, also Blut oder Milch."
Julius beherrschte sich und verhüllte auch seinen Geist. Catherine sah ihn durchdringend an.
"Wer immer dir so eine Möglichkeit gab, Julius, laß es nicht zu auffällig werden!"
"Denkst du, mir gefällt das, daß Temmie mich als ihren Lautsprecher benutzen kann?" grummelte Julius.
"Wem gefällt schon sowas", schnarrte Catherine zurück. Für Julius klang es so, als habe sie das auch schon einmal erlebt, was ihm gerade passierte. Er wollte aber nicht danach fragen, was es genau war.
"Ich könnte mit dem Freiflugzauber in die Höhle rein. Aber wenn da schon was wirkt, was mich für das Biest anfällig macht nützt das wohl nichts."
"Solange du aus eigener Kraft fliegst kann es dir nichts tun. Außerdem kannst du mit Catherine die schützenden Mäntel der inneren Ruhe und körperlichen Unversehrtheit wirken", mentiloquierte Temmie Julius.
"Temmie sagt, ich könnte da alleine hineinfliegen, solange ich nichts anfasse oder wo gegenstoße."
"Du fliegst da ganz sicher nicht ohne mich rein, Julius. Soweit ich weiß kostet dieser Zauber viel Kraft. Deshalb werde ich dich begleiten, auf deinem Rücken."
"Ähm, hallo, der Flugzauber ist schon anstrengend genug. Wenn ich dann noch dich auf dem Buckel habe wird es schwieriger."
"Ich kann mich leichter machen", sagte Catherine. Julius fragte, ob sie sich einschrumpfen wolle. "Nur in einer bestimmten Grenze, damit ich noch den Zauberstab führen kann", erwiderte Catherine. Damit öffnete sie ihre Handtasche und holte zu Julius' Erstaunen einen kompletten Satz kunterbunter Kinderwäsche hervor. Julius erkannte die Kleidung. Das zog Claudine immer wieder an. Als Catherine dann noch eine verkorkte Flasche aus der Tasche herausfischte schwante ihm, was Catherine vorhatte.
"Ähm, deine Mutter selbst könnte dich drankriegen, wegen Ausnutzung Schutzbefohlener zu magischen Zwecken in Tateinheit mit unerlaubter Anwendung eines hochpotenten Zaubertrankes."
"Willst du den Trank schlucken, Julius?" schnarrte Catherine. Er schüttelte den Kopf. "Dann mach den Mund besser wieder zu, bevor ich ihn dir einflöße." Julius wußte, daß Catherine so unerbittlich wie ihre Mutter sein konnte. So nahm er es hin, daß sie erst das ebenfalls in der Tasche versteckte Zelt von vor sechs Jahren hervorzog, es mit einem Zauberstabwink aufbaute und darin verschwand. Dann hörte er sie von drinnen laut stöhnen, als erleide sie gerade starke Schmerzen. Ihre Stimme veränderte sich dabei. Sie wurde höher, verlor die Klangfarbe einer erwachsenen Frau.
"Sie liebt dich auch, Julius. Sie will dich nicht allein in die Gefahr fliegen lassen", mentiloquierte Temmie. Julius nickte.
Als die Zeltklappe wieder aufging schlüpfte ein äußerlich gerade drei Jahre altes Mädchen mit schwarzem Haar und großen, saphirblauen Augen in einem schmetterlingsbuntem Winterkostüm heraus. In der rechten Hand hielt es Catherines Zauberstab.
"Ich übe nur ein paar Standardbewegungen ein, um die Balance zu finden", sagte das Mädchen und wedelte mit dem Zauberstab, ließ ihn mehrmals kreisen und peitschen. Immer wieder schossen dabei Funken, Blitze und farbige Kugeln heraus. "Gut, kann ich noch. Wie du ja weißt wirkt der Vielsaft-Trank nur auf die Körperform, nicht auf die erlernte und geförderte Magie." Die Stimme gehörte Claudine Brickston. Doch wie sie sprach war es immer noch ihre Mutter Catherine. Julius konnte nicht anders als einwilligen.
Nachdem Temmie noch einige Ballen Heu vorgelegt bekommen hatte und Julius ebenfalls einen Sättigungskeks gegessen hatte, lud er sich die in ihre eigene Tochter verwandelte Catherine auf den Rücken. Er dachte die fünf Worte der Loslösung aus den Fesseln der irdischen Schwerkraft. Als er fühlte, wie er schwerelos wurde konzentrierte er sich, legte sich waagerecht in die Luft und befahl seinem Körper durch Gedankenkraft, vorwärts zu fliegen.
"Pinkel mir bitte nicht auf den Rücken!" scherzte Julius zu der in ein kleines Mädchen zurückverwandelten Catherine.
"Ich bin schon groß genug, mein Wasser nur dahin zu lassen, wo es keinen ekelt", knurrte Catherine und hieb Julius spielerisch auf die rechte Schulter. Wie ein Reiter auf dem hohen Roß klammerte sie sich mit den kurzen Bbeinen fest. Mit einer Hand hielt sie sich an der Daunenjacke fest. Mit der anderen führte sie den Zauberstab, der jetzt bald so lang wie ihr Arm war.
Als sie die Schwelle zur Höhle überquerten, fühlte Julius etwas über ihn streichen, etwas tasten, immer wieder, als streiche jemand sachte mit der Hand oder einer Bürste über ihn.
"Gut, ich fühle dich noch. Was du spürst ist sein Spürsinn für fremdes Leben. Damit kann er dich aber nicht beeinflussen. Hüte dich aber davor, gegen etwas von ihm zu stoßen oder vor ihm zu landen", mentiloquierte Temmie. Julius dachte nur, daß er das begriffen hatte. Die Schlange war mit mehreren Millionen Volt aufgeladen. Jede Berührung würde ihn also sofort zerbrutzeln. Er konzentrierte sich also auf den Flugzauber. Catherine auf seinem Rücken war bereit, böse Zauber zu bekämpfen, falls sie das überhaupt konnte. Denn mit dieser Kreatur hatten sie es in der modernen Zaubererwelt noch nie zu tun bekommen.
Julius dankte seiner eisernen Disziplin, daß er den Zauber seit der Reise nach Khalakatan jeden Tag an einem unbeobachtbaren Ort geübt hatte. So fühlte er noch keine Anstrengung. Harry Potter hatte erzählt, daß Voldemort auch ohne Besen und Flugtier fliegen konnte. Vielleicht hatte er auch diesen Zauber erlernt.
Vorsicht, die Zähne!" warnte Catherine. Julius sah die zwei Reihen aufragender und von oben herabweisender Säulen. Er erkannte sofort ein gewaltiges Maul. Noch fühlte er keinen Sog oder fremden Willen. Statt dessen hörte er in seinem Kopf ein leises. beruhigendes Lied. Woher kannte er das denn? Egal! Er mußte jetzt höllisch aufpassen. Er fand eine Lücke in den gigantischen Zahnreihen. Zwei Zähne waren abgebrochen. Womöglich hatte das Monstrum vor seinem Superdornröschenschlaf mit einem Artgenossen oder ebenbürtigen Gegner gekämpft. Das zu wissen war bestimmt auch sehr wichtig. Jetzt war er im gewaltigen Schädel unterwegs. Das Lied in seinem Kopf und die Balance des Flugzaubers beanspruchten ihn so sehr, daß er die tastenden Empfindungen nicht mehr spürte. Catherine hatte inzwischen um ihn und um sich eine Aura der körperlichen Unversehrtheit gelegt.
Julius hatte nicht genau darüber nachgedacht, was er im inneren eines versteinert wirkenden Schlangenleibes zu sehen bekam. Doch im Licht seines und Catherines Zauberstab wirkte es wie der merkwürdig längsgefurchte und durch wulstartige Verbindungsringe errichtete Stollen eines Bergwerkes. Er war mindestens schon zwanzig Meter tief in den sich sanft windenden Gang hineingeflogen, als er fast die Balance verloren hätte. Vor sich sah er Standbilder, lebensecht nachgebildete Statuen, die im selben rötlichen Braun widerschienen, aus denen die Wandung dieses unheimlichen Tunnels bestand.
"Er sah sofort, daß die Steinfiguren lebenden Zauberern nachempfunden waren. Einige lagen am Boden. Andere standen in einer Art Siegerpose oder Triumphhaltung da. Er sah einen steinernen Zauberer, dem der halbe Unterarm abzufallen drohte. Beinahe wäre er mit der Hutspitze eines Zauberers im bis zum Boden reichenden Umhang gestoßen. Catherine lenkte ihn gerade noch um.
"Die sind alle lebende Zauberer gewesen", seufzte Catherine. Mit Claudines Kleinmädchenstimme klang das in diesem Tunnel richtig unheimlich. Julius nahm etwas mehr Höhe, bis Catherine ihn warnte, daß sie in zwanzig Zentimetern die Decke berühren würde. Julius blickte nach oben und erschrak. Denn die zwanzig Zentimeter waren in Wirklichkeit nur acht. Sofort sank er etwas tiefer.
Sie flogen über Reihen von Soldaten hinweg, deren automatische Waffen nicht mitversteinert worden waren. Offenbar wirkte sich der unheimliche Zauber nur auf organische Körper und Kleidung aus. Dann sah er ihn, den Mann, der im Augenblick großen Staunens erstarrt worden war. Die Gesichtszüge waren trotz der Versteinerung scharf und unverkennbar. Er wußte, wen er da sah. Er wußte jetzt, wo Moiras Vater war.
"Sie wird immer hungriger, Julius. Mein Lied des inneren Friedens schützt euch noch, solange ihr fliegt", mentiloquierte Temmie. Dann meinte Julius, sein Herzanhänger würde größer und wärmer. Gleichzeitig hörte er das merkwürdige Lied Temmies zweistimmig. Temmie hatte also auch Millie in die Verbindung einbezogen. Er flog um den versteinerten Professor Stuard herum und sah neben ihm einen jungen Mann, vielleicht einen Gehilfen Björnsons. War der auch im steinernen Leib der schlafenden Schlange gefangen.
Da hinten ist wohl der Darmausgang, falls dieses Monstrum überhaupt so verdaut wie alle zivilisierten Lebewesen", wisperte Catherine. Julius sah auch den sich zu immer engeren Spiralen windenden Abschnitt des Tunnels.
"Achtung!" rief Catherine. Doch Julius hatte es auch gesehen. Aus dem Hinteren Teil des Tunnels flogen hüpfballgroße schwarze Kugeln, die im Flug leicht zerfaserten und dann wieder kompakt wurden. Julius vermutete richtig, daß dies eine Art Verdauungsstoff der Schlange war. "Katashari!" hörte er Catherine mit ihrer augenblicklichen Stimme schrillen, als die erste schwarze Sphäre nur noch einen Meter von ihnen entfernt war.
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