SCHMACH UND TRIUMPH

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Es ist ein turbulentes Jahr, sowohl für Großbritannien, in dem der dunkle Magier Voldemort mit seinen Anhängern die Macht in der Zaubererwelt übernimmt, sowie in Frankreich, wo die Angst vor Voldemort und das Verschwinden des Ministerehepaares Grandchapeau den paranoiden, rigoros alle Kritiker jagenden Janus Didier zum Minister werden läßt, als auch in den USA, wo Anthelia gegen Voldemorts gefährlichste Verbündeten, die Schlangenkrieger der Vorzeit, die von ihrer Tante erschaffenen Entomanthropen neu entstehen läßt. Letzteres bringt ihr Mißgunst von manchen Mitschwwestern ein, allen voran Lady Daianira Hemlock, die Anthelia dafür aus der Welt stoßen will, daß sie die Entomanthropen erschaffen hat. Nachdem Daianira Anthelias Mitschwestern Tyche Lennox und Donata Archstone bedroht hat fordert sie Anthelia selbst zum offenen Zweikampf in der Versammlungshöhle der entschlossenen Schwestern heraus. Diesen vermag Anthelia fast für sich zu entscheiden. Doch im letzten Moment, als sie Daianira statt ihr den Tod die Rückverwandlung in einen Säugling anhexen will, errichtet diese einen konservierten, schwarzen Spiegel zwischen sich und ihr, der Anthelias Fluch mit fünffacher Wucht auf diese selbst zurückwirft. Anthelia wird erst zu einer Leuchterscheinung, die innerhalb der magischen Kampfplatzabgrenzung herumfliegt, bis sie in Daianiras Körper eindringt, diese um so viele Jahre verjüngt, wie ihr neuer Körper alt war und sich als bereits acht wochen lang ausgereiftes Ungeborenes einnistet. Daianira erfährt rasch, daß sie ungewollt schwanger wurde und entscheidet nach der ersten Anwandlung, Antehlia abzutreiben, sie auszutragen und als ihre Tochter aufzuziehen. Über das Seelenmedaillon Anthelias, in dem ihr Geist eine geraume Zeit lang fokussiert ist, kann Anthelia Daianira dabei helfen, die Entomanthropen gegen die Schlangenmenschen zu führen. Eine Brutkönigin jedoch entwickelt ein tödliches Eigenleben. Die jugendliche Straßenkriminelle Valery Saunders wurde unbeabsichtigt mit einer teilafrikanischen Mörderbiene verschmolzen, was sie gegen den Entomolithen immun macht, der sonst alle Entomanthropen kontrolliert, die er entstehen läßt. Sie rächt sich an ihrem Ex-Freund und dessen neuer Freundin, entführt deren Tante, die ebenfalls eine Rechnung mit ihrem Ex offen hatte und erkennt, daß sie die Kraft von Zauberern in sich speichern kann, wenn sie diese lebendig verschlingen kann. Die qualvoll verdauten erblicken dann wenige Tage später als Valerys Kinder das Licht der Welt und sind ihr unterworfen. Valery fordert ein Treffen mit Anthelia, bei dem sie Daianira zwar wie viele andere vorher inn ihren Magen würgen kann, davon aber nicht viel hat, weil Daianira sich befreien kann. Seitdem ist Valery die lebende Mahnung für Anthelia, daß nicht alles beherrschbar bleibt, was brauchbar erscheint.

In Großbritannien jagt die von Dolores Umbridge geführte Kommission für Muggelstämmige jene, die keine Zauberereltern haben. Darunter soll auch der nach Frankreich ausgewanderte Julius Andrews fallen, dessen hohe Zaubergaben ihr und Voldemort ein großes Gräuel sind. Umbridge bedroht Julius' Freunde Gloria, Betty, Jenna und Kevin mit Askaban wegen Unterstützung eines Kriminellen und stellt den Kuß des Dementors in Aussicht, wenn Julius nicht freiwillig nach London zurückkehrt und sich jener Kommission stellt. Das ganze wird von der mit einem potenten Trank unsichtbar bleibenden Lea Drake verfolgt, die als heimliche Beobachterin nach Hogwarts zurückkehrt und mitbekommt, wie erst alle Muggelstämmigen aus dem Zug entführt und dann in Hogwarts alle Schüler von Snape und den Carrow-Geschwistern tyrannisiert werden. Sie bekommt mit, wie Julius seinen Freunden zur Flucht verhilft und erhält zu Weihnachten einen Zweiwegespiegel, mit dem sie mit Julius in Verbindung bleiben kann. Währenddessen wird der Muggelstämmige Tim Abrahams knapp vor seiner Verhaftung durch Umbridge von der Familie seiner heimlichen Jugendfreundin Galatea Barley gerettet. Bei den Barleys versteckt, entflammt die gemeinsame Zuneigung nun doch richtig, und sie heiraten im Whitesand Valley, wo sich die Überlebenden einer von den Todessern sprichwörtlich gesprengten Party verborgen halten.

Das Gespann Daianira/Anthelia dirigiert mit Unterstützung von Daianiras Cousine Leda die Entomanthropen. Leda, die als Heilerin und Hebamme aufpaßt, daß die unfreiwillige Mutter-Kind-Verbindung nicht vorzeitig abbricht, würde Anthelia lieber selber weitertragen, weil sie fürchtet, daß Daianiras Einfluß auf die frühere Führerin der Hexengilde der schwarzen Spinne nichts an ihrem Charakter ändert oder es umgekehrt passiert, daß Anthelia Daianira von ihrenZielen überzeugt. Sie erleben in Frankreich den Eingriff fremder Drachenwesen mit und wehren diese ab, weil sie die Entomanthropen vernichten wollen. Sie erleben auch mit, wie die Schlangenwesen nach einem fürchterlichen Großangriff von grauen Riesenvögeln, die scheinbar aus dem Nichts kamen, offenbar bis auf den letzten ausgelöscht werden. Jetzt bleiben für Anthelias werdende Mutter und die gerade nur per Seelenmedaillon handlungsfähige Spinnenführerin noch zwei Dinge zu tun, die wegen der Schlangenwesen ins Land gekommenen Wertiger loszuwerden und Valery Saunders aufzuhalten, deren Vermehrungswut undFreßlust ungebremst sind. Die Vampirkönigin Nyx, die durch den von Vampiren verehrten Mitternachtsdiamanten übermächtig wurde, plant einen neuen Aufstand der Blutsauger, den sie mit Hilfe einer von magielosen Chemikern entwickelten Schutzfolie vorantreiben will, die das Sonnenlicht abschirmt. Ihr persönlicher Widersacher ist Wladimir Volakin, der blaue Blutfürst, dessen Körperliche und magische Eigenschaften auf einen mysteriösen Vorfall zurückgehen, den in der magischen Welt keiner nachvollziehen konnte.

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Sie kamen, sie nahmen und sie verschwanden. Die Skyllianri schafften es nicht, unter der Erde zu bleiben. Sonnenheiße Blitzsalven weichten die Erde auf. Die Schnäbel der Wolkenhüter widerstanden der großen Hitze und zogen ihre Beute aus dem zum Kochen gebrachten Erdreich. Die Vögel nahmen jedoch keine Rücksicht auf Muggelstädte und Muggel, die die schlagartigen Angriffe und die davor und danach auftretenden blauen Sphären und Überschallknälle für militärische Attacken oder außerirdische Invasionsversuche hielten. Immerhin war es noch mitten in der Nacht und so viele Zeugen gab es nicht. Denn der Spuk war immer schon vorbei, bevor Leute aufmerksam wurden. Fünfhundert losgelassene Riesenvögel fegten über Europa dahin, fanden ihre Opfer nicht nur in Frankreich, sondern auch Deutschland, Italien, Österreich, Spanien, Polen und der Schweiz. Von ihren Gebietern in einer weit über allem schwebenden Festung geführt brach eine Staffel aus dreißig Vögeln auf und übersprang im Hyperschalltempo den Kanal. Weder die auf magische Menschen abgestimmte Vernichtungsaura über dem Land noch die auf Entomanthropenpatrouille befindlichen Todesser konnten ihr Eindringen verhindern. Einer der Helfer Voldemorts meldete um zwei Uhr britischer Zeit, daß er blaue Feuerbälle über sich wegfliegen gesehen hatte. Eine Minute später erwischten fünf Wolkenhüter bereits einen der Schlangenmänner, der gerade mit einem gestohlenen Sportwagen über die Autobahn jagte. Der Wagen wurde zu Schrott und der Skyllianri, einer der ersten, wurde zu unschönen Überresten. Voldemort eilte seinen verbliebenen Schlangenkriegern zu Hilfe. Seine Leute wollten die Vögel von Besen aus mit Todesflüchen abschießen. Doch als er die blauen Leuchtsphären sah und sie tatsächlich als die erkannte, die ihm vor etwa zwanzig Jahren die Pleite mit dem Drachenturm in Hogsmeade eingebrockt hatten, erkannte er, daß er gerade eine herbe Niederlage einstecken mußte. Die Schlangenmenschen waren tief unter die Erde gekrochen. Voldemort ließ eine Ringformation bilden und in schneller Folge Todesflüche austeilen. Damit gelang es, einen der Vögel vom Himmel zu holen. Das führte jedoch nur dazu, daß die geflügelten Jäger nun auf die Verteidiger losgingen und gleißende Blitze spuckten, die wie das Stroboskoplicht einer Discothek flackerten. Voldemort stand im Schutz eines Elementarschildes da, während er zusehen mußte, wie die Vögel kurzen Prozeß mit seinen Männern machten. Er hatte dieses Federvieh schlicht unterschätzt. Vor allem geisterte ihm immer und immer wieder die höhnische Bemerkung des Jungen durch den Kopf, den er fast als Diener begrüßt hätte und der ihm auf unerklärliche Weise entwunden worden war. Sharanagots Stab glühte rot auf, spie seinerseits giftgrüne Feuerstrahlen aus, die den Wolkenhütern offenbar zusetzen konnten. Denn sie wichen immer wieder aus, versuchten, nicht in einen Flammenstrahl hineinzugeraten. Dann war nur noch er mit den gefiederten Vollstreckern alleine. Diese änderten ihre Taktik und legten einen Ring aus Lava um Voldemort, bis das Stück Land, auf dem er stand, zu schwanken begann. "Zurück in den steinernen Wald!" Befahl Voldemort seinen Schlangenkriegern. Doch da zog einer der Vögel einen flüchtenden bereits herauf, riß ihn hoch in die Luft und ließ ihn eine halbe Minute später wieder fallen. Jetzt war nur noch Angststürmer übrig. Der Schlangenstab warf Feuerstrahlen aus, um die Wolkenhüter an der Verfolgung zu hindern. Voldemort hatte einen taktischen Fehler begangen, als er die Flucht befohlen hatte. Denn eine Minute Später hörte er Angststürmers letzten Schrei in diesem Leben. Die Wolkenhüter kreisten nun über Voldemort wie die Geier.

"Du hast versagt, Tom Vorlost Riddle. Iaxathan wartet auf dich", schrillte eine unangenehm laute Stimme aus dem Stab. Blitzartig entrollten sich die künstlichen Schlangen darauf und schlangen sich um Voldemort. Doch dieser nahm den ihm drohenden Tod nicht ernst. Er lachte, während die Schlangen sich um seine Arme und Beine und seinen Leib Schlangen.

"Dein Meister wird lange auf mich warten dürfen, Sharanagot", keuchte er und drehte sich schnell. Mit lautem Knall disapparierte er. Die Wolkenhüter stoben auseinander und jagten der Quelle des Schlangenstabes nach.

Weit über dem Meer erschien der eingewickelte Herr der Todesser mitten in der Luft und dachte seine Flugformel. Die um ihn geringelten Schlangen aus dem Stab zitterten und wanden sich. "Habt ihr nicht mit gerechnet, wie?" Fragte Voldemort und strampelte sich frei. "Hier ist das Meer wunderschöne zweitausend Meter tief. Schlaf schön, Sharanagot!"

"Du gehörst jetzt dem Meister aller Meister", zischte es aus dem Stab. "Du wirst mit deiner Lebenskraft und Magie meinem Meister dargebracht. So befiehlt es sein Gesetz für Versager."

"Und weg mit dir!" Rief der dunkle Lord und schleuderte den nun mit vielen schlaffen Schlangen behangenen Stab von sich, der immer heller leuchtete. Er fühlte noch einen unangenehmen Sog. Das Ding wollte ihm doch wirklich Lebenskraft aussaugen. Doch da segelte es auch schon hinunter, wobei es heller und Heller erglühte. Der oberste Dunkelmagier Großbritanniens wartete nicht, ob der Stab verglühen oder explodieren würde. Er disapparierte mitten in der Luft. Keine Sekunde später rasten fünf blaue Leuchtsphären heran und stürzten dem Stab hinterher. Doch ein innerer Drang trieb sie zurück. Da schlug der Stab auf dem Wasser auf, das zischend zu allen Seiten entwich. Dann verschwand der Schlangenstab wie eine Sonne im Strudel. Die Riesenvögel schwirrten über der Stelle und warteten. Dann schoß mit einer Urgewalt eine mindestens hundert Meter hohe Fontäne aus dem Meer und zerstob zu einem gewaltigen Pilz, von dessen Schirmrand das Salzwasser wie aus kleinen Wasserfällen herabregnete. Skyllians Erbschaft war nun endgültig aus dieser Welt getilgt. Die Wolkenhüter hatten ihre ggroße Aufgabe erfüllt. Mit einem fünffachen Überschallknall stießen die grauen Riesenvögel zurück in den Nachthimmel, aus dem sie hinabgefahren waren, um die letzte Schlacht Skyllians gegen die Diener des Schöpfers zu schlagen.

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Pina Watermelon übte mit ihrer Cousine Melanie die einfachen Zauber ein. Seitdem Melanie und Mike vor nun bald einem Monat von Sophia Whitesand magisch aufgeladen worden waren hatte Mel sich heftig rangehalten, alles nachzuholen, was sie in den Jahren versäumt hatte, die sie als geborene Hexe wie Pina in Hogwarts verbracht hätte. Sie übten sogar Flüche und Gegenflüche der ersten zwei Jahre von Pinas Schulzeit ein. Patience Moonriver beaufsichtigte sie dabei.

"So, jetzt solltest du den Zauberstab Mum wiedergeben, mel. Auf jeden Fall brauchst du bald einen eigenen, der zuerst von dir allein benutzt wird. Dumm nur, daß wir wegen der Todesser nicht in die Winkelgasse können. Und solange Ollivander verschwunden ist wüßte ich auch keinen, der gescheite Zauberstäbe macht."

"Hast du eigentlich meinen Bruder heute gesehen, fragte Mel Patience.

"Der wollte nicht zu den Zauberstabübungen antreten und übt lieber das Besenfliegen mit Prudence", erwiderte Patience Moonriver mit geheimnisvollem Lächeln.

"Chester Großmaul guckt den schon immer komisch an, weil der mit Prudence andauernd alleine ist. Glaubst du, der könnte mit der was anfangen?" Fragte Melanie.

"Nur, wenn sie findet, daß er das auch wert ist, mit ihm was anzufangen, Melanie. Ich denke, der Altersunterschied dürfte sie von tiefergehenden Sachen abhalten."

"Danach gehend ist Mike älter als Chester", grummelte Pina. Chester versuchte nach der Abfuhr von ihr Olivia anzubaggern. Aber die träumte immer noch von Adrian Moonriver, obwohl allen hier klar war, daß der sie niemals zur Freundin oder mehr haben wollte. Aber wie sollte man das einer Dreizehnjährigen begreiflich machen?

"Ich denke, ich sollte mit Mike noch einmal reden, bevor der sich in irgendwas verrennt", grummelte Mel. "Unsere Mutter redet ja auch nicht mehr als nötig mit uns."

"Nachdem die mit Onkel Ryan jetzt ganz cool im selben Zimmer schläft?" Schnarrte Pina. "Die aarbeiten wohl schon beide an ihrer gemeinsamen Zukunft, wo Onkel Ryan keine eigenen Kinder hatte."

"Haha, Pina!" Schnaubte Mel. Doch so abfällig sie klang, so deutlich wußte sie, daß Pina recht hatte. Zwischendurch hörte sie die Geräusche leidenschaftlicher Liebe. Und diese alte Hexe, die ihr ihr neues Leben eingeflößt hatte, ließ das so laufen, gemäß dem Grundsatz: Die zwei sind erwachsen und frei.

"Kommt bitte alle ins Haus! Neuigkeiten!" Hörten sie wie durch unsichtbare Kopfhörer Sophia Whitesands Stimme in den Ohren. Sie beeilten sich.

Mike kam mit Prudence zusammen an. "Unser gemeinsamer Feind hat vor drei Tagen einen Großangriff auf Europa gestartet. Dieser Angriff schien zunächst Erfolgreich zu verlaufen. Doch nun werden seine scheinbar unbesiegbaren Hilfstruppen vernichtet. Es kann sein, daß dies das Festland vor ihm sicher macht und er nur noch unser Land tyrannisiert. Ich hoffe für uns alle, daß die Mission, die gegen ihn läuft, nicht zu spät abgeschlossen wird."

"Welche Mission?" Fragte Lady Alexa Hidewoods.

"Die, die eine Entmachtung des Feindes ermöglicht. Ich kann jetzt nur mutmaßen, daß mein seliger Vetter diese bereits vor einem Jahr vorbereitete und diejenigen, die er damit beauftragte, erst nach seinem gewaltsamen Tod genug wußten, um sie durchzuführen. Mehr kann und möchte ich nicht darüber sagen", erwiderte Sophia Whitesand. Alle hingen irgendwie zwischen den Stühlen. Sie hofften, daß sie irgendwann wieder hier weg konnten und hatten Angst, daß bis dahin noch mehr von ihrer gewohnten Welt zerstört würde.

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Er hatte nur eine Chance. Zachary Marchand mußte sich schnell überfallen lassen, um der ihn angreifenden Vampirin auszuweichen. Elvira Vierbein, die im Schutz ihrer hier in dieser Firma, von ihr Selbst mitentwickelten Sonnenschutzmembran bei hellem Tag auftreten konnte, stieß nach, als Zach eine meisterliche Fallrolle baute, die Beine rasch anzog und die Blutsaugerin mit einem wuchtigen Stoß beider Beine in ihren Bauch über sich hinwegkatapultierte. Mit lautem Krachen rasselte Elvira Vierbein in den Schreibtisch ihres Chefs, der unfähig, was zu unternehmen, mit seinem Anwalt dasaß und den unerwartet losgebrochenen Kampf auf Leben und Tod verfolgte. Zachary Marchand warf sich herum, als Elvira sich schlangengleich vom Schreibtisch herabwand und ihn am Boden zu fassen versuchte. Ihr ebenfalls zu den Vampiren gehöriger Mann Arnold bewachte derweil die Tür, um eine Flucht der drei Menschen zu verhindern. Zachary Marchand bekam seinen zauberstab frei und rief: "Sensofugato!" Ein greller Blitz und ein lauter Knall erfüllten das Büro Dr. McGregors. Zachary hoffte, daß die licht- und schallempfindlichen Vampire dieser magischen Blendwirkung noch stärker ausgesetzt waren als Menschen, für die das wie eine Blendgranate war. Tatsächlich schrien die beiden Vampire laut auf. Doch ihre Konstitution ließ sie nicht ohnmächtig werden. Und jetzt war der offene Kampf nicht mehr abzubrechen, wußte Zachary Marchand. Arnold sah die am boden liegenden Menschen und rannte zu einem hin, dem Anwalt. Der schien wohl genug Blut vorrätig zu haben. Zachary deutete auf den Vampir. Ihm fiel der einzig rettende Schlag ein, mit dem er den Blutsauger erledigen konnte. "Nudato totum!" Rief er. Mit lautem Ratschen sprangen Anzug, Hose, Unterkleidung, Schuhe und Strümpfe von Arnolds Körper. Doch gleichzeitig flog eine Echthaarperücke von seinem Kopf, und eine rosige Folie wellte sich und riß entlang der Körperlängsachse auseinander. Darunter erschien ein kalkweißer Leib, scheinbar völlig blutleer. Ein gellender Schrei ertönte aus dem Mund des so abrupt entkleideten Vampirs. Auf seiner Haut quollen in Sekunden kleine, rote Brandblasen auf. Elvira Vierbein sah es mit großem Schaudern. Dann rannte sie auf die Fenster zu und zerrte laut die Vorhänge zu. Zachary Marchand hob den Zauberstab erneut und rief "Nudato totum!" Elvira fühlte, wie ihr Kittel, ihre bequemen Ober- und Unterkleider, auch die mit der Folie, sowie ihre Schutzfolie vom Leibe gerissen wurden. Doch die Sonne war bis auf einen winzigen, senkrechten Spalt ausgesperrt. Jetzt konnten die beiden Vampire auf Zachary Losspringen. "Stupor!" Rief Zachary. Damit konnte man einem Vampir zwar nicht viel anhaben. Aber er brauchte nur zwei Sekunden. "Diffindo maxima!" Rief er den Vorhängen zugewandt. Mit häßlichem Ratschen rissen sie aus ihren Ösen und fielen herab. Die Sonne kam nun wieder durch und fand ihre Opfer. "Tenebrae Maxima!" Erscholl unvermittelt eine weibliche Stimme von der Tür her. Schlagartig füllte totale Finsternis den Raum aus. Die Schreie der gepeinigten Vampire erstarben. Zachary wußte, was die Stunde geschlagen hatte. Die Herrin dieser beiden war da. Er kannte Nyx' Stimme noch von einer Begegnung vor zwanzig Jahren. Sie hatte ihm angeboten, ihr Kind zu werden. Er hatte es abgelehnt. Und jetzt war sie da, mächtig genug, um alles Licht auszusperren und um ihr Angebot ohne seine Einwilligung einzulösen.

"Ich rieche dich, Zachary Marchand. Lange ist es her. Nicht wegdisapparieren, bevor ich mit dir geredet habe. Du bist doch kein Feigling."

"Lieber eine Sekunde Feige als ein Leben lang dein Sklave oder tot, Nyx", schnarrte Zachary und konzentrierte sich, zu verschwinden.

"Wenn du abhaust kriegen meine Kinder ihre Kollegen, damit die Schäden, die du ihnen zugefügt hast geheilt werden. Blut ist ein besonderer Saft, wie du weißt."

"Lange hält dein Dunkelmacher nicht vor, Nyx. Je mehr Licht hier sonst hereinfällt, desto schneller löst sich die Finsternis auf", stieß Marchand trotzig aus. Er brauchte Hilfe, sonst lebten er und die beiden Muggel nicht mehr lange. "Auxiliarum", dachte er, mit dem Zauberstab auf seinen Kopf deutend. Auch wenn das jetzt die letzte Aktion seines Menschenlebens sein mochte.

"Du hastt einiges offenbar nicht mitbekommen, wo du unter Muggeln gelebt hast, Söhnchen. Ich kann meine ganzen magischen Künste jetzt wesentlich stärker ausführen, von meinen erhabenen Kräften als Tochter der Nacht ganz zu schweigen. Ihr beide bleibt da liegen", schnarrte sie. Zachary hörte in ihren Worten eine unwiderstehliche Kraft, einen unabwendbaren Zwang heraus. Dann hörte er sie zwei kurze Zauber murmeln, mit denen sie offenbar ihre "Kinder" beschützte. Doch es waren Schrumpfzauber. Also wollte sie sie unter ihrem Umhang, der ganz bestimmt auch schon mit der Schutzfolie beschichtet war, hinausbringen.

"Du hast das also angestellt, daß zwei anständige Menschen deine Bälger werden mußten und jetzt für dich ihre Erfindung mißbrauchen, um die ganze Menschheit zu vernichten oder zu Monstern wie euch zu machen", schnarrte Zachary, der auf Zeit spielen wollte. Hoffentlich kamen die Hilfstruppen schnell, wenn sie ihn angepeilt hatten. Die Finsternis konnte er nicht durchschlagen. Wenn Nyx den Diamanten bei sich hatte war die stärker als die eines Dementors.

"Aus dir schreit die Wut, damals deinen Ängsten gehorcht zu haben und nicht auf mein Angebot eingegangen zu sein, nachdem du dieser Laureata nicht nahekommen konntest. Du wärest heute wesentlich mehr als ein Befehlsempfänger, ein Feuermelder und Feueraustreter für dieses korrupte Zaubereiministerium. Fragst du dich nie, ob der, dem du heute dienst, nicht morgen im Gefängnis endet? Fragst du dich wirklich nicht, ob die Befehle, die du gestern befolgt hast, nicht morgen als deine schlimmsten Verbrechen angeklagt werden? Wir Kinder der Nacht haben es da einfacher. Wir sind keine Monster, Zachary, keine stumpfsinnigen Raubtiere. Wir sind eine Lebensform, die den Menschen in vielen Punkten überlegen ist."

"Nur, daß du nie am Strand von Malibu oder Florida in der Sonne liegen und die an- und abbrandenden Wellen erleben kannst oder an einem warmen Sonntagnachmittag an einem Bachlauf sitzen und angeln kannst, von der italienischen Küche mal ganz zu schweigen."

"Sind das Dinge, die so elementar wichtig für dich sind, Zachary. Ich bin bereit, deine Einmischung zu vergessen und die beiden Rotblüter da mit einem simplen Gedächtniszauber vergessen zu lassen, was sie mitbekommen haben, wenn du dich bei Arnold und Elvira entschuldigst und ihr erster gemeinsamer Sohn wirst. Mein Angebot gilt übrigens auch noch. Erinnerst du dich. mein Schoß schmachtet danach, dein Fleisch zu empfangen und wiederzugebären. Meine Brüste blühen auf, um dir von meinem Lebenssaft zu geben, während meine Lippen deinen Hals liebkosen und dir vorsichtig das alte Leben aus dem Körper saugen, während du von mir neues Leben erhältst, besseres Leben und längeres. Das mit der Sonne ist durch die beiden neuen Kinder von mir kein Problem mehr, wenn es das je für ein Nachtkind war. Komm zu mir und sei mein und nimm von mir, was dich mit mir verbindet, Zachary Marchand."

"Lass ihn uns", piepsten zwei Stimmen aus Nyx Richtung. Also hatte sie die beiden echt eingeschrumpft.

"Was hast du vor?" Wollte Zachary noch wissen. Wieso kamen die Idioten nicht?

"Außer dich in meiner Familie willkommen zu heißen muß ich bald einen größenwahnsinnig zu werden drohenden Abartigen treffen, der angefangen hat, meine Freunde in seiner Heimat zu jagen. Das gehört sich nicht. Weil ich weiß, daß er das macht, um mich zu stellen, werde ich hinreisen und sehen, ob er sich mir wirklich verweigern kann. Du kannst mich begleiten. Wenn du mein Sohn wirst, wirst du einen Teil meiner Resistenz erhalten. Oder warum glaubst du, sind meine beiden neuen Kinder immer noch am Leben. Vor allem wenn wir beide die Verbindung ganz anständig durchführen, wirst du ein Teil meiner neuen Macht in dir tragen, und mit der neuen Folie an Kopf und Körper keine Schwierigkeiten mehr mit der Sonne haben. Ach ja, den Kleiderzerreißezauber sollte ich dann besser bei den neuen Folien unwirksam machen, vielleicht durch einen Collocorpuszauber, der sie zur zweiten Haut werden läßt. Und jetzt komm zu mir. Deine gerufenen Hilfsboten können nicht zu dir, weil meine Aura der Unortbarkeit dich unauffindbar macht. Also sei endlich vernünftig und folge deiner wahren Bestimmung", säuselte sie. Ihre Stimme flutete in ihn hinein, ließ seinen ganzen Körper nachschwingen, seine Seele verzückt aufjauchzen. Doch sein Verstand wehrte sich. Die Hilfe kam nicht, weil dieses Monstrum einen Unauffindbarkeitszauber um sich hatte? Dann gab es nur noch zwei Alternativen: Flucht oder Sklaverei. "na los, komm her und lege ab, was dich zwanzig Jahre davon abhielt, mein Fleisch und Blut zu werden, Zachary!" Ihre Stimme wurde immer sinnlicher, immer verheißungsvoller. Er fühlte, daß er sich dieser dunklen Verlockung nicht mehr lange widersetzen konnte. Wenn er jetzt floh, würde sich Nyx mit ihren neuen Dienern an den beiden Menschen vergreifen. Blieb er hier, wurde er zu einer Gefahr für die Sicherheit der Zaubererwelt und seiner Freunde. Weil das Piepsen der eingeschrumpften Vampire Nyx' Stimmenzauber störte, konnte er noch klar denken. Aber auch nur deshalb noch. Nyx gab ein kurzes Schsch von sich, um dann ihre Bezirzungsstimme wieder aufzulegen. "Was hält dich in dieser Welt. Alle die du liebst verweigern oder entfremden sich dir. Alles, wofür du arbeitest, erweist sich als verdorben. Deine Ausbildung hilft dir nicht, ein glückliches Leben zu führen. Also sei mein, und nimm von mir, was dich stärker macht. Füge dich in meinen Leib, gib mir dein Blut und empfange meines dafür. Du willst das doch. Ich fühle es doch, wie jede Faser deines Körpers danach giert, mit mir eins zu werden und dann gestärkt und ausdauernd in eine neue Welt zu entsteigen, eine Welt der Sorglosigkeit, der Freiheit und der vielfalt."

"Du warst es schon vorher, bist es jetzt immer noch und wirst es immer sein, eine dreckige Nutte!" schrie Zachary Marchand. Sein Verstand war Sieger geblieben, obwohl sein Körper und seine Gefühle dieser Verheißung nachgeben wollten. Ihm war ein Weg eingefallen, ihr den Appetit auf die beiden Menschen zu verderben. "Du redest und handelst wie die Töchter des Abgrunds", spie er der Übervampirin in voller Absicht herausfordernd entgegen. "Du bildest dir wohl ein, jetzt eine von denen zu sein, nachdem eine der neun erledigt ist, wie?"

"Du wagst es, mich zurückzuweisen. Du maßt dir an, mein Angebot in den Dreck zu werfen?! Du nimmst dir heraus, dich mir ethisch überlegen zu fühlen? Und du begehst die Frechheit, mich mit denen aus dem stinkenden Leib der Verräterin geworfenen Weiber gleichzusetzen. So werden meineKinder dich ganz für sich erhalten und dich ganz von deinem armseligen Leben erlösen und ..."

"Apporto Knoblauchknolle", dachte Zachary und stellte sich seine Küche vor, wo er soetwas aufbewahrte. Mit lautem Plopp erschien etwas. "Confringo!" Stieß er in die Richtung aus, wo die beiden Menschen lagen. Mit lautem Spritzen zerplatzte etwas in der Ausrichtung, und schlagartig erfüllte ein penetranter, den Atem raubender Gestank nach Knoblauch den Raum. Nyx fauchte angewidert. Zachary hielt die Luft an, warf sich zu Boden und ergriff einen Körperteil des Anwalts und einen des Firmendirektors. "Ein Gedanke an seinen obersten Kragenknopf "Notausgang Alpha" genügte. Der spezielle Portschlüssel, den er auch unter einem Antidisapparierfluch und ohne Zauberstab angeheftet hatte, reagierte. Zachary fühlte das Ziehen am Bauchnabel, hörte gerade noch Nyx' Wutgeschrei, das jäh abriß wie ausgeschaltet. Dann stürzte er mit den beiden Geretteten durch das Gewirr bunter Farben und Geräusche, bis er unsanft in einem hellen Raum aufschlug. Nyx war nicht mitgekommen. In dem Moment, wo ein Portschlüssel ausgelöst wurde, wies er alles zurück, was ihn bei der Auslösung nicht mit einem Körperteil berührte. Zachary dankte Jane Porter für diesen Trick, der jedoch nur einmal gelang, weil der Portschlüssel nach gelungener Flucht zu Staub zerfiel.

"Alarm, Vampire in Calchem Los Angeles. Erbeuteten besondere Schutzmembran gegen Sonnenstrahlung!" Rief er aufgeregt. Er war im Vorzimmer des Strafverfolgungsleiters angekommen. Dessen Sekretär - im Moment gab es in Wishbones Ministerium keine einzige Hexe - starrte Zachary Marchand an und zückte den Zauberstab.

"Verdammt, wer sind Sie und wie kommen Sie hier rein?!" Rief dieser höchst alarmiert.

"Holen Sie ihren Boss, wir kriegen mächtig Ärger, wenn wir nicht ganz schnell handeln", knurrte Zachary. Dann fiel ihm ein, daß er ja gerade nicht Zachary Marchand, sondern Giorgio Moretti, ein Phantom-FBI-Agent aus Los Angeles war.

"Sieh an, du hast mir noch einen schönen neuen Trick gezeigt, Zachary Marchand! Aber ich finde dich schon wieder, und dann wirst du mein Enkel oder eine blutleere Leiche. Finde dich damit ab, daß die Zeiten, wo uns die Sonne die Welt versperrte vorbei sind, Söhnchen!" Zachary erschrak. So mächtig hatte ihn noch nie jemand mentiloquistisch ansprechen können. Wenn Nyx immer noch in Los Angeles war, dann waren ihre mentalen Kräfte wahrlich überwältigend. Und er wußte, daß er ab heute ein Gejagter war, der überall, wo er auftauchte, Gefahr für sich und alle anderen um sich herum verhieß. Es sei denn, er flüchtete in den Schutz eines Sanctuafugium-Zaubers. Dort würden hunderte von Kreaturen der Nacht ihn nicht erreichen. Doch in den Staaten gab es nur drei Orte mit diesem Zauber, das Zentrum der nordamerikanischen Sektion der Liga gegen dunkle Künste, das Haus der seligen Jane Porter und ihrer Familie und das Haus seines Schulfreundes John Ross und seiner Frau Alexis.

""Ich bin Zachary Marchand und habe nicht viel Zeit. Nyx ist hinter mir her. Sie hat Muggelmittel erbeutet, eine wirksame Schutzmembran gegen Sonnenstrahlen zu erschaffen, um sich und ihre Diener auch bei Tag bewegen zu können. Höchste Alarmstufe. Achso, mein Kodename ist Feuerfinder FBI."

"Den kann jemand erpreßt haben", schnarrte der Sekretär. Zachary hatte keine andere Wahl, als erst seine Originalgestalt und -stimme wiederherstellen zu lassen. Dann ging alles schnell. Die beiden Geretteten wurden betäubt und dann verhört. Um gegen rangniedere Vampire immun zu bleiben wurden sie mit unabnehmbaren Silberfußgelenksbändern versehen, die ständig das Blut mit Segen der Sonne und Blutsfrieden aufluden. Calchem wurde von Sondertruppen gestürmt, jedoch keine Spur mehr von Nyx oder den beiden anderen Vampiren gefunden.

Zachary setzte sich auf Anraten seines Vorgesetzten ab. Er ließ die anderen Zauberer seine Leute vom FBI gedächtnismodifizieren, daß er eine verdeckte Ermittlung mit stricktem Kontaktverbot bis zur Erfolgs- oder Mißerfolgsmeldung auszuführen habe. Zachary selbst apparierte vor seinem Haus. Er schloß die Tür auf und wollte eintreten, als neben ihm eine attraktive Frau mit rosigem Gesicht und kurzer Bekleidung auftauchte. Auch wenn hier in New Orleans eher subtropische Wetterverhältnisse herrschten, war die knappe Kleidung mit blauem Minirock und weißem Top mit Spaghettiträgern doch ziemlich kühl für einen Menschen. Zachary erkannte sie auch mit der rosigen Hautfarbe, die eindeutig von der neuen Schutzmembran herrührte. Er wußte, daß er nur eine Sekunde Zeit hatte. Er warf sich durch die offene Tür. Die apparierte Nyx wollte ihm nach. Doch eine Garbe goldener Flammen, die jedes mit dunklen Kräften angereicherte Lebewesen zurückwarf oder vernichtete, schleuderte sie zurück. Krachend fiel die Tür von selbst zu und verriegelte sich. "Das hilft dir nicht lange. Du kannst nicht ewig in diesem Haus sitzen!" Rief Nyx unbeeindruckt. "Irgendwann wirst du Hunger und Durst kriegen. Und dann wirst du hinaus müssen. Ich weiß, wie sich das anfühlt, knapp vor dem Verdursten zu stehen. Und ich weiß auch, daß keine Nahrung aus dem Nichts erschaffen werden kann. Ich habe genug Zeit."

"Verreck, du Biest!" Rief Zachary zurück. Dann rannte er in sein Arbeitszimmer. Die da draußen gab zwar vor, Zeit zu haben. Doch wer wußte schon, ob sie nicht mit diesem verfluchten Klunker die Gewaltvereitelungszauber überwinden und ihm doch noch nachsetzen konnte? Er holte die Sicherheitskopien seiner wichtigsten Computerdaten auf CD-ROM und holte alle ihn betreffenden Papiere aus dem Aktenschrank.

"Mach doch nicht so'n Umstand, Zachary", säuselte ihre Stimme in seinem Kopf. "Wenn es mir darum ginge, dich umzubringen wärest du in dem Moment gestorben, als ich deinen Husarenritt in Calchem abgewürgt habe. Ich kann ja jetzt auch den Todesfluch. Also sieh es ein, daß du mir nicht mehr entwischen kannst. nur drei Möglichkeiten: Mein Sohn, mein Enkel oder tot. Meine neuen Kinder verlangen dein Blut. Wenn du dich mir verweigerst, werden sie es kriegen."

"Ich könnte dir einen Vorschlag machen, aber den könntest du aus anatomischen Gründen nicht wahrnehmen", grummelte Zachary. Er wollte dieser Bluthexe und Nachthure da draußen nicht die Genugtuung bieten, sie anzumentiloquieren. Doch er erkannte, daß sie was anderes tun könnte, wenn er in seinem Arbeitszimmer blieb. Er mußte also raus, bevor sie ihm den Imperius-Fluch überziehen konnte. So richtete er schnell seinen Zauberstab auf den ausgeschalteten Rechner unter seinem Schreibtisch und rief: "Retardo confringo!" Dabei dachte er die Zahl Zwanzig. Im nächsten Moment war er schon wieder aus dem Arbeitszimmer raus. Er okklumentierte, um weitere Gedankenbotschaften der Übervampirin nicht mehr in seinen Kopf zu lassen. Er jagte drei Stufen auf einmal nehmend die Treppen zu seiner Dachkammer hoch. Er fühlte einen Druck auf seinen Kopf, das Verlangen, irgendwem zuzuhören. Doch er wischte diesen Gedanken bei Seite und öffnete die Dachkammer, in der er aus sentimentalen Gründen all das Zeug aufbewahrte, was in seinem Leben mal schön oder wichtig war. Da stand ein alter Plattenspieler ohne Nadel im Tonarm, auf dem er die Beach Boys und andere Größen der Sechziger gehört hatte. Da war der Bücherschrank, in dem er seine Schulbücher und Abenteuerromane verstaut hatte, leicht angefressen vom Zahn der Zeit. Und da stand das alte, schon von mehreren Motten angefressene Sofa, auf dem er bei Sturmfreier Bude die erste Liebe seines Lebens erlebt hatte. Sein Leben. Das hing nun genau an diesem Sofa. Er hörte von unten, wie jemand gegen die Haustür stieß. Sie hatte also doch nicht die Engelsgeduld, die sie ihm vorgesäuselt hatte. Doch jetzt war er ihr schon entwischt, dachte er und warf sich entschlossen auf das Sofa. Notausgang Beta reagierte mit quietschenden Federn. Doch er fühlte unmittelbar den Zug an seinem Nabel, hing wie festgetackert an dem alten Möbelstück, während es mit ihm durch jenen irrwitzig anmutenden Wirbel aus Farben und Geräuschen flog und dann mit lautem Rums und protestierend quietschenden Sprungfedern in einem Kellerraum aufschlug. Das rauhe Gebell eines kleinen Hundes klang von oben her. Zachary atmete auf. Hier würde Nyx ihn nicht finden, und mentiloquieren ging nur innerhalb des Hauses. Nur seine Freunde und deren Kameraden aus der Liga gegen dunkle Kräfte wußten, wie das ging, einen solchen Gedankenschild in die Außenwände und das Dach einzuwirken, aber innerhalb des Hauses locker zu meloen.

"Lex, John, ich bin's, Zach!" Rief Zachary.

"Murphy, ist gut!" Übertönte ein scharfer Befehl eines Mannes von oben das Hundegebell, das sofort abbrach.

"Auf der Flucht oder taktischer Rückzug?" Fragte der Besitzer des Hauses, während er Zachary die Hand schüttelte.

"Meine "alte Freundin" Nyx ist hinter mir her. Die hat einen sehr großen Coup gelandet, John", grummelte Zachary. Dann berichtete er John Ross und seiner Frau Alexis, was ihm passiert war. Murphy, der Crup, ließ sich von dem Gast hinter den spitzen Ohren kraulen. Der Mitbewohner der Ross' sah aus wie ein Jack-Russel-Terrier, nur daß er einen gegabelten Schwanz hatte. Er wurde häufig als Magiespürer oder Fährtensucher eingesetzt, wenn er nicht gerade seine Verpflichtungen als König des Hauses wahrnahm und alle anhielt, ihn zu beschäftigen oder zu füttern.

"Damit war doch immer zu rechnen, daß diese Brut eine Methode findet, gegen Sonnenstrahlen immun zu werden", schnaubte John Ross. "Aber daß ausgerechnet ein paar Muggel diese Methode erfinden würden ist doch schon heftig."

"Du hattest keine andere Wahl als abzuhauen, Zachary", beruhigte ihn Alexis und blickte ihn aufmunternd mit ihren grünen Augen an. John nickte. Das galt für Zach schon eine Menge. Denn sein Schulfreund John legte viel wert auf Mut und Entschlossenheit. "Aber jetzt haben wir alle diese neue Bedrohung, als wenn diese apparierfähige brutkönigin nicht schon ausreichte."

"Wird zu klären sein, wie der gute Luke Wishbone drauf reagiert. Wenn er Cartridges Vampirtötungsanordnung wieder ausgibt könnten wir demnächst einen Krieg wir gegen die haben. Und wenn die sich jetzt gegen Sonnenstrahlen schützen können wären die nicht mehr auf die Tagruhe angewiesen und könnten wie Werwölfe unter Menschen herumlaufen."

"Na ja, die Eckzähne können sie nur verstecken, wenn sie ihre Münder nicht zu weit aufmachen", erwiderte Zachary. "Ich habe jetzt nur das Problem, daß ich nicht mehr in Kontakt mit der Muggelwelt treten kann, gerade wo in Europa so viel los ist."

"Ich kann dir ein Benutzerkonto auf meinem Rechner einrichten, wo du deine ganzen Internetsachen machen kannst. Wir haben mein Arbeitszimmer mit einem Streukraftunterdrückungszauber tapezieren können, und mein Laptop kann über den Benzingenerator gefahren werden, den ich von meinen Eltern abgeschwatzt habe."

"Gut, die wichtigsten Sachen habe ich auf CD. Das wäre schön, wenn du mir ein Konto einrichtest. Ich beteilige mich natürlich an den Gebühren."

"Kein Problem, Zach. Außergewöhnliche Sachen erfordern außergewöhnliche Mittel. Ich gebe dann mal eben an die Liga und Lukes Leibwache raus, daß du für's erste unter unserer Adresse zu erreichen bist. Da kommt auch keine Nyx hin."

"Danke John", sagte Zach. Der texanische Zauberer schüttelte abwehrend den Kopf mit dem weizenblonden Haar. Alexis, deren rotblonde Wuschelmähne eine Verwandtschaft mit den Southerlands verriet, wandte dann noch ein:

"Schon eine gewöhnungsbedürftige Vorstellung, daß diese Vampirin diesen Mitternachtsdiamanten in ihrem Körper versteckt haben könnte, um andauernd dessen Kraft zu rufen."

"Tja, aber genau das könnte auch ihr Schwachpunkt sein, Lex. Sie könnte von diesem Klunker abhängig werden oder dieser sich bei ihr so wohl fühlen, daß er sie nicht mehr verlassen will. Abgesehen davon müßte sie den dann immer mit frischem Blut füttern wie ein richtiges Balg im Ranzen."

"Was hast du eben von außergewöhnlichen Situationen gesagt, John?" Stellte seine Frau eine Frage. John grummelte nur. Dann zeigte er dem Überraschungsgast und wohl eine gewisse Zeit als Mitbewohner anzusehenden das Gästezimmer und half ihm, den tragbaren Computer im Arbeitszimmer mit einem zweiten Benutzerkonto einzurichten. Zach fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sie drei sich doch auf die Nerven gehen würden.

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Daianira atmete tief durch, als sie am vierten Februar über einem menschenleeren Landstrich Südfrankreichs dahinflog. Die Schlangenkrieger waren vernichtet. Sie wußte zwar nicht, woher diese grauen Riesenvögel gekommen waren und wohin sie nach vollendetem Vernichtungswerk verschwunden waren. Doch es beunruhigte sie nicht sonderlich. Womöglich hatte sich der Emporkömmling schlicht verrechnet, als er meinte, eine scheinbar unbezwingbare Streitmacht aus dem alten Reich gegen den Rest der Welt werfen zu können, ohne daß damit auch deren Feinde auf den Plan gerufen wurden. Im Moment trug sie Anthelias Medaillon nicht. Doch sie spürte sie. anthelias kleiner Körper erkundete seine unmittelbare Umgebung. Leda hatte ihr geraten, ihre ehemalige Feindin nun nicht mehr an ihren Sinnen teilhaben zu lassen, um diese ungestört heranwachsen zu lassen. Doch sie mußte noch einiges tun. Sie mußte die ihr treuen Entomanthropen auf die verbliebenen Wertiger ansetzen, wenn es ihr nicht gelang, die Tigerwesen zum Abzug aus Europa zu bewegen. Ihr war klar, wie gefährlich diese Wesen ihr werden konnten. Wenn sie im Pulk von mehr als drei Kreaturen anrückten, konnte sie ihre überragenden Zauberkünste nicht mehr anwenden. Ja, sie konnte dann nicht einmal mehr disapparieren, wenn die Bestien sie angriffen. Deshalb galt es, möglichst nicht persönlich mit diesen Ungeheuern in Berührung zu kommen. Sie würde einige Entomanthropen schicken, die von dem Gemetzel zwischen ihnen, den Drachen und den Schlangenkriegern noch übrig waren. Die Brutkönigin in Südfrankreich legte jeden Tag fünfzig Eier. Innerhalb von vierzehn Tagen wurden daraus flugfähige Endstadien. Das war eine Erkenntnis, die sie einerseits faszinierte, jedoch auch sehr beunruhigte. Denn wäre Anthelia nicht in diesem Duell durch den eigenen Infanticorpore-Fluch zur hilflosen Ungeborenen geworden, besäße sie diese wehrhafte, widerstandsfähige und sich rasch vermehrende Truppe. Daianira fragte sich einmal mehr, ob Anthelia die Truppen ihrer Tante wirklich aufgegeben hätte, wenn sie das Duell gewonnen hätte. Daianira landete und fühlte, wie die in ihr ruhende leicht verrutschte und sich mit einem Stupser in die Magengegend revanchierte. Mentiloquieren konnte sie wohl nicht. Das ungeborene Gehirn mochte gerade zu schwachen Geistesregungen wie Hören, fühlen und Schmecken im Stande sein. Anthelia befand sich also gerade in einem Dämmerzustand zwischen Ohnmacht und Wachsein.

"Spätestens übermorgen muß ich aus Frankreich raus sein, bevor die anderen Schwestern fragen, was mich hier hält. Bisher wissen die hier nicht, was ich mit mir herumtrage", dachte Daianira. Also galt es, die Frage mit den Entomanthropen zu klären. Wie viele von ihnen sollten hierbleiben? Wie viele von ihnen konnte sie in die Staaten verlegen? Wie sollte sie das anstellen, diese unübersehbaren und großen Geschöpfe zu transportieren? Sie wußte, daß es in New Orleans einen magischen Kreis gab, der über die beschwörbaren Fährensphären mit einem Gegenstück in Paris verknüpft war. Aber wenn sie hunderte von Entomanthropen und drei Königinnen dorthin ausschwärmen ließ, würde sie wohl sehr viel Widerstand antreffen. Außerdem wußte sie, daß der Kreis in New Orleans bestimmt wieder abgesperrt war, wie damals, wo Pole meinte, keine Verbindung mehr mit Europa unterhalten zu dürfen. Also blieb nur eine von der Zaubererweltgemeinschaft nicht bemerkte Verlegung auf Muggelart. Aber wie sollte sie das machen? Muggel würden nichts umsonst tun. Und sie konnte nicht jedem den Imperius-Fluch aufhalsen. Also galt es, Muggelgeld zu beschaffen. Da sie nicht einfach zu den Kobolden in Gringotts Paris gehen und eine Zahlungsanweisung vorlegen konnte, mußte sie direkt eine Bank der Muggel beehren. Ja, so mußte es gehen. Das würde sie nicht hier machen, sondern in einem anderen Land. Sie erinnerte sich nämlich daran, was ihr einige muggelstämmige Mitschwestern erzählt hatten. Es galt nur, möglichst unauffällig vorzugehen. Vor allem mußte sie zunächst ergründen, mit welchen Transportmitteln sie so viele Entomanthropen wie möglich so unbemerkt von Muggeln und Magiern über den Atlantik bugsieren konnte, weil sie kaum davon ausging, daß die Insektenmenschen eine derart weite Strecke fliegen konnten. Ein wenig erschauderte sie, wenn sie daran dachte, ob Valery derartige Strecken weit apparieren könnte und mal in Europa, mal in Afrika oder Asien ihr Unwesen treiben konnte. Dieses unbeherrschbare Ungetüm mußte bald von der erdoberfläche verschwinden, oder es würde mit seiner Brut die ganze Menschheit ausrotten. Wieder regte sich die Ungeborene. Daianira empfand es nicht mehr als unangenehm, sondern als erhaben. Sie trug neues Leben. Sie hatte Anthelia entmachtet und dazu verurteilt, ihre Tochter zu werden. Mit jeder sanften Berührung die sie von ihr fühlte, dachte sie daran, daß Anthelia, die sie nach erfolgreicher Geburt Thalia nennen würde, ihr Fleisch und Blut, das von ihr zu formende Produkt ihrer Gesinnung sein würde. Anthelia war zum Leben verurteilt und hatte nur zu warten, bis sie in dieses getrieben wurde. Schon eine gewisse perverse Vorstellung, dachte Daianira. Menschen, die zum Tode verurteilt wurden, hockten oft Monate oder Jahre in einer kleinen Zelle und wußten, daß irgendwann der Tag und die Stunde kommen würde. Wenn sie Pech hatten, wurden sie von sadistischen Wärtern mit Essen versorgt, die ihnen bei Bekanntgabe des Termins die verbleibenden Tage und Stunden herunterzählen würden. Ging es Anthelia jetzt ähnlich? immerhin war sie auch gerade eingesperrt. Immerhin wußte sie, wenn Daianira das Medaillon umhängte, daß sie Ende Juni wiedergeboren würde. Wie die zum Tode verurteilten mochte sie Angst vor dem Termin haben, an dem sie jemand mit Gewalt ihrem Schicksal entgegentrieb. In gewisser Weise verlor Anthelia ja auch ihr Leben, sobald sie durch Daianiras Geburtskanal gepreßt würde. Denn dann würde sie eine andere sein, nicht mehr die große Nichte der größenwahnsinnigen Sardonia, sondern die leibliche Tochter einer angesehenen, verehrten wie gefürchteten Hexe aus den Staaten. Die Legende, von wem sie diese Tochter bekommen würde mußte noch ausgearbeitet werden. Im Mai, wohl am zehnten, würde Daianira mit Lino und anderen Reportern sprechen und ihnen stolz und erfreut ihren Bauch präsentieren und die Legende zum besten geben, wie sie diesen hinbekommen hatte. Damit würde Anthelia als legitime neue Hexe auf Erden zurückkehren, nachdem sie die Natur betrogen und ihre wohl im Medaillon konservierte Seele in einen bereits erwachsenen Körper getrieben hatte.

"Wo bekomme ich Informationen über Transportmittel her?" Fragte sie sich. Sie könnte jetzt Louisette fragen. Die war muggelstämmig. Doch dieser wollte sie nicht aufbinden, daß sie die Entomanthropen weiterbehalten wollte, zumindest solange bis Valery Saunders erledigt war. Aber wegen der Geldbeschaffung konnte sie mit ihr reden.

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"Hi Angelo. Papa im Arbeitszimmer?" Fragte Girolamo Bertoloni.

"Besprechung mit Don Adriano", zischte sein Vetter Angelo. Girolamo nickte. Also ging es offenbar um was wichtiges, wenn der Capo der größten Familie Philadelphias persönlich eine Unterredung mit dem Chef der Norhteastern Estate Reserve Bank hatte. Er wußte schon seit dem fünfzehnten Geburtstag, daß dieses Geldinstitut Grundstücke ver- und ankaufte und damit auch Gelder aus geheimen Quellen verwendete. Er selbst würde im kommenden Sommer nach Yale gehen und dort Betriebswirtschaft und Finanzwesen studieren, um irgendwann in fünf bis zehn Jahren Juniorchef in dieser Bank zu werden. Noch weihten sie ihn nicht in alles ein. Doch er war nicht dumm. Er wußte, daß es Sachen gab, die er besser nicht fragte, wenn er keinen Ärger kriegen wollte. Im Moment freute er sich. Am zehnten Februar würde er mit seinen Eltern zu den Carlottis fahren. Er hatte die einmal getroffen, so vor vier Jahren. Deren jüngste Tochter Laura war da schon auf dem Weg, ein schönes Mädchen zu werden. Deren Brüder wußten das und paßten ziemlich gut drauf auf, daß sie nicht gleich den erstbesten Aufreißer an sich ranließ. Er betrachtete sich kurz im Spiegel. Ja, mit seinem durch Basketball, Karate und Schwimmen gestärktem Körper, den nackenlangen, pechschwarzen Haaren und den fast schwarzen Augen bot er das Traumbild eines südländischen Prachtburschen. Aber Reina Vargas, eine Schulkameradin von ihm, die er heimlich verehrte, hatte das bisher nicht gewürdigt. Seine Eltern würden den eh nicht mit einer Halbmexikanerin zusammenkommen lassen. Dafür war denen ihre Herkunft zu wichtig. Er war der älteste Sohn der Familie. Seine einzige Schwester Valentina hatte vor drei Jahren Don Adrianos Neffen Andrea geheiratet, der sich hier in den Staaten immer wieder blöd anquatschen lassen mußte, weil er angeblich einen Mädchennamen trug. Seine Brüder Francesco genannt Paco und Michele genannt Mike hatten noch fünf beziehungsweise zehn Jahre Schule vor sich. Also war er derjenige, der den Familiennamen in die nächste Generation führen würde.

"Heute abend an der Halle, Gigi?" Fragte Angelo noch.

"Aber sicher, Angelo", erwiderte Girolamo.

Die Zeit bis zur verabredeten Basketballrunde vertrieb sich Girolamo mit Computerspielen. Dabei schickte er einen mit magischen Schweertern und Panzerung ausgestatteten Krieger durch eine Welt voller Ungeheuer, bösartiger Zauberer, schöner Elfen und habgieriger Zwerge, wobei er Schätze und Monstertötungspunkte einsammeln mußte, um stärkere Waffen oder eben viel Gold zusammenzuraffen. Dabei krepierte ihm seine Spielfigur jedoch mehrmals und verlor seine Wunderwaffen und mußte mit Erfahrungspunkten die Wiedergeburt erkaufen. Als ihm noch so ein bescheuerter Feuerzauberer mit einem orangeroten Feuerball den elektronischen Fantasy-Helden zerbrutzelt hatte, was mit einem lauten Wuff und Knistern hörbar verdeutlicht wurde, hatte er genug. "Drecksack", schnarrte er und grinste, als sein Held wieder vor den drei Göttern stand, denen er laut Spielvorgabe zugetan war. Dummerweise hatte der Krieger werend des letzten Lebens Minuspunkte auf seinem Seelenheilkonto gesammelt, weil Girolamo den mehrere Prinzessinnen hatte vergewaltigen und umbringen lassen. Da er nun keine viertausend Erfahrungspunkte mehr hatte, um dem Krieger ein neues Leben zu kaufen, konnte er nur noch zusehen, wie dieser mit lautem Geschrei in einen Feuerstrudel stürzte und von glibberig und struppig aussehenden, schrill oder dunkel lachenden Dämonen gepisakt wurde.

"Ob's das echt gibt", dachte er, wenn er sich die alten Gruselgeschichten über die Hölle ins Gedächtnis rief. Die Priester in der kleinen Kirche, die er mit seinen Eltern fast jeden Sonntag besuchte, um gesehen zu werden, redeten andauernd von Himmel und Hölle und daß die Menschen nur Erlösung fanden, wenn sie ohne Sünde lebten oder darauf hoffen mußten, Vergebung zu finden. Er hatte es bei diesem Spiel auch einmal geschafft, genug Pluspunkte für das Seelenheil zu sammeln, daß er von vier goldblonden Engeln in den virtuellen Himmel getragen wurde, wo er auf einer supergrün dargestellten Wiese mit anderen Kriegern und schönen Frauen hatte feiern dürfen. Ob er das auch in seinem einen Leben wollte, nur in einer öden Naturlandschaft ohne Bars und Discos herumzusitzen und das die ganze Ewigkeit lang, wußte er auch nicht. Dann doch lieber, wenn das Seelenheilkonto bei Null lag und die Götter nicht wußten, ob sie ihn zu den Dämonen oder auf die Himmelswiese schicken konnten. Dann fing das Leben wieder neu an. Der Kriger fand sich dann in einer Wiege wieder und mußte über zehn Spielstufen neu aufwachsen, bis er groß genug war, gegen die bösen Riesen, Drachen, Zwerge, Hexen und Zauberer zu kämpfen. Starb er dann vorher, ging es automatisch zurück in die wiege, nur das sich dann die Rasse oder das Geschlecht änderte. Auch das hatte er schon einmal erlebt, als er einen starken Wikingertypen mit null Seelenheilpunkten im Schloß eines Elfenkönigs wiedergefunden hatte, als dessen liebreizende Tochter. Da war dann nix mit Krieger, sondern eher mit Kunstfertigkeiten und Magie, wobei er da nur die guten Zauber ausprobieren durfte. Da war die Hölle eben doch das kleinere Übel, dachte er, als er die Spielekonsole ausschaltete, um zum Sport zu gehen.

Girolamo schaffte es, seinen Vetter in drei Runden eins gegen eins zu besiegen. Er grinste nur, weil Angelo eben doch eher der Kopfmensch und Anzugträger war. Womöglich würde Onkel Carlo seinen Sohn bald in die näheren Einzelheiten seines Familienunternehmens einweihen.

"Ihr fahrt übermorgen zu den Carlottis?" Fragte Angelo seinen Cousin.

"Joh, Angelo. Weiß nicht, warum das so wichtig ist. Aber mal sehen, was aus der kleinen Lauretta geworden ist."

"Die ist doch nur zwei Monate jünger als du, oder?"

"Genau", erwiderte Girolamo vergnügt grinsend. Dann stockte ihm der Atem. aus dem Trakt der Dusch- und Umkleideräume der kleinen Sporthalle, die sich Söhne und töchter betuchter Familien für ungestörte Sporteinheiten anmieten konnten, kamen sieben bullige Typen mit schußbereiten Pistolen gestürmt. Sie trugen schwarze Lederklamotten wie Motorradfahrer und trugen dito Sturzhelme mit verspigelten Visieren, so daß deren Gesichter nicht zu erkennen waren. Wie waren die so unbemerkt in die Umkleide gekommen?

"Hi Burschen! Ganz cool bleiben! Ihr habt 'ne Reise gewonnen. Eure Eltern kriegen bescheid", blaffte einer hohl aus dem geschlossenen Helm klingend. Girolamo sah ihn verdutzt an, während die anderen ihn und Angelo umzingelten. Angelo pfiff auf den Fingern. Das war das Zeichen für die Leibwächter, die vor der Halle standen. Doch diese waren schon unterwegs.

"Dumme Idee, Bursche", knurrte der Anführer der schwarzen sieben. Gigi warf sich auf den Boden. Da peitschten auch schon die ersten Kugeln über ihn weg. Er hörte jedoch keinen Knall. Die Idioten hatten Schalldämpfer auf ihre Knarren geschraubt. Angelo rollte sich ebenfalls herum, als mit lautem Getöse eine Garbe aus einer Uzi in die Halle fegte. Doch die sieben waren offenbar kugelsicher angezogen. Die Helme prellten die Geschosse laut pfeifend zurück. Die schwarzgekleideten zielten auf die Hilfstruppe und gaben Gegenfeuer. Die vier Leibwächter der Bertolonis belegten die Halle nun mit einer Flut aus MP-Kugeln. Da ratterte von anderswo eine andere automatische Feuerwaffe los. Die Leibwächter der Bertolonis standen nur zwei weitere Sekunden. Krachend explodierten Sprenggeschosse an deren kugelsicheren Westen und durchschlugen diese damit. Girolamo fühlte die Übelkeit, als er die vier Männer in Fontänen aus eigenem Blut niederstürzen sah. Wer immer ihre Entführung geplant hatte war fest entschlossen gewesen, jeden Wiederstand brutal niederzuschlagen. Die Sieben die sie zuerst behelligt hatten standen nicht mehr. Gegen Stahlmantelgeschosse zwischen die Augen hatten ihre Helme auch nichts ausrichten können. Doch die Sache war nicht ausgestanden. Die Typen mit den Sprenggeschossen waren bestimmt noch nicht weg. Die hatten wohl nur darauf gewartet, ob die sieben die Entführung ohne Widerstand durchziehen konnten oder irgendwelche Leibwächter auf den Plan traten. Und da kamen sie auch schon, fünf schwer bewaffnete kerle in roten Motorradfahrermonturen.

"Ihr da, aufstehen und mitkommen!" Rief einer mit dem Akzent eines Afroghettobewohners.

"Okay, ihr habt gewonnen", schnaubte Angelo, der froh war, bei der Schießerei nichts abbekommen zu haben. Die Kerle wußten eh nicht, wie bescheuert es war, einen Bertoloni zu kidnappen. Wer da gerade meinte, gewonnen zu haben war schon so gut wie tot und verbuddelt, womöglich sogar einbetoniert, zerstückelt oder in Säure aufgelöst. Wer wußte das schon, wie die Rache der Bertolonis ausfallen würde. Girolamo ergab sich in das Schicksal, gerade von diesen Gangstern kassiert zu werden. Die mochten zwar wissen, wen sie da hatten. Aber die würden noch lernen, daß das sehr übel war. Wenn sie für eine der anderen Familien arbeiteten, würde das Krieg geben. Den wollte doch eigentlich keiner haben. Wenn das irgendwelche Angloamerikanischen Gangster waren, dann bildeten die sich wohl was darauf ein, den ehrenwerten Clans vor die Schienbeine zu treten. Girolamo nahm es hin, daß sie ihm und Angelo mit Handschellen Hände und Füße fesselten. Seine Karatekenntnisse würden bei ständig auf ihn zeigenden MPs nichts bringen. Dann fühlte er noch, wie ihm einer der Gangster eine Spritze voll in den linken Arm setzte, bevor er mit lautem Rauschen in den Ohren in totale Finsternis und Lautlosigkeit hinabstürzte.

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"Nicht umbringen", hatte die klare Anweisung gelautet. "Nur die wegputzen, die ihn beschützen!" War die genauere Ansage des Auftrags gewesen, den Mac Jackson von seinem Boss erhalten hatte. Die beiden Jüngelchen da gehörten angeblich einem wichtigen Mafia-Clan an. Also mußten sie sehr schnell und vor allem sauber handeln, um nicht zu früh von einem Gegenschlag erwischt zu werden. Jackson sollte mit seiner Bande aus vom Leben gefrusteten Killertypen aus den Schwarzenvierteln von Los Angeles, New York und Chicago die beiden kassieren und schnellstmöglich zum Privatjet des Bosses schaffen. Die mußten innerhalb von zwei Stunden außer Landes sein, bevor deren Angehörigen darauf kamen, ihre vermißten Kinder zu suchen. Dann konnten sie Bertoloni ihre Forderungen diktieren. Der Krake konnte dann ruhig seine Tinte verspritzen und mit den vielen Armen um sich schlagen. Aber gegen den Boss würde das nichts ausrichten. Jackson kannte den Namen seines Auftraggebers nicht. Er sollte nur einsacken und abliefern und dann schnellstmöglich tief genug untertauchen. Den Rest würde der Boss erledigen.

mit dem keine zwei Stunden vor dem Coup organisierten Lieferwagen gings zu einem kleinen Sportflugplatz. Dort hatte der Rest von Jacksons Bande sich bereits versammelt, um "die Fracht" entgegenzunehmen, die erst mit einem viersitzigen Propellerflugzeug zum Flughafen Detroit geschafft werden sollte, wo sie dann ohne große Verzögerung in den Privatjet des Bosses umgeladen und damit in Richtung Süden fortgeschafft werden sollte.

"Und der Boss hat keine Angst vor der Mafia?" Fragte Bob, einer von Jacksons besten Handlangern.

"Der Boss ist wohl selbst sowas, Bob. Der will die Cosa Nostra abzocken. Sowas macht einer bei Verstand nur, wenn er stark und gerissen genug ist, sich nicht aufstöbern zu lassen."

"Die beiden Bürschchen könnten eine gute Stange Geld bringen. Willst du nicht doch noch mal nachverhandeln, Mac?"

"Bin ich lebensmüde? Die hundert Riesen, die für den Schnapp noch ausstehen werden überwiesen. Wenn ich denen noch mehr aus dem Ärmel schütteln will nieten die mich um."

"Wenn die das nicht eh vorhaben", grummelte Bob. Dem war die Kiste nicht ganz geheuer. Mafia-Angehörige zu entführen stank nach großem Ärger. Wer da mit drinhing hatte lebenslänglich ein großes Fallbeil über dem Kopf hängen und konnte froh sein, an einem schnöden Herzinfarkt zu sterben, falls der dann nicht auch ein Mordanschlag der Mafia war.

"Wenn der Brummer weg ist setzen wir uns ab. Wir dürfen nicht zu sehr verschwinden, weil sonst jeder wüßte, daß wir mit diesem Ding was zu tun haben", wandte Mac ein.

"Du bist lustig. Aber stimmt schon. Wenn wir ganz aus allem rausgehen könnten wir auch gleich ein Schild raushalten, daß wir uns mit der Cosa Nostra angelegt haben. Wenn die das bis dahin noch nicht weiß, könnte die drauf kommen", erwiderte Bob leise. Dann sahen sie zu, wie die zweimotorige Maschine abhob, nachdem sie sich vom Flughafen die Starterlaubnis hatte geben lassen.

"Okay, Leute, den Wagen weit genug von hier weg und dann hochjagen!" Befahl Mac. Seine Leute luden ihre Kameraden, die mit dem Lieferwagen gekommen waren auf die schweren Motorräder, mit denen sie knapp vierhundert Meter von der Flughafenbegrenzung entfernt geparkt hatten. Der Lieferwagen wurde nur von Mac und Bob gefahren. Sie befuhren die Landstraßen, bis sie hundert Kilometer weit fort waren. Da sie alle Handschuhe getragen hatten, würden keine Fingerabdrücke zurückbleiben. Sie kippten große Kanister Benzin in den Laderaum und brachten mehrere Päckchen Plastiksprengstoff an Fahrerkabine und Laderauminnenseite an. Dann schlossen sie den Wagen, damit sich die Benzingase darin stauen konnten. Knapp zweihundert Meter von dem Fahrzeug entfernt zündete Mac die Sprengladungen. Mit lautem Rums und einem mehrere Dutzend meter durchmessenden Feuerball zerplatzte der Lieferwagen. Daß darin die beiden entführten jungen Männer transportiert worden waren war so nicht mehr nachzuweisen. Aus einem Versteck in der Nähe des Abstellplatzes holten sie den unauffälligen Ford Sedan, mit dem sie einen Tag zuvor hier angekommen waren.

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Don Diego Rodrigo Ramirez hatte bisher nie versucht, mehr zu nehmen als sein Drogenhandel abwarf. Doch als er mitten im Januar von einer Welle größter Glückseligkeit überflutet wurde und dann die komischerweise wie eine junge Frau klingende Stimme im Kopf hörte: "hol dir das Geld der Bertoloni-Bank. Entführe adriano Bertolonis Sohn und dessen Neffen!!" Dieser Vorschlag, wohl doch ein Befehl, hatte sich so tief in seinen Kopf gebohrt, daß er nicht anders konnte als danach zu handeln. Er hatte recherchiert und geplant. Er hatte entbehrliche Schlägertypen und Killer aus den Schwarzenvierteln rekrutiert und sie alle zu einer Bande geschmiedet, die jedoch nie erfuhr, wer sie bezahlte. Diego sprach so gut amerikanisches Englisch, daß ihm keiner den Südamerikaner anhörte. Das lag daran, daß seine Eltern viel Geld ausgegeben hatten, ihn in den Staaten auf eine Elite-oberschule und auf eine sündhaft teure Universität schicken zu können. Er bildete sich sogar ein, besser Englisch zu sprechen als die Gringos. Aber jetzt legte er sich mit der Mafia an. Selbst im organisierten Drogenhandel tätig wußte er zu gut, wie schnell er dabei von der Erdoberfläche verschwinden konnte. Deshalb hatte er immer drei oder Vier Zwischenstellen bemüht, um die Entführung und den Transport zu organisieren. Die beiden Burschen würden nicht einmal mitkriegen, wo sie hingebracht wurden. Er hatte dafür gesorgt, daß die mit den besten Italienischkenntnissen auf die beiden aufpassen sollten. Auch das hatte ihm die Stimme im Kopf geraten. So mochten die um ihre wertvollen Angehörigen gebrachten Ehrenmänner erst einmal im eigenen Revier nach den üblen Schurken suchen. Er, Don Diego, würde niemals in die Nähe der jungen Männer reisen, sie nie persönlich ansprechen und auch sonst nichts tun, was diese mit ihm in Verbindung bringen konnten. Er hatte von der Entführung des Senatorensohnes Cecil Wellington gehört. Wer immer die gefahren hatte war zu sicher gewesen, nicht aufzufliegen. Diego wollte sicherstellen, daß er alle zu ihm führenden Strippen und Brücken mit einer schnellen Aktion kappen konnte, bevor man an ihm dran war. Sein Ruf hatte ihm auch so schon genug Aufmerksamkeit von FBI und CIA eingehandelt. Doch mit den Schlapphüten aus Langley kam er auf der Ebene klar, daß er zwischendurch Informationen über die linksgerichteten Rebellen rausließ, die seine Heimat immer mal wieder bedrängten. Hauptsache, in Bogota kam keine Revolutionsregierung wie auf Kuba ans Ruder. Da konnte die CIA es sich auch mal leisten, mit einem Drogenboss zu kooperieren. Mit Noriega in Panama war das ja auch gelaufen, bis dieser es sich mit seinen Gönnern verscherzt hatte. Und wenn er zwischendurch auch ein paar unliebsame Konkurrenten ans Messer liefern konnte, brauchte er sich um die Unterstützung der Virginia-Bauernjungen keine Gedanken zu machen. Sie durften ihm nur nicht draufkommen, daß er zwei Mafia-Prinzen entführt hatte.

"UPS hat Paket geliefert", erhielt er eine mit neuer verschlüsselungssoftware kodierte E-Mail. Don Diego schickte zurück, daß er die Rechnung bezahlte. Dann telefonierte er über eine Zerhackerleitung mit seinem Kontaktmann in Nassau, der aus Zürich die Summe für Mac anfordern und an diesen weiterleiten sollte. Da kam schon wieder diese Woge, als hätte er was von seinen eigenen Drogen genossen. Absolute Glückseligkeit und Sorglosigkeit verdrängte seine Gedanken.

"Halte die beiden gefangen und am Leben. Versuche, zehn Millionen von Bertoloni zu kriegen. Vergiss, wie meine Stimme klingt!" Er hörte diesen Befehl immer wieder. Dann war ihm, als sei er in einer Art Trance. Er bekam zwar noch alles mit und konnte sich überlegen, wie er vorging. Doch es war ihm so, als träume er. Das mochte wirklich ein Rausch sein. Denn die Gedanken die er eben noch gehabt hatte stammten eindeutig nur von ihm.

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Patricia Straton saß in ihrem Maserati. Dieser war mit ihr zusammen unsichtbar. Gerade hatte sie die letzten Anweisungen an Diego Ramirez erteilt. Jetzt konnte sie zurück in die Staaten fliegen, wo sie den Fortgang der angeleierten Verwirrung abwarten konnte. Sie dachte noch an die wilden Gedanken Reginald Wellingtons, als dieser nach seinem Treffen mit Eve Gilmore in die Bar gekommen war, in der sie scheinbar als Kellnerin aushalf. Er verehrte diese Eve Gilmore, nannte sie "leibhaftige Venus" oder "Sexgöttin", wenn er an sie dachte. Offenbar hatte er mit der einen Nacht noch nicht genug erlebt. Patricia Straton fragte sich, ob sie ihm nicht zu viel von der magischen Verkupplungsmixtur verabreicht hatte. Sie hatte ihn über die Zeit seines Parteikongresses hin überwacht. Er traf sich noch sechs weitere Male mit Eve Gilmore, die es offenbar genoß, nach ihrem Ausstieg aus der käuflichen Liebe immer noch begehrt und geübt auftreten zu können. Wellington empfand bei dieser heißen Affäre wohl so etwas wie den zweiten Frühling. Der würde schon erleben, was im Frühling alles wuchs und gedieh, dachte Patricia Straton.

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Sonderagent Bingham horchte auf, als sein Kollege, Agent Walters ins Büro kam und verkündete:

"Ernie, bei den Bertolonis ist was passiert. Könnte demnächst Vendetta Grande geben."

"Bertoloni, dem Saubermann, der alles reinwäscht, was er mit seinem Atem berührt, Buck? Was soll denn da passiert sein?"

"Angeblich sind sein Sohn und sein Neffe verschwunden. Vier Gorillas mit denen", sagte Buck Walters. Adriano und sein Bruder Vincenzo telefonieren schon mehr als zwei Stunden mit ihren Angehörigen. Unser Horchposten kommt mit dem Mitschneiden gar nicht mehr nach."

"Und die E-Mails?" Fragte Bingham.

"Seitdem dieser Lump einen ausländischen Server und eine Satellitenanlage für seine Bankgeschäfte benutzt kriegen wir davon nichts mehr mit. Immerhin hat er das Festnetz noch nicht zerhackt."

"Damit er jeden, der mithört mit der Nase drauf stößt, daß er ein Verbrecher ist, Buck?" Fragte Ernest Bingham. "Woher wissen wir, daß seine Angehörigen entführt wurden und nicht den Absprung gemacht haben, um die eigene Familie abzukochen?"

"Weil eben vier Gorillas aufgepaßt haben. Im Telefonjargon der Bertolonis hießen die Sportlehrer und Trainer. Aber wir wissen ja schon länger, daß Girolamo und Angelo häufig zum Basketball ins Yorktown Gym fahren."

"Aha, die Wanzen. Was flüstern die uns?"

"Da wir keine direkten Sender nehmen konnten müssen wir die Audiochips von denen noch auswerten. Ist in einer Viertelstunde wohl bei uns", erwiderte Buck. "Und die zwei Kameras hinter den Wandverkleidungen werden auch gerade gefragt, was sie gesehen haben."

"Wenn wir's haben lassen wir die Mühlen langsam anspringen. Wir wollen nicht riskieren, daß Bertoloni dahintersteigt, daß wir seine Sippschaft und deren gute Freunde schon länger auf dem Kieker haben. Vor allem stört mich immer noch, daß der Maulwurf in Chicago noch nicht aufgefunden wurde. Da will ich die nicht wachkitzeln."

"Was ist eigentlich mit der Suche nach dem Kollegen aus New Orleans?"

"Ist erledigt. Der ist wegen eines Sonderauftrags nach Paris geflogen und gibt sich da als amerikanischer Geschäftsmann aus. Die Suche wurde eingestellt. Sein Chef wollte wohl nicht zu früh rumgehen lassen, daß der unterwegs ist, um mögliche Interessenten nicht mit dieser Information zu versorgen."

"A ja, verstehe. Verdeckte Ermittlung, gemäß dem Grundsatz: Sollten Sie gefangengenommen oder getötet werden ..."

"Mal den Teufel nicht an die Wand, Buck!" Schnarrte Ernest Bingham. Immerhin hatten sie durch den erwähnten Verräter in Chicago einen verdeckten Ermittler in Philadelphia verloren, der auf der Suche nach brauchbaren Beweisen gegen die Machenschaften des Bertoloni-Clans gewesen war. Sie waren sich zwar sicher, daß Bertoloni der oberste Geldwäscher der Nordstaaten war, aber sie konnten es ihm nicht beweisen. So blieb ihnen nur das Abhören seiner Telefonleitungen und die Observation der bekanntesten Treffpunkte. Und selbst das konnten sie nicht ewig durchziehen.

"Okay, die Aufnahmen sind da", sagt Buck, als aus den Lautsprechern des Computers das Signal für den Eingang neuer Nachrichten kam. Über das nach außen abgeschirmte FBI-Netz waren die zusätzlich verschlüsselten Bild- und Tonaufzeichnungen der schweigenden Wanzen und Kameras eingegangen. Diese zeichneten vierundzwanzig Stunden auf. Dann strahlten sie die Aufnahmen an ein Relais ab. EDV-Spezialisten filterten dann die Abschnitte, wo nur eine leere Halle zu sehen war heraus und prüften dann nur die Gesichter der Hallenbenutzer. War keiner dabei, der im Fadenkreuz des FBI oder der DEA war, wurden die Aufnahmen gelöscht. Zumindest war das die Vorschrift. Die moderne Technik bot den Aufpassern der Staatsgewalt schon einiges, um ihre Mitbürger zu überwachen, auch wenn es offiziell keinen Überwachungsstaat gab. Bingham dachte daran, daß in zehn Jahren vielleicht schon Kameras und Mikrofone wie die von ihnen verwendeten alles und jeden an öffentlichen Plätzen und in Gebäuden überwachte.

"Kucke da, da ist der Kronprinz von Don Adriano", sagte Ernest Bingham, als die alle halbe Minute gemachten Fotos über seinen Bildschirm flimmerten. Gleichzeitig lief über die Soundkarte des Computers die Audiospur ab, die von den Speicherwanzen übermittelt worden war. Dabei bekamen sie mit, wie es zu der Entführung kam.

"Stimmenanalyse läuft?" Fragte Ernest, als er sich die Szenen mit der Aufforderung zur Aufgabe vorspielen ließ.

"Ist schon bei unseren Audiotüftlern."

"Klingt für mich nicht nach einem Mafioso. Könnte ein alter Ghettogangster sein, Mitte Zwanzig, Anfang dreißig", vermutete Bingham.

"Harlem-Dialekt. Ich kenne ein paar Leute von da", führte Buck die Vermutung weiter. Da klingelte das Haustelefon.

"Bingham hier", meldete sich der Inhaber dieses Büros. "Was? - Dreistigkeit oder Gewißheit, daß wir eh drauf gekommen wären. - Neh, komm Bill, erzähl mir jetzt nicht, er fühle sich als besorgter, Steuern zahlender Familienvater höchst beunruhigt, daß sein Sohn entführt worden sei. - gut, dann können wir die Mühle mit voller Tourenzahl anwerfen. Also Bilder und letzte Standortbeschreibungen an alle Büros und die Stadtwachen von Küste zu Küste. - Yep, sind wir schon dran. - Ach, den haben die? Wer war's denn? - Häh? Wie konnte die Frau vom Boss da dessen geheimste Sachen mitkriegen? Kann die Hypnose oder sowas? - Ach du Scheiße! - Dann sollte der besser nur noch alleine schlafen. Joh, dann ist das Leck zumindest dicht. - ja, wir nehmen Fahrt auf."

"Sag jetzt bloß nicht, der chicagoer Maulwurf war der Büroleiter da selbst", grinste Walters unangebracht.

"In letzter Konsequenz ja. Der Typ redete im Schlaf und gab sogar Antworten. Seine Frau hat das ausgenutzt. Die wurde erpreßt, weil sie mal in LA angeschafft hat und nicht wollte, daß das rauskommt. Die hat jetzt das Angebot, denen nur noch getürkte Infos zu geben oder für ein paar Jahrzehnte einzufahren, was die dann bestimmt nicht lange überlebt."

"Im Schlaf reden", stöhnte Walters. "Wie kamen die denn jetzt erst drauf?" Fragte er dann noch.

"Er hat seine Wohnung auf eigene Faust überwacht und alles aufgenommen, weil ihm klar wurde, daß der Maulwurf Sachen wußte, die er allein wußte. Dabei hat er sich selbst reden hören. Sachen gibt's!"

"Dann ist Chicago wieder dicht?"

"Erst mal, bis jemand so unzufrieden ist, daß die Gangster hundertmal mehr verdienen als er", grummelte Bingham. "Aber wir dürfen jetzt das ganze Programm mit voller Stärke durchlaufen lassen, Buck. Mr.Bertoloni Senior hat die Polizei angerufen, daß sein Sohn nicht zum Abendessen kam. Und die Cops haben uns dann natürlich angerufen, weil wir für Entführungen zuständig sind. Die Bilder von den Kids können also auch ins Fernsehen. Mal sehen, ob es nicht doch ein paar nette Mitbürger gibt, die sich trauen, zur Polizei zu gehen."

"Ich wette mit dir, die haben die beiden mit dem Flieger aus den Staaten rausgeschafft. Die müssen das schon wegen der eigenen Netzwerke der Mafia gemacht haben", sagte Walters.

"Trotzdem fahren wir das ganze Suchprogramm, Buck", erwiderte Bingham.

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Cecil Wellington sah den Mann an, zu dem er bisher Dad oder Vater gesagt hatte, um den von Anthelia und ihren Hexenschwestern erwarteten Schein zu wahren. Dieser war nach seiner Rückkehr aus New York vor einer Woche irgendwie verändert, kraftstrotzender und im Bezug auf seine Familie noch entschlossener. Er straffte sich und sagte ruhig: "Dad, morgen bin ich hier raus. Das ist jetzt endgültig. Meine Freunde haben schonmeine neue Anschrift. Wenn ich mich da morgen nicht von melde, stehen die Journalisten morgen abend vor dem Tor."

"Du wagst es, mir wirklich so zu kommen?" Schnarrte der Senator. "Du weißt genau, daß du durch das Amt, daß ich bekleide, gewissen Verhaltensrichtlinien unterworfen bist. Und ich werde nicht dulden, daß du zu einem dieser mit dem Geld ihrer Eltern prassenden Sauf- und Drogenstudenten wirst, falls du überhaupt gedenkst, irgendwas gescheites zu studieren."

"Ich denke, das Thema hatten wir schon, Dad. Ich habe dir gesagt, daß ich mein eigenes Leben in den Griff kriegen muß, um nicht andauernd nur als Sohn des Senators Wellington gesehen zu werden. Oder hast du das immer toll gefunden, immer mit deinem Vater verglichen zu werden?"

"Ich habe dir gesagt, daß du solange hier wohnst, bis du einen Studienplatz in Yale oder Harvard bekommen kannst. Finde dich also damit ab, daß diese Sache mit den Umzugskartons nur eine Beschäftigungstherapie war. Und wenn du mich mit dieser sensationslüsternen Meute von Schreiberlingen und Voyeuren erpressen willst müßte ich davon ausgehen, daß bei deinem Reitunfall doch etwas in deinem Kopf verrutscht ist."

"Das hatten wir auch schon, Dad. Titus' Anwalt hat bereits angezeigt, daß er mich im Falle einer mir drohenden Entmündigungsklage oder Zwangseinweisung vertreten und dich wegen Verleumdung und Freiheitsberaubung in mittelbarer Täterschaft anklagen wird. Deine Macht ist nicht unbegrenzt. Immerhin sitzt Bill Clinton noch im weißen Haus, und Cody durfte seine Ranch auch behalten. Also morgen um zehn kommt der Möbelwagen. Wenn Justin den nicht reinläßt, sind fünf Minuten später die ersten Reporter da. Und die haben Zeit. Soweit ich weiß bist du morgen eh in Washington."

"Ich werde mit Titus reden, daß er sich da übernimmt, wenn er meint, meine Autorität angreifen zu müssen", schnarrte Reginalld Wellington sehr verärgert, weil Cecil ihm die zwei größten Niederlagen der letzten zwei Jahre um die Ohren gehauen hatte. Cecil grinste.

"Der freut sich schon auf deinen Anruf. Der hat mir nämlich erzählt, daß du im Waldorf in New York 'ne alte Studienkollegin wiedergetroffen hast. Weiß Mom das? Ich meine, beim Essen hast du nie drüber geredet."

"Jetzt beweist du ernsthaft, daß du nicht mehr ganz richtig bist", schnaubte der Senator und langte nach dem Telefon. In diesem Moment klingelte es, als habe er den entsprechenden Kontakt ausgelöst. Er nahm den Hörer ab und blaffte hinein: "Ja?!" Dann saß er ruhig da und lauschte. Sein Gesicht wechselte immer mehr die Farbe und verzog sich von Wut, über Verstörtheit, dann Ertapptheit und dann wieder zur Wut. "Wenn Sie diese Geschichte wirklich ausschlachten wollen sind sie morgen ihren Job los, Ms. Grover. Wie auch immer Sie es angestellt haben, meine Durchwahl auszukundschaften. Allein das ist schon ein massiver Eingriff in meine ... -Hören Sie gefälligst damit auf, Persönlichkeit des öffentlichen Interesses. Da ist nichts gewesen. Das dürfen Sie schreiben. Dann dürfen Sie Ihren Job behalten. - Meine Anwälte werden beweisen, daß das getürkte Informationen sind. Dann haben Sie neben der Verleumdungsklage auch noch Schulden wegen Bezahlung eines betrügerischen Informanten am Hals. - Oh, Ihre Anwälte haben das Material, das es da geben soll ... Bitte was?" Der Senator erbleichte. Cecil beobachtete ihn ganz ruhig weiter. Offenbar hatte Patricia Straton wieder einmal diese ominöse Liberty Grover aus der Kiste geholt, die in seiner gewohnten Welt als Reporterin auftrat. Die war wohl auf das gestoßen, was Titus ihm gestern erzählt hatte, das nämlich jemand bei der Times in New York angerufen hatte. Der ehrenwerte Senator Wellington habe sich des öfteren während des inoffiziellen Parteitages der Republikanischen Partei mit einer Eve Gilmore getroffen, die vor zehn Jahren verdächtigt wurde, einen bundesweit organisierten Callgirl-Ring zu betreiben und als dessen aktives Mitglied auch mehrere betuchte Kunden unterhalten zu haben. Sein Vater und eine ehemalige Professionelle? Das wäre der Skandal schlechthin. Aber wie sollte sich das beweisen lassen? Irgendwie schon, wie Cecil am Gesicht des Senators ablesen konnte.

"Die will mich wohl erpressen, das kann von sonstwem sein, Michael Jackson, Mel Gibson oder Bill Clinton. Dem würde ich das eher zutraunn. Abgesehen davon ist das eine böswillige Unterstellung und ein ganz massiver Eingriff in die Privatsphäre eines unbescholtenen Bürgers. - Ja, auch Bürgerin, Sie Emanze. - Was? Ich soll Sie nicht beleidigen? Lächerlich! - Nein, ich stehe für kein Interview zur Verfügung. - Gut, wenn Ihr Chef was braucht dann schreiben Sie bitte wortwörtlich: Ich hatte zu keiner Zeit und an keinem Ort eine geschlechtliche Beziehung mit dieser Ms. Eve Gilmore. Wie erwähnt, das dürfen Sie schreiben. Mehr nicht! Ende der Durchsage! Tschüs!" Er knallte den Hörer wieder auf die Gabel des antiquiert wirkenden Telefons. Cecil sah den Senator an und meinte nur:

"Die hat dich am Haken, Dad. Hat die dir auch die Kiste mit dem ominösen Fleck auf dem Teppich erzählt, den jemand da vor kurzem hingespritzt hat?"

"Woher ... So ein Unsinn. Das ist eine haltlose Unterstellung und ... Ah, woher hat Titus das, wo es angeblich erst heute erwähnt wurde?"

"Die Presse hat das wohl heute erfahren. Aber passiert ist die Kiste wohl schon vor zwei Wochen, Dad. Die werte Ms. Gilmore, mit der du zu keiner Zeit und an keinem Ort irgendwas geschlechtliches gehabt hast, mußte nämlich einen ihrer teuren Orientteppiche zur Reinigung geben. Der, der da arbeitet ist Informant der Times und ein guter Kumpel eines guten Kumpels von Titus. Der hat sofort eine Story gewittert. Du hattest es gerade von Clinton. Dem wollt ihr doch auch schon lange was anhängen. Der besagte Kumpel kannte auch eine Kellnerin im Waldorf, hat ihr wohl mal eine pikante Gefälligkeit erwiesen, sagt Titus. Deshalb hat der den Fleck nicht sofort rausgemacht, sondern Proben davon gezogen. Ich denke, die nervige Tussi von der Presse hat bereits erste Hinweise auf den Verursacher. Desoxyrhibonukleinsäure, Dad, das ist ein Molekül, daß im Zellkern enthalten ist und den Bauplan eines ganzen Körpers repräsentiert. - Nah, denk bloß nicht, mich zu schlagen. Ich bin dir körperlich über", schnarrte Cecil, als sein scheinbarer Vater auffuhr und die Faust hob. Tatsächlich versuchte sein Vater, ihn damit zu treffen. Doch Cecil wich geschmeidig und schnell aus wie eine Katze. Der Senator keuchte laut. Dann meinte er:

"Nur wenn die einen konkreten Verdacht haben, daß diese ... diese Ms. Gilmore einem Verbrechen zum Opfer fiel oder an einem beteiligt war und sonst nicht, Jungchen."

"Am besten erzählst du Mom von deinem kleinen Parteitreffen, bevor sie' in der Zeitung liest. Ich ziehe auf jeden Fall morgen um. Obwohl, falls Laura nichts mehr von mir wissen wollen könnte: Wie viel hat dieses Treffen mit Ms. Gilmore gekostet, Dad?"

"Na, nicht noch mehr ärgern", hörte er Patricias amüsierte Gedankenstimme. Deshalb reagierte er auch nicht rechtzeitig, als sein Vater ihm eine saftige Ohrfeige versetzte. Cecil unterdrückte den Reflex, mit voller Kraft zurückzuhauen. Nachher konnte der Kerl da noch behaupten, "sein Sohn" habe ihn angegriffen. So kehrte er ihm nur den Rücken zu und verließ ohne weiteres Wort das Arbeitszimmer.

Pack deine Sachen. Der Senator wird morgen Früh sehr intensiv beschäftigt sein. Ich rufe jetzt noch bei dieser Gilmore an und mach von der auch einen Mitschnitt. Das kriegen dann heute abend noch diverse Medien.""

"Wie habt ihr das angestellt?" Fragte Cecil, als er in seinem Zimmer war und ganz provokativ Madonnas Erotica-Album mit dem Titel "Wo das Leben beginnt" ablaufen ließ.

"Was bitte?" Fragte Patricia Stratons Stimme amüsiert.

"Daß mein Vater, Senator Superspießig, sich ausgerechnet mit einer ehemaligen Prostituierten eingelassen hat. Liebestrank oder Paarungszauber?"

"Dienstgeheimnis, Cecil. Alles mußt du wirklich nicht wissen. Für dich ist nur relevant, daß du morgen umziehst, weil deine Mutter morgen Besuch von den anderen Kollegen bekommt. Ich selbst bin ja offiziell in Mississippi tätig."

"Und Titus' Kumpel aus der Reinigung, wie kam der darauf, daß das mein Vater gewesen sein könnte?"

"Das hat er dir doch erzählt", erwiderte Patricia Stratons Stimme. Cecil dachte nur, daß das bestimmt auch mit irgendwelchem Hokuspokus zurechtgebogen wurde. Jedenfalls war der Senator wertlos geworden, weil Anthelia ihn nicht mehr brauchte. Denn wenn die offizielle Presse erst einmal angebissen hatte, ließ sie nicht mehr ab, bis die Verdachtsmomente ausgeräumt oder die ganze Wahrheit ans Licht gezerrt worden war. Cecil ahnte sogar, daß er nicht der letzte sein würde, der in den nächsten Monaten aus diesem protzigen Haus ausziehen würde. Doch jetzt, wo Patricia die Lawine angeschoben hatte, konnte er erst einmal nur zusehen, aus der Rutschbahn der ganzen Anschuldigungen und echten Beweise zu kommen. Er prüfte noch einmal sein Gepäck, das er auf Anweisung seines Vaters ganz ohne Hilfe der Dienstmädchen hatte zusammenpacken müssen. Dann rief er noch einmal Laura Carlotti an, um ihr zu sagen, daß er morgen umziehen würde.

"meine Eltern sind ganz unruhig, Cecil. Papa hat uns gesagt, wir sollten uns abreisebereit halten. Wohin es geht will er aber nicht verraten", flüsterte sie. Cecil verzog das Gesicht. Doch Patricias telepathische Stimme flüsterte ihm zu, ganz ruhig zu bleiben. So fragte er seine Freundin, ob das mit ihrem angepeilten Verlobten zu tun hätte. Laura zischte ihm zu, das nicht noch einmal anzusprechen. Dann sagte sie für eventuelle Mithörer laut genug:

"Papa wollte haben, daß du dich nicht mehr bei mir meldest. Ich will keinen Ärger mit ihm kriegen. Er meint, du würdest mein Leben schon genug durcheinander bringen. Meine Mutter will auch haben, daß ich erst einmal klar kriege, was für mich im Leben wichtig ist, bevor ich was mache, was mein ganzes Leben umwirft. Am besten läßt du uns erst einmal in Ruhe." Dann flüsterte sie in ihren Hörer: "Irgendwas macht meine Familie nervös, und es könnte sein, daß wir ganz schnell unsichtbar und unauffindbar werden müssen. Paolo hat den Namen Bertoloni und das Wort mit V am Anfang erwähnt. Also ruf besser nicht wieder an!"

"Bertoloni ist doch der Typ, den du heiraten sollst", flüsterte Cecil und sagte dann laut: "Gut, Laura, ich kapiere es, daß du erst einmal klären mußt, was du wirklich machen möchtest, bevor du dich auf was festlegst. Ich bin dir nicht böse, nur traurig, weil das mit uns nicht weitergehen kann wie bisher."

"Das findet meine Mutter auch, aß ich das schon erkennen kann, was richtig ist und mich nicht von außerhalb beeinflussen lassen sollte." Dann flüsterte sie noch: "Ciao Cecilio! Ti amo!"

"Dann hoffe ich mal, daß du das mit uns in guter Erinnerung behalten kannst. Mach's gut, Laura, Ciao!" Dann flüsterte er auch noch: "Ich hab dich auch lieb." Danach trennte er die Mobilfunkverbindung. Also konnte er mit seiner Freundin nicht durchbrennen. "Ohne viel Magie anzuwenden wäre das wohl auch sehr schwierig geworden. Ich helfe ihr und ihren Eltern, aus dem Feuer zu kommen, wenn sich der Bertucci-Clan mit den Bertolonis hat."

"Du wolltest doch keine Leichen machen", dachte Cecil an Patricias Adresse zurück. Die Hexe antwortete ohne Umweg über seine Ohren: "Ich werde niemanden umbringen. Aber wenn die meinen, sich bekämpfen zu müssen, werde ich sie auch nicht daran hindern. Du ziehst morgen um. Was mit Laura ist zeigt sich dann später." Cecil nickte, obwohl er ja keinen hier im Raum hatte, dem er zunicken konnte. Ein wenig betrübt hockte er auf seinem Stuhl. Hatte Patricia ihm nicht versprochen, was anzuleiern, damit er und Laura verschwinden konnten? Aber sie hatte gerade telepathiert, daß das ohne viel Zauberei im Spiel nicht klappen würde. Offenbar mußten diese Hexen und Zauberer aufpassen, nicht zu viel herumzuhokuspokussen. Vielleicht gab's bei denen sowas wie eine Zaubereiüberwachung, damit da nicht jeder machen konnte, was er oder sie wollte. An einem Ort wie der Daggers-Villa konnte vielleicht sowas wie ein Unortbarkeitsschirm hochgezogen werden. Aber unterwegs zu zaubern war bestimmt nicht ganz unaufspürbar.

"Die Carlottis werden wohl übermorgen gut zu tun bekommen, wenn dieses FBI-Amt sich näher mit dem Verschwinden von Girolamo Bertoloni befassen wird und die letzten Kontakte der Familie zurückverfolgt. Aber sie wird auf dich warten. Zieh erst einmal um!" dachte ihm Patricia zu.

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"Wer sagt uns, daß wirklich alle Nagas von Garudas Kindern getötet wurden", schnarrte die Frau indischer Herkunft, als Daianira sie in einem Lagerhaus bei Lyon traf. Das Medaillon Anthelias, daß Daianira ohne Wissen ihrer Cousine umgehängt hatte, verriet durch eine charakteristische Vibration, daß diese rassige Frau aus Südasien eine Aura dunkler Kräfte umgab, womöglich auf Grund des durch ihre Adern strömenden Wertigerblutes. Anthelia war erleichtert, mal wieder mehr als Daianiras Innenleben mitbekommen zu können und schwieg, während Daianira sagte:

"Wenn die Söhne und töchter dieses Vogelgottes aus eurer Religion gekommen sind, um alle diese Schlangendämonen zu töten, dann werden sie dies auch tun, Wertigerin. Es besteht also für euch kein weiterer Grund, in diesem Land zu bleiben, daß nicht das Eure ist."

"Der, der Nagabapus Zepter aus unserem Tempel entführt hat, lebt aber noch. Meine Brüder und Schwestern auf der Insel nördlich des Meeresgrabens werden von ihm gejagt. Und sie jagen ihn. Auch sie haben Garudas Kinder gesehen. Sie spien das Feuer des Himmels und zerstückelten die Nagas, sobald sie der schützenden Umarmung der Erde entrissen waren, wie die von dir befehligten Brummflügler."

"Wie gesagt, die sind bestimmt schon alle tot, diese Schlangenmenschen. Und er, der sie gerufen hat, ist das Problem der Menschen, nicht der Angehörigen des Tigerclans. Ihn zu jagen und zu vernichten ist unser Vorrecht. Denn er jagt und tötet uns, will uns seinen Willen aufzwingen und zerstört, was wir errichtet haben. Deshalb dürft ihr getrost in das Land eurer Vorfahren zurückkehren. Wir lassen euch in Frieden ziehen."

"Will sagen, alte, daß du hier rumbestimmst, daß wir abzuhauen haben", schnarrte der hellhäutige Gefährte der Wertigerin, der drei Meter weiter hinten in der Halle stand. "Ey, dir steigt das Gör in deinem Ranzen wohl zu Kopf, ey. Wenn meine Frau sagt, wir müssen diesen Kerl kriegen, der unseren Tempel zerbröselt hat, dann bleiben wir hier, klar?!"

"Lern du erst einmal wie ein erwachsener Mann zu sprechen, bevor du meinst, dich in die Unterhaltung zweier Frauen einmischen zu dürfen", schnarrte Daianira. Der Wertiger grinste sie verächtlich an. Daianira war jedoch auf der Hut. Ihre Linke hand umklammerte den Entomolithen. Zwölf beherrschbare Entomanthropen warteten um das Gebäude verteilt und würden sofort zuschlagen, wenn sie sich bedroht fühlte. Außerdem hielt sie in der Rechten eine Pistole mit Leuchtspurgeschossen. Mensch oder Tiger, diese Geschosse konnten ihnen in beiderlei Gestalt zusetzen.

"Mein Gefährte möchte mir nur helfen. Und recht hat er auch. Dieser schlangenköpfige mit den roten Augen hat mit seinen grauen Steinriesen unseren Tempel zerstört. Dafür ist ihm unsere Rache gewiß. Und wir werden diese Rache bekommen, bei unserer Ehre", erwiderte die Wertigerin.

"So, und wir sollen euch, die ihr uns Menschen nicht gerade gnädig gegenübersteht zulassen, daß ihr weiterhin in unseren Ländern herumlauft und harmlose Menschen zu Euresgleichen macht wie diese Schlangenkrieger dies taten? Ich fürchte, wenn ich euch nicht davon überzeugen kann, daß eine friedliche Abreise in eure Heimat die bessere Wahl ist als einen nutzlosen Tod zu sterben, dann werden es andere tun. In diesem Land wollen sie keine mehr haben, die keine reinen Menschen sind. Ich werde daher meine geflügelten Helfer auch bald von hier entfernen, weil sie anderswo dringender gebraucht werden. Doch ich fühle mich verpflichtet, dieses Land in einem sicheren Zustand zurückzulassen. Was nützt es allen hier, wenn meine Helfer nicht mehr hier sind und ihr dafür wüten könnt wie vorher die Schlangenkrieger."

"Ey, paß auf, was du sagst, Alte. Sonst reiße ich dir das Balg unten raus und freß es mit deinen schleimigen Eingeweiden", schnarrte der Wertiger. Seine Gefährtin funkelte ihn an, während Daianira ihm die Pistolenmündung entgegenstreckte. Offenbar kannte er diese Waffe. Denn er trat mehrere Schritte zurück.

"Wir haben den Auftrag unserer Königin und Mutter, diesen Frevler mit den roten Augen, der Nagabapus Stab aus unserem Tempel holte und unser Heiligtum dabei vernichtete, zu jagen und zu töten, um ihr seinen Kopf zu bringen."

"Wie melodramatisch und antiquiert", spottete Daianira. "Aber dein Gefährte hat recht. Wir wollen euch hier nicht mehr. Das Bündnis galt gegen die Schlangenmenschen. Zum Dank lassen wir euch jene, die ihr hier zu Euresgleichen gemacht habt mit euch in Frieden ziehen. Wenn ihr aber meint, jetzt unsere Feinde werden zu wollen, dann werden wir euch auch wie Feinde behandeln. Bildet euch nichts darauf ein, daß keine Magie gegen euch wirkt, wenn ihr Tiger seid! Wir wissen, daß Feuer und Eis euch erledigen können und wissen, wie wir da rankommen. Meine Helfer haben eure Witterung aufgenommen und bereits alle meine geflügelten Helfer verständigt, wie ihr riecht und welche anderen Anzeichen euch verraten. Euch bleiben nur die friedliche Heimkehr oder die nutzlose Ausrottung aller hier lebenden Artgenossen und euch. Den Kopf des Massenmörders, der uns diese Kreaturen schickte, werden wir euch nicht überlassen. Wir werden ihn entmachten oder töten, oder bei dem Versuch den Tod finden."

"Und wenn er euch alle tötet?" Fragte die Wertigerin, während ihr Gefährte verdrossen die Pistole anstarrte. Er hoffte wohl, daß Daianiras Hand zu Zittern beginnen würde. Doch Daianira hatte im Leben schon länger eine Waffe auf jemanden gerichtet, auch wenn eine Pistole schwerer als ein Zauberstab war.

"Wir werden immer mehr sein als er. Und ohne die Schlangenkrieger ist er nur noch halb so mächtig wie vorher", tönte Daianira.

"Unsere Mutter wird nicht wollen, daß wir von hier weggehen, ehe dieser Frevler nicht für seine Schandtat bezahlt hat."

"Sie wird aber auch nicht wollen, daß ihre Kinder sterben müssen, vor allem nicht ihre Tochter", stieß Daianira nach. "Denn dann würde sie in ihrem Reich ohne würdige Nachkommen sein." Die Wertigerin starrte sie verdrossen an. Daianira war aber noch nicht fertig. "Ich gewähre euch zwei Wochen Zeit, da ich weiß, daß ihr euch wen in euren Clan geholt habt, der Flugmaschinen benutzen kann. Meine Helfer und die mit Magie begabten Menschen hier werden darüber wachen, daß ihr nicht darauf kommt, euch hier weiter auszubreiten. Versucht ihr das, wird jeder, der daran beteiligt ist mit besonders heißem Feuer oder Flüssiger Luft getötet. kehrt heim in Frieden und sagt Eurer Stammesmutter, daß wir Menschen weiterhin denjenigen jagen, der auch unser tödlichster Feind ist. Wir werden euch darüber informieren, wenn wir ihn erledigt haben, wann auch immer dies passiert."

"Der ist euch zu stark. Den putzt ihr nicht weg, Baby. Deshalb gehen wir rüber auf seine Insel und machen den Platt, diesen Voldemort." Der Wertiger hatte den Namen bewußt provozierend ausgesprochen. Doch Daianira zuckte nicht einmal mit einer Wimper. Auch passierte nichts anderes. Der Wertiger blickte sich kurz um.

"Seine Zauber wirken hier nicht, Bürschchen. Daran siehst du, daß er uns nicht überall und übermächtig bedrohen kann. Und sprich mich gefälligst mit Madame oder Mylady an, wenn du was von mir willst. Mein ungeborenes Kind kann noch nicht mit euch verhandeln und daher keine Entscheidungen treffen", schickte Daianira noch nach.

"Wie nett, Mom

"Denkst du, ich hätte Angst vor deiner Signalknarre. Die ist ja nicht mal entsichert", stieß er aus. Daianira blieb jedoch ruhig und krümmte langsam den Finger um den Abzug.

"Dann muß ich wohl diesen Bügel hier nach hinten ziehen, damit sie einsatzbereit ist", sagte sie nur und zog langsam den Abzug fast bis zumm kritischen Punkt. Der Wertiger sprang zur Seite und versuchte nun, in menschlicher Gestalt anzugreifen. Doch da surrten zwei Entomanthropen herein und flogen auf ihn zu. Der Wertiger war schnell, aber nicht schnell genug. Die beiden Insektenwesen packten ihn und rissen ihn vom Boden, wie sie es mit den Schlangenmenschen getan hatten. Zwar würde das den Wertigern nicht die Kräfte rauben. Doch die Entomanthropen waren ihnen körperlich überlegen.

"Laß ihn runter oder ...", schnarrte die Wertigerin, in deren Gesicht Fell zu sprießen begann. Daianira hielt die Waffe nun auf sie gerichtet.

"Oder sonst?" Fragte die Trägerin Anthelias. Da kamen drei weitere Insektenwesen hereingesurrt und schnappten sich die Wertigerin, ehe diese die Verwandlung in eine monströse Raubkatze vollenden konnte. Auch der bereits vom Boden gehobene Wertiger hatte seine eigentliche Erscheinungsform angenommen und versuchte, mit seinen Zähnen die stahlharte Chitinhülle seiner Gegner zu durchbrechen. Weitere Insektenungetüme kamen herein, eines hielt einen Stock mit einer lodernden Kugel aus mit Alkohol und Pech getränktem Stoff. Daianira feuerte eine Leuchtkugel ab. Diese fauchte knapp an der verwandelten Wertigerin vorbei, sengte ihr das schöne, goldene und braune Fell an und krachte in die nackte Steindecke, wo sie zu einem glühenden Klecks wurde. "Letzte Warnung, ihr beiden. Kehrt mit denen, die ihr Mitgebracht und hier erschaffen habt wieder nach Indien zurück, wo ihr hingehört. Falls sie euch dort in Frieden leben lassen. Ihr habt zwei Wochen. Seid ihr dann nicht aus diesem und anderen Ländern Europas fort, jagen euch meine geflügelten Helfer in den Tod." Daianira befahl mit einem Gedanken, die beiden gefangenen rauszubringen und weit vor der Halle aus zehn Metern runterfallen zu lassen. Das würden sie locker überleben. Sie sollten nur wissen, daß sie nicht mehr lange geduldet wurden. Danach disapparierte sie, um in der Nähe des Containerhafens aufzutauchen, wo sie bereits die Vorbereitungen traf, zwei der drei in Europa lebenden Brutköniginnen nach Amerika zu verschiffen, ohne daß Zauberer und Muggel dies mitbekamen.

"Diese Wertigerin ist die intelligentere von den beiden. Er ist zwar ein Geborener, aber im Vergleich zu ihr ein Jüngling, auch wenn sie selbst noch wie ein junges Mädchen aussieht", teilte Anthelia ihr telepathisch mit. Daianira nickte.

"Hättest du ihn getötet, um sie zu beeindrucken?" Fragte sie ihre ungeborene Zweckpartnerin.

"Nur, wenn er mich wirklich anzugreifen getrachtet hätte, Daianira", antwortete Anthelias Gedankenstimme.

"Ich hätte dann auch gleich sie töten müssen. Sie hätte auf Blutrache bestanden, wenn es wirklich ihr Gefährte ist", entgegnete Daianira. Anthelia bestätigte das. Womöglich war die Blutrache auch der Grund, warum die Wertiger Voldemort auch ohne Schlangenstab jagen und ihrer Stammesmutter seinen Kopf zu Füßen legen wollten.

"Darf ich das mitbekommen, wie du unsere Entomanthropen verladen wirst, Mutter?" Fragte Anthelia scheinbar unterwürfig.

"In drei Wochen, Kleines. Solange schlaf dich ein bißchen größer und stärker." Mit diesen Worten nahm sie das Medaillon wieder ab, um Anthelias Verbindung mit der Außenwelt zu unterbrechen.

"Dieses Weib ist ein Gräuel", dachte Anthelia, als sie wieder ganz in Daianiras Geborgenheit eintauchte. "Ich muß aufpassen, daß ihr zweiter Sanctuamater-Zauber mich nicht unvorhergesehen erwischt." Sie wußte, daß die Eindrücke, die das Medaillon ihr lieferten, langsam schwächer wurden. Sie sah durch Daianiras Augen nicht mehr so gut wie vor einigen Wochen noch. Die Hörfähigkeiten wurden auch eingetrübt. Die Herzschläge der Hexenlady wurden auch unter dem Eindruck des Medaillons immer lauter. Und wenn Daianira sprach, meinte Anthelia, sie dumpf um sich herum nachhallen zu hören. Wenn sie keinen Weg fand, ihrem Schicksal doch noch auszuweichen, oder sich dem Sanctuamater-Zauber zu widersetzen, würde sie die letzten Wochen bis zur Wiedergeburt in einem hilflosen Zustand zwischen Dämmerschlaf und Körperlärm verbringen, eingeschlossen in einer mit warmem Wasser gefüllten Höhle zwischen Magen und Harnblase. Nur weil sie schlafen konnte und durch die noch nicht entfalteten Lungen auch keinen Atemzug tun konnte, verspürte sie die alte Platzangst nicht mehr. Wahrscheinlich lag es dann noch an ihr, ob sie sich vor ihrer Rückkehr als Tochter Daianiras in die richtige Lage drehte, um das Trauma ihrer ersten Geburt, daß sie im tiefsten Unterbewußtsein trug, nicht erneut zu erleben. Sie hörte stark gedämpft Stimmen. Doch immer noch konnten ihre ungeborenen Hörorgane nicht alle bis hierhin durchdringenden Laute auseinanderhalten. Sie fühlte, wie Daianira mit ihr irgendwo hinging. Diese schaukelnden Bewegungen lullten die entmachtete Führerin des Spinnenordens immer mehr ein.

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Dr. Wasili Borodin kannte das Schluchzen und Stöhnen, weinen und Wimmern. Der Anblick der entstellten Gesichter bereitete ihm schon keine bösen Träume mehr. Auch er hatte an dieser Krankheit zu tragen, die alle in diesem Hospital ergriffen hatte. Zwar trug er einen Schutzanzug. Doch der schleichende Tod hatte unendlich viel Geduld und alle Zeit der Welt, um ihn doch noch zu erreichen. Jetzt stand der Arzt wieder vor einer einfachen Holztür, hinter der acht Kinder zwischen vier und sieben Jahren in ihren Bettchen lagen und ihrem viel zu frühen Ende entgegenlitten.

"Ah, da sind Sie, Wasili", grüßte ihn Prof. Borzow, der Chefarzt dieser Kinderklinik. "Im Ostflügel sind wieder zwei Kinder gestorben. Wieder das gleiche Krankheitsbild, völlige Blässe, von den Geschwüren abgesehen. Sie wirken, als habe ihnen Jemand sämtliches Blut entzogen."

"Das Gerücht, was die Schwestern verbreiten, Professor Borzow? Ein Vampir, der das Blut verstrahlter Menschen trinkt?"

"Ich weiß, daß sind billige Ammenmärchen, und ich habe Oberschwester Lara schon dringend angewiesen, derartige Spekulationen nicht weiter verbreiten zu lassen. Aber es sieht wirklich so aus, als ob da jemand sich am Blut der Verstorbenen zu Schaffen macht. Sehen Sie sich das an!" Borodin nickte und folgte dem Chefarzt.

Als sie die Leichname der beiden Zehnjährigen Mädchen sahen überkam Borodin wieder dieses Gefühl der vollkommenen Hilflosigkeit. Er wußte, daß die meisten, die hier landeten, nie wieder lachend im Sonnenlicht spielen würden. Doch die bleichen Hüllen, die da auf den Bahren lagen, sahen elender aus als die lebendigen Patienten. Dann dachte er daran, daß die beiden jetzt aus dieser Hölle hier heraus waren. Als im Kommunismus erzogener Akademiker hatte er jeden Bezug zur Religion verlernt. Doch er hoffte schon, daß die Seelen der Verstorbenen nach allem Leid auf Erden irgendeine Art von Frieden fanden, und sei es die völlige Zerstreuung im ganzen Universum. Er begutachtete die beiden Kinderleichen und stutzte. Er mußte noch einmal hinsehen um das zu glauben. Dann deutete er auf das, was ihm auffiel.

"Jetzt weiß ich, warum die Schwestern von einem Vampir ausgehen, Professor. Sehen sie die beiden Punktierungen an der Arteria carotis?

"Sieht wirklich wie aus dem Schauerroman aus", knurrte der Professor, der die beiden runden Einstiche an der Halsschlagader auch bemerkt hatte. "Das sollen die Pathologen mir genauer erklären. Falls diese Punktierungen gleichgroß und im gleichen Abstand apliziert wurden haben wir es nicht mit einer Krankheit sondern Mord zu tun."

"Mord durch Blutentnahme bis zur ireversiblen Anämie?"

"Ja, Wasili", erwiderte der Professor. Dann rief er über sein winziges Sprechgerät zwei Pfleger, die die sterblichen Überreste für den Transport in die Pathologie von Kiew vorbereiten sollten.

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"Mir geht langsam Prestons Antikontaminationstrank aus", sprach eine äußerlich auf mitte Sechzig geschätzte, leicht untersetzte Frau mit silbergrauem Haar zu Zaubereiminister Maximilian Arcadi. Ihre wachen, meergrünen Augen blickten durch eine dicke Brille. Damit konnte sie jedoch nicht besser sehen oder lesen, sondern die an sonsten unsichtbaren Strahlen wie Lichtschimmer sehen, die an ihrem Arbeitsplatz fast allgegenwärtig waren.

"Preston mußte wegen seiner Abkunft nach Südafrika auswandern. Aber wir halten Kontakt zum dortigen Zaubereiministerium. Soweit ich weiß gibt es bei uns im Haus der Heilung noch einen Vorrat des Schutztrankes."

"Das will ich hoffen. Trotz Schutzanzug fühle ich mich nicht so wohl, wenn ich den Trank nicht benutzen kann", sagte die Frau, die für ihren Beruf in einer weißen Schwesterntracht über einem Anzug gegen ionisierende Strahlung herumlief.

"Sie berichteten mir, daß er sich zwei weitere Opfer geholt hat, Lara", kehrte Arcadi zum eigentlichen Besuch von Lara Michailowna Bakunina zurück.

"Die mir offiziell unterstellten Pflegerinnen tuscheln sogar schon, daß es nur sowas sein kann. Ich erhielt zwar die dringende Anweisung meines offiziellen Vorgesetzten, diese Gerüchte zu unterbinden. Aber die vor der Geheimhaltung tradierten Überlieferungen sind damit nicht auszurotten. Wahrscheinlich werden sie demnächst Knoblauch aufhängen."

"Falls es ihn abschrecken würde. Bokanowskis Antivampire haben ihn und seine Mutantenbrut nicht erreicht oder auslöschen können. Wäre auch zu schön gewesen", grummelte Arcadi. "Wir haben auch Hinweise, daß er versucht, unser Land zu unterwerfen, wohl weil die uralten Krieger des größenwahnsinnigen Erzmagiers aus England ihn provoziert haben. Aber er greift sich nur Opfer dieser Radioaktivstrahlenseuche. Warum?"

"Sie kennen die Vermutung der Heilerzunft und der Experten für die Bekämpfung böser Zauberei, Herr Minister?" Fragte Lara.

"Das er selbst durch diese Krankheit verändert wurde und jetzt davon abhängig ist wie von einem Rauschgift", sagte Maximilian Arcadi. "Wenn wir wüßten, wo er sich genau herumtreibt, könnten wir ihn vielleicht mit dieser Adiktion außer Gefecht setzen. Aber es gibt in Rußland zu viele Orte, an denen die Strahlung präsent ist, wo Öfen wie der vor zwölf Jahren in der Ukraine explodierte stehen und die unverwertbaren Brennstoffreste vergraben sind, von den Ascheresten der Massenmordsprengkörper ganz zu schweigen", knurrte der Zaubereiminister. Lara nickte. "Außerdem kann er sich wohl auch bei Tageslicht bewegen, was ihn schwerer zu fangen macht als einen gewöhnlichen Vampir."

"Dann ist er nachts müde und könnte dann erwischt werden", vermutete Lara Bakunina.

"Haben wir auch mal gedacht. Aber dieser Unhold ist nicht auf Schlaf angewiesen oder findet dafür unzugängliche Orte. Es ginge nur, wenn wir ..."

"Herr Minister, ein starkes Unortbarkeitsfeld stört die Spürsteine bei Tomsk", meldete die magisch übermittelte Stimme eines Beobachters.

"Wo genau?" Fragte Arcadi und biß sich auf die Lippen, weil er so eine dämliche Frage gestellt hatte.

"Ähm, nicht zu orten, Herr Minister. Könnte alles im Umkreis von fünfhundert Kilometern sein."

"Wahrscheinlich ist er das, der Größenwahnsinnige", knurrte Arcadi. Wie gerne würde er jetzt eine Hundertschaft Kampfzauberer anführen und diesen Wicht ein für allemal aus der Welt schleudern. Doch zum einen war die Störung der Spürsteine ohne Ortung nicht hilfreich, den Gegner zu umstellen. Zum andern handelte es sich nicht um den dunklen Erzmagier aus England. Doch das wußte Arcadi nicht. Er schickte Lara Bakunina zurück auf ihren Posten und eilte mit mehreren Apparitionen in das Beobachtungszentrum Tomsk.

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Feuerkrieger versuchte, die ihn anfliegenden Insektenmonster mit seinen Pranken und Zähnen zu verletzen. Doch die Haut der geflügelten Gegner war sowohl zäh als auch reißfest. An Brust und Kopf war sie gar gepanzert wie mit Stahlblech vernietetes Leder oder Karbonfaser. Er schaffte es nicht, den Ansturm abzuwehren. Seine Gefährtin Sonnenglanz hing im Griff zweier Entomanthropen fest. Die Biester würden sie zerreißen, genauso wie sie es mit einem von Feuerkriegers Zöglingen gemacht hatten. Zwanzig Artgenossen waren schon getötet worden. Und jetzt hatten sie ihn. Da tauchte dieses schwangere Hexenweib auf, aus dem Nichts heraus, weit genug weg von ihm, um nicht in den Sog seiner Zauberkraftschwächung reinzugeraten. Sie hielt sich ihren silbergrauen Zauberstab an die Kehle und murmelte für den Wertiger klar vernehmlich "Sonorus!" Dann rief sie mit einer ihm in den ohren schmerzenden Lautstärke. "Das ist die allerletzte Warnung ihr zwei. Entweder zieht ihr heute noch ab, ohne neue von euch zu machen, oder meine Truppen werden euch massakrieren. Ist morgen noch einer von euch im Land, stirbt der oder die.""

"Wir gehen ja!" Heulte Sonnenglanz, deren Beine bereits gefährlich gestreckt waren. "Wir gehen ja!" Da ließen die Monster sie und Feuerkrieger fallen.

Die Hexe verschwand, als sie noch einmal betont hatte, daß sie einen weiteren Aufenthalt der erhabenen vom Tigerclan in Europa nicht mehr dulden würde und ihre Insektenwesen den Auftrag hätten, alle Länder zu überwachen, um neue Abkömmlinge zu erledigen. Ihre Witterung sei besser als die der Wertiger. Das wußten Sonnenglanz und Feuerkrieger mittlerweile. Um den Clan zu bewahren brauchte Mutter Nachtwind sie beide. Sich hier umbringen zu lassen brachte ihnen nichts ein.

Ian lebte noch. Seine Familie und er hatten sich bei Marseille in unterirdischen Lagerräumen versteckt gehalten. Das hätte die Insektenmonster wohl nicht lange aufgehalten. Doch jetzt war es gut, daß die Besitzer eines Privatjets noch nicht getötet worden waren. Feuerkrieger wies ihn an, den Rückflug nach Mumbai anzumelden und vorzubereiten.

"Und wenn die uns am Flughafen alle auf einmal erwischen?" Fragte der Jungunternehmer, der seit geraumer Zeit zu den Wertigern gehörte.

"Dann hätte sie uns nicht noch einmal gewarnt, sondern gleich erledigen lassen. Bis morgen früh müssen wir alles zusammen haben", sagte Sonnenglanz. Spätestens bei Sonnenaufgang müssen wir höher fliegen als diese Ungeheuer."

"Wir könnten uns in den Alpen verstecken", schlug Ian vor. "Da kommen die nicht hin."

"Die würden jeden umbringen, der in unsere Nähe kommt, um uns Essen zu bringen und uns damit glatt aushungern, wie sie es mit Silberkralle und seiner Gefährtin gemacht haben", sagte Feuerkrieger. Die beiden erwähnten Wertiger hatten sich auf dem Mont Blanc versteckt und gemeint, sich von den Menschen dort mit Nahrungsmitteln versorgen lassen zu können. Doch das hatte nicht geholfen. Der Berg war belagert worden, bis die beiden ausgehungert aufgaben. Die Anführerin der Insektenwesen war nicht dumm, wußte Feuerkrieger. Sie kannte die Schwächen ihrer Truppen, nutzte jedoch deren Überzahl. So blieb ihnen nur der freie Abzug mit ungeladenem Gewehr, wie es militärisch formuliert wurde.

So startete die kleine Privatmaschine von Ian Wellingforth am Morgen des fünften März um sechs Uhr vom Flughafen Marseille mit Ziel Mumbai, Indien. An Bord waren die letzten fünfzehn Wertiger Frankreichs.

"Fünfzig von euch bleiben hier und wachen!" Befahl Daianira Hemlock mit Hilfe des Entomolithen. "Ihr werdet euch nicht mehr von Menschen sehen lassen und nur wilde Tiere aus den Wäldern essen. Eure Königin wird mit uns verreisen." Die Insektenwesen bestätigten diesen Befehl.

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"Wo ist Nurmengard", zischte Voldemort, als er den kleinen, verwildert aussehenden Magier eine Minute lang mit dem Cruciatus-Fluch bearbeitet hatte.

"S-siebzehn K-k-kilometer ö-östlich d-d-der M-m-moldau auf Höhe von P-p-prag", bibberte der Gefangene, ein Enkel von Wenzel Loewenstein, einem Anhänger Grindelwalds.

"Warum hat den bis heute keiner gefunden, Wenzel?"

"Unterlagen verschwunden", stieß Wenzel mit flatternden Lippen aus. "Nur Anhänger wußten das. Bann gegen seine Freunde!"

"Ach, damit ihn da keiner mehr rausholt, wie?" Amüsierte sich Voldemort, der sich sicher wähnte, von diesem Bann nicht abgewiesen werden zu können.

"Damals schon eingewirkt, um die Gefangenen vor ihren Verbündeten zu verbergen", brachte Wenzel heraus. "Fluch auf Turm, der verhindert das ... Uaaaa!" Unvermittelt krümmte sich Wenzel zusammen. Blaue Flammen schossen aus seinem Körper heraus. Schmelzfeuer. Voldemort sprang gerade noch rechtzeitig zurück, um der heimtückischen wie genialen Elementarkraft keine weitere Nahrung zu geben. Man hatte Wenzel also mit diesem Fluch versehen, der wirkte, wenn er über Nurmengard sprach. Doch nun hatte Voldemort die gewünschte Information. Hoffentlich war Grindelwald noch nicht verhungert und konnte ihm sagen, wo er den Zauberstab gelassen hatte, den er Gregorowitsch gestohlen hatte.

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Sie spürte die Kälte nicht. Es war nur bedauerlich, daß die neuen Solex-Folien sie nur schützen konnten, wenn sie als Menschenfrau herumlief. Doch um beweglich zu bleiben mußte sie als Fledermaus fliegen. Als Arco, ein bulgarischer Artgenosse, von einem Handlanger Volakins getötet worden war, hatte dessen Frau eine Nachricht gefunden.

Trägerin des Mitternachtsdiamanten. Wenn du wirklich meinst, die ganze Welt der Kinder des Blutes beherrschen zu wollen, wirst du bei mir vorsprechen müssen oder weitere Untergebene verlieren.

Meine Durchlaucht, Fürst Wladimir Volakin

Und jetzt war sie unterwegs zu ihm. Denn auf der Rückseite des Briefes war eine Landkarte gewesen, die einen bestimmten Punkt markierte. Sie war zum Nordpol appariert und hatte schnell auf die Permafrosterde Sibiriens übergesetzt. Dann war sie noch einmal appariert, um nun zu fliegen. Sie hatte sich entschieden. Entweder würde Volakin ihr seine Gefolgschaft geben oder sterben. Jemanden, der meinte, wegen einer Absonderlichkeit mächtiger zu sein als die Besitzerin des Mitternachtsdiamanten schrie ja förmlich nach seiner Demütigung.

Die Dunkelheit überdeckte die gefrorenen Landstriche. Die von keiner Wolke verhüllten Sterne und das hellgrau des den Mondschein widerspiegelnden Eises verrieten Nyx, wo oben und unten war. Die grimmige Kälte, für die diese Region im Norden Eurasiens berühmt war, machte Nyx nichts aus. Die Natur der Vampire erlaubte es ihnen, selbst bei den Temperaturen noch völlig beweglich zu bleiben, bei denen das Quecksilber in den Thermometern gefror. Solange das dort unten liegende Eis nicht zu fließendem Wasser wurde konnte der Frost ihr nichts anhaben. Feuer und Sonnenstrahlung waren ihre Feinde.

Ich fühle was", dachte Nyx, als etwas durch Kopf und Bauch drang und unter ihrer Schädeldecke und in ihrem Unterleib nachschwang. Da unten war eine mächtige Präsenz. Doch es war nicht die übliche Anwesenheitsaura eines anderen Vampirs. Irgendwie prickelte die Empfindung und entlud sich in schwachen, aber spürbaren Stößen, die durch ihren Körper gingen.

"Verdorbenes Kind", grummelte die Gedankenstimme der Wächterseele im Mitternachtsdiamanten. "Werht sich."

"Werden wir sehen", dachte Nyx und steuerte im Sturzflug genau auf die Quelle der starken Anwesenheit zu. Als sie neben einem offenen Schacht landete fühlte sie genau, daß das fremde Dasein unter dem Dauerfrost wartete. Dann sah sie auch zwei merkwürdige blaue Punkte auf sie zukommen. Es war nicht nur der eine. Menschengroße Fledermäuse, umflossen von einem Hauch aus bläulichem Licht, glitten mit sachten Flatterbewegungen ihrer Flughäute heran und landeten. Nyx sah sie an und versuchte, die Gedanken dieser Wesen zu durchdringen. Es waren noch junge Abkömmlinge, wohl Gehilfen des blauen Blutfürsten, die dessen verdorbene Kraft in sich trugen.

"Euer Herr wartet auf mich", knurrte Nyx. "Ich hoffe mal für euch beide, daß ihr keine idiotischen Anweisungen habt, mich umzubringen."

"Der erhabene Fürst will dich sehen, Weib", schnarrte einer der beiden. Der mußte doch die Aura des Diamanten fühlen. Doch egal. Nyx ließ sich beschreiben, wo sie hin mußte. Sie apparierte einfach am Grunde des Schachtes, während die beiden blauen Vampire ihr im Sturzflug nachtauchten.

Am Ende eines Stollens lag eine offene Metalltür. Nyx fühlte etwas beunruhigendes, durch sie hindurchfließendes wie Hitze. Der von ihr getragene Mitternachtsdiamant vibrierte nun zwischen anregend und unangenehm und schickte Ströme heilender Magie durch ihren Körper. Durch die offene Tür glomm ähnliches blaues Licht, wie es die Diener des Fürsten verbreiteten. Dann witterte sie die beiden Artgenossen. Einer war wie sie, nur männlich. Der andere strahlte eine starke, wie sengende Glut wirkende Kraft aus, die Nyx jetzt doch unheimlich wurde. Doch sie ging weiter, ihren Zauberstab in der rechten Hand haltend. Dann sah sie die beiden, die hier auf sie gewartet hatten. Der eine war mehr als zwei Meter groß, muskelbeladen aber nicht schrankbreit, sondern eher wie ein knorriger Baum gebaut. Das war Wasili Albow. Sie wußte ja schon, daß er sich dem blauen Blutfürsten verschrieben hatte, jedoch nicht dessen Kraft übernommen hatte. Volakin selbst sah schrecklich verunstaltet aus. Sein Gesicht und seine Hände wiesen geplatzte und vertrocknete Geschwüre auf. Er selbst wirkte fast wie ein lebendes Skelett. Doch sie wußte, welche ungemeine Macht diesem Geschöpf da innewohnte. Der ganze Körper Volakins erleuchtete in diesem unheimlichen, hellen Blauton.

"Ich grüße dich, Wladimir Volakin. Lange nicht mehr voneinander gehört", sagte Nyx, wobei sie sich der russischen Sprache bediente.

"Hallo Griselda, oder Lady Nyx, siehst irgendwie so aus, als würdest du demnächst Mamuschka. Du hast den heiligen Stein doch nicht dadurch entweiht, daß du ihn in dir selbst eingesperrt hast, oder?"

"Du weißt, daß ich den Stein bei mir habe, Wladimir. Dann weißt du auch, daß ich dadurch mächtiger bin als die anderen. Wir müssen einen Feind bekämpfen, der uns zu seinen Sklaven machen will, wenn er diesen Stein bekäme, und wir haben eine Feindin, die ein Schmuckstück trägt, das schwächere Artgenossen unterwerfen kann. Also was willst du, daß du meine Zeit verschwendest?"

"Die Höflichkeit gebietet, daß der Gast dem Gastgeber gegenüber mehr Respekt erweist", schnarrte Volakin. "Erstens bin ich die Anrede Fürst, Erhabener oder Großmächtiger gewöhnt, höchstens noch Herr oder Meister. Zweitens brauchst du dich nicht so aufzuspielen, als seist du die Königin der Nachtkinder, nur weil ein Zufall dir den heiligen Stein in den Schoß gelegt hat. Was ich will ist das was mir zusteht. Als mächtigster Vertreter der Kinder der Nacht verlange ich die Herausgabe des heiligen Steines an mich. Denn die Tradition verlangt, daß nur ein männlicher Hüter diesen Stein besitzen darf."

"Nur weil du vor einem Dutzend Jahren einer Kraft ausgesetzt wurdest, die dir die Macht verlieh, unter den Strahlen der Sonne zu wandeln bist du nicht mächtiger als ich oder Einzahn."

"Nenn mich nicht Einzahn", schnaubte der hünenhafte Vampir und entblößte sein ramponiertes Vampirgebiß. Nyx blickte ihn konzentriert an und ließ eine Kraft aus ihrer Körpermitte in ihren Kopf und durch die Augen auf den baumlangen Blutsauger überspringen, der unvermittelt wie ein Taschenmesser zusammenklappte und sich wimmernd am Boden wiederfand.

"Gib ihn sofort aus dem Blick der bestrafung frei, Nyx, oder ich werde dich hier und jetzt von dem, was mir zusteht abschälen", schnarrte Volakin und hob einen Zauberstab. Nyx war jedoch darauf gefaßt, daß der Vampir, der früher auch ein Magier gewesen war, seine Zauberkräfte einsetzen würde und hieb ihm den Stab mit dem Entwaffnungszauber aus der Hand. Dafür feuerte Volakin nun aus jedem Finger blaue Blitze auf sie ab. Doch die unvermittelt um Nyx entstehende nachtschwarze Aura des einverleibten Zaubersteins fing die Blitze auf, ließ sie pfeifend, sirrend und prasselnd abprallen oder schluckte ihre Energie. Nyx fühlte jedoch, daß der Diamant nicht all zu lange diesem Beschuß standhalten würde. So schleuderte sie Sonnenspeere und Eisbälle gegen ihren Gegner. Volakin fing die Eisbälle jedoch mit nach vorne gestrecktenHänden ab und prellte sie auf die Absenderin zurück, die sich schnell bewegte. Einzahn kam aus dem peinigenden Bann des Mitternachtsdiamanten frei und wollte sich auf Nyx stürzen. Dabei berührten seine Finger die Aura des Steines. Mit einem lauten Aufschrei flog der hünenhafte Blutsauger zurück. Seine Handflächen wiesen Brandblasen auf. Doch es war nicht der Brand eines Feuers, sondern der der gefrierende Kälte gewesen. Kälte, die selbst einem Vampir zusetzen konnte.

""Du Idiot!" Rief Volakin und versuchte, nach seinem Zauberstab zu hechten. Da warf Nyx ihm einen Zauber wie einen silbrig leuchtenden Sack über. Volakin strampelte und fluchte. Doch Nyx war noch nicht Fertig. "Corporem in Loco teneto!" Rief sie. Da schien sich der Sack zusammenzuziehen und hob den Gefangenen an. Da stürmten die blauen Vampire von hinten heran und versuchten, Nyx zu packen. Auch sie erwischte zwar die absolute Kälte, die bei einem unerwünschten Durchdringen der magischen Aura auf den Gegner wirkte. Doch die blauen Vampire prallten nur zurück, schrien dabei jedoch nicht wie Wasili Albow genannt Einzahn.

"Deine Zauberkräfte sind stark, Nyx. Aber ich komme hier schon wieder raus", drang Volakins Stimme leicht gefiltert durch den Körperfesthaltezauber. Tatsächlich glühte das Etwas auf und zerstob in blauen Blitzen, aus denen Albow herausfiel.

"Du bist kein Kind er Sonne mehr, Nyx. Deshalb wirkt dieser Zauber nicht mehr so stark. Das du ihn überhaupt aufrufen konntest erstaunt mich. Aber jetzt rück den Diamanten raus, auch wenn ich ihn danach mit Sand und Feuer sauberschrubben muß!"

"Du willst ihn, dann hol ihn dir, wenn du dich traust", schnaubte Nyx herausfordernd. Die beiden Blauen sprangen noch einmal auf sie los und prallten von ihr ab. Volakin hielt seine Hände mit gespreitzten Fingern so, daß die Daumen oben waren und parallel lagen. Es flimmerte zwischen den ausgestreckten Händen. Nyx schloß die Augen. Da explodierte auch schon die konzentrierte Elektrozauberkraft, die Volakin durch seine Besonderheit erzeugen konnte, als gleißender Kugelblitz aus seiner Hand heraus und umtoste Nyx, die unvermittelt meinte, in einer lodernden Flammensäule zu stehen. Laut knackend und prasselnd toste die sie bestürmende Energie. Sie fühlte, wie sich der Stein dagegen wehrte, ihr dabei starke Bauchschmerzen versetzte, sich wand und drehte. Doch sie hielt den entfesselten Sturm um sie geballter Elektrizität aus, auch wenn sie schon eine immer größer werdende Hitze spürte. Er ließ nicht nach, dieser Sturm aus Milliarden feuriger Funken. Sie fühlte sich immer schwächer. Der Mitternachtsdiamant werhte sich zwar noch. Doch genau diese Gegenwehr schmerzte sie und hinderte sie daran, sich zu konzentrieren.

"Dieser Kunstgriff ist einfach Genial. Dagegen kann dich auch dein einverleibtes Schmuckstück nicht mehr lange schützen. Also gib es mir schon freiwillig, wie es die Tradition gebietet, oder ich lasse dich in meiner Blase aus Elektrizität langsam zu Asche werden, bis ich den Stein aus dir rausgebrannt habe", schnarrte Volakin. Woher bezog dieser Wicht diese Ausdauer, eine solche Zerstörungskraft über mehr als zehn Sekunden zu konzentrieren?

"Wer mich nimmt durch Mord und Raub, soll zerfallen gleich zu staub!" Schnarrte die Wächterseele des Mitternachtsdiamanten. Da es hier und draußen noch dunkel war, bezog dieser ebenso seine Kraft aus der Lichtlosigkeit des sternenlosen Weltraums und den Tiefen der Erde. Nyx fühlte jedoch, wie die magische Aura, die Feuer- und Sonnenschäden, magische und nichtmagische Gewalt von ihr fernhielt, immer schwächer wurde. Blieb ihr am Ende nur die Flucht in die Disapparition? Das wäre ein Ohnmachtseingeständnis. Sie bekam nicht mit, wie Einzahn an ihr vorbeilief, wobei die Ausläufer des elektrischen Infernos seine Kleidung und sein Haar verkohlten und ihm die rechte Seite schwer verbrannten. Beinahe entkam er durch den Stollen. Doch die beiden Blauen setzten ihm nach und hielten ihn fest. Doch Einzahn war stark. Er drehte sich einmal herum und warf die beiden wie Säcke mit Daunenfedern gegen die Stollenwand. Die beiden Wächter schrien auf. Das brachte die Blase aus tobenden Blitzen zum zerplatzen. Denn Volakin stand mit seinen artgleichen Dienern in körperlich-seelischer Verbindung. Nyx fühlte, wie die tosenden Energien sich zerstreuten und erkannte ihre Chance. Nyx war wütend. Lodernder Haß gährte in ihr, weil dieser da es gewagt hatte, sie anzugreifen. Er war gegen den Mitternachtsdiamanten immun, weil er nicht vor diesem Angriff zurückgescheut war. Sie zog ihren Zauberstab, um diesen kranken und größenwahnsinnigen Kerl da den Todesfluch aufzuhalsen, gegen den auch ein Vampir nicht immun war. Volakin lachte laut. Offenbar ahnte er nicht, daß er jetzt angegriffen wurde. Doch es war keine Naivität, die ihn so zum lachen brachte, sondern blanke Überlegenheit. Denn als sie schon ansetzte "Avada Kedavra" zu rufen, loderte aus dem Stollen ein blaues Licht, umschloß Volakin und bündelte sich zwischen seinen Händen zu einem gleißenden Strahl, der genau auf Nyx zuraste und mit lautem Sirren auf die magische Aura des Mitternachtsdiamanten traf. Diese erzitterte, entlud schwarze Schlieren wie hektisch umhertastende Fangarme und zog sich dann mit einem Ruck in Nyx' Körper zurück. Sie fühlte eine unmittelbare Eiseskälte und Starre, bevor ihr ssämtliche Bewegungsfähigkeiten abgingen. Aus ihrem Unterleib ergoß sich etwas wie Eiswasser in alle Fasern des Körpers und lähmte sie. Sie stand da, unfähig, etwas zu sagen oder zu tun. Volakin lachte hemmungslos weiter. Sie hörte es. Doch sie konnte sich nicht mehr bewegen. Sie konnte es nicht verhindern, wie dieses blau leuchtende Scheusal auf sie zuschritt und sie berührte. Doch die Berührung konnte sie nur sehen, nicht fühlen. Er klopfte an sie. Sie und er hörten es massiv klatschen, als hiebe er gegen Felsgestein. Er trat nach ihr und vergaß sein triumphierendes Grinsen, weil er wohl doch einen gewissen Schmerz fühlte. Er griff ihr rüpelhaft an private Stellen, versuchte gar, ihr den Mitternachtsdiamanten zu entreißen. Doch es gelang ihm nicht.

"Du bist 'ne Statue geworden. dieser vermaledeite Klunker hat dich in Stein von seiner Art verwandelt", knurrte er. "Aber ich fühle, daß du noch denken kannst. Ich komme nicht an dein Lieblingsschmuckstück ran, weil deine Klamotten auch versteinert und vereist wurden. Nun denn. Stein kann man schmelzen." Volakin trat noch einmal zurück und beschwor dieses blaue Leuchten, daß er noch einmal zu einem starken Strahl bündelte. Doch dieser floß an Nyx ab, zerfaserte prasselnd zu einer Wolke elektrischer Funken. Die zu Stein gewordene, jedoch noch Herrin ihrer Sinne gebliebene Vampirkönigin erkannte, daß der Mitternachtsdiamant sie mit sich verschmolzen hatte. Sie verwünschte es, ihn immer bei sich getragen zu haben. Die Wächterseele sagte: "Ich bin bei dir und will bei dir bleiben. Erst wenn der mir entwundene stirbt, sollst du wieder Fleisch und Blut sein." Nyx fühlte sich mit einem Mal zu tiefst gedemütigt. Sie hatte sich eingebildet, mit der Macht des Diamanten alle Artgenossen unterwerfen zu können. Sie hatte die idee gehabt, ihre Anatomie auszunutzen, um den Stein jederzeit bei sich zu haben. Sie hatte geglaubt, dieser Stein würde ihr bedingungslos gehorchen, auch wenn er eine eigene Seele besaß. Jetzt stellte sich heraus, daß dieser Stein einen Eigensinn besaß, seine eigene Macht zu bewahren, und sei es, daß er sie als seinen mobilen Schrein, seinen lebendigen Fokus, solange in einem ihm gleichen Körper verwandelte, um nicht von Verdorbenen wie Volakin geraubt zu werden. Der blaue Blutfürst lachte und deutete auf die Fässer, die Nyx beim Betreten der Kaverne nur flüchtig gesehen hatte.

"Du bist jetzt die Gefangene des Mitternachtsdiamanten, Lady Nyx. Doch in den Fässern ist meine Kraftquelle. Seit ich das Blut der Wärter des geplatzten Ofens für unsichtbares Feuer getrunken habe, bin ich gegen die Macht der Mitternacht immun. Ich kann die Sonne und das Feuer aushalten und deren Kräfte bündeln. Und wenn ich in der Nähe dieser Abfälle aus ähnlichen Strahlenöfen bin, gelingt mir das zehnmal besser. Ich kann dich zwar nicht zerstören. Aber ich werde dich als dekorativen Beweis meiner Macht in meine Heimat tragen." Er trat auf Nyx zu und versuchte, sie anzuheben. Doch selbst mit seinen übermenschlichen Kräften gelang es ihm nicht, die zu einer schwarzen Skulptur ihrer Selbst versteinerte Vampirkönigin anzuheben. Es war sogar so, daß irgendwas ihm die Kraft raubte, sie aufzuheben.

"Dieses nette kleine Steinchen will mir doch glatt die Arme einfrieren und saugt mir Kraft aus. Gut, dann bleibst du eben hier stehen, als ständiges Mahnmal deiner Überheblichkeit. Wenn die Rotblüter sich doch mal wieder hierher wagen sollten, um ihre alten Müllfässer zu begutachten, werden die staunen. Das wird diesen alten Zausel Arcadi richtig in Wallung versetzen. Und ich werde hinausgehen und es deinen Anhängseln sagen, daß deine Regierungszeit vorbei ist. Es lebe Fürst Wladimir Volakin der einzige!"

"Du magst mich besiegt haben", mentiloquierte Nyx. "Aber die Macht des Steines hast du nicht gebrochen. Und ich kann immer noch in Gedanken sprechen, wie du merkst."

"Aber trotzdem kannst du deine Brut nicht mehr lenken, ihr nicht mehr helfen. Ich werde denen ganz einfache Möglichkeiten anbieten, entweder mir zu dienen oder mit meinem mächtigen Blut getauft zu werden. Mal sehen, wielange sie sich dann noch von dir an der geistigen Leine führen lassen wollen. Mach's gut, Nyx, auf daß du in dieser ewigen Nacht stehst, bis der Mond vom Himmel fällt und die Sonne die Erde in ihrem Feuer verschlingt." Er lachte noch einmal laut und überlegen. Dann sammelte er seine von Einzahn an die Wand geworfenen Abkömmlinge ein und verließ mit ihnen den Stollen. Nyx wußte, daß er recht hatte. Sie konnte ihren Kindern zwar noch gedankliche Anweisungen geben. Doch beistehen konnte sie ihnen nicht. Sie war zur Gefangenen geworden. Sie hatte mit dem Stein, den sie Trug, die Rollen getauscht. Nun umschloß dieser sie und hielt sie hier an diesem Ort. Offenbar hatte er sie als seine einzig wahre Aufbewahrungsstätte erwählt und würde sich und sie verteidigen, gegen Magie, Feuer und jede Form körperlicher Gewalt. Wielange würde es dauern, bis einer kam, diesen blauen Wicht auszuschalten? Er konnte recht haben. In diese Höhle, wo der russische Atommüll gelagert war, dessen Strahlung diesen Kerl so machtvoll verwandelt hatte, würde sich kein Mensch bei klarem Verstand verirren. Sie hörte die schwere Metalltür zufallen, die diesen Bereich von der Außenwelt abriegelte. Wenige Minuten später vernahmen ihre trotz Versteinerung funktionierenden Ohren das Verschließen der oberirdischen Zutrittsluke. Jetzt war sie allein in dieser Höhle, Gefangene ihrer eigenen Überheblichkeit.

"Gib mich wieder frei!" Versuchte sie es. Die Wächterseele erwiderte:

"Ich will nicht zu dem. Nur so kann ich bei dir bleiben, meine Zuflucht. Du kannst noch mit deinen Kindern reden und ihnen sagen, was sie tun sollen."

"Ich befehle dir, mich wieder freizugeben!"

"Nein, ich will dich nicht verlassen. Und nur so bin ich vor diesem Entwundenen sicher." Nyx erkannte, wie aussichtslos jedes Fordern, Betteln oder Flehen sein würde. Die Wächterseele des Mitternachtsdiamanten hatte sich entschlossen, sie als seine einzig wahre Aufbewahrungsstätte zu behalten. Nur wenn dieser Volakin starb, würde sie wieder beweglich sein. Doch dann würde sie den Mitternachtsdiamanten nie wieder loswerden, bis irgendwer ein Mittel fand, ihn zu schwächen und ihr zu entreißen, wenn sie ihn dann nicht freiwillig hergab. So stand sie da, nachtschwarz und gegen jede Kraft gefeit. Sie sah, wie sich eine leichte Schicht auf ihre Augen legte. Ihr Körper strahlte offenbar eine ähnliche Eiseskälte aus wie die Umgebung. Sie würde die geringsten Mengen Luftfeuchtigkeit anziehen und langsam aber sicher von Eis eingeschlossen werden.

"Elvira, Arnold. Ich wurde von Volakin gefangengesetzt und kann mich nicht mehr befreien. Verteilt die fertigen Anzüge noch und schlaft dann den langen Schlaf der Überdauerung, bis ihr meinen Gedanken "Werdet wieder wach!" erhaltet. Ihr seid zu wichtig, um ihm anheimzufallen. Ihr seid die Hoffnung der Nachtkinder auf eine unbeschwerte Zukunft. Verteilt die Schutzfolien! Dann schlaft den Schlaf der Überdauerung!" Diesen Gedankenbefehl wiederholte sie zehnmal. Dann fühlte sie, wie sie keine geistige Kraft mehr aufbringen konnte. Der Stein, zu dem sie selbst nun geworden war, mußte sich aus der hier herrschenden Dunkelheit neu anreichern. Doch was sie weitergeben wollte, hatte sie weitergegeben. Würde sie nun ewig hier stehen, vor Einsamkeit dem Wahnsinn verfallen? Oder würde jemand diesen blauen Bastard erledigen,um den Bann des Mitternachtsdiamanten wieder von ihr zu nehmen? Sie dachte an Zachary Marchand, der sich ihr entwunden und für sie unerreichbar gemacht hatte. Wenn dieser erfuhr, daß sie derzeit ohne jede Macht war, würde er wieder hervorkommen. Sollte sie ihn auf Volakin ansetzen? Er würde es begrüßen, sie nicht mehr zu fürchten. Nein, er mußte auf Volakins Vernichtung kommen, ohne dabei zu denken, daß er sie damit wieder befreien würde. Doch die Schmach dieser Niederlage und die hoffnungslose Aussicht, hier für alle Zeiten stehen zu müssen, wogen schwer auf ihrer Seele.

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Antonio Bertucci war die Nummer drei der hiesigen Hierarchie des Bertucci-Clans. Sein Großvater Don Enzo hatte ihm geraten, sich nicht in Geschäftssachen einzumischen. So konzentrierte sich der junge Student ganz auf seine Aufgaben. In drei Jahren wollte er ein zugelassener Anwalt sein. Das war auch der Grund, warum Nonno Enzo, den seine Mitarbeiter auch Capo ansprachen, nicht von ihm verlangt hatte, sich näher mit Laura Carlotti einzulassen. "Wir übernehmen die Firma von dem Dummkopf, ohne daß du dessen Tochter begatten mußt, Toni", hatte er seinem Enkel vor vier Wochen gesagt. Jetzt saß er wieder über seinen Gesetzbüchern in seiner kleinen Studentenbude in Philadelphia und brütete über die Verfassungszusätze fünf und acht. Da meldete eine digitalisierte Frauenstimme: "Sie haben Post!" Er öffnete sein Postfach und fand eine Nachricht seines Vetter Michele vor. Der Text las sich oberflächlich sehr fröhlich und aufmunternd. Doch Antonio erbleichte vor Schrecken:

Hallo Toni, wie geht's?

Bin gerade bei Gloria in Detroit. Habe da richtig viel Spaß, wenn du verstehst. Habe gerade mit Nonna Giovannina telefoniert. Die hat mich für Sonntag zum großen Essen eingeladen. Ich geh mal davon aus, daß du auch kommst. Sie wollte mal wieder fünf Gänge machen, hat sie gesagt. Aber was genau hat sie natürlich nicht rausgelassen. Was macht das Büffeln? Bin froh, daß ich selbst mit dem ganzen Krempel durch bin.

Wie erwähnt, ich denke, wir sehen uns am Sonntag.

Ciao Ragazzo!

"Fünf Gänge", dachte Antonio Bertucci. Nachrichten über Essen waren eigentlich Warnungen vor bevorstehenden Problemen. Ein eis bei Alberto bedeutete unterkühlte Stimmung mit wichtigen Leuten. Eine Pizza Cuadro Stagioni verhieß ein großes Finanzproblem und ein Fünf-Gänge-Menü bedeutete tödliche Gefahr, weil sich der Clan mit einem Anderen überworfen hatte. Für ihn selbst hieß das, sich ab jetzt bereit zu halten, seine Bude zu räumen und ganz schnell an einen Ort zu reisen, an dem mindestens zwanzig gute Geister seines Großvaters aufpassen konnten. Die Frage war, ob seine Großmutter Giovannina ihn wirklich anrufen würde, um den Anschein perfekt zu machen. Nonno Enzo hatte ihm einmal gesagt, daß die Yankees ihn wohl auf dem Kieker hätten, vor allem das FBI und das er seit der Sache, wo er einige gute Pferde verloren hatte und zu allem Überfluß noch seine Versicherungsfirma bankrott gemacht habe wohl noch stärker beobachtet würde. Deshalb ja auch diese Verschlüsselung, die kein FBI-Computer knacken konnte, weil sie nicht mathematisch war.

Antonio fragte sich, mit wem sich seine Familie überworfen habe und wie. Die Clans hatten doch ihre Reviere abgesteckt und kamen bis auf kleinere Unstimmigkeiten miteinander zurecht. Tödliche Gefahr bedeutete es, wenn jemand meinte, eine feindliche Familie offen oder durch Hinterhalt um ein oder zwei Mitglieder zu erleichtern. Das konnte dann in einer blutigen Vendetta ausufern. Antonio fragte sich ernsthaft, warum er eigentlich Anwalt werden sollte, um zu lernen, warum derartige Sachen verboten waren oder um Schlupflöcher zu finden, einer Aushebung seiner Familie durch FBI und DEA und wem auch immer zu entrinnen. Da klingelte das Telefon. War das seine Großmutter mit der Einladung?

"Hallo", meldete sich Antonio. Doch es kam keine Antwort. "Hallo!" Rief er in den Hörer. "Ich kann Sie nicht hören." Er wollte schon mißgelaunt die Verbindung unterbrechen, als jemand am anderen Ende sagte: "Exodus, Kapitel einundzwanzig Verse dreiundzwanzig bis fünfundzwanzig." Dann klickte es im Hörer. Antonio fragte noch, wer das war. Es war eindeutig eine Männerstimme gewesen. Er überlegte. Exodus? Das hieß Massenauswanderung, Abwanderung. Damit mußte aber ein Buch der Bibel gemeint sein, weil dieser Jemand Kapitel und Verse erwähnt hatte. Er öffnete den Schrank und holte die zu seiner Firmung erhaltene, in violettes Leder gebundene Bibel heraus. Sie war in italienischer Sprache verfaßt worden. Alle Bücher des alten Testaments und die ganzen Evangelien, plus die ganzen Briefe von Paulus und den anderen Aposteln und die Sprüche standen darin. Er Suchte nun den Teil Exodus und fand ihn auch. Er wollte gerade das Kapitel einundzwanzig lesen, als ihm die Buchstaben vor den Augen zu verschwimmen begannen. Die Welt begann, sich immer schneller um ihn zu drehen. Er meinte, auf einem schwankenden Balken auf stürmischem Meer zu stehen. Das Blut rauschte immer lauter in seinen Ohren, und dann fiel ein schwarzer Vorhang vor seinen Augen herunter. Mit dem Glaubensbuch in den Händen kippte er nach hinten über. Gleichzeitig klickte es an seiner Wohnungstür. Sie tat sich problemlos auf. Zwei Männer in Sanitäterkleidung stürmten mit einer Trage herein. Sie setzten das Transportbett kurz ab, griffen den schlaff am Boden liegenden und wuchteten ihn ohne Verzögerung und Anstrengung auf die Trage. Dann nahmen sie diese wieder auf und eilten hinaus. Der hinterste schloß leise die Tür von außen und zog den Nachschlüssel ab. Erst nach zwanzig Metern Lauf begannen die beiden Männer zu atmen. Denn bis hier konnte das Narkosegas nicht mehr wirken, daß ihr Boss am Morgen während den Vorlesungsstunden im Schrank des Bewußtlosen versteckt hatte und per Fernsteuerung auslöste, wenn er wußte, daß Toni Bertucci in seiner Bude war. Unterwegs begegnete ihnen niemand. War auch gut so. Ansonsten hätten sie von einem akuten Schwächeanfall oder Drogenmißbrauch berichtet, dem Bertucci zum Opfer gefallen sei. So konnten sie ihn im Geschwindschritt zu einem Ambulanzwagen tragen, der zu einer Privatklinik gehörte, deren Eigentümer ein Doktor Craven war, ihr Boss. Der erledigte häufiger Aufträge für sehr heimliche und noch reichere Kunden, von der Abtreibung bis zur Zertifizierung von Todesursachen, die andere Ärzte nach der Polizei rufen ließen. Gesichtsoperationen waren auch im Angebot der Craven-Klinik enthalten. Diesen Service würden die beiden wohl brauchen, sollte jemand von den Bertuccis rausbekommen, daß sie den Enkel eines der mächtigsten Mafia-Bosse der Nordstaaten hoppgenommen hatten.

Ein unsichtbarer Maserati verfolgte den Krankenwagen, der erst einmal ohne Sirene und Rotlicht durch die Straßen fuhr. Erst einen Kilometer weiter weg nahm der Ambulanzwagen Fahrt auf und preschte mit Warnlichtern und Sirenengeheul durch die Straßen von Detroit. Der unsichtbare Wagen hängte sich an ihn dran. Zwar wußte die Fahrerin, wo es hingehen sollte. Doch sie wollte wissen, wie man dort mit dem jungen Mann umging, den die beiden Handlanger eines Verbrechers im weißen Arztkittel entführt hatten. Der Hinweis auf die Bertuccis war also doch gut angekommen. Der anonyme Anruf einer Männerstimme bei dem Kopf des Bertoloni-Clans hatte prompte Wirkung erzielt. Jetzt waren die Fronten eröffnet.

Als sie bei Cravens Privatkrankenhaus eintraf, bekam die Fahrerin des unsichtbaren Autos mit, wie der junge Mann von seinen Entführern in eines der drei Gebäude geschafft wurde. Dann verfolgte sie mit ihrem Spürsinn für worthafte Gedanken mit, wie sich der Leiter dieses Institutes mit einem angsteinflößenden Herren unterhielt, der darauf bestand, den Entführten in "sein sicheres Versteck" ausfliegen zu lassen. Die Bertolonis betrieben in Kalifornien eine Schönheitsfarm, erfuhr sie, obwohl der Name nicht laut ausgesprochen wurde. Dort sollte der Bursche hingeflogen werden. Craven war etwas pickiert, weil seine Sicherheitsmaßnahmen gut genug waren, um jemanden unbemerkt für mehrere Monate festzuhalten. Die Fahrerin des unsichtbaren Wagens erinnerte sich, wie ihre heimliche Heimstattgeberin ihr die Vorrichtungen beschrieben hatte, mit denen Menschen über Jahre gefangen und am Leben gehalten werden konnten. Am Ende setzte sich Cravens Besucher durch. Ein Hubschrauber wurde startklar gemacht, der den Kunden und das Entführungsopfer zum Flughafen bringen sollte, wo der "firmeneigene" Privatjet bereits vorbereitet wurde. "Sunny Valley", hörte Patricia Straton den Namen des kleinen Ortes, in dessen Nähe die Schönheitsfarm angelegt war. Dann befand sie, erst einmal die Carlottis weiterzubeobachten.

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Cecil sagte seiner Mutter, daß er wirklich ausziehen würde und sein Vater wohl genug Streß mit seinem eigenen leben haben würde. Seine Mutter Henriette wollte wissen, was er damit meinte, als der Torwächter anrief, daß ein Möbelwagen der Firma Moving Mobility Transports vor dem Tor stehe. Senator Wellington habe verboten, daß der Wagen durchgelassen würde. Henriette Wellington fragte ihren Sohn, was er gerade gemeint hatte.

"Frage ihn mal nach einer Eve Gilmore, Maman. Ich persönlich weiß nicht mehr, was ich von ihm halten soll. Deshalb ist das besser, wenn ich meine eigene Bude beziehe. Wenn du den Wagen nicht durchläßt, kann ich hier nicht abrücken. Wenn ich hier nicht abrücken kann, bin ich für die Presse ansprechbar, die sicher heute noch auf deiner Matte steht. Dad bekam gestern einen Anruf, ob er mit einer Eve Gilmore was angefangen habe. Er sagte zwar nein, sah dabei aber so aus, als wenn er bei was heftig üblem erwischt worden wäre. Soviel dazu, Maman."

"Cecil, das kann doch nicht wahr sein", erschrak seine Mutter. "Diese Eve Gilmore - Ich dachte, er habe sie vergessen und ..."

"Wieso, wer war die denn?" Tat Cecil unschuldsvoll.

"Niemand wirklich wichtiges, Cecil. Aber wenn das wirklich stimmen sollte. Ich meine, so dumm kann dein Vater doch nicht gewesen sein ..."

"Maman, da draußen steht ein Möbelwagen, den ich bestellt und einen Teil schon bezahlt habe. Wenn du den nicht reinläßt hol ich mir die Kohle von Dad wieder, falls der noch welche verdienen darf."

"Presse? Haben die dich auch angesprochen?" Fragte seine Mutter.

"Bisher nicht. Aber Titus hat gegrinst, daß Dad sich vielleicht auf irgendwas nicht so ganz republikanisches eingelassen hätte. Jetzt kapiere ich, was er meinte. Der hat doch Freunde in New York wohnen."

"Bon, mon Fils, mach daß du wegkommst. ich lasse den Wagen rein." Sie sagte dem Torwächter, daß der Wagen doch passieren könne. Die drei Männer, deren Beruf ihre Körperform geprägt hatte, weil sie eher wandelnden Kleiderschränken glichen, ließen sich mürrisch nach Waffen durchsuchen, betraten dann mit einer Eskorte der hauseigenen Leibwache die geräumige Villa der Senatorenfamilie und ließen sich von Cecil zeigen, wo sie die Möbel und Umzugskisten fanden, die sie einladen sollten.

"Yupp, der kleine Prinz zieht in sein eigenes Reich um?" Versuchte einer der drei eine lockere, eher belanglose Konversation zu machen.

"Der kleine Prinz will sehen, was er selbst machen kann", grummelte Cecil. Er fragte sich, ob einer von denen vielleicht ein Zauberer war oder eine von Patricias Hexenschwestern im Körper eines Mannes. Doch die Möbelpacker hoben die Kisten und Möbel ohne jede Form von Magie an und schafften sie durch die breiten Flure hinaus zu ihrem Truck.

"Schön viel Platz zum Manövrieren", sagte der zweite wandelnde Kleiderschrank. Cecil nickte. Er fühlte sich kein wenig traurig, daß er dieses Haus verlassen würde. Zehn Umzugskisten, die Stereoanlage und seinen Tisch, seinen Fernseher, seinen Rechner mit Modem und die vier Stühle, das Bett und eine Couch verschwanden im Bauch des großen Möbelwagens. Justin, einer der Wächter, warf immer wieder mißmutige Blicke auf Cecil. Offenbar mochte der das nicht, daß der Junge einfach so über den Kopf seines Vaters hinweg entschied.

"Du weißt genau, daß dein Dad das nicht will, Bursche", knurrte der Leibwächter. "Wo geht's denn überhaupt hin?"

"Wenn Sie auf die Frage eine anständige Antwort haben möchten, Mr. Borrows, dann sprechen Sie mich bitte auch anständig an. Ich bin kein kleiner Junge mehr, den Erwachsene dumm anquatschen können, ohne Krach zu kriegen."

"Ich kann denen da sagen, die sollen verschwinden, ohne daß du mitfährst, Bur..." Cecil ergriff wie beiläufig die Hand des Wächters und drückte sie unvermittelt so fest, daß dieser ihn mit leicht verdrehten Augen ansah.

"Mein Dad ist nicht da. Meine Mutter hat das erlaubt, daß der Wagen hier reinfährt und mich mitnimmt. Und ich bin volljährig. Wenn Sie noch alle heilen Finger behalten wollen sollten Sie jetzt ganz schnell ganz großen Abstand nehmen", zischte Cecil und drückte noch fester zu. Der Wächter holte mit der freien Hand aus. Cecil parierte den Schlag mit seiner freien Hand, das Justin vor Schmerz aufstöhnte.

"Na, wer ist hier klein und kümmerlich?" Fragte Cecil, während die drei Möbelpacker den Kleiderschrank aus dem Haus holten und an ihnen vorbeitrugen.

"Dein Vater will das nicht haben, daß du ausziehst", schnarrte Justin, der versuchte, den Schmerz zu unterdrücken.

"Ich weiß das. Aber ich bin nicht sein Eigentum, nur weil der vor mehr als achtzehn Jahren mal was von sich bei meiner Mutter im Unterleib zurückgelassen hat. Und du kannst mich weder rechtlich noch gewaltsam hierbehalten, Justin Borrows", zischte Cecil dann noch. Einer der Träger fragte, ob was sei. Cecil sagte nur:

"Mein Vater hat den hier angestellt, mir Angst zu machen, damit ich doch hierbleibe. Sie haben den doch schon im Fernsehen erlebt, immer alles kontrollieren wollen."

"Vielleicht nicht immer das schlechteste", wandte der Träger ein. "Andererseits muß ein Mann auch mal raus von Zu Haus. Hotel Mama ist ja auf Dauer nix für'n richtigen Mann."

"Sie mischensich da nicht ein", knurrte Justin. "Ich habe den Auftrag, die Sicherheit dieses Jungen hier zu garantieren. Das kann ich nicht, wenn der meint, seinen eigenen Wirrkopf durchsetzen zu müssen. Also packen Sie die Sachen wieder aus und bringen Sie sie zurück!"

"Wer zahlt bestimmt", sagte Cecil, als die Möbelpacker dastanden wie ausgeschaltet. "Ich habe Ihrem Boss das Geld im Voraus gegeben, damit Sie mich und meine Sachen dahin bringen, wo ich hinziehe. Der hier ist nur ein Dienstbote und mir gegenüber nicht mehr weisungsberechtigt. Also laden Sie den Teppich auch noch ein. Dann können wir los. Ich verabschiede mich schon mal von meiner Mutter."

"Und wenn ich dich an den Baum da fessel, du bleibst hier", schnarrte Justin, als Cecil mit dem Personenschützer ins Haus ging. Cecil machte nur eine blitzschnelle Bewegung, dann lag Justin am Boden. Dann setzte Cecil ihm noch den Fuß mit ausreichender Kraft auf die Brust, daß Justin röchelte. "Ich verzichte gerne auf Gewalt, wenn mir keiner welche antut oder androht, Mr. Borrows. maman!"

Henriette Wellington kam mit verweinten Augen aus dem Wohnbereich und sah Cecil, der Justin mit einem Fuß am Boden hielt und dessen Gegenwehr mit den Händen parierte. Er dachte erst, seine Mutter würde wegen ihm weinen, weil er jetzt die Flügel ausspannte und dem warmen Nest davonflog. Sie sah ihn an. "Justin hat gegen deine Anweisung verstoßen. Er wollte mich gewaltsam hier festhalten. Da habe ich mich gewehrt. Engagiert wen anderen. Der hier kommt ja nicht mal gegen einen Teenager ohne Waffen an!"

"Wie machst du das? Das ist doch nicht normal! Du bist doch nicht mehr normal!" Rief Justin. Einer der Möbelpacker kam von draußen rein und sah die Szene. Mrs. Wellington sah den breiten Handwerker an und sagte:

"Wenn Sie alle Einrichtungsgegenstände meines Sohnes eingeladen haben fahren Sie bitte mit ihm los!" Cecil nahm den Fuß von der Brust des Wächters. Dieser erhob sich schwerfällig. Der Möbelpacker sah Cecil und Justin Borrows an und grinste, weil der Junge offenbar mehr Mumm hatte, als man ihm ansah.

"Ihr Mann hat mir aber gesagt, daß ..."

"Mein Mannhat so vieles gesagt, Mr. Borrows. Und ich fürchte, jetzt kann ich ihm nichts mehr glauben. mein Sohn zieht aus. Ich kann nur hoffen, daß meine Erbanlagen ihn zu einem besseren Mann machen als die seines Vaters es hergäben."

"Sie haben das zu verantworten, wenn dem Bürschchen ..." Cecil blickte Justin sehr warnend an. Henriette Wellington schüttelte den Kopf und sagte zu ihrem Sohn:

"Ich ruf dich auf deinem Mobiltelefon an, wenn wir wieder frei sprechen können. Ich fürchte, heute wird es noch ein sehr langer Tag. Sieh zu, daß du weit genug weg bist, bevor die Hyänen über uns herfallen. Mr. Borrows, Sie beziehen Posten im Arbeitszimmer meines Mannes und erwarten mich dort!"

"'tschuldigung, Ma'am, aber ich erledige nur eine Anweisung Ihres Mannes, zu Ihrer und Ihrer Familie Sicherheit", schnarrte Justin. Doch dann trollte er sich. Irgendwas in der Stimme der Frau gefiel ihm nicht. Sie wirkte so wütend und gereizt, auch wenn sie aussah, als wenn sie gerade traurig war. Cecil gab seiner Mutter ein Mobiltelefon. "Das ist das GPS-Ding, Maman. Ich habe schon ein anderes. Hier ist die Nummer." Er gab ihr noch einen Zettel in die Hand, wo seine neue Adresse und die Mobilrufnummer draufstanden. Dann wartete er, bis der Möbelpacker mit dem Teppich herunterkam und küßte seiner Mutter auf die Wangen "Au revoir, Maman. Laß dich nicht unterkriegen!"

"Au revoir, mon Fils! Tu nichts unüberlegtes und halte dich von allen Versuchungen fern!" Sagte Henriette Wellington. Dann erwiderte sie die Wangenküsse und ließ Cecil ziehen.

"Der Wachhund sah richtig angeknackst aus. Hat Ihr Vater Ihnen keinen neuen bestellt?" Fragte der Möbelpacker.

"Zum einen fahre ich in eine Gegend, die von mehreren Sicherheitsleuten überwacht wird. Zum zweiten muß ich aus diesem goldenen Käfig raus, um mal echtes Leben kennenzulernen, ohne gleich Koks oder anderes Zeug anfassen zu müssen. Ansonsten denke ich mal, daß mein achso gestrenger und alles überblickender Vater demnächst arge Probleme hat", sagte Cecil. "Meine Mutter wollte deshalb ja auch, daß ich hier wegziehe. Der Typ von eben nimmt sie und mich nur nicht für voll. Jetzt weiß der das aber besser."

Der Möbelwagen passierte das Tor, nachdem Mrs. Wellington die Fahrt genehmigt hatte und bog dann ab auf eine Autobahn.

"Hättest mir diesen Bullermann Justin vom Hals halten sollen", dachte Cecil an Patricias Adresse.

"Ich war gerade beschäftigt. Ich muß aufpassen, daß deiner Freundin und ihren Eltern nichts passiert."

"Ich bin jetzt raus aus dem Käfig, in den deine höchste Schwester mich reingeschickt hat."

"Gut, dann sieh zu, daß du dein Leben lebst. Wir werden dich nicht mehr behelligen, solange du nicht auf die Idee kommst, von uns zu erzählen. Auch deshalb habe ich das mit deinem Vater angeleiert, damit nicht doch wer meint, dich noch einmal verhören zu müssen."

"Diese Frau, meine Ersatzmutter, hat wohl um mich geweint, wie?" Fragte Cecil.

"Kann ich nicht beurteilen, ich war nicht nahe genug bei euch. Könnte aber sein, daß sie einen Anruf von einem Kollegen Liberty Grovers erhalten hat. Die Erbgutanalyse ist fertig. Schon sehr wichtig zu wissen, daß die Magielosen Menschen an ihrem Erbgut bestimmte Spuren zuordnen können. Müssen wir aufpassen, daß wir nie von deinesgleichen entsprechend erfaßt werden."

"Was ist mit Laura?" Fragte Cecil noch.

"Die Leute, mit denen ihre Eltern Probleme bekommen haben könnten aufkreuzen und sie entführen. Darum passe ich hier auf."

"Oha, dann passen Sie bloß gut genug auf, Ms. Straton."

"In eigenem Interesse schon, Cecil, weil die höchste Schwester das von mir verlangt, dich gut unterzubringen." Dann verebbte die telepathische Unterhaltung.

"Doch traurig, junger Mann?" Fragte einer der Möbelpacker, die mit Cecil im geräumigen Führerhaus saßen.

"Ist schon ein großer Sprung für mich, nach den Jahren im goldenen Käfig, Sir. Aber ich hätte den nicht gemacht, wenn ich nicht wüßte, daß es so besser ist. Okay, Sie wissen, wo es hingehen soll?"

"Berkeley, Kalifornien", sagte der zweite Möbelpacker. "Die Fahrt wird aber einige Tage Dauern."

"Das lohnt sich für Ihren Boss und für Sie auch", sagte Cecil darauf nur. Dann entspannte er sich. Patricia Straton würde auf Laura Carlottis Familie aufpassen. Er fuhr nach Kalifornien, um dort am internationalen Institut für Computerwissenschaften Informatik und Elektrotechnik zu studieren,was er eigentlich schon immer wollte. Nur jetzt hatte er das Geld für den Umzug und konnte sich auch ohne Stipendium einschreiben. Womöglich würde er dort auch bei der Uni-Basketballmannschaft vorsprechen, um endlich mal wieder richtigen Sport zu machen, auch wenn er immer mal wieder Rennradtraining gemacht hatte. Tja, sein neues Fahrrad stand jetzt im Laderaum des Möbelwagens. Die Fahrt würde mehrere Tage dauern, das stimmte. Aber die drei würden sich wohl beim Fahren abwechseln. Und er würde ihnen nach erledigter Arbeit großzügige Trinkgelder mitgeben, bevor er deren Chef noch den ausstehenden Rest der gesamten Umzugskosten überwies.

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Mike beendete seinen Tagebucheintrag vom vierten März, den er mit den Großbuchstaben ES IST PASSIERT übertitelt hatte. Er fühlte sich zwar ein wenig schuldig, weil er wußte, daß er etwas getan hatte, was weder seine Mutter, noch seine Schwester oder Prudences Eltern erlaubt hätten. Doch er hatte es mit ihr getan, weil sie beide das wollten. Sichtlich berauscht von dem Erlebnis hatte er nicht mehr daran gedacht, daß sie keine Verhütungsmittel im Haus hatten. Zu der Party von Onkel Ryan hätte er ja wohl auch kaum derartige Sachen mitgenommen. Jetzt fragte er sich, warum er im Januar noch so schüchtern gewesen war. Prudence war ein sehr liebes, umgängliches und auch ihren Körper liebendes Mädchen. Anderthalb Monate hatten sie sich einander genähert und dabei erst die Interessen und dann immer mehr ihre Körper erforscht. Tja, und vor drei Stunden hatten sie es im Schutz eines sogenannten Klangkerkerzaubers in Prudences Zimmer so richtig doll getrieben. Der erste Versuch war zwar nicht so glücklich abgelaufen. Doch sie, Prudence, die ältere, die vernünftigere von den beiden, hatte darauf bestanden, es noch einmal zu tun, um das nicht als Reinfall abhaken zu müssen. Aus dem einen Mal danach war dann noch ein Mal geworden. Das war dann das richtige erste Mal für ihn geworden. Er erinnerte sich an Sophia Whitesands Ritual. Das war dem verdammt nahe gekommen, was er mit Prudence empfunden hatte. Und doch war es was anderes gewesen, erhaben aber auch einfach. Heilig und doch auch rein körperlich. Er fühlte eine gewisse Angst, daß das aufhören wwürde, wenn sie aus Whitesand Valley rausgeschickt wurden. Doch im Moment gab es diese Offenbarung für ihn, dieses Gefühl, endlich ein Mann zu sein, auch wenn er gerade erst den sechzehnten Geburtstag vor sich hatte.

Als einige Tage verstrichen waren, ohne daß jemand das mitbekommen hatte, holte ihn Sophia Whitesand zusammen mit Prudence in ihr Arbeitszimmer und sah sie beide sehr genau an. Dann lächelte diese.

"Ihr habt also geschafft, was zwei Erwachsene nicht hinbekommen konnten, eure Beziehung in Ruhe aufzubauen und die intime Nähe zu finden, ohne das die meisten das bemerkten. Was ist das für euch, ein Spiel oder der Ausdruck einer Verbundenheit, die über den Aufenthalt in Whitesand Valley hinausgehen wird?"

"Oha, woran haben Sie das gemerkt?" Fragte Mike. Sophia Whitesand zwinkerte ihm über die Halbmondgläser ihrer Brille zu. Dann deutete sie von ihm auf ihren Unterleib. "Eine gewisse Wärme, die ich verspürt habe, drei mal, als wolle mir ein unsichtbarer Liebhaber zu später Wonne verhelfen. Du bist seit deiner Magieerweckung mit mir verbunden, Michael Leeland. Hinzu kommt, daß du dich meinem Fleisch und Blut anvertraut hast, weil Prudence meine Urenkelin ist. Wahrscheinlich wäre meine Empfindung noch stärker gewesen, wenn du dich meiner Enkeltochter Patience anvertraut hättest. Die Magie, durch die ich Melanie und dich in unsere Gemeinschaft hinüberheben konnte, ist die Magie des Lebens und der Liebe, der Verbundenheit und Hingabe. Ich sehe dir an, Prudence, daß du dich nicht ertappt fühlst. Und du Mike hast wohl nur Angst, dich schuldig gemacht zu haben. Aber wenn Prudence dich nicht gewollt hätte, dann hätte sie dich frühzeitig zurückgewiesen, nicht wahr, Prudence?"

"Was soll ich dazu sagen, Oma Sophia. Es ist passiert. Es hat mir Spaß gemacht und ich bereue das nicht. Ob ich das aber meinen Eltern sagen werde, weiß ich noch nicht, weil das ja auch für mich neu ist", erwiderte Prudence.

"Nun, dann laß dir wenigstens von Patience das Verhütungselixier geben! Es sei denn, du möchtest diesem jungen Mann hier bereits vor seiner gesetzlichen Volljährigkeit zu einem Kind verhelfen." Mike zuckte zusammen. Wenn Prudence jetzt von ihm schwanger würde, mußte er das beichten. Prudence lächelte erst ihre Uroma und dann ihn an:

"Ich habe damit keine Probleme, ein Kind von jemandem zu kriegen, der mich nicht nur als zu nehmenden Körper gesehen und empfunden hat. Und wenn Lynn von Tante Patience betreut wird, warum nicht auch ich."

"Ich weiß aber nicht, ob ich das kann, Vater sein", brachte Mike hervor.

"Das wissen Männer selbst in meinem Alter nicht, ob sie das können", sagte Sophia Whitesand. "Aber wenn es wirklich eintritt, daß ihr beiden bereits jetzt schon jemanden neues auf den Weg gebracht haben solltet, wäre es günstig, euch euren Verwandten anzuvertrauen, bevor es unübersehbar wird." Prudence nickte. Mike wollte noch was sagen, als Sophia Whitesand noch hinzufügte: "Wenn du durch das, was du mit Prudence erlebt hast und noch erleben wirst findest, ein Mann zu sein, Mike, dann solltest du auch die Eigenschaften eines Mannes zeigen, Aufrichtigkeit, Treue zu deinen Taten und die Bereitschaft, alle Folgen deines Handelns zu verantworten, wie auch immer sie sich dir äußern!" Mike überlegte kurz. Dann nickte er.

Eine Stunde später saßen sich Prudences Eltern, Prudence und die Leelands gegenüber. Melanie unterdrückte die Wut, die sie fühlte, und Gerty konnte ihren Sohn nur tadelnd ansehen, weil ihr die Worte fehlten. Prudences Mutter sah ihre Tochter lange an und wandte sich an ihren Mann, der dann Mike ansah. Er wirkte verstimmt. Doch dann sagte er ganz ruhig:

"Mr. Leeland, ich weiß zwar nicht, was meiner Tochter da eingefallen ist, sich einen noch jungen Burschen ins Bett zu holen. allerdings habe ich meine Tochter zu einer umsichtigen Hexe erzogen, die nicht zu kurzfristig plant. In der Zaubererwelt wird man erst mit siebzehn volljährig. Die körperliche Eigenverantwortlichkeit beginnt jedoch mit vierzehn. Da Sie jetzt zu unserer Gemeinschaft gehören, sind Sie für das, was Sie mit meiner Tochter getan haben verantwortlich. Ich sehe es Ihnen an, Mrs. Leeland, daß Sie ihren Sohn am liebsten verprügeln würden. Aber das würde die Unschuld meiner Tochter und seine eigene nicht wiederherstellen. Deshalb rate ich Ihnen, Mr. Leeland gut: Lassen Sie meine Tochter bloß nicht sitzen, sollte sie durch Ihre Tätigkeit vorzeitig ein Leben als Familienmutter planen! Ich weiß, daß Sie in Ihrem Alter noch kein sicheres Einkommen haben und wohl noch ein paar Jahre Ausbildung hinter sich bringen sollten. Aber sollte meine Tochter durch Sie schwanger werden oder dies bereits geworden sein, werden Sie alles in Ihrer Macht stehende tun, ihr und dem Kind beizustehen. Haben wir uns da verstanden?"

"Selbstverständlich, Mr. Whitesand. Ich sehe das nicht so, daß ich Prudence entehrt habe, weil ich nichts gemacht habe, was ihr nicht gefällt. Und sollte es echt passieren, daß wir hier in Whitesand Valley ein Kind haben, werde ich irgendwie zusehen, wie ich für dieses Kind da sein kann." Sagte Mike mit einer entschlossenheit, die Mel jeden Ärger aus dem Gesicht trieb. Das war nicht so daher gesagt, sondern wirklich so gemeint, fühlte sie. Gegen diese verbindliche Erklärung konnte sie nichts machen. Ihre Mutter schon gar nicht. Diese nickte nur und sah Prudence an, die ihr sagte:

"Ich habe unter allen, die hier herumlaufen jemanden gefunden, der sowohl intelligent, kultiviert und sich seiner Taten bewußt genug ist, Mrs. Leeland. Natürlich habe ich gemerkt, daß er schon länger von mir schwärmte, wie ein Fünfzehnjähriger halt von erwachsenen Frauen schwärmt. Aber der Umstand, daß er das wunderbar vor allen anderen zurückhalten und mich ohne Überhast und Stottern angesprochen hat und sich die nötige Zeit gelassen hat zeigt mir, daß manche Jungs schon mit fünfzehn erwachsen sind, während manche Männer mit fünfundsiebzig immer noch wie Kleinkinder sind. Insofern darf ich Sie beglückwünschen, daß Sie Mike nicht kleingehalten haben. Vielleicht liegt das auch an dieser Eton-Schule. Da sollen die Jungen ja sehr diszipliniert, vielleicht sogar mehr als nötig gehalten werden. Wie dem auch sei, ich stehe zu dem, was Mike und ich gerade miteinander haben und verspreche Ihnen, ihn nicht wieder einfach so zu vergessen, wenn wir hier alle irgendwann mal rauskommen." Dagegen konnte Mels und Mikes Mutter auch nichts mehr sagen. Sie konnte nur noch weinen, wie Mel, die ihren stummen Ärger damit abbaute.

"Wir sollten das vorerst nicht für alle anderen ausbreiten", sagte Prudences Mutter. "Für uns gilt erst einmal, daß die Beziehung so diskret wie bisher verläuft. Prue, am besten haltet ihr euch aber mit der Liebe zurück, falls du nicht dieses Zeug von Tante Patience kriegen kannst." Prudence verzog zwar das Gesicht, nickte dann aber. Mike nickte auch. Das gab den Ausschlag, daß die Whitesands ihn für erwachsen genug befanden, auf dieses angeblich so wichtige Erlebnis zu verzichten.

Melanie meinte dann nur: "Hätte nicht gedacht, daß du schon so schnell unterkommen willst, Mike. Aber sei es drum. Julius hat ja offenbar auch schon früh losgelegt. Mr. Whitesand sagt es, daß alle Prügel das nicht wieder aus dir raustreiben können, was du mit Prudence angestellt hast."

"Ich bin wohl die letzte, die hier und jetzt noch Worte über eine scheinbar übereilte Annäherung verlieren darf. Vielleicht liegt es an diesem verfluchten Ritual, daß aus euch beiden ... euch so gemacht hat wie die anderen hier. Vielleicht ist es auch nur die Enge dieses Hauses, wo man sich unmöglich aus dem Weg gehen kann. Du hast gehört, was Prudences Vater gesagt hat, Mike. Halt dich bitte dran!" Mike nickte. Mehr passierte dann auch nicht mehr.

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Patricia Straton überwachte die Carlottis. Diese waren in höchster Alarmstimmung, weil die Bertolonis sie vorgewarnt hatten, daß ihr Sohn entführt worden sei und das womöglich auch Laura drohte. Das FBI hatte noch keine Verdachtsmomente gegen die Carlottis. Dann erhielt Lauras Vater den Anruf seines Konkurrenten Bertucci, daß er diesen zu einem klärenden Gespräch treffen sollte. Für Carlotti hieß das jedoch, daß er aus dem Verkehr gezogen werden sollte. So setzte er einen Fluchtplan in Gang, den er wohl schon vor einigen Jahren erwogen hatte. Zwar war Carlotti nicht mit der Cosa Nostra verbunden, mußte sich aber ständig einem Übergriff dieser Verbrecherorganisation ausgesetzt sehen. Denn in Windeseile hatte Lauras Vater über eine abhörsichere Satellitentelefonleitung einen Hubschrauber und einen Privatjet bereitstellen lassen. Patricia bekam telepathisch mit, wie Lauras Eltern aus einem feuersicheren Versteck mehrere Unterlagen holten, Pässe und falsche Zeugnisse, die wohl von irgendwelchen dubiosen Freunden außerhalb der üblichen Cosa Nostra beschafft worden waren. Und da bekam Patricia, die sonst jede Überraschung im Vorfeld erfassen konnte, einen staunenden Gesichtsausdruck. Lauras Vater war nicht nur Bauunternehmer, sondern verdeckter Ermittler der Bundespolizei FBI. Sie war einfach zu weit von ihm fortgewesen, um das zu erfassen, bevor er es am Telefon mit einem Codenamen durchgab. Sein Job war eigentlich, die Mafia-Strukturen im legalen Bauwesen aufzuspüren und weiterzumelden. Dafür hatte das Bundesermittlungsbüro ihm großzügige Mittel und die Fassade des Bauunternehmens geliefert. Schon zwanzig Jahre hatte die Familie mit diesem Geheimnis zu leben, das Laura und ihre Brüder nicht kannten. Die gingen davon aus, ihr Vater würde mit guten Kunden welcher Art auch immer Geschäfte machen. Patricia fragte sich, warum Laura dann einen Mafioso heiraten sollte. Doch die Erkenntnis schmerzte wie ein Schlag vor den Kopf. Das wäre ein genialer Ausguck geworden. Über die Bertolonis hätte das FBI ohne selbst in Erscheinung treten zu müssen noch mehr über die restliche Organisation herausfinden können, wenn Laura geheiratet hätte und ihr Vater sie mit ins heimliche Ausspähen einbezogen hätte. Doch die Entführung des erhofften Bräutigams hatte die ganze Sache zunichte gemacht. Patricia mußte sehr betrübt erkennen, daß sie den Muggeln damit eine gute Gelegenheit versaut hatte, sich dieser menschlichen Pest aus Sizilien zu entledigen, zumindest aber ihre Ausbreitung einzudämmen. War es das, warum Anthelia es nicht guthieß, daß ihr Kundschafter mit Laura verkehrte? Dann hätte sie Cecil doch von sich aus von ihr abbringen müssen. Vielleicht wollte sie aber auch nur, daß Cecil nicht ins Fadenkreuz der Unterweltler geriet, ohne zu wissen, was Lauras Vater wirklich getrieben hatte. So oder so, ihr Plan, Cecils Freundin von der erzwungenen Ehe abzubringen und sie mit Cecil zusammenzubringen geriet nun deutlich ins Wanken. Wenn sie nicht von sich aus Laura entführte und zu Cecil brachte, blieb ihr nichts übrig, als die Carlottis ziehen zu lassen und Cecil irgendwie beizubringen, daß seine Freundin nun unerreichbar sein würde. Vielleicht, so dachte sie, sollte sie ihn mit seiner alten Freundin Donna Cramer zusammenbringen, als Cecil Wellington natürlich. Vielleicht war das die bessere Wahl, ein Leben in einer beschaulichen Kleinstadt oder ein Leben als angesehener Computerwissenschaftler oder -fabrikant, ohne Gefahr, von der Mafia oder einer anderen Muggelwelt-Bande bedroht zu werden. Denn ihr wurde schlagartig klar, daß Laura immer in tödlicher Gefahr schweben würde, sobald sie aus dem Schutzbereich ihres Vaters und seiner heimlichen Vorgesetzten herausgeriet. Sie mußte offiziell sterben, von der Bildfläche verschwinden, nie existiert haben, um am Leben zu bleiben. Das sah Patricia ein, als die Carlottis von einem schnellen Großraumhubschrauber abgeholt wurden. Sie würden mit ihrem Privatjet unter falschem Namen nach Neuseeland umsiedeln, wo das FBI bereits eine Tarnidentität für sie alle aufgebaut hatte.

"Ich lasse ihm noch Zeit, seine Sachen einzuräumen und sich einzuschreiben. Dann werde ich es ihm wohl mitteilen. mein ganzer Plan ist ins Wasser gefallen", grummelte sie. Doch dann dachte sie amüsiert daran, daß sie zumindest den Senator Wellington, diesen Heuchler, richtig heftig die Machtträume vom weißen Haus versaut hatte. Wenn er wirklich die Werte vertrat, die er predigte, dann mußte er entweder seine Frau verlassen und mit Eve Gilmore zusammenziehen, oder zumindest von seinen Ämtern zurücktreten und hoffen, daß sein Vermögen zumindest noch ausreichte, ein gutes Leben zu führen. Den Plan, Cecil zu Donna zurückzubringen durfte sie jedoch nur in Angriff nehmen, wenn Daianira nicht vorhatte, sich dauerhaft in der Daggers-Villa einzurichten, ob Anthelias Wissen ihr zur Verfügung stand oder nicht. Falls sie es schaffte, den Sanctuamater-Zauber auf die in ihr ruhende Erzfeindin zu legen, konnte sie im Falle, daß Anthelias ganzes Wissen erhalten geblieben war, jederzeit auf die Idee kommen, Cecil zu suchen. Dazu mußte Anthelias Körper aber erst einmal aus dieser hinterhältigen Schlange heraus sein, damit diese sich Cecil nähern konnte, ohne von der Magie des Sonnenmedaillons abgewiesen zu werden. Patricia überlegte, ob es nicht wirklich günstiger war, Cecils Gefährtin zu werden, um ihn vor Daianira zu beschützen. Doch dazu wollte sie nicht noch einmal einen Vita-Magica-Trank erschleichen.

Sie sah zu, wie die Carlottis einem neuen Leben entgegenflogen. Sie war zwar bestürzt, daß sie dieses Leben erzwungen hatte. Doch andererseits hatte sie Laura womöglich das Leben gerettet, falls ihre Heirat in den Bertoloni-Clan die Bertuccis auch so zur Vendetta getrieben hätte. Zumindest aber wollte sie nun sicherstellen, daß die beiden Entführten gefunden und befreit wurden. Denn unnötige Leichen wegen eines undurchführbaren Planes zu riskieren lag nicht in ihrem Sinne.

So geschah es dann, daß das FBI in Kalifornien wenige Stunden nach der Abreise der Carlottis einen Tipp erhielt, wo genau Antonio Bertucci zu finden war. Die CIA erhielt aus einer scheinbar sehr zuverlässigen Quelle den Hinweis, daß Girolamo Bertoloni in Kolumbien gefangengehalten wurde, um einen US-amerikanischen Mafia-Paten zu erpressen. Wenn die beiden jungen Männer intelligent waren, würden sie sich als Kronzeugen anbieten, um nicht weiter im Sumpf des Verbrechens zu treiben und irgendwann gnadenlos unterzugehen. Patricias Arbeit, wenn dieser Fehlschlag überhaupt so genannt werden durfte, war nun erledigt. Cecil war aus dem Haus und dem Machtbereich des Senators heraus. Zumindest das hatte funktioniert. Daianira würde nicht an ihn herankommen, und wenn dann nur über seine Mutter. Wenn das drohte, würde sie wohl deren Gedächtnis verändern müssen. Doch das wurde eh erst im Juni akut, wenn sie sich nicht ganz gründlich verrechnet hatte.

Im Fernsehen verfolgte sie in den nächsten Wochen mit, wie Senator Wellington sich immer schwerer gegen die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen stellte, er habe außerehelichen Geschlechtsverkehr mit seiner früheren Studienkollegin Eve Gilmore gehabt. Patricia wartete dabei auf den Knaller des Monats. Dieser kam erst am fünfzehnten März, als Eve Gilmore, die zum Pressestar geworden war, den Reportern einen positiven Schwangerschaftstest präsentierte und behauptete, daß das damit angekündigte Kind von dem achso familienverbundenen und anständigen Senator Wellington sei. Patricia hatte es Cecil mitgeteilt, daß sein Ersatzvater nun ganz tief im Schlamassel steckte. Das mit Laura hatte sie nur andeutungsweise angesprochen, daß die Carlottis sich vor der Mafia verstecken mußten, die durch die Entfürungen und die Unauffindbarkeit der Entführten in einen regelrechten Krieg geraten waren. Denn durch die angestoßene Vendetta fühlten sich auch andere Clans bedroht oder begünstigt, die bisherigen Machtverhältnisse neu zu bestimmen. Cecil fragte Patricia, ob Laura noch einmal an ihn gedacht habe. Sie teilte ihm wahrheitsgetreu mit, daß das der Fall war. Vielleicht würde sie sich ja tatsächlich wieder bei ihm melden, wenn die Lage es erlaubte, beruhigte Patricia ihn und sich gleichermaßen.

"Jetzt ist die in der Talkshow, Patricia", sagte Virginia Hencock am Abend. Wen sie mit "sie" meinte war klar. Die beiden Frauen hatten ja in den letzten Wochen häufiger von der sogenanten Teppichklecks-Affäre gehört. Patricia hatte sich beschreiben lassen, wie die DNS-Analysen funktionierten und wie man an Proben des Senators gekommen war, um die Identität des Schmutzfinks in Eves Wohnung nachzuweisen. Eve Gilmore trat nun im Fernsehen auf und präsentierte das Ergebnis ihres Schwangerschaftstestes.

"Doktor Montgomery wird mit Ihnen diesen Test hier im Studio wiederholen", sagte der Moderator der Sendung, in der auch Senator Wellington Gast sein würde, jedoch in einem anderen Bereich des Studios wartete, um nicht vorher schon mit seiner Kontrahentin und feurigen Affäre ins Gespräch zu kommen. Er würde wohl behaupten, daß sie ihn erpressen wollte, weil sie nach dem Ausstieg aus ihrem früheren, anrüchigen Leben, eine ergiebige Einnahmequelle suchte. Patricia erinnerte sich jedoch noch zu gut an die Bilder von Wellingtons Ehefrau, wie diese androhte, die Scheidung einzureichen, ließen sich unanfechtbare Beweise vorlegen, daß ihr Mann mit "dieser Person" geschlafen habe.

"Tolles Land, dieses Amerika", knurrte Patricia. "Heuchelei und Doppelmoral an allen Ecken."

"Tja, und ich darf unter Umständen die Folgen solcher Sachen behandeln", erwiderte Virginia. Patricia wußte, daß die hier niedergelassene Frauenärztin immer mal wieder mit minderjährigen Müttern oder unehelich schwanger gewordenen Frauen zu tun hatte. Seltsamerweise wollte sie nur dann Abtreibungen vornehmen, wenn das Leben des Kindes akut bedroht war, weil die Mutter meinte, es sich auch so aus dem Leib entfernen zu können. Virginia schätzte das werdende Leben und achtete die Natur der Frauen, es heranreifen zu lassen. Damit lebte sie das aus, was sie in ihrem früheren Leben als Alexander Fox nicht so recht umsetzen konnte und daher auf unmenschlich erscheinende Methoden verfallen war, die sie in letzter Konsequenz zu Virginia hatten werden lassen.

"... Und damit das klar ist. Ich bereue es nicht, mit Reginald Wellington geschlafen zu haben. Aber wenn er jetzt behauptet, das wäre nicht passiert, um sein spießiges Leben weiterführen zu können, dann ist das ab heute nicht mehr möglich", tönte Eve Gilmore. Sie trug das Haar noch so wie Patricia es an ihr gesehen hatte, als sie den Senator mit ihr zusammengebracht hatte. Der Moderator fragte in einer sehr voyeuristischen Art, die beim Publikum wohl besonders beliebt war, wie die beiden sich denn getroffen hätten und warum ein so wertetreuer Mann wie Reginald Wellington sich derartig hingerissen fühlen konnte. "Der hatte es halt nötig und ich auch", war die schnippische Antwort der Befragten. Dann kam das Ergebnis des neuen Tests: Positiv. Also war klar, daß Eve Gilmore wirklich schwanger war. Von wem konnte natürlich noch keiner sagen. Dazu mußte das Kind erst geboren sein. Nun wurde der Senator hereingerufen. Dieser bedachte die Gegenspielerin in dieser an Gladiatorenspiele erinnernden Fernsehunterhaltung mit einem finsteren Blick. Dann wurde er von dem Moderator gefragt.

"Mein Anwalt hat mir dringend geraten, auf keine Fragen zu antworten, die mich in ein unrühmliches Licht rücken könnten", antwortete der Senator. "Außerdem verbitte ich mir die schadenfrohen Gesichter im Publikum." Die eisige Haltung des Senators wurde zur lodernden Wut, als ihm präsentiert wurde, daß Eve wohl in der zehnten Woche schwanger war. Die Ateste ihres Frauenarztes, sowie die Untersuchung des sendereigenen Arztes stimmten überein. Es entzündete sich eine hitzige Debatte, daß der Senator arglistig mißbraucht wurde. Patricia mußte sogar grinsen, als er Eve als "Hinterhältige Hexe" bezeichnete, die ihm ein irgendwie wirksames Betäubungsmittel verabreicht hatte, um sich an ihm zu bedienen. Doch das war sein Fehler. Denn Eve konnte nun über die Art, wie sie zueinander gefunden hatten auspacken und Zeugen vorweisen, die sie und ihn mehrere Tage lang zusammen gesehen hatten. Außerdem hätte er ja gleich die Polizei anrufen können, wenn sie derartiges mit ihm angestellt hätte. Da er das aber nicht getan hatte, muß es ganz in seinem Sinne gewesen sein, mit ihr, Eve, wilde Nächte zu verbringen. Sie sagte dann noch, daß sie das Kind auf jeden Fall behalten würde und nach dessen Geburt eindeutig klären ließe, von wem es war. Auf die Frage des Moderators, ob sie es deshalb auf diese Affäre angelegt habe, wie die Ich-Erzählerin in einem bekannten Schlager, wo eine einen Anhalter dazu brachte, sie zu lieben, weil der, den sie seelisch liebte, kein Kind mit ihr zeugen konnte, stieß Eve aus, daß sie damals einfach große Lust auf einen Mann gehabt habe und er das wohl auch.

"Wollen Sie jetzt behaupten, Außerirdische hätten Senator Wellington und Sie mit einer Paarungsdroge verkuppelt?" Fragte der Moderator amüsiert.

"Ich wußte zwar, daß das Niveau Ihrer Sendung gegen null geht, Mister. Aber ich hatte doch gehofft, daß es dies von oben her tut und nicht von unten", knurrte der Senator. Lachen und Klatschen quittierten diesen Einwurf. "Ich halte an meiner Aussage fest, daß ich keinen einvernehmlichen Geschlechtsverkehr mit dieser Frau da hatte. Basta!"

"So, dann habe ich dich hypnotisiert, Süßer", provozierte Eve ihn nun. "Ich hätte das zwischen dir und mir ja unterm Teppich gehalten. Aber du mußtest ja unbedingt drauf kleckern." Schallendes Gelächter flutete durch das Studio.

"Wenn Sie behaupten, nichts freiwilliges mit Ms. Gilmore getan zu haben, Sir, dann frage ich mich wirklich, warum Sie sie nicht wegen Vergewaltigung angezeigt haben oder wegen was auch immer."

"Weil ich das meiner Frau und meinem Sohn gegenüber nie hätte erklären können, daß ich nur für eine gemütliche Plauderei mit dieser person zusammen mitgegangen bin."

"Wie deckt sich das dann mit Ihren Aussagen, jedes Unrecht sofort zu ahnden", sagte der Moderator und ließ von seinem Kollegen in der Bildregie einen Videoausschnitt einer Rede einspielen, wo der Senator sich gegen außerehelichen Sex geäußert hatte und jedem Kriminellen die sofortige Bestrafung zu drohen habe, falls die Opfer nicht zu feige seien, die Taten auch anzuzeigen. "Sind Sie also ein Feigling, weil Sie sich nicht an diesen Grundsatz gebunden fühlten, obwohl Ms. Gilmore Sie angeblich vergewaltigt oder um Ihr Erbgut gebracht hat?" Lautete die zwingende Frage.

"Ich bin kein Feigling", schnarrte der Senator. Dann wurde er gefragt, ob er dann versuche, seine Schuld zu verbergen, weil er Ms. Gilmore zum außerehelichen Verkehr ermutigt habe, wo er diesen doch so medienwirksam ablehne. Er stritt das noch einmal ab. Da ließ Eve die größte Bombe dieses Abends platzen. Sie holte eine Videocassette aus ihrer Handtasche. Auf dem Band sollten angeblich die Liebesspiele der zweiten Nacht zu sehen sein, die sie mit Wellington verbracht habe. Der Senator erbleichte und stammelte dann, daß Eve ihn also erpressen wollte, es aber zu früh aufgeflogen sei. Dann meinte er, sich wieder im Griff zu haben und behauptete, daß das Video eine Fälschung sei. Der Moderator wollte das Band dann über den Sender abspielen lassen. Doch der Senator verweigerte die Zustimmung und forderte die Herausgabe des Bandes. Der Moderator nahm es, und warf es einem Kollegen zu, ehe der Senator ihn hindern konnte. Das Publikum skandierte "Abspielen! Abspielen!"

"Ich sag's ja, die reinste Bigotterie", knurrte Patricia Straton. Sie wußte nicht, ob das wirklich ein Video von der anrüchigen Beziehung war. Doch der Senator schien das für echt zu halten. Er rief lautstark nach der Polizei. Immerhin drohte man hier, sein Ansehen zu ruinieren. Der Sender spielte das Band jedoch ab: Es war ja immerhin schon nach elf Uhr abends. Da empfing Patricia Straton etwas, womit sie eigentlich schon nicht mehr gerechnet hatte.

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Rumm-bumm. Rumm-Bumm! Die Musik des Lebens. Die Musik des Werdens. Anthelia wußte nicht, wie lange sie schon dieser Musik zuhörte. Seitdem die, in deren innigster Obhut sie gerade neu heranreifte, die Wertiger aus Frankreich und dem Rest Europas vertrieben hatte, mochten Monate vergangen sein. Die Zeit galt hier im Moment nichts. Daß es Tag war merkte Anthelia zwar daran, daß Daianira mit jemandem sprach, meistens Leda und ihre Großmutter Eileithyia, und daß Anthelia immer wieder durch die Schritte ihrer baldigen neuen Mutter gewiegt wurde. Deshalb war es bei geistig unvorgereiften Säuglingen so wichtig, sie sanft zu wiegen, damit sie ruhig waren oder schliefen. Deshalb konnte ein ausgestoßenes Schsch jedes Quängeln, jeden Wortschwall und jeden Lärm unterbinden. Denn dieses Rauschen umgab sie, zeigte ihr, daß Blut durch den Leib floß, in dem sie gerade wie in einem exotischen Kerker lag. Nachts empfand sie die Ruhelage Daianiras immer wieder als beengend, wenn diese nicht zu allem Überfluß auch noch zum Ohrenzerreißen schnarchte. Die alte Angst, in engen Räumen zu ersticken, beschlich sie immer wieder. Doch immer noch blieben ihre Lungen zusammengefaltet. Immer noch blieb der Drang zum Einatmen aus. Würde ihr Körper den überhaupt von selbst entwickeln, oder mußte sie diesen unter der Wiedergeburt von sich aus erregen? Da fiel ihr wieder ein, daß sie nicht wiedergeboren werden wollte. lieber würde sie mit Daianira sterben, als sich von dieser durch ihre schleimige Scham zwengen zu lassen. Denn spätestens dann war sie unrettbar die Tochter von Daianira Hemlock, ob sie sie sofort nach der erfolgten Geburt abgab oder selbst aufzog. Das zweite Trimenon war wohl noch nicht vorüber. Denn dann würde sie wieder gegen den Sanctuamater-Zauber ankämpfen müssen.

Dieses vermaledeite Weib hielt sich jetzt an Ledas Ratschläge. Es ließ Anthelia nicht mehr durch das Medaillon in die Außenwelt blicken. So bekam die gefangene Hexenlady nur mit, daß Daianira den Transport der Entomanthropen beim Start und bei der Ankunft überwachte. Offenbar beherrschte sie die nötigen Zauber sehr gut, die Muggel glauben zu machen, in den großen Stahlcontainern seien nur Maschinenteile.

Anthelia versuchte immer wieder, Patricia Straton anzumentiloquieren oder Tyche Lennox. Die anderen Schwestern wagte sie gar nicht erst anzusprechen. Denn falls es ihr gelänge, jemanden anzumentiloquieren, bestünde eine Möglichkeit, Daianiras Vorhaben, sie als ihre Tochter zu bekommen zu vereiteln, bevor ihr der Sanctuamater-Zauber vielleicht doch noch gelingen würde. Sollte sie Tyche bitten, sie Daianira wegzunehmen? Ohne Zweifel würde Tyche eine solche Gelegenheit ausnutzen. Patricia als Vorzugsleihmutter zu erwählen konnte sie vergessen, weil diese dieses vermaledeite Sonnenamulett trug und das mit dem vom Seelenmedaillon beeinflußten Körper und Geist Anthelias antipathisch reagierte. Marga Eisenhut, eine der deutschen Schwestern ... mochte mittlerweile von den anderen informiert sein. Sie hielt Anthelia wohl schon für erledigt. Linda Knowles? Sie gehörte jetzt zu den Schweigsamen Schwestern. Doch diese Aufgabe würde sie bestimmt nicht übernehmen. Außerdem wachten diese Roberta Sevenrock und Eileithyia Greensporn über sie. Warum hätten sie sie sonst eingeladen, ihre Mitschwester zu werden, als sicherzustellen, daß sie nicht über Daianiras "kleines Geheimnis" stolperte und Daianira es womöglich für geboten erachtete, sie einfach umzubringen, um sie, Anthelia, heimlich weiter ins Leben tragen zu können. Eine Hexe außerhalb der Schwesternschaft dazu zu bringen, Daianira zu überrumpeln und den Transgestatio-Zauber zu verwenden lag auch fern. Es wäre also einfacher, jemanden dazu zu bringen, Daianira anzugreifen. Valery würde das sicher gerne tun. Nyx würde sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, Anthelia wehrlos zu erledigen. Und von dem Waisenknaben wollte sie gar nicht erst anfangen. Ja, es gab genug Leute, die Daianira wegen ihr selbst oder Anthelia sofort den Todesfluch aufbrennen würden. Das Problem war nur, solange Anthelias Körper mit dem Daianiras verbunden war, schützte sie der Gürtel der zwei Dutzend Leben vor diesem Fluch und anderen Gefahren. Und wenn sie es hinbekam, daß Daianira sich selbst in tödliche Gefahr brachte, ohne Rücksicht auf die in ihr werdende neue Tochter zu nehmen? Das versprach mehr Aussicht auf Erfolg. Sie mußte dafür nur das Medaillon mit ihren Gedanken erreichen, auch wenn es verschlossen irgendwo aufbewahrt wurde. Sie würde ihre selbstentwickelte Formel des Übertritts immer wieder denken, bis sie sicher war, mit dem einen Wort im unmittelbaren Augenblick körperlicher Todesgefahr, aus ihrem sterbenden Körper in das Medaillon überzuwechseln. Lieber übersprang sie dort ohne Sinn für Zeit und Raum die Jahrhunderte, bis wieder jemand kam, der oder die ihre Macht erwecken würde. Sie ärgerte sich immer noch darüber, diesen Infanticorpore-Fluch ausgestoßen zu haben und diesen dann nicht noch unschädlich in die Begrenzung geschickt zu haben. Der Fluch war fünfmal so stark auf sie zurückgefallen ... Interessant! Das konnte gehen. Allerdings, so wußte Anthelia, mußte das so gut vorbereitet werden, daß weder Daianira noch sonst wer Verdacht schöpfte. Und es mußte eingeleitet werden, wenn sie zum zweiten Mal mit dem Sanctuamater-Zauber belegt werden sollte. Denn nur dann erschien es auch für Daianira und diese Leda glaubwürdig genug. So galten zwei Ziele: Eine Gedankenbrücke zum Medaillon Dairons erhalten, um dorthin zurückzukehren, egal wie weit Körper und Medaillon voneinander getrennt waren. Das zweite Ziel war die Vorbereitung ihres spektakulären Abgangs. Daianira würde sie niemals an ihren Brüsten liegen fühlen. Anthelia würde niemals in die schmachvolle Situation geraten, den Leib der Feindin wie ihr eigenes Fleisch und Blut verlassen zu müssen. Doch das durfte niemand vorher wissen.

Wochen oder Tage später begann Anthelia, die Gedankenbrücke zum Medaillon zu erstellen. Zehn Worte mußte sie denken. Zehn Worte, bis die Brücke stand. Dann immer eines weniger, von vorne bis hinten verringert, bis im Augenblick der ersehnten Todesnähe ein Wort genügen würde, um sie zu bergen. Wie beim Mentiloquieren auch fühlte sie den Erfolg nur dann, wenn sie einen sachten bis starken Nachhall zu hören meinte. Doch dieses verflixtte Pochen, Rauschen und Fauchen um sie herum störte sie andauernd. Ihr kleines Herz wummerte unablässig zum restlichen Körperkonzert ihrer Trägerin. Doch sie schaffte es. Immer weiter bekam sie den Kontakt hergestellt. Zwischendurch erfuhr sie über Leda und Daianira, daß diese Valery Saunders offenbar weiter in Südamerika herumspukte. Sie tauchte auf, schlug schnell zu und verschwand noch schneller per Disapparition. Nebenbei wurde von Vampiren in den Slums von Rio, Sao Paulo und Manaos, Bogota, Lima und Santiago de Chile berichtet. Daianira las "ihrer Thalia" jeden zweiten Tag aus der Zeitung vor, ohne dafür das Medaillon umzuhängen. Doch Anthelias Ohren vermochten nun die Stimme der Hexenlady besser zu verstehen, auch wenn sie laut und dumpf klang. Was würde das für ein Lärm um sie sein, wenn sie ... Nein, genau das wollte sie ja vermeiden.

Als sie die Verbindung zum Medaillon so stark hatte, daß sie nur noch die letzten vier Worte denken mußte, um die Reaktion auszulösen, versuchte sie Patricia Straton anzumentiloquieren. Kannte sie deren Stimme noch? Es dauerte zeit. Tage, weil ihr kleines Gehirn immer noch nicht ausdauernd genug war, diese Konzentration durchzuhalten. Dann, sie wußte nicht wann, bekam sie endlich den ersehnten Kontakt.

__________

"Patricia, kannst du mich verstehen? Ich bin es, Anthelia, die höchste Schwester." patricia Straton gab vor, sich dieses ekelhafte Getue im Fernsehen nicht weiter antun zu müssen und ging in ihr eigenes Zimmer, wo sie die Tür schloß. Sie konnte von dort aus die Lustgeräusche aus dem Fernseher hören und wußte, daß Reginald Wellington sicher erledigt war. Es dauerte wohl Minuten, bis Anthelias Gedankenstimme wieder zu hören war. Zwar wußte Patricia, was mit der höchsten Schwester passiert war, und die immer noch in ihrem Topf gefangene Tyche Lennox bewies es ja auch, daß schon daran gedacht worden war, sie umzubringen. Doch sie heute zu hören, genau fünf Kalendermonate nach dem Duell, erwischte sie doch etwas überrascht. Damit war bewiesen, daß Magier, die den Weg des Iterapartio-Zaubers beschritten, ab dem sechsten oder siebten Monat durchaus wieder denken und Gedanken verschicken konnten. Sie konzentrierte sich und schickte Anthelia zurück:

"Habe lange nichts von dir gehört. Wird dir Daianiras Bauch langsam zu eng?"

"Du wußtest es", erwiderte Anthelia nach wohl einer Minute. Erleichterung klang in ihrer Gedankenstimme.

"Ich habe mir den Verlauf beschreiben lassen", schickte Patricia zurück.

"Ich habe ihr helfen können, die Schlangenmenschen zu bekämpfen und will jetzt zusehen, daß ich diese außer Kontrolle geratenen Entomanthropen besiegen kann. doch Daianira möchte meine Hilfe nicht mehr. Sie möchte nur noch, daß ich ungestört heranwachse und ihre Tochter werde."

"Willst du das, ihre Tochter sein?" Fragte Patricia.

"Es ist zwar sehr einengend, wie ich jetzt gelagert bin. Aber irgendwie empfinde ich auch eine gewisse Vorfreude, ihr geboren zu werden. Aber irgendwas sagt mir, daß das nicht wirklich meine Empfindungen sind." Patricia verstand sofort. Diese Schlange Daianira hatte wohl schon den ersten Schritt des Sanctuamater-Zaubers vollzogen. Anthelia hatte sich nicht dagegen wehren können. Wenn sie den zweiten Schritt auch noch tat und den dritten, dann könnte Anthelia sogar dem Fidelius-Zauber entwunden sein und verraten, daß es sie, Patricia Straton, immer noch gab und daß sie das Medaillon Intis Beistand besaß, daß früher Daianira gehört hatte, besser, von dieser in Besitz genommen worden war.

"Du mußt dich wehren, wenn dieser Zauber über dich gesprochen wird, Höchste Schwester", riet Patricia ihr. "Es sei denn, du willst wirklich Daianiras braves kleines Töchterchen werden, nur schreien, wenn sie Lust hat, dich zu füttern und nie etwas tun, was ihr schaden oder Ärger machen könnte. Ich meine, in Daianira heranzuwachsen ist bestimmt eine Ehre."

"Du willst mich verärgern, Schwester Patricia. Aber vielleicht will ich das ja, eine Hexe werden, die bereits nach der Geburt genug eigenes Bewußtsein besitzt, um weiterhin schöpferisch in der Hexenwelt zu wirken. Was hättest du denn getan, wenn es dich zu Daianira verschlagen hätte?"

"Ich hätte mich gar nicht erst auf ein offenes Duell mit ihr eingelassen. Entweder friedliche Koexistenz, weiträumig auseinanderleben oder den vernichtenden Schlag ohne die üblichen Regeln."

"Du bist ihr per Eid noch verpflichtet, und ich merke wohl, daß das Blut, daß durch mich fließt, mich ihr auch so verpflichtet."

"Wo ist Daianira?"

"Sie trägt meinen Gürtel. Da ich nun ein Teil von ihr bin, schützt er sie wie mich. Du würdest es nicht schaffen, sie zu töten."

"Ich will sie nicht töten, sondern verhindern, daß du ihr kleines, braves Mädchen wirst, höchste Schwester. Lieber lade ich mir wochenlange Strapazen und Flucht auf, durchleide alle Schmerzen und sehe zu, dich wieder großzuziehen als zu wissen, daß dieses Weib dich jetzt als eigenes Kind im Leib hat."

"Das würde auch nichts helfen. Abgesehen davon, daß du den Transgestatio-Zauber beherrschen müßtest, um mich von ihr zu erlösen, würde das Sonnenmedaillon mich wieder abstoßen, mich sogar töten, ohne daß ich weiß, ob ich wiederkehren kann. Und du, Patricia, würdest den Schutz des Medaillons verlieren, womöglich von diesem getötet werden", hörte sie Anthelias Gedankenstimme nun sichtlich schwächer werden.

"Tyche könnte dich übernehmen." Sie fühlte jedoch, daß ihre Antwort nicht mehr gut durchdrang. Offenbar war Anthelias neu wachsendes Gehirn noch nicht so belastbar für derartige Verständigungsmittel. Doch sie hörte noch Anthelias vorerst letzte Botschaft:

"Ich melde mich irgendwann wieder."

Anthelia?" Schickte Patricia zurück. Doch sie vernahm nicht diesen Nachhall. Ihre Gedanken flogen ins Nichts hinaus, ohne Halt zu finden, ohne im Geist der damit zu erreichenden zu schwingen.

"Spätestens im Juni wissen wir, was du wirst", dachte Patricia. Sie empfand gemischte Gefühle. Einerseits hatte sie sich doch irgendwie gefreut, daß Anthelia die Entomanthropen nie gegen die Menschheit schicken konnte. Dann war da dieses Gefühl des Alleinseins, nachdem ihre Mutter tot war und ihre restliche Familie vor Daianiras Zorn versteckt werden mußte. Und jetzt fühlte sie den Zorn, weil Daianira die Feindin im Duell nicht einfach vernichtet hatte, sondern sie und ihr Wissen für sich nutzbar machen würde. Anthelia hatte beängstigender Weise schon anklingen lassen, daß sie sich mit ihrer Lage anzufreunden begann. Gut, auch ohne Sanctuamater-Zauber konnte es Gefangenen passieren, daß sie sich in ihr Schicksal fügten, ja sogar mit den Gefängniswärtern sympathisierten. Bei den Muggeln hieß sowas Stockholm-Syndrom, wenn besonders Geiseln anfingen, Sympathien für die Geiselnehmer zu entwickeln, sich sogar wenn geschlechtlich entsprechend, in diese verliebten. Daianira brauchte also einfach nur hübsch brav alle Heileranweisungen zu befolgen, um die ungewöhnliche Schwangerschaft ungefährdet auszutragen. Anthelia hatte Zeit. Patricia kannte es von Exosenso-Zaubern, wie ein Ungeborenes seine Umwelt langsam und sicher wahrnahm. Die Zeit mochte in diesem Zustand verschwimmen. Somit mußte sich Patricia die bange Frage stellen, ob und wann sie eine neue Botschaft von Anthelia erhalten würde. Sie selbst anzumentiloquieren erschien Patricia im Moment nicht gerade ratsam. Nachher störte sie irgendwie Anthelias Bewegungen oder beeinflußte ihren Herzschlag. Das konnte dazu führen, daß es Daianira auffiel, daß Anthelia von jemandem beeinflußt wurde. Und wußte sie dann, ob es nicht möglich war, die Spur zu ihr zu verfolgen. Nein! So schmerzhaft ihr die Erkenntnis war, daß Anthelia sie jederzeit verraten konnte, so sehr wollte Patricia nicht darauf hinwirken, verraten zu werden. So blieb ihr das warten, wie es auch gerade für Anthelia angezeigt war. Um sich nicht ganz von diesem Thema abzulenken und so zu tun, als wenn sie die Diskussion im Fernsehen auf einen interessanten Gedankengang gebracht hatte verwickelte sie Virginia, die sogesehen auch ein Geschöpf Anthelias war, in eine Unterhaltung über die Wahrnehmung Ungeborener. Provokant sprach sie dabei auch die Möglichkeit an, daß die damals von Virginias erster Identität in Aufbewahrungsmaschinen eingelagerten Gefangenen durchaus noch was hätten fühlen können. Virginia errötete und beschrieb dann, daß dieser Vorgänger von ihr ja bedrängt worden sei und daher wohl meinte, das nicht mögliche irgendwie möglich zu machen.

Durch Anthelias besondere Erfahrung fragte sich Patricia nun, ob es stimmte, daß die ungeborenen Kinder sich grenzenlos geborgen und sicher fühlten, oder ob sie ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht eher fürchteten, für immer festzuhängen. Es hieß, daß einige Kinder sich gegen ihre Geburt gewehrt hätten, in ddem sie sich im Mutterschoß verkeilt hätten. Anderen sei es nicht schnell genug gegangen, weil sie sich kräftig abgestoßen hätten. Doch niemand wußte das wirklich. Selbst wer seine eigenen Erinnerungen mit Gedächtnistränken nacherleben konnte, fand keine korrekte Antwort darauf. Denn wer immer das tat, betrachtete sein Leben mit den Augen des entwickelten Geistes.

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"So, und dieser Junge muß also bis nach Walpurgis in der unmittelbaren Nähe dieser Halbriesin bleiben?" Fragte Daianira ihre Großmutter Eileithyia. Im Moment trug sie das Medaillon nicht. Anthelia verhielt sich ungewöhnlich ruhig. In den letzten Tagen hatte sie immer durch Bewegungen verraten, ob sie wach war, schlief oder schlafen wollte. Schlief sie jetzt auch wieder?

"Nun, ich weiß zwar nicht, was wir davon haben, daß zu wissen. Aber unsere Mitschwester Peggy meint, daß wir das wissen sollten, weil Lady medea es immerhin erfahren hätte. Ich kenne den Jungen nicht persönlich. Deine werdende Tochter ist ihm ja zweimal begegnet und du hast ihn in VDS wohl einmal angetroffen. Würde diese erzwungene Nähe zu dieser Halbriesin ihn geistig destabilisieren oder festigen?"

"Er besitzt für seine jungen Jahre sehr viel Disziplin und Grundtalent. Die in Beauxbatons fördern das sehr stark, Großmutter. Ich habe erkannt daß er ein guter Okklumentor ist. Wer das beherrscht muß erst einmal sich zu beherrschen lernen. Seine Gefährtin besitzt starke Intuitionen. Sie hat meine Macht gespürt, ohne daß ich ihr verraten hätte, welche Macht ich habe. Sie tragen beide das Zuneigungsherz. Damit können sie sich ergänzen. Ich bin froh, daß Anthelia nun zu Thalia wird und ich sie davon abhalten kann, daß sie diesen Jungen weiter für ihre Jagdziele mißbraucht. Dieses Latierre-Mädchen ist eine sehr brauchbare Gefährtin für jemanden wie ihn, der bereits Angst und Hilflosigkeit kosten mußte. Und was Medea über den Kampf gegen die Macht des Emporkömmlings erzählt hat, wie ihn Aurora Dawns Bild-Ich widergab, so spricht das auch für diese These, daß beide einander gut ergänzen."

"Du würdest deinen französischen Gesinnungsschwestern wohl gerne raten, diese Mildred Latierre für euch zu gewinnen, nicht wahr?"

"Sie schreibt sich M-i-l-d-r-i-d, Großmutter Eileithyia. Eine seltene, aber doch vorkommende schreibweise. Und ja, ich würde sie gerne einladen, unsere Schwester zu werden. Aber ich weiß, daß sie gerade uns entschlossenen ablehnt, gerade wegen Sardonia und ihrer baldigen Ex-Nichte." Sie legte sich vorsorglich die Hand auf den nun doch immer deutlicher hervortretenden Bauch. Doch Anthelia schien wirklich zu schlafen. Denn das sie durchaus schon verstand, was Daianira sagte, hatte diese durch heimliche Experimente mit kalten Getränken und bestimmten Speisen herausbekommen.

"Sie steht also gegen den Weg, den du, Nimoe und die anderen ungeduldigen Verfolgen? Macht sie das in deinen Augen zu einer uns Schwestern feindlich gesinnten Hexe?"

"Sie wird wohl ohne eine Zugehörigkeit zu einer unserer Gruppen durchs Leben gehen, Oma Thyia", knurrte Daianira. jetzt regte sich Anthelia. Sie drückte ihren Fuß knapp unter den Bauchnabel Daianiras.

"Ich weiß daß du das nicht magst, wenn ich mich ärgere, kleines", grummelte Daianira. "Also ärger mich nicht noch zusetzlich."

"Zurück zu diesem Julius. Wie heißt er denn jetzt eigentlich?"

"Früher Andrews. jetz wohl Latierre. Er hat doch wirklich ... Ich merk's du bist jetzt wach", grummelte Daianira. "Die beiden haben wohl den Matrimonium-Ante-Maturam-Status erworben, sind wohl im Ehebett ihrer Eltern erwischt worden. Ist meiner nichte auch schon passiert und Brrrps!" Daianira mußte unvorhergesehen aufstoßen. Dann war ruhe. "So, sie hat sich wieder sortiert. Passiert häufiger, wenn sie geschlafen hat und dadurch verknäuelt wurde, sagt Leda."

"Was hat Anthelia an diesem Burschen fasziniert", mentiloquierte Thyia ihrer Enkelin. "Nur in Gedanken antworten, bitte!"

"Das er Ruster-Simonowsky-Zauberer ist. Womöglich war ihr das neu, Oma Thyia", erwiderte Daianira in Gedanken. Dann sagte sie laut: "Jedenfalls hat diese auf gute und reichliche Nachkommenschaft stolze Hexe den Jungen jetzt wohl als Stammbaumveredeler sicher. Wenn dabei doch die eine oder andere Mitschwester für uns herausspringt sei es ihm gegönnt."

"Ich stelle mir das gerade bildlich vor, wie sie herausspringen", kicherte Eileithyia. Daianira verzog das Gesicht. Dann dachte sie, daß das die überflüssige Quälerei ersparen würde. Laut sagte sie: "Du bist immer in deinem Element, wenn du Umstandshexen und Babys um dich hast. Aber ich verspreche dir, dieses Kind wird mein erstes und einziges sein."

"Sag das mal lieber nicht zu früh. In deinem jungen alter könntest du in VDS vielleicht noch zur Mora-Vingate-Party gehen."

"Zum glück ist die Alterslinie nicht auf die körperliche, sondern geistige Zeitempfindung festgelegt. Und ich habe mein Leben nicht vergessen."

"Da kannst du von Glück sprechen, Kind", erwiderte Eileithyia. "Wenn es nicht Infanticorpore sondern ein vollständiger Verjüngungszauber gewesen wäre, wärest du vielleicht mit den Lebenserfahrungen einer Dreizehnjährigen im Körper einer Dreißigjährigen erwacht, zwar ohne Anthelias geistige Regeneration erwarten zu müssen, jedoch mit Körper und Umständen überfordert."

"Ich bin mit Anthelia bestimmt einer Meinung, daß es ein schwerer Fehler war, mir den Infanticorpore-Fluch aufhalsen zu wollen."

"Dann nutze die Gelegenheit, aus dem Fehlschlag einen Erfolg zu machen, Daianira!" Sagte Eileithyia. "Ich muß gleich zurück in die HPK, weil eine Muggelstämmige die große Panik hat, weil sie ihr erstes Kind bekommen wird. Das betreue ich persönlich. Gib nun gut auf dich Acht und lasse dich nicht von Kreaturen wie Nyx oder dieser Valery zu neuen Husarenstücken verleiten!"

"Dieses Monstrum Valery muß von der Erdoberfläche verschwinden. Sonst sind wir alle verloren", schnarrte Daianira. Ein leichtes, zweifaches Stupsen Anthelias zeigte der Enkelin Eileithyia Greensporns, daß ihre werdende Tochter ihr da wohl zustimmte. Daianira überlegte schon, ob Anthelia mentiloquieren könnte. Immerhin waren jetzt alle körperlichen Voraussetzungen dafür angelegt. Doch womöglich würde sie, Daianira, alle nach außen fließenden Gedanken unbewußt abblocken. Vielleicht solte sie sich noch einmal mit Peggy und Larissa unterhalten. Doch Larissa machte ganz auf Kleinkind, wenn Besuch da war. Außerdem würde sie wohl kaum über etwas reden wollen, was sie als ihr größtes Geheimnis ansehen mußte.

Daianira kehrte per Apparition zurück in ihr geheimes Wohnhaus, wo Leda schon wartete.

"Dieser Volakin hat offen den russischen Zaubereiminister bedroht, Daianira. Er behauptet von sich, er habe Nyx vernichtet."

"Vernichtet? Ich hörte was, daß er sie gefangengenommen und eingekerkert habe", erwiderte Daianira. "Na ja, wenn das stimmt, ist sie momentan genauso machtlos als wenn sie endgültig vernichtet worden wäre. Jetzt haben wir es mit diesem blauen Vampir zu tun, und mit dieser Valerie."

"Die ist nicht unverwundbar", knurrte Leda Greensporn. Sie wollte es nicht glauben, daß die unbeherrschbare Entomanthropenkönigin durch nichts zu vernichten war.

"Im Moment wohl doch", erwiderte Daianira. "Deshalb mußte ich ja die meisten Entomanthropen herüberholen, auch wenn ich mir dein Gezeter deshalb anhören mußte."

"Ich sehe es langsam ein, daß wir diese Valery nur mit den eigenen Artgenossen zurückschlagen können. Doch was willst du gegen diesen Volakin tun?"

"Volakin sonnt sich sprichwörtlich darin, daß er durch etwas gegen Sonnenstrahlen gefeit ist. Wie sieht das mit den anderen Schwächen aus?"

"Ich fürchte, du wirst das nicht herausfinden, indem du hierbleibst. Und ich lasse dich mit der Kleinen im Bauch nicht gegen diesen Mutanten kämpfen."

"Mutant? Heißen so nicht Lebewesen, die durch einen Einfluß andere Merkmale oder Geistesgaben zeigen?"

"Gilt sowohl für die konzipierten wie postnatal mit einem Einfluß konfrontierten Wesen. Wann war das mit dieser Veränderung von Volakin?"

"Angeblich irgendwann im Mai 1986. - Ey, nicht so wild treten. Ich bin kein Expander.""

"Vielleicht möchte deine Kleine uns damit nur zeigen, daß das ein wichtiger Anhaltspunkt ist. Moment, da war doch was im April." Leda apportierte ein Buch, ein Verzeichnis relevanter Vorkommnisse der Heilmagie, Ausgabe 1985-1990. Sie las das Inhaltsverzeichnis und blätterte dann eine Seite auf. Sie las laut und dachte, daß die kleine Thalia Hemlock es wohl auch hören mochte.

"... erwies sich die Katastrophe von Resting Rock im frühen April 1986 im Nachhinein als sehr hilfreich, um auf die von Muggeln ausgelöste Umweltkatastrophe in der Ukraine vorbereitet zu sein. Im ukrainischen Tschernobyl überhitzte sich am 26. April einer der vier dort errichteten Atomfeueröfen und führte zur Explosion. Mit Radioaktivität behaftete Asche trieb in einer großen Wolke um die Erde und beeinträchtigte die gesunde Entwicklung von Pflanze, Tier und Mensch. Durch die erarbeiteten Untersuchungs- und Therapieverfahren von Herbregis, Dawn und Vineyard, sowie später ergänzt durch den jungen Heiler Timothy Preston, vermögen Zauberer und Hexen heute gegen die Auswirkungen dieser Strahlung behandelt zu werden. Studien, denen nach eine Auswirkung dieser Strahlungsformen auf magische Tierwesen und Pflanzen besitzt, wurden bisher nicht erhoben oder sind zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht veröffentlichungsreif."

"Mit anderen Worten, dieses Ungeheuer existiert auf Grund von Muggeln angerichteter Verunreinigungen?" Fragte Daianira und erhielt einen beipflichtenden Stupser von innen.

"Das ist die einzige passende Herleitung, Daianira. Dann sehen wir doch mal nach, was gegen diese Strahlung getan werden kann."

"Ich vermute jetzt, daß Volakin regelrecht umgedreht wurde. Zwar kann er wohl nachts umherwandeln, ist aber eher ein Tagesvampir."

"Und es steht zu vermuten, daß er von dieser Verseuchung Kraft erwirbt und daher davon abhängig sein kann", vermutete Leda.

"Dann müßten wir ihm diese Kraft nur entziehen", schnaubte Daianira.

"Wahrscheinlich kann er sich nur noch von Blut damit verseuchter und erkrankter Menschen und Tiere ernähren", erwiderte Leda. "Dann könnte er noch gefährlicher werden, wenn der Vorrat an entsprechendem Blut versiegt."

"Inwiefern?" Fragte Daianira.

"Indem er die Muggel dazu zwingt, sich mit dieser Strahlung zu belasten, um genug neues Futter zu bekommen, so wie wir Schweine und Kaninchen mästen oder Pflanzen Düngen, um sie für uns ertragreich zu machen."

"Dann wäre es vielleicht nicht ganz abwegig, wenn wir jemanden beauftragen, diesen Volakin zu stoppen."

"Nyx hat dies schon probiert", erinnerte sie Leda. "Denn anders läßt sich Volakins Geprahle, sie besiegt zu haben nicht erklären."

"Das wird wohl eine bittere Schmach für sie sein", grummelte Daianira.

"Dafür haben wir jetzt das Problem mit diesem Volakin", seufzte Leda.

"Spricht da jetzt die Heilerin oder die Entschlossene aus dir, Leda?"

"Beide, Daianira. Als Heilerin kann, darf und will ich nicht zulassen, wie diese Strahlenkrankmacher in der Muggelwelt von Volakin vorangetrieben werden. Als entschlossene Schwester will ich verhindern, daß wir durch die Erfindungen der Muggel nachhaltig gefährdet werden. Dann hätte die Geheimhaltung keinen Sinn mehr." Daianira mußte ihr zustimmen.

Anthelia bekam das meiste mit und wollte Daianira gerne warnen, daß der Gürtel nicht gegen diese Strahlung schützte. Doch einerseits wollte sie ohne Medaillon-Kontakt nicht mit Daianira kommunizieren, da diese nicht erfahren durfte, daß Anthelia bereits erfolgreich mit Patricia Straton kommuniziert hatte. Andererseits hätte sie dann preisgeben müssen, einen Kundschafter in der Muggelwelt zu haben. Wer wußte schon, ob sie das nicht nach dem erfolgreichen zweiten Durchgang des Sanctuamater-Zaubers tat. Doch bis dahin wollte sie ihren eigentlichen Plan umsetzen. So überließ sie die beiden Hexen ihrer Unterhaltung und dachte daran, wie sie weiter vorgehen sollte. Erst als Daianira aufstand und Anthelia sichtlich schaukelte, kehrten ihre Gedanken aus der Zukunft in die unmittelbare Gegenwart zurück.

"Wir müssen etwas vorbereiten, was diesen Volakin schwächen oder vernichten kann", hörte sie Daianiras Stimme zu irgendwem sagen. "Seine Kraft kommt aus der unsichtbaren Strahlung aus den Atomfeueröfen der Muggel oder Fundstätten von strahlendem Erz. Wo befinden sich auf der Welt solche Plätze?"

Ich werde dir eine Liste zukommen lassen. Was macht das Kleine?"

"Es regt sich noch. Also habe ich es weder verhungern lassen noch erdrückt", schnarrte Daianira. Anthelia hätte zu gerne gesehen, mit wem sie da sprach. Es war auf jeden Fall eine Frau. Wenige Minuten später sagte die Stimme außerhalb Daianiras: "Arcadis Leute sind auch schon dran an der Sache."

"Dann lassen wir ihm den Spaß", knurrte Daianira leicht verbittert. Dann wurde Anthelia wieder durchgeschaukelt.

"Schwester Marga wird uns helfen, die Nachricht weiterzugeben. Es war schon richtig, das Portrait von ihr hierher zu holen."

"Marga Eisenhut?" Anthelia hatte die Stimme nicht genau erkennen können. Doch es erschien ihr logisch. Jetzt, wo sie die Geschicke der Spinne nicht weiterführen konnte, hängten sich die früheren Mitschwestern wieder an die, die ihnen vorher schon einen Weg der Hexen zeigen wollten. Die einzige, die von diesem Wechselfieber verschont blieb war Patricia Straton. Andererseits verschaffte ihr die Erkenntnis, daß die meisten ihrer früheren Mitschwestern sich reumütig ihren früheren Stuhlmeisterinnen anschlossen, den perfekten Boden für ihren Schlag, mit dem sie sich und Daianira auslöschen wollte.

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Ihr Hofstaat war schon recht ansehnlich, fand Valery Saunders. Lolita, Milton, die Grinders und dieser O'Sullivan waren wirklich wie ein kleines Kabinett, daß ihre Angelegenheiten sorgsam verwaltete, während sie in den Elendsvierteln Südamerikas weitere Menschenbeute machte. Sie hatte ein Ziel. Bis zum Juli wollte sie bis zu einhunderttausend geflügelte Kinder haben. Dieses Weib, das ihr dieses vergiftete Ding in den Mund geworfen hatte versteckte sich wohl noch. Aber sie würde es schon kriegen. Dreißig Kinder hatte sie mit einem Schlag verloren. Ihre Drohung, für jedes getötete Kind zwei von denen zu töten mußte jetzt umgesetzt werden.

Am siebzehnten März berichteten ihr Lolita und Marisa, die immer mal wieder von ihr in die vereinigten Staaten getragen wurden, um dort Nachschub an Rindern und Schweinen zu organisieren, daß dieser Wishbone alle seine Leute mit diesen Zersetzungsscheiben ausgestattet habe. Eine gewisse Daianira hatte ihm verraten, daß man auch sie, Königin Valery I., damit vernichten könne. So hieß die also, dachte Valery. "Dann soll mir dieser Wishbone diese Hure rausrücken, wenn er noch Minister genannt werden will. Oder besser, er soll mir sagen, wo ich die finden kann. Dann kann ich die alleine erledigen."

"Irgendwer weiß, wie wir heißen", sagte Lolita. "Jedesmal, wenn ich mit Marisa bei den Gringos bin, tastet uns sowas komisches ab. Und dann versucht wer, uns zu rufen."

"Hat mir O'Sullivan auch schon erzählt", teilte Valery mit ihrer den Schwarm zusammenhaltenden Duftsprache mit. "Aber da ihr jetzt andere Namen tragt, kann euch das nichts. Außerdem seid ihr meine Kinder und damit nicht von diesem Mumpitz zu behexen."

"Ja, aber mit diesem grünen Licht, das dieser Kerl gemacht hat, der uns in diesem Cloudy Canyon bekämpft hat, wo wir versucht haben, die alle einzufangen."

"Die sind immer zu schnell in ihrem Bunker. Aber wenn ich weiß, wo der ist, dann sammeln wir die ein wie frisches Fallobst", erwiderte Valery.

So kam es dann drei Tage später, daß Valery mit zwanzig ihrer Kinder in die Nähe der kleinen Siedlung wechselte. Sie schickte zehn von ihnen aus. Die anderen sollten hier warten. Dann holte sie noch einmal zwanzig. Falls die alle starben hatte sie schon genug Eier auf Vorrat gelegt. Wieder einmal verkrochen sich diese Hexen und Zauberer in ihrem Bunker, der auch ein Sportstadion sein sollte, wo die mit ihren Besen herumflitzten. Der Sinn und Zweck war ja nur, diesen zu finden.

Sie flogen hinein in die Siedlung Cloudy Canyon. Sofort tauchten auf Besen fliegende Gegner auf und griffen mit ihren grünen Zauberblitzen an. Dabei starben zwanzig ihrer gewöhnlichen Kinder. Lolita und Marisa suchten derweil jenes geheime, unterirdische Stadion. Nach einer wilden Schlacht, bei der fünf Zauberer und fünfunddreißig gewöhnliche Krieger aus Valerys Volk ihr Leben gelassen hatten, vermeldete Lolita, daß sie den Hohlraum ausgemacht hatte. Valery überließ die anderen ohne menschlichen Geist belebten Kinder ihrem Tod und holte stattdessen mit Lolita und Marisa zehn neue Krieger.

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Kettlebottom, der oberste Dorfrat von Cludy Canyon, wähnte sich sicher. Die Abwehrtruppe war schon dabei, die Angreifer abzuwehren. Sie hörten alle das Gebrumm der über ihnen schwärmenden Entomanthropen, das immer leiser wurde.

"Sie will sich rächen, weil sie in VDS so gründlich beharkt worden ist", sagte Kettlebottom zu seinem Sicherheitskollegen.

"Tja, es ist nun einmal ein hauptsächlich instinktgesteuertes Monster, das nicht versteht, daß wir es zurückschlagen konnten und jetzt meint ..." Bums! Wie von einer dicken Kanone verursacht krachte es ohrenbetäubend im unterirdischen Quidditschstadion. Blitze zuckten durch die Luft, während sich etwas materialisierte, das seit Monaten zum schlimmsten Alptraum aller Hexen und Zauberer geworden war. Über dem Spielfeld brummte die fünf Meter große Kreatur, die einer vielhundertfach vergrößerten Bienenkönigin ähnelte. An ihr hingen zehn ihrer abscheulichen Sprößlinge, die unvermittelt in das weite Oval des Stadions ausschwärmten.

"Habt ihr Zauberstabtrickser echt gedacht, mich von hier wegzuhalten?!"" Rief die monströse Mutter der Unheimlichen, die nun auf die in heller Panik aufschreienden niederfuhren wie Greifvögel. "Dreißig von meinen Kindern konnten nicht einmal schlüpfen, da wurden sie von euch umgebracht. Und fünfzig von meinen anderen Kindern habt ihr umgebracht, obwohl ich diesem Wishbone geschrieben habe, daß das jedesmal zwei von euren Kindern kostet, wenn ihr eins von meinen abmurkst. Zahltag!"

Avada Kedavra!" Riefen mehrere Zauberer. Andere versuchten, zu disapparieren. Doch das gelang nicht, weil mit Schließen der Tür jedes Apparieren unterbunden wurde, zumindest was Hexen und Zauberer anging. Kinder schrien mit Frauen und Mädchen um die Wette. Männer brüllten vor ohnmächtiger Wut und schleuderten Zauber auf die Angreifer, die sich wie niederstoßende Vögel aus dem aufgescheuchten Haufen der Dorfbbewohner ihre Beute herauspickten und sie Valery zuwarfen, die sie mit ihren Armen ergriff und dann mit lautem Knall disapparierte, um mit neuen ihrer Abkömmlinge zurückzukommen. Kettlebottom stand da wie vom Donner gerührt. Diese Bestie konnte durch den Schutz hinein und heraus. Seine Mitbürger hielten dagegen und holten welche von den geflügelten Monstern aus der Luft. Doch wenn die Tür zublieb konnten sie nicht entkommen. So öffnete er die Tür.

Linus Brocklehurst stieß Fluch um Fluch aus. Seine Eltern hatten versucht, zu disapparieren. Doch der Wall hielt sie zurück. Sie stürzten zu Boden. "Stupor!" Rief er. Eines der Monster bekam den Schocker zwar ab, ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken. Es sauste auf ihn zu, während er ihm einen Eisspeer entgegenschickte. Dieser krachte dem Monster zwischen die haarigen Fühler. Es prallte mit Wucht auf Linus' Vater auf. Er sah dieses Riesenbiest über ihm herabgleiten, aus der Menge der hier versammelten Kinder auffangen. Dieses Monster würde die alle umbringen oder zu ihren Abkömmlingen machen. Gleiches drohte auch ihm. Er versuchte den Todesfluch mit ganzem Willen, dieses Biest zu töten. "Avada Kedavra!" Rief er. Tatsächlich löste sich ein gleißender grüner Blitz aus dem Zauberstab und sirrte unheilträchtig auf die Brutkönigin zu. Doch wie schon häufig zuvor prallte der Fluch auf ihren Panzer und zerstob.

"Damit bin ich nicht zu töten, Jungchen. Her mit dir!"

"Komm schon her und werde mein Bruder", tönte eine Frauenstimme von hinten. Linus warf sich hin, wohl wissend, daß er sich damit noch besser anbot. Doch die geflügelte Kreatur mit dem schwarzhaarigen Frauenkopf surrte über ihn weg und krachte in Linus' Eltern, die versuchten, sie abzuwehren. Das Ungetüm mit dem schwarzen Schopf riß die beiden hoch und warf sie seiner Königin zu. Linus schrie auf, als er sah, wie die beiden auf die Mutter dieser Monster zuflogen. Sein Vater stieß seinen erhobenen Zauberstab vor und rief ebenfalls den Todesfluch auf, der dem Scheusal in den zu einem schadenfrohen Grinsen geöffneten Mund hineinfuhr. Das Ungeheuer erzitterte und verlor für einen Moment die Balance. das reichte, um die auf sie zugeworfenen Brocklehurrsts zu verfehlen. Doch dieses Biest mit dem schwarzen Frauenschädel surrte laut dröhnend mit zwei anderen auf die nun herabstürzenden Eheleute zu. Linus sprang auf und hob den Zauberstab an. ""Avada Kedavra!" Rief er voller Inbrunst. Er zielte auf die Abscheulichkeit, die gerade seinen Vater zu fassen bekam und ihn in dem Moment vor ihr Gesicht riß, als der grüne Blitz auf sie zubrauste. Linus erstarrte, als er sah, wie sein Todesfluch seinen Vater am Kopf traf. Schlagartig versagten ihm die Beine. Er ließ seinen Zauberstab fallen und fiel zu Boden. Die Welt war auf einmal nur noch ein laut dröhnendes, weit entferntes Ding ohne Bedeutung. Alle Schreie, alle Rufe waren ein einziges, lautstarkes Chaos ohne Sinn und Wert. Er sah nur seinen Vater vor sich, wie der ihn anlächelte, wie er ihn ausschimpfte und ermutigte, und dann den im grünen Licht des Todesfluches aufleuchtenden Kopf. Linus hatte dieses Monster treffen wollen und seinen eigenen Vater getroffen. Das wollte er nicht. Er hatte seinen Vater umgebracht, mit seiner eigenen Magie. Er hörte die verderblichen Wörter aus dem Haufen der zum Kampf entschlossenen. Linus fühlte sich so elend, erbärmlich und hilflos.

Dann ploppte es immer wieder, krachte und knallte. Das waren Apparatoren. Doch was sollte es noch? Er hörte auch das Knistern, Zischen und wummern von Feuerzaubern, die auslösenden Wörter und das Sirren des Todesfluches. Jedesmal fühlte er einen schmerzhaften Stich ins Herz. Sein Vater war tot, durch ihn selbst umgekommen. Warum machten ihm diese Bestien kein Ende? Er hatte das doch verdient. Von einem Irrsinnsanfall getrieben sprang er auf, wedelte mit den Armen und schrie: "Hey, ihr feigen Monster! Nehmt mich doch, ihr Biester!"

"Dann komm her, Cariño!" Rief dieses Monsterweib, das er eigentlich hatte treffen wollen. Sie flog auf ihn zu. Da sah er seine mutter vor sich apparieren. Er fühlte, wie sie ihn am linken Arm packte und dann mit sich in die Disapparition zerrte. Die schwarzhaarige Tochter der Brutkönigin stieß ins Leere und prallte auf den Boden. Viele Hexen und Zauberer flüchteten. Sie hatten wohl zehn oder fünfzehn herausgefangen. Und jetzt flohen die alle, und dieser Bursche, der sie mit dem grünen Blitz abzuschießen versucht hatte, hatte einen von seinen eigenen Leuten erwischt.

Valery Saunders und ihre verbliebenen Entomanthropen konnten noch vier Gefangene machen, darunter Kettlebottom, der todesverachtend sieben von Valerys Kindern abgeschossen hatte. Dann verschwand auch sie endgültig aus dem Stadion. Hier würde wohl so schnell kein Quodpot mehr gespielt. Entomanthropenleichen lagen auf dem Boden. Zwischenihnen lag ein verlorener Zauberstab, mit dem ein Sohn ganz ohne Absicht das Leben seines Vaters ausgelöscht hatte.

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"Ich habe ihn umgebracht, Mom!Ich habe Dad umgebracht!" Schrie Linus Brocklehurst, als seine Mutter mit ihm im Foyer der Honestus-Powell-Klinik eintraf. Die Notfallheiler waren bereits über den neuen, diesmal gravierend verlaufenen Überfall auf Cloudy Canyon informiert worden. Eine Heilerin im sonnengelben Umhang mit den wie zusammengedrehte Kräuter wirkenden Goldbuchstaben HPK auf dem Brustteil trat hinzu und sprach leise auf Mrs. Brocklehurst ein.

"Mein Sohn wollte meinen mann vor einem dieser Monster schützen. Doch das hat den wie einen Schild vor sich gerissen. Ich habe das gesehen. Er wollte ihn nicht töten", sagte Mrs. Brocklehurst der Heilerin, die sich als Ireen Barnickle vorstellte.

"Dann bringe ich ihn auch in die Schockabteilung. Wir haben schon fünfzehn Leute aus Ihrer Gemeinde aufgenommen, die den Schrecken nicht verdauen konnten."

"Sie sind aber keine aus den Staaten", sagte Mrs. Brocklehurst, während ihr Sohn Linus wimmernd und schluchzend am Boden lag.

"Ich bin eine australische Austauschheilerin, Madam. Bin eigentlich nur für ein Jahr hier, um die Methoden hier zu studieren, während eine Kollegin in der Sana-Novodies-Klinik arbeitet. Aber jetzt erst zu Ihrem Sohn", sagte die Heilerin freundlich und belegte Linus mit einem Beruhigungszauber, bevor sie ihn auf einer Trage in die Abteilung für schwere Schocks und magische Geistesschädigungen brachte. Seine Mutter folgte der Heilerin und ihm, um die Aufnahmeformalitäten zu erledigen. Am liebsten würde sie gleich hierbleiben. Denn nun, wo sie alle Entschlossenheit und Geistesstärke aufgeboten hatte, ihren wie wahnsinnig um seinen Tod rufenden Sohn hierher geschafft hatte, fühlte sie, wie die schrecklichen Erlebnisse der letzten Viertelstunde über ihr zusammenzustürzen drohten. Doch noch mußte sie stark genug sein, um ihrenSohn sicher unterzubringen. Zumindest wußte sie eines. Cloudy Canyon war im Moment nicht mehr der Ort, an den sie zurückkehren wollte. Sie hatte noch ein paar Verwandte in New Orleans. Zu denen würde sie wohl hinziehen, wenn sie und Linus hier wieder heraus waren. Sie fühlte ohnmächtige Wut auf die Hexe, die allen Meldungen nach dieses Monstrum auf die Welt losgelassen hatte. Aber sie empfand auch Verachtung für Wishbone, weil der ihnen allen erzählt hatte, daß unter seiner Führung keine dunkle Kreatur mehr die Staaten heimsuchen würde. Dem würde sie demnächst einen Heuler zuschicken. Mit dieser Absicht im Kopf schaffte sie es, die ersten Maßnahmen zur Behandlung ihres Sohnes in ihr Gehirn aufzunehmen, bevor sie darum bat, auch für sie ein Bett vorzubereiten.

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Wishbone fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen, als er erfuhr, daß diese Riesenbiene immer noch in den Staaten zuschlug. Er wußte nicht, wohin mit seiner Wut und Hilflosigkeit, als er hörte, daß es auch durch die Apparierwälle im Quodpotstadion gedrungen und mindestens zwanzig Leute von dort entführt hatte, bevor Kettlebottom die Türen geöffnet und den Schutzwall damit unterbrochen hatte, so daß die Mehrheit der Bewohner flüchten und sich weit ab von Cloudy Canyon retten konnte. Das Dorf war nun komplett entvölkert.

"Wie ist diesem Monstrum beizukommen?" Fragte er Reny, die schwarz-goldene Katze, die mal wieder auf seinem Schreibtisch lag.

"Einer muß wohl eine Sprengladung in sie hineinbringen und zünden", hörte er eine Gedankenstimme in seinem Kopf.

"Das werde dann wohl ich sein, wenn ich weiß, wo sie wieder zuschlägt", schickte Wishbone zurück.

"Ganz bestimmt nicht, Lucky", schnarrte die Katze nun mit ihrer körperlichen Stimme. "Da schicken wir ein Pulk Hauselfen für hin."

"Runter von meinem Tisch!" Schnaubte der Zaubereiminister. "Du machst das nicht", hörte er die eindringliche Gedankenstimme seiner Tante. "Wir schicken zehn Hauselfen aus, wenn dieses Ungetüm wieder irgendwo angreift. Die sollen auf Magensäure reagierenden Sprengstoff mitnehmen. Hast du gehört. Du machst das nicht."

"Ich sagte, runter von meinem Tisch, du Mistvieh!" Brüllte Wishbone und hieb nach der Katze, die mit einer reflexartigen Rolle vom Tisch herab war und fauchend auf dem Boden landete. Im nächsten Moment sprang sie ihm auf die Schulter und hieb ihm die rechte Vorderpfote mit ausgefahrenen Krallen über die rechte Wange. "Wag nie wieder, nach mir zu schlagen, Lucky!"

"Autsch! Du Mistvieh!" Schrie Wishbone. "Ist nicht schon genug, daß dieses Bienenmonstrum mir den ganzen Tag und wohl das restliche Leben versaut, jetzt du auch noch."

"Du hast mich nicht zu schlagen, nur weil dir dieses Monster auf der Nase herumtanzt. Wir kriegen die schon an der Wand zermatscht, Lucky. Wir müssen nur rauskriegen, wo sie sich immer verkriecht. Bis dahin mußt du Ruhe bewahren. Du mußt diesen Kampf leiten. Aber von einem Selbstmordversuch hat keiner was."

"Entschuldigung, Reny. Ich war neben der Spur. Könnte nur sein, daß jetzt alle auf mich eindreschen."

"Dann sage denen, sie sollen diese Anthelia oder wie sich die Sardonianerin genannt hat dafür verantwortlich machen!" Fauchte die Katze.

"Das wissen die alle. Aber von mir erwarten sie, daß ich sie beschütze. Ich habe denen erzählt, daß ich keine Übergriffe von dunklen Wesen mehr zulassen werde. Und jetzt dieses Ungeheuer, das zuschlägt und verschwindet wie es will. Kein Wall kann die aufhalten. Der Todesfluch prallt ab, und auch Decompositus macht nur ihre ungelegten Eier kaputt. Die macht aus Hexen und Zauberer ihre eigenen Kinder und behält dafür deren Zauberkraft. Das mit dem Sprengstoff ist die letzte Möglichkeit."

"Dann leier das an, bevor die meinen, dir Heuler und sonstige Nettigkeiten zuschicken zu müssen!" Maunzte die schwarz-goldene Katze.

"Ich lasse mir bestimmt keine Befehle von einer Katze geben", brummelte Wishbone. Dann fiel ihm auf, daß er die fünf Kratzwunden an seiner Wange besser kurieren sollte. Er sagte: "Wenn die mir Heuler schicken fallen dir die Ohren ab. Ist vielleicht besser, wenn du eine Weile weit von mir weg bist."

"Nur wenn du mir den unbrechbaren Eid schwörst, dich nicht als Köder für dieses Monstrum anzubieten", hörte er die Gedankenstimme seiner Tante Tracy. Er überlegte. Sie meinte es todernst. Sie hatte ihm schon gedroht, ihn in was leicht versteckbares zu verwandeln oder sonst was unangenehmes mit ihm anzustellen, um sicherzustellen, daß er ihr nicht verlorenging. So ging er darauf ein. Im privaten Schlafzimmer des Ministers vollzogseine heimliche Geliebte, die die Schwester seiner Mutter war, mit ihm den unbrechbaren Eid, wobei sie seine Zauberstabhand mit ihrer linken hielt und die verbindungszauber dachte, die seine und ihre Hand wie feurige Schlangen umschlossen. Damit war der Minister zwar gebunden. Allein der Versuch, sich der Bestie als Köder anzubieten, würde ihn töten, bevor dieses Scheusal in seiner Nähe war. Tracy behandelte dann noch die von ihrer Animagus-Form verursachte Verletzung. Dann kehrten Lucas Wishbone und seine eigenwillige Hauskatze Reny in das Arbeitszimmer des Ministers zurück.

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"Wie, Nyx ist gefangen? Wie kommt das denn? Die war doch übermächtig!" Hörte Zachary Alexis' Stimme aus dem Salon mit dem Kamin. Er beendete gerade eine E-Mail an Martha, in der er ihr von der Lage in den Staaten schrieb. Er sicherte die Nachricht und ging hinüber in den Salon, wo Alexis mit Elysius Davidson sprach, dem Leiter des Laveau-Institutes.

"Also wir haben gesicherte Erkenntnisse, daß ein Vampir namens Volakin versucht, den Anspruch auf die Führung aller Nachtkinder durchzusetzen. Unsere Spione bei den Hellmondlern haben uns angstvoll berichtet, wie er andauernd versucht, die ihm wertvollsten auf seine Seite zu ziehen. Dieser Volakin droht damit, alle mit seinem Blut zu tränken, das anscheinend für Vampire hochgiftig ist. Jedenfalls behauptet er, Nyx mit seiner Macht so heftig getroffen zu haben, daß sie von ihrem Kleinod in dessen Substanz verwandelt worden sein soll."

"Das wäre es doch", knurrte Zachary. Alexis räusperte sich, weil er nicht ordentlich gegrüßt hatte. Das holte er nach.

"Wir wissen daß sie vor allem hinter ihnen her war. Ich hoffe, sie kann Ihnen nichts mehr anhaben, und sie können in Ihr Haus zurück."

"Das will ich amtlich haben. Zaubereiminister Wishbone möchte bitte seinem russischen Kollegen fragen, ob das irgendwie nachzuprüfen ist. Dieser Volakin soll ja sowas wie ein Sonderfall unter den Vampiren sein."

"Eindeutig", erwiderte Davidson. zachary erinnerte sich an die Gespräche mit den Ross' über mögliche Widersacher der Vampirin. Volakin war demnach vor zwölf Jahren durch etwas gravierend umgewandelt worden. Er lebte zu der Zeit in der Ukraine. Zach und John hatten die Vermutung, daß der verheerende Atomunfall in Tschernobyl etwas damit zu tun haben mochte. Wenn Volakin aus Versehen das Blut eines verstrahlten Menschen getrunken hatte, konnte das zu bis dahin unbekannten Nachgeburtsveränderungen geführt haben, die Volakin auch hätten töten können. Jetzt suhlte der Blutsauger sich in der Machtphantasie, daß er allen anderen überlegen war, weil er angeblich oder wahrhaftig ohne jeden Zusatz gegen Sonnenstrahlung immun war. Doch das sollten bitte schön andere klären. So verblieben sie, daß Zachary erst wieder in die freie Außenwelt zurückkehren würde, wenn geklärt war, daß Nyx wirklich entmachtet war.

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Pina Watermelon war genervt, weil Olivia ihr immer wieder erzählte, daß sie gerne wieder nach Hogwarts zu Adrian wollte. Dann hatte Prudence angefangen, sich komisch zu benehmen, mal mißgelaunt und dann wieder total fröhlich. Der große Hammer war dann am Abend gekommen, als Patience Moonriver verkündet hatte, daß Prudence nun schon sechs Wochen schwanger sei. Ihr Cousin Mike hatte sich als Vater dieses Kindes zu erkennen gegeben. Das alles schrieb Pina in ihr Tagebuch und beendete den Eintrag des siebzehnten April mit den Worten:

Da soll noch mal wer sagen, hier in Whitesand Valley passiere nichts. Lynn Borrows trägt nun schon einen runden Bauch vor sich her, und Prue Whitesand wird wohl im Juni oder Juli so aussehen. Ob wir dann noch hier sind? Ich will aber kein Baby haben. Das habe ich beim Abendessen auch klar verkündet. Hier läuft niemand rum, von dem ich das kriegen will. Und der der in Frage käme, ist schon längst sicher vergeben. Mich tröstet nur, daß in Beauxbatons solche Sachen wie zwischen Onkel Ryan und Tante Gerty oder Mike und Prudence nicht erlaubt sind.

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Der zwanzigste April kam. Als Daianira erfuhr, daß Nyx offenbar entmachtet und irgendwie gefangengesetzt worden war, galt es nur noch, diese Valery Saunders zu erledigen. Sie ahnte nichts davon, was in ihrem Unterleib gerade ausgebrütet wurde.

Anthelia wartete. Die Zeit war für sie im Moment nicht klar meßbar. Sie konzentrierte sich zwar immer darauf, die Tage zu zählen. Doch welchen Tag sie genau hatten konnte sie so auch nicht bestimmen. Ihre Trägerin benahm sich gemäß der Vorschriften Ledas. Sie hatte nicht mit in den Kampf gegen Valery eingegriffen, weil die Gefahr, Wishbone erklären zu müssen, woher sie Anthelias Medaillon hatte, zu groß war. Sie hatte Patricia noch zweimal anmentiloquiert, um sich zu bedanken und um sie zu warnen, weil Daianira nun, wo Nyx erledigt war, die Herrschaft über alle sogenanten Entschlossenen anzutreten trachtete, nicht nur der in den Staaten. Sie teilte dann noch mit:

"Ich hoffe, ich überstehe den Zauber, sonst wird sie noch die Insel der wachenden Schwestern finden, wo meine Tante noch etwas verborgen hält."

"Eine Insel? Wo?"

"Südwestlich von Irland. Sie liegt unter Ortungsschutz. Aber das, was meine ehrwürdige Tante dort versteckt hat, kann nur eine Hexe berühren, die mehr als sechzig Jahre erlebt hat. Ich hoffe, ich entschlüpfe meiner Mutter, ohne sie darauf zu bringen. Richte es vorsorglich aus."

"Höchste Schwester, was ist es?" Anthelia vershloß ihren Geist wieder. Patricia sollte ruhig glauben, daß sie sich nicht mehr konzentrieren konnte. Leise gluckerte über ihr Daianiras Magen. Wieder hatte sie was dort hineingeschaufelt, um sich und sie satt und bei Kräften zu halten. Anthelia machte sachte Bewegungen mit ihren Armen und Beinen. Diese Eingeengtheit hier war ihr langsam zu viel. Es würde nicht viel fehlen, und sie würde mit Kopf, Armen und Beinen einen Ausgang freisprengen. Doch im Moment hoffte sie darauf, daß diese außergewöhnliche Gefangenschaft, zu der sie sich selbst verurteilt hatte, nicht mehr lange andauerte.

"Daianira, du solltest auch mehr trinken", klang Ledas Stimme zu ihr herein.

"Damit ich jede Viertelstunde austreten muß, Leda?" Fragte Daianira.

"Besser so, als wenn du an Wassermangel zu leiden beginnst. Die Vormilch wird bald ausgebildet, und die Fruchtwasserregeneration erfordert auch viel Flüssigkeitsaufnahme."

"Ich mach doch schon, was du sagst, werte Base", hörte Anthelia ihre lebende Einzelzelle sagen.

Anthelia hörte die Schluckgeräusche und das Gluckern. Daianira hatte sich also doch noch bereitgefunden, Wasser oder einen Vitamintrunk Ledas nachzutrinken. Dann ging es irgendwo in diesem Haus hin, und Anthelia fühlte, daß Daianira sich wohl hinlegte. Dann begann sie mit diesem verfluchten Zauber, mit dem Anthelia schon gerechnet hatte. Sie stemmte sich jedoch dagegen, entgegnete die Formeln mit passenden Gegengedanken und war froh, als nach fünf Minuten die Bezauberung vorbei war und sie doch noch klar denken konnte. Sie hoffte nur, daß Daianira dieses Manöver nicht mitten in der Nacht wiederholte. Aber der Sanctuamater-Zauber durfte nur einmal pro Trimenon ausgeführt werden, wußte Anthelia. Sonst konnte die Persönlichkeit des Kindes unrettbar in die andere Richtung ausschlagen. Und das wollte ihre unfreiwillige Trägerin dann wohl doch nicht. So konnte sie sich beruhigt zusammenrollen und noch warten. Patricia würde die Warnung wohl weitergeben. Vielleicht kannte sie dieses Eiland sogar schon von ihrer seligen Mutter. Bei diesem Gedanken stellte sich Anthelia Patricia vor, wie Pandora sie trug. Pandora war ja auch die erste gewesen, die Anthelia solange mit sich herumgetragen hatte, bis ein neuer Körper gefunden worden war. Also verdankte Daianira Pandora, daß sie jetzt Anthelia im Bauch hatte. Tochter zweier Mütter? Das auf jeden Fall, weil Nigrastra ja bereits Anthelias leibliche Mutter gewesen war. Und ob Daianira die große Ehre bekommen würde, Anthelias zweite Mutter zu werden, hing nicht zuletzt davon ab, wie viel Angst Anthelia ihren Mitschwestern machen konnte.

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"Danke, daß Sie mich empfangen, Gosbodin Prestonn", sagte Maximilian Arcadi, der russische Zaubereiminister. Er hatte sich schweren Herzens aus seinem Büro gewagt und die heimliche, keinem anderen gegenüber erwähnte Reise nach Südafrika gemacht, wo Timothy Preston mit seiner Frau Vivian und den beiden Kindern untergekommen war.

"Ich fühle mich geehrt, den Zaubereiminister von Rußland begrüßen und ihm eventuell helfen zu können", sagte Tim Preston. Er dachte kurz daran, daß das Treffen durch Vermittlung von Aurora Dawn und ihrer ukrainischen Kollegin Lara Bakunina zu Stande gekommen war. Es ging wohl um einen echten Atomvampir.

"Sie wurden von Heilerin Bakunina schon unterrichtet?" Fragte Maximilian Alexejewitsch Arcadi und blickte Timothy Preston fragend an.

"Mein Russisch ist weniger als wenig, Herr Minister. Ich mußte mir das übersetzen lassen. Meine Kollegin Dawn kann ja leider auch kein Russisch. Mal eine Frage vorweg: Das ehemalige Hoheitsgebiet des Zaren- und Sowjetreiches ist in Einzelstaaten zerfallen. Sie sind aber für die ehemaligen Sowjetländer immer noch zuständig?"

"Wir haben immer schon befunden, daß wir uns mit den politischen Angelegenheiten der Muggelwelt nicht zu heftig befassen", sagte Arcadi. "Als ich geboren wurde wurde der letzte Zar ermordet, und die nach ihm an die Macht kamen haben meine Heimat auch nicht gerade mit Samthandschuhen angefaßt. Deshalb haben wir das Zaubereiministerium immer noch zentralisiert, genau wie der britische Zaubereiminister auch für Irland zuständig ist und der französische für Monaco. Aber jetzt bitte zum Thema! Bei uns haust ein Blutsauger, der durch etwas, daß vor zwölf Jahren passiert ist, seinen Körper und sein Verhalten verändert hat. Er kann bei Sonnenlicht umherstreifen, von Feuer nicht verbrannt werden und besitzt eine uns bis vor kurzem unbegreifliche Ausstrahlung, die Lebewesen in seiner Umgebung beeinträchtigt. Von Lara, also Ihrer Heilerkollegin, weiß ich, daß es diese Atomarstrahlen sind, die ihm Kraft geben, ihn aber wohl auch abhängig halten. Denn wenn er Menschenblut braucht, sucht er heimlich Krankenhäuser heim, wo Patienten mit schweren Verstrahlungskrankheiten liegen."

"Stimmt, das konnte mein Übersetzer herauslesen, obwohl er noch nie was von Strahlungsarten und Strahlenkrankheiten gehört hat", seufzte Tim. Dann sagte er: "Über Vampirismus hat mein Jahrgangskamerad Fingal Deeproot einen Aufsatz geschrieben. Er führt an, daß Vampire durch die Erbeutung von Blut dessen Kraft oder Schwächen einsaugen können. Daher vermute ich, daß dieser gewisse Herr Volakin irgendwann kurz nach dem Unfall von Tschernobyl verseuchtes Blut getrunken hat. Das war - verzeihen Sie mir diese Metapher - eine Art russisches Roulette, nur daß er dabei nicht eine Kugel auf fünf leere Kammern sondern eine leere Kammer auf fünf geladene Kammern erwischt hat."

"Mir ist dieses lebensmüde Spiel einmal erklärt worden, Gosbodin Prestonn", erwiderte Arcadi wohlwollend lächelnd. "Er hat also das verseuchte Blut überlebt und wurde statt schwächer noch stärker."

"Richtig, weil dieses Blut ihm die Widerstandskraft gegen die Sonne verliehen hat. Tja, und jetzt wird er größenwahnsinnig, spätestens nachdem er selbst gegen diese Nyx gewonnen und sie irgendwie festgesetzt haben soll."

"Es hieß immer, daß der Stein alle Vampire kontrolliert. Wenn er zerstört würde, könnten sie hemmungslos zuschlagen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die meisten Vampire verfielen seit dieser Nachricht in eine Art Starre."

"Auch davon habe ich gehört. Sie scheinen einen Schock erlitten zu haben. Ob und wenn ja wie sie daraus wieder erwachen kann wohl jetzt keiner sagen. Aber dieser Volakin und seine Artgenossen laufen und fliegen noch herum?"

"Eindeutig. Gestern erst hat er wieder eines der Krankenhäuser heimgesucht. Leider war Lara nicht dort, um ihn zu hindern, vier Kinder zu beißen und leerzusaugen."

"Tschernobyl-Opfer?"

"Womöglich", bestätigte der russische Zaubereiminister halbherzig. "Aber was ich Sie fragen wollte: Wie kann diese Strahlenkraft unterbunden werden?"

"Sie kann im Wesentlichen nur abgeschirmt werden und nur langsame Kettenreaktionen können durch bestimmte Grundstoffe angehalten werden. Ansonsten müssen strahlende Stoffe gut verpackt und weit von Menschen fort gelagert werden."

"Sibirien zum Beispiel?" Fragte Arcadi. Tim Preston nickte bestätigend. Dann erklärte er dem russischen Zaubereiminister, wie bei den Muggeln die Strahlenbelastung verringert wurde und erklärte noch einmal, wie sein Trank gegen Kontamination wirkte. Er sagte dann noch, daß dieser jedoch die Nebenwirkung habe, großen Hunger zu machen und obendrein nicht so leicht in großen Mengen herzustellen sei. Arcadi nickte. Dann wollte er wissen, was er vorschlagen würde.

"Vielleicht ist der Kerl gegen Sonnenlicht immun. Aber fließendes Wasser und Eichenholz könnten ihm immer noch zusetzen. Vielleicht tut es bei ihm sogar Blei. Denn Blei gehört zu den Abschirmstoffen mit hohem Wirkungsgrad. Schon 1,1 Zentimeter dickes blei halbiert die durchkommende Strahlung. Die doppelte Dicke verringert sie auf ein Viertel. Daneben gilt, daß die Strahlenbelastung pro Oberflächeneinheit im Quadrat der Entfernung zur Strahlenquelle abnimmt."

"Sie haben Schutzanzüge erfunden?" Fragte Arcadi.

"Bleiwesten und -Hosen mit einer Maximaldicke von 4,4 Zentimetern Dicke. Nicht gerade was für schnelle Tänze. Arcadi nickte. Dann überlegte er.

"Wenn fließendes Wasser über eine Strahlenquelle geht wird die Strahlung auch weniger?"

"Wenn das Wasser das strahlende Zeug wegspült alle mal, Herr Minister. Wie erwähnt könnte das auch immer noch die Schwäche Volakins sein, wenn er gegen Sonne und Feuer immun ist."

"Danke, das wollte ich wissen. Wir müssen halt ausprobieren, wie das geht, diesen Volakin an seinem Größenwahn zu hindern."

"Haben Sie hinweise, daß dieser Volakin sich mit jemandem verbünden könnte?" Fragte Preston besorgt.

"Der bestimmte Jemand, den Sie sicher meinen, liegt mit Volakin wohl in einer Art Kriegszustand. Das ist auch das einzig tröstliche an dieser Angelegenheit."

"Dann könnte man die beiden gegeneinander ausspielen", erwiderte Timothy Preston nachdenklich. Doch Arcadi beharrte darauf, die gerade erörterten Mittel zuerst anzuwenden.

"Ich habe der Kollegin Bakunina bereits meinen Aufsatz über Strahlenschutzanzüge zugeschickt. Ich hoffe, sie findet wen, der ihr das übersetzen kann."

"Ganz bestimmt", sagte Arcadi. Dann verabschiedete er sich und verließ das kleine Haus, daß mit wehrhaften Schutzzaubern umgeben war. Erst zweihundert Meter entfernt konnte der russische Zaubereiminister seinen Portschlüssel benutzen, um nach Moskau zurückzukehren.

"Ein Vampir, der von Strahlung abhängig ist, Tim? Schon eine gruselige Vorstellung", sagte seine Frau Vivian, als sie beim Abendessen saßen.

"Vor allem, wenn diesem Vampir das Futter ausgeht und er die entsprechenden Umweltbedingungen schaffen will", seufzte Tim Preston. Die Lage war sehr gefährlich. Hoffentlich konnten sie diesen Volakin zumindest soweit schwächen, daß er keinen Schaden mehr anrichtete.

__________

Patricia Straton wußte nicht, wem sie von dieser merkwürdigen Insel erzählen sollte, von der Anthelia in ihren Gedanken gesprochen hatte. Denn den Schwestern in den Staaten durfte sie nicht verraten, daß es sie noch gab. Die würden es Daianira weitermelden. Auch müßte sie dann erklären, woher sie diese Andeutung habe. Gut, das konnte sich mit Aufzeichnungen ihrer Mutter erklären lassen. Doch Patricia schwebte eine andere Lösung vor. Wenn es wirklich etwas gab, daß Sardonia hinterlassen hatte, dann mußte das vernichtet werden. Denn die Sache mit den Entomanthropen bewies, daß diese Hinterlassenschaften eine Gefahr für die Menschheit werden konnten. Doch das wußte auch Daianira. Patricia dachte an das, was sie von ihrer Mutter gelesen und aus gespeicherten Erinnerungen geschöpft hatte. Tatsächlich fiel ihr eine Insel ein, die Anthelia meinen mochte, die Insel der hölzernen Wächterinnen. Von ihr hieß es, daß sie eine Zuflucht der letzten Druidinnen vor den immer zahlreicher werdenden Christen gewesen sein soll. Das waren ausnahmslos Frauen, die sich einer Muttergöttin verbunden fühlten. Die Druidinnen hätten diese Insel, die nur wenige hundert Schritt durchmessen sollte, mit magischen Bäumen bepflanzt und mächtige Megalithen dort aufgestellt, die die Verbundenheit zwischen Himmel und Erde herstellten. Die Bäume sollten die Kraft des Lebendigen, des werdenden und wachsenden darstellen. Später, als die letzten Druidinnen die Wahl hatten, Nonnen zu werden oder als Frauen von christlichen Männern ihr Leben zu führen, seien mehr als hundert von ihnen auf diese Insel geflüchtet und hätten sich dort mit den gepflanzten Bäumen vereint. Es hieß auch, daß auf dieser Insel die Zeit anders verlaufe als außerhalb. Dadurch sei sie vor den Christen und den mit ihnen verbündeten Zauberern verborgen geblieben. Und auf dieser Insel sollte Sardonia noch etwas hinterlassen haben? Sicher, es war nicht eindeutig belegt, ob dort eher friedfertige oder auch schädliche Zauber wirkten. Womöglich war die Insel selbst ein Ort der neutralen Ausrichtung. Zumindest aber konnten nur magisch begabte Frauen, in den heutigen Tagen also Hexen, auf dieser Insel landen. Das hatte Pandora Straton noch herausgefunden. So mußte Patricia eigentlich nur den Anstoß geben, nachzuforschen, ob es diese Insel noch gab, versehen mit dem Hinweis, daß dort wohl noch dunkle Hinterlassenschaften Sardonias lagen. Daianira durfte jedenfalls mit oder ohne Anthelias unterstützung nicht da herankommen. Sie könnte sich ein für allemal zur Obersten aller Hexen aufschwingen. Patricia wußte eh, daß Daianira wohl Anthelias ganzes Erbe ihrer Tante an sich gebracht hatte, wie den Gürtel, das Medaillon und den Zauberstab des dunklen Wächters. Und jetzt wuchs Anthelia auch noch in Daianira neu heran, konnte ihr womöglich noch weitere Geheimnisse verraten, wenn diese hinterhältige Schlange es schaffte, Anthelia ganz zu unterwerfen. Patricia mußte sich nun eindeutig entscheiden. Einerseits hatte sie nach dem Duell gehofft, daß nun nichts mehr von Sardonias Macht in dieser Welt verblieben war. Andererseits hatte sie sich damals Anthelia angeschlossen, weil sie die ganzen Umweltverheerungen der Muggel nicht mehr länger mit ansehen wollte. Daianira wollte durch Intrigen und geheime Verbindungen die Hexenheit führen, aber ohne gleich auf die Muggel einzuwirken. Anthelia versuchte es zwar auch mit heimlichen Vorhaben und Beeinflussungen, aber dann doch gleich mit dem Ziel, die Muggelwelt umzukrempeln. Doch dieses Ziel war jetzt eh vergessen, dachte Patricia. Anthelia würde so oder so Daianiras hilfloses Kind werden, ohne Zauberstab und ohne das Medaillon. Denn es durfte sicher sein, daß Daianira es längst sicher fortgeschlossen hatte, um Anthelia nicht erneut Macht gewinnen zu lassen. Der Gürtel würde wohl verschwinden, sobald bei Daianira die ersten Wehen einsetzten. Immerhin würde sie diesen Duellsieg nicht ohne Schmerzen auskosten, dachte Patricia. Doch sie schweifte ab! Jetzt galt es, diese Information über die Insel der hölzernen Wächterinnen weiterzureichen, ohne selbst dabei aufzutreten. Sie sah den Blumentopf an, in dem die von ihr verwandelte Tyche Lennox steckte. Langsam wurde es zeit, sie wieder in die Freiheit zu entlassen. Vielleicht konnte sie ihren Zorn auf Daianira dadurch ausleben, daß sie dieser die Tour mit der Insel vermasselte, immer vorausgesetzt, daß Anthelia wirklich noch eine Hinterlassenschaft ihrer Tante kannte.

Tyche Lennox wuchs aus dem Blumentopf heraus, als Patricia sie mit dem Rückverwandlungszauber getroffen hatte. "Hinterhältiges Weib, du ich mach dich fertig", schrillte sie. Patricia war froh, daß Virginia im Moment einen Hausbesuch bei einer Hochschwangeren machte.

"Das hätte dir nichts gebracht, Daianira anzugreifen. Die hat Anthelias Gürtel um", schnarrte Patricia, die vorsorglich hinter einer magischen Feuerwand in Deckung gegangen war. Tyche holte ihren Zauberstab hervor, um die Wand einzureißen.

"Okay, du kannst es versuchen, Schwester Tyche. Aber dann kriegt Daianira am Ende noch was, womit die uns vielleicht alle fertigmachen kann. Versuch's!" Tyche zögerte. Die noch so vage Möglichkeit, daß Daianira noch irgendwas aus Sardonias Zeit an sich bringen würde durfte sie nicht ausschlagen. So verbiß sie ihren Zorn, weil sie mehr als zwei Monate als Aloe Vera in Patricias Obhut zugebracht hatte und irgendwann außer Licht, Dunkelheit, Trockenheit und Feuchtigkeit nicht mehr viel unterscheiden konnte. Außerdem hielt Patricia ihren Zauberstab noch in der Hand und würde sich bestimmt wehren.

"Womit habe ich es dann verdient, daß du mich wieder auf eigenen Beinen herumlaufen läßt, Ms. Patricia."

"Mit der Gewißheit, daß du die einzige bist, die mir helfen kann, Daianira davon abzuhalten, sich noch mehr von Sardonia unter den Nagel zu reißen, nachdem sie schon die Insektenmonster kontrolliert, von dieser Valery abgesehen."

"So, und wie bitte schön? Soll ich hingehen und der sagen, sie soll die Krallen von Sardonias Sachen lassen? Ich bringe die um und dann dich oder umgekehrt.""

"Mit mir könnte dir das gelingen. Aber dann bist du ganz allein gegen eine Daianira, die durch den Gürtel der höchsten Schwester geschützt ist, solange sie diese im Bauch hat. Mann! Überleg doch mal, was die mit uns anstellen könnte, wenn die noch mehr Sachen von Sardonia hat!"

Tyche starrte grimmig auf Patricia. Dann erkannte sie, wie recht diese hatte. "Wenn wir das nicht verhindern können, daß die höchste Schwester als Daianiras sabberndes Wickelkind zurückkommt, dann müssen wir zumindest dafür sorgen, daß die nicht an Sachen drankommt, die ihr noch mehr Überlegenheit bringen."

"Vielleicht ginge es auch, daß eine der nicht an Daianiras Blutschwur gebundenen Schwestern Antehlia aus Daianiras Leib befreit und selbst bis zum lebensfähigen Zustand austrägt."

"Bitte was?! Wie soll das denn gehen?"

"Transgestatio. Können aber nur Heiler. Aber von denen sind welche in den Reihen unserer Schwesternschaft in Südamerika. Sie könnten also helfen, daß Anthelia nicht Daianiras Kind wird."

"Warum dann du nicht? Du spekulierst doch darauf, daß ich die höchste Schwester zur Welt bringen soll, oder?"

"Deshalb", erwiderte Patricia und holte ihr Sonnenmedaillon hervor. "Anthelias Körper ist durch die Magie des anderen Medaillons angereichert. Dieses Medaillon hier wirkt dem irgendwie entgegen. Deshalb kann ich sie nicht bei mir unterbringen und für sie mitessen, Tyche."

"So, und warum hast du mich dann heute wieder auf meine richtigen Füße gestellt, ey?"

"Weil du die einzige bist, die in der Schwesternschaft rumlaufen kann und denen erzählen kann, daß Daianira vielleicht auf die Insel der hölzernen Wächterinnen gehen und da was von Sardonia abholen kann. Ich muß mich noch mal mit den Sachen von meiner Mutter auseinandersetzen um zu lernen, was Sardonia da hinterlassen haben könnte." Patricia verschwieg, daß Anthelia sie selbst anmentiloquiert hatte. Tyche sollte glauben, daß die höchste Schwester völlig hilflos war. Dann würde sie wohl eher tun, was Patricia wollte.

"Insel der hölzernen Wächterinnen? Nie gehört. Was und wo soll die sein?"

"Die liegt südwestlich von Irland im Atlantik, wurde so in den ersten Jahrhunderten christlicher Zeitrechnung von Druidinnen bevölkert, die keine Lust hatten, sich dem neuen Glauben zu unterwerfen und soll für alle männlichen Wesen unauffindbar oder unbetretbar sein, heißt es in Aufzeichnungen meiner Mutter. Die war der alten Sprachen mächtig und hat Texte von damals übersetzt."

"Ach so, und da soll Sardonia was verbuddelt haben, was die höchste Schwester sich nicht schon längst hätte holen können?" Wollte Tyche wissen. Patricia stutzte. Die Frage war berechtigt. Wieso hatte sich Anthelia nicht schon längst was auch immer von da geholt? Die Antwort war einfach, weil sie es wohl erst wußte, seitdem sie wußte, wie sie Entomanthropen machen konnte und seitdem sie diesen magischen Mantel hatte. Doch warum hatte sie sich das Was-auch-immer nicht schon vor einem halben Jahr geholt?

"Nun, ich denke, die höchste Schwester kann es uns wohl erst in einem oder zwei Jahren verraten, wenn sie wieder geübte Stimmbänder und Zähne im Mund hat", entgegnete Patricia schnippisch auf Tyches Frage.

"Vielleicht kann die aber schon Melo, wenn sie den Kopf im Licht hat", erwiderte Tyche. "Wie dem auch sein soll, Patricia, geh mal von drei Sachen aus: Unsere Schwesternschaft ist erledigt, weil die anderen alle glauben, Anthelia sei für immer verschwunden. Zweitens sind die, die bei Daianira mitgemacht haben jetzt noch heftiger an die gekettet und würden uns in den Rücken fallen. Drittens müßten wir unsere ganzen Aktionen endgültig für gelaufen ansehen, wenn ich jetzt in die Welt gehe und irgendwen warne, daß es diese Insel geben soll, noch dazu ohne zu wissen, warum ich das eigentlich weiß. Du gehst zu den Schwestern, die wissen, daß du zu Anthelia gehört hast, erzählst denen, daß du angst hast, Daianira könnte ihr letztes Geheimnis rauskriegen, wo sie sich schon diverse Sachen von ihr verschafft hat und bittest darum, daß die ihre anderen Kontakte bemühen, um das auch in die Liga zur Abwehr dunkler Künste rumgehen zu lassen, ohne daß du oder ich in dem Zusammenhang erwähnt werden!"

"Mehr nicht?" Fragte Tyche. "Daianira kriegt das doch raus. Die hat doch auch Verbindungen."

"Dann müssen wir das eben nur in der Liga herumgehen lassen. Ähm, wobei denen nicht auf die Nase gebunden werden sollte, daß Daianira Anthelia neu ausbrütet."

"Wenn die das noch nicht wissen, warum sollten sie es nicht wissen?" Fragte Tyche.

"Weil Daianira dann sicher was mitkriegt, wenn ihr mehrere Zauberer auf die Bude rücken und sie festnehmen wollen, weil sie eine potentielle Zaubererweltfeindin beherbergt. Nein nein! Du möchtest das bitte so rüberbringen, daß es Hinweise gibt, daß da eine Insel existiert, die schon zu Sardonias Zeit sehr wichtig für diese war. Näheres erfährt die restliche Welt dann, wenn ich die Aufzeichnungen meiner Mutter gründlich durchforstet habe."

"Also ich fasse zusammen: Ich soll raus in die Welt, weil die junge Ms. Straton ja schon lange tot ist, um denen irgendwie unterzujubeln, daß es da eine mysteriöse Insel gibt, auf der Sardonia einmal was verbuddelt hat und die Gefahr besteht, daß deren Erbin sich das noch holen geht."

"Öhm, genau. In letzter Konsequenz ist das ja auch so, weil Anthelia sicher noch bis Juni jeden Schritt von Daianira mitgeht."

"Wird für die wohl so gemütlich sein wie dein rundes Gästebett da", schnarrte Tyche und deutete auf den Blumentopf.

"Nur daß sie sich etwas bewegen kann und überall mit dabei ist, wo Daianira ist", erwiderte Patricia. Tyche erkannte, daß es eine gute Gelegenheit war, Daianira eins auszuwischen. "Dann will ich mal hoffen, daß du das früh genug herausbekommst, was auf dieser Insel sein soll, bevor Anthelia nach langer Zeit den ersten Schrei tut."

"Keine Sorge, daß kriege ich rechtzeitig vor Walpurgis raus", erwiderte Patricia. Tyche nickte und disapparierte ohne Abschiedswort. Weil Patricia sie von sich aus zu sich geholt hatte, wußte Tyche, wie sie wohnte. Aber sie wußte es nicht, wo genau das war und würde es auch keinem verraten können. Patricia atmete auf. Hoffentlich bekam sie bald die genauen Informationen!

In der Nacht vom dreiundzwanzigsten zum vierundzwanzigsten April war es dann soweit. Anthelia meldete sich wieder bei Patricia:

"Ich konnte mich nicht lange wehren, Schwester Patricia. Sie weiß jetzt, daß der Kelch der Hexenmacht auf der Insel der hölzernen Wächterinnen steht. Sie schläft gerade. Deshalb versuche ich, dir das mitzuteilen."

"Was für ein Kelch?" Fragte Patricia zurück.

"Sardonia, meine Ex-Tante - hat einen koboldgearbeiteten Silberkelch mit dem Blut von dreizehn Getreuen gefüllt und selbst bezaubert, daß eine Hexe - die ihn ... nimmt und ... mit ihrem ... Blut auffüllt .... Verdammt, dieser Zauber! Der Kelch ist unter dem Zentralmegalithen mit den Südwärts weisenden Symbolen ... Oh nein, ich kann ... Macht über alle lebenden Hexen ... Arrg!" Anthelias Gedankenstimme brach abrupt ab. Patricia saß aufrecht in ihrem Bett. Anthelias Gedankenstimme hatte so hilflos und gequält geklungen. Pausen zwischen den einzelnen Wörtern mochten von der Anstrengung kommen, sich gegen einen Zwang zu stemmen. Sanctuamater, dachte Patricia. Dieses Weib hatte Anthelia wirklich damit unterworfen. Die Unterbrechungen und Anstrengung und der Schmerzlaut am Schluß kamen wohl von dem schmerzhaft aufschreiendem Widerwillen, etwas gegen ihre eigene, neue Mutter unternehmen zu wollen. Doch es reichte Patricia aus, was sie gehört hatte. Der Kelch der Macht. Macht über alle lebenden Hexen. Welche Hexe diesen Kelch besaß konnte alle anderen beherrschen. Sie fragte schnell:

"Höchste Schwester, warum hast du den nicht schon geholt?"

"Kann nur von einer Hexe über sechzig körperlichen Jahren berührt werden .. nur an Beltane ... also Walpurgis unter Stein zu finden ... kann nicht mehr sa...", war Anthelias schwach klingende Antwort. Patricia seufzte. Sie konnte also wirklich nicht dorthin. Doch jetzt wußte sie zumindest, was gesucht und wann, und wo es gefunden werden konnte. Aber über das Wie mußte sie noch was wissen. "Wie kommt jemand auf die Insel?"

"Die Namen der drei ersten Druidinnen, Arianrhod, Ceridwen und Rosmerta bei Mittag mit erhobenem Zauberstab gerufen ..." drang Anthelias Stimme noch einmal zu Patricia durch. Dann schwieg sie. Patricia konnte sie auch nicht mehr erreichen. Sie hatte nicht mehr viel Zeit. Wenn Anthelia am nächsten Morgen ganz dem Zauber unterworfen sein würde, konnte sie verraten, daß sie das Versteck verraten hatte. So mentiloquierte sie Tyche an, bis diese Wach war, was Patricia daran merkte, daß der Nachhall ihrer eigenen Gedanken lauter wurde.

"Es geht um die Insel, Tyche. Dort liegt unter einem zentralen Megalithen mit nach Süden weisenden Symbolen ein magischer Silberkelch. Nur eine Hexe über sechzig erlebten Lebensjahren kann ihn bergen. Insel läßt sich finden, wenn man in der Nähe die Namen der drei ersten Druidinnen Arianrhod, Ceridwen und Rosmerta ausruft. Womöglich entsteht dann ein Tor. Schreib dir das bitte auf!"

Tyche ließ sich noch einmal wiederholen, was Patricia ihr mitteilte. Damit war die Nachricht unterwegs. Patricia hoffte nur, daß Daianira es nicht so früh erfuhr.

__________

Anthelia mußte zunächst ganz sicher sein, daß der Sanctuamater-Zauber nicht doch wirkte. Sie dachte an Dinge, die sie tun wollte und auch daran, daß sie vorhatte, sich und Daianira vernichten zu lassen. Dabei fühlte sie weder Schuld noch Widerwillen. Ja, der Zauber hatte sie nicht unterworfen. Doch wenn nicht gelang, was Anthelia vorhatte, würde kurz vor der Geburt und dann noch einmal während dieser der Zauber aufgerufen. Dann konnte sie sich wohl nicht mehr wehren. Doch wie sie Daianira einschätzte, würde es nicht mehr dazu kommen. So tat sie bei ihrer Nachricht an Patricia so, als kämpfe sie mühevoll gegen die Macht des Zaubers an, der das ungeborene Kind sein Leben lang der Mutter treu ergeben machte. Und Patricias sorgenvoll schwingende Gedankenantworten verrieten Anthelia, daß diese ihre Vorstellung abkaufte. "Jetzt werde ich versuchen, dieses Weib um mich herum dazu zu bringen, das Medaillon umzuhängen, damit es nicht mitbekommt, daß ich mentiloquieren kann", dachte Anthelia. Doch sie schlief erst einmal und wachte erst auf, als sie rhythmisch geschaukelt wurde und die Geräusche der üblichen Morgenangelegenheiten zu hören waren. Sie wartete noch, bis Daianira ein ziemlich einengendes Frühstück zu sich genommen hatte. Dann stupste Anthelia sie mehrmals an, und zwar so, als ob sie Zeichen gab. Daianira sprach erst mit dieser widerlich fürsorglichen Betonung auf sie ein, sich nicht so wild aufzuführen. Doch irgendwann tat sie das, worauf Anthelia hoffte.

Die ehemalige Führerin des Spinnenordens erschrak erst, als sie merkte, wie schwach die Verbindung zu Daianiras Sinnen schon war. Doch wenn sie sich konzentrierte, konnte sie wieder scharf durch die Augen der Trägerin sehen und hören, was draußen vor sich ging.

"So, was sollte das jetzt, Thalia. Wolltest du nur sehen, wie gut du in mir tanzen kannst?" Fragte Daianira leicht verärgert.

"Mutter, ich möchte dir was erzählen, was ich bisher nicht erzählen wollte. Entschuldige bitte, daß ich das für mich behalten wollte!"

"So, was denn?" Schnarrte Daianira. Ihr war es gar nicht recht, daß sie noch einmal das Medaillon tragen mußte.

"Es gibt einen Weg, alle Entomanthropen ohne Ausnahme zu beherrschen. Auf einer magisch verborgenen Insel ruht unter einem Stein der Kelch Sardonias. Wenn eine Hexe mit bereits erlebten sechzig Jahren oder älter ihn zur Walpurgisnacht sucht und erst dann findet, eigenes Blut hineinträufelt und darin den Entomolithen badet, kann dessen Macht verzehnfachen und ihn nur auf sich abstimmen. Damit kannst du Valery unterwerfen."

"So, und das fällt dir jetzt erst ein?" Fragte Daianira. Doch Anthelia fühlte, wie sich die Lippen der Hexenlady zum Lächeln formten.

"Ich habe erkannt, daß es mir nichts bringt, dir sowas vorzuenthalten, zumal das mit Valery nicht aufgehört hat."

"Kann man sagen, wo die der geflügelte Schrecken Südamerikas ist", erwiderte Daianira. Dann fragte sie: "Warum erst zu Walpurgis?"

"Weil sie sich an diesem Abend besonders stark fühlte und der Kelch nur jedes Jahr zu diesem Datum zu finden ist. Allerdings liegt die insel unter einem Zauber, der sie von der üblichen Zeit ausschließt. Nur wer die Namen der drei ersten Wächterinnen nennt, sobald sie in der Nähe der Insel ist, kann sie betreten."

"Ich hörte mal von einer reinen Hexeninsel. Es hieß, sie sei eine heimliche Zuflucht, das Hexengegenstück zu Merlins Avalon. Die Zeit soll dort schneller verfliegen, daß Tage in Minuten vergehen. Was weißt du davon?"

"Das deckt sich mit dem, was meine ... Sardonia mir erzählt hat. Es ist wohl so, daß die Insel unter einem Zauber der schleichenden Zeit liegt. Jede, die dort eingelassen wird, wird einer verlangsamten Zeit unterworfen und empfindet den Lauf der Gestirne entsprechend als stark beschleunigt. Es ist ähnlich wie auf der Merlinsinsel, wo den Andeutungen nach Merlin selbst im Tiefschlaf neben seinem Schützling Arthus überdauern soll, aber keiner weiß, wo sie zu finden ist."

"Und wo diese Druidinneninsel liegt weißt du?" Fragte Daianira.

"Ich kann es dir nur zeigen, wenn wir in der Nähe sind, weil es einen Aufspürzauber gibt, der die Nähe verrät. Sardonia hat ihn mir beigebracht. Aber ich kann ihn nicht erklären, solange wir nicht dort sind."

"So, du möchtest also, daß ich dich mit dem Medaillon um den Hals miterleben lasse, wie wir die Insel finden? Kannst du mir den Zauber nicht so verraten?"

"Es ist ein Intuitiver Zauber. Den kann ich nur erfolgreich vermitteln, wenn ich einen Zauberstab führen kann oder jemand das tut, dessen Hand ich spüren kann. Auf meinen eigenen Körper beschränkt kann ich dir leider nicht helfen."

"Warum hast du dir dieses Ding nicht letztes Jahr geholt, als du das Erbe dieser Übereifrigen geholt hast?" Wollte Daianira wissen. Doch Anthelia hatte darauf die brauchbare Antwort:

"Den Entomolithen kann nur gebrauchen, wer seine Zauberformeln kennt. Den Kelch Sardonias kann aber jede Hexe nutzen. Wenn sie eigenes Blut dort hineinfließenläßt, gehorcht er ihr und kann ihre Zauberkräfte verzehnfachen. Doch damit wird der Kelch nicht auf eine Trägerin alleine abgestimmt. Jede andere Hexe könnte ihn benutzen. Du kennst sicherlich die Geschichte von dem unbesiegbaren Zauberstab, den angeblich der Tod selbst einem draufgängerischen Zauberer ausgehändigt haben soll."

"Ein Märchen, ein Mythos", entgegnete Daianira schnippisch. "Schicksalsstab oder Todesstock, wie auch immer er genannt wird. Er soll jeden Zauber erfolgreich ausgeführt haben und dem Magier, der ihn durch Kampf oder Überwindung seines vorherigen Besitzers an sich brachte zum Sieger jedes Duells gemacht haben. Es ist wie die erfundenen oder wahren Flüche auf kostbaren Edelsteinen. Der Fluch an sich ist der Reiz des Wertvollen, das Habgier und Neid schürt. Insofern: Woher weiß ich, daß der Kelch Sardonias existiert?"

"Weil sie ihn mir gezeigt hat", dachte Anthelia über die Medaillonverbindung zurück. Daianira merkte wohl schon, daß dieser Gedankenkontakt nicht mehr so stark war wie vor fünf Monaten noch. Offenbar beschränkte sich die Wahrnehmung seiner früheren Besitzerin auf ihren ungeborenen Körper, je weiter dieser herangereift war. Leda behielt also recht, das Medaillon nicht mehr zu tragen. Doch jetzt mußte sie es noch einmal tragen, falls es stimmte, was ihre künftige Tochter offenbarte. Höchstwahrscheinlich drängte sie der Sanctuamater-Zauber, dieses Wissen preiszugeben.

"Gut", dachte Daianira noch. "Ich muß es zumindest nachprüfen. Walpurgisnacht sagtest du? Wie groß ist die Insel?"

"Fünfhundert Ellen lang und zweihundert breit. Also einhunderttausend Quadratellen, von denen das meiste mit alten Bäumen bewachsen ist."

"Wenn das mit der Zeitveränderung stimmt müssen wir also mindestens drei Tage früher dort eintreffen, um in wenigen Minuten den besagten Stein zu finden. Beschreibe ihn mir so ausführlich du kannst!" Anthelia beschrieb den Stein, den sie einmal gesehen hatte, als ihre Tante mit ihr auf dieser Insel gewesen war. Sie verschwieg dabei jedoch ein ganz wesentliches Element, das Element, auf das sie ihren ganzen Plan aufbaute.

"Dann werden Leda, du und ich besser am achtundzwanzigsten April aufbrechen."

"Dann mußt du Leda sagen, daß du das von mir erfahren hast und das Medaillon tragen mußt. Auch wenn ich von allem, was ihr beiden gesprochen habt nur undeutlich was mitbekommen konnte will Leda nicht, daß ich noch einmal die Außenwelt sehe, bevor ich das mit meinen eigenen Augen tun kann. Richtig?"

"Das stimmt. Sie findet, daß du nur ein richtiges Baby wirst, wenn du die letzten Wochen im Uterus wie ein solches erlebst und erinnerst. Sie hofft, du vergißt dein früheres Leben dann ganz."

"Ich habe erkannt, daß ich dankbar sein muß, überhaupt wieder leben zu dürfen. Und du kümmerst dich doch weiter um mich, auch wenn ich aus dir raus bin, oder?"

"Kommt darauf an, wie einfach du es uns beiden machst", schnarrte Daianira. "Aber ich möchte dir schon eine gute Mutter sein."

"Danke, Mom", erwiderte Anthelia ergeben klingend. Dann kehrten ihre eigenen Sinne wieder zurück. Daianira hatte das Medaillon wieder abgenommen.

__________

Der Wandkalender im Sprechzimmer Professeur Faucons zeigte den fünfundzwanzigsten April 1998. Die Lehrerin war gerade vom allgemeinen Abendessen zurückgekehrt und hing mit ihren Gedanken der Unterhaltung mit ihren Kollegen und dem von ihr besonders beachteten ZAG-Kandidaten Julius Latierre nach. Dessen Frau hatte ja heute Geburtstag, und er konnte leider nicht mit ihr feiern, weil die Blutübertragung von Madame Maxime ihn noch dazu verurteilte, in der Nähe der Schulleiterin zu bleiben. Es war um die verbliebene Macht Voldemorts, die Schulaufgaben und die Lage in Großbritannien gegangen. Sie wollte heute abend noch einmal mit Sophia Whitesand sprechen. da tauchte im Weizenfeldbild die gemalte Ausgabe der Beauxbatons-Mitbegründerin Viviane Eauvive auf.

"Blanche, Professeur Tourrecandide bittet Sie, sie in ihrer derzeitigen Heimstatt in Millemerveilles aufzusuchen. Das Gemälde von Magistra Vendredi hat mich um diese Mitteilung gebeten."

"Warum konnte Magistra Vendredi nicht persönlich zu mir kommen?" Fragte Professeur Faucon.

"Weil sie gerade noch einen Auftrag für Madame Maxime ausführen muß. Kommen sie!"

"In einer Stunde", sagte Professeur Faucon und bedankte sich bei Viviane für die Nachricht. Dann sah sie die Verwandlungshausaufgaben der Viertklässler aus dem violetten Saal durch. Bis auf zwei Ausnahmen alles hervorragende Arbeiten, wenngleich auch mit zu vielen Fülltexten, um die geforderte Menge Pergament zu beschreiben. Das sollte sie denen vor dem ZAG-Jahr noch beibringen, daß eine Anforderung darauf bezogen war, die entsprechend vielen Stichpunkte in Reintext abzuhandeln. Ein Schlauberger hatte es hingegen mit einer mehr als genügend großen Schrift hinbekommen, die drei Rollen zu füllen, aber nur die Hälfte dessen unterzubringen, was sie für eine 15-Punkte-Arbeit verlangte. Der würde am kommenden Dienstag sehr bereuen, sie derartig austricksen zu wollen. Als sie dann noch die Hausaufgaben der ZAG-Klasse des von ihr betreuten grasgrünen Saales durchgesehen hatte und insgeheim stolz auf die Arbeit von Mademoiselle Laurentine Hellersdorf war, war sie bereit, zu ihrer ehemaligen Lehrerin und Mentorin zu reisen.

Mit Flohpulver wechselte sie innerhalb von wenigen Sekunden nach Millemerveilles über, wo Professeur Austère Tourrecandide ein Luxuszimmer im Chapeau du Magicien erhalten hatte, das über einen eigenen Kamin verfügte.

"Wir stehen womöglich vor einer sehr großen Gefahrensituation, Blanche", begrüßte die ehemalige Lehrerin die gerade amtierende, nachdem sie einen Klangkerker errichtet hatte. "Ich bekam über mehrere verschlungene Pfade mit, daß eine Sardonianerin, die wohl von dieser Wiederkehrerin angesprochen worden sein soll, fürchtet, daß diese ein Artefakt in die Hände bekommt, mit dem sie Macht über alle magischen Wesen weiblichen Geschlechts erlangen kann, so etwas ähnliches wie der Mitternachtsdiamant der Vampire."

"Was und von wem haben Sie genau erfahren, Austère?" Fragte Professeur Faucon sichtlich erschüttert.

"Nun, Sie wissen ja noch, daß die Familie Nuage im Ruf steht, mit Sardonias Zielen zu paktieren. Sie ist von einer Handlangerin der sogenannten Erbin Sardonias angesprochen worden, das diese wohl demnächst beabsichtigt, sich einen magischen Kelch von der Insel der hölzernen Wächterinnen zu holen."

"Einen Kelch? Davon höre ich das erste Mal. Außerdem, wer soll bitte diese Anhängerin sein?"

"Eine ausländische Hexe war es, die sich selbst Vera Dombrowsky genannt haben will. Sie erzählte Madame Nuage, daß die nächste Walpurgisnacht die Stunde der Hexenherrschaft kommen würde. Ich habe es mir aufgeschrieben, was ich erfahren habe." Sie reichte Professeur Faucon eine Rolle aus mehreren in einem Ring steckenden Pergamentbögen. Professeur Faucon las die mit Seitenzahl versehenen Bögen und wiegte den Kopf. Der Mitschrift nach habe Sardonia zu ihrer Lebzeit einen Silberkelch von Kobolden schmieden lassen und in diesen das Blut von treuen Mitschwestern gefüllt,um es zu bezaubern, daß sie damit alle Hexen beherrschen könne. Dies sei jedoch so kraftzehrend, daß Sardonia den Kelch auf der Insel der mit Bäumen verschmolzenen Druidinnen der letzten Tage versteckt habe. Dieser Becher sei nur an Walpurgis zu finden. Nur eine Hexe, die bereits sechzig Jahre überschritten habe, könne ihn gefahrlos bergen und wohl auch anwenden."

"Dann kann die Wiederkehrerin ihn eigentlich nicht heben, weil ihr Körper gerade etwas über dreißig ist", wandte Professeur Faucon ein.

"Es wird wohl eine Alterslinie geben, die alle, die sechzig oder mehr Jahre erlebt haben durchläßt", erwiderte Professeur Tourrecandide. Professeur Faucon sprach sie dann noch einmal auf den Weg zu der Insel an.

"Wieso hat die Wiederkehrerin das angekündigt?" Fragte Professeur Faucon. "Könnte es nicht alles eine Falle für Widersacherinnen sein?"

"Das denke ich zwar auch, Blanche. Aber ich darf die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, daß dieses Vermächtnis existiert. Daher werde ich auf diese Insel gehen, falls sie existiert und dort nachsehen."

"Meine Tochter sagte etwas von einer Insel der Druidinnen, die unortbar südwestlich von Irland liegen soll. Dort soll die Zeit langsamer ablaufen, was jedem Besucher den Eindruck vermittle, der Tag vergehe dort innerhalb weniger Minuten, und es könnten nur Hexen und Druidinnen dort hin."

"Nun, ich habe mich natürlich auch erkundigt. Demnach existiert diese Insel wahrhaftig. Ich gehe auch von einer Finte aus, um uns von irgendwas abzulenken oder jemanden wichtiges zu töten. Aber die geringste Wahrscheinlichkeit, daß dieses Vermächtnis existiert zwingt dazu, diesem Hinweis nachzugehen."

"Wollen Sie mit mir zusammen dort hin, Austère?" Fragte Blanche Faucon.

"Nein, Blanche. Ich werde dort alleine hingehen und sehen, ob es eine Falle ist oder nicht. Ich möchte Sie nur bitten, keinem anderen zu erzählen, was Sie gerade von mir erfahren haben, auch nicht Madame Maxime oder Ihrer Tochter."

"Sie wissen, daß Sie mich da in eine schwere Lage bringen, Austère?" Fragte Professeur Faucon.

"Wir müssen davon ausgehen, daß in den nächsten Wochen alle Kräfte den Kampf gegen Tom Riddle führen müssen, wenn dieser erneut versuchen sollte, unser Land zu erobern. Außer mir und Ihnen sind alle Hexen der Liga unter sechzig Jahre alt. Die Vorstellung, daß jemand Macht über uns alle gewinnen könnte, würde zu einer Panikreaktion führen. Wenn es sich doch als eine Finte herausstellt, wäre der Rufschaden unermeßlich. Ich habe Madame Nuage vorübergehend in Zauberschlaf versenkt, der endet, wenn jemand zu ihr sagt: "Die Tulpenzwiebeln können geerntet werden.""

"Wird man sie nicht vermissen, Austère?" Fragte Blanche Faucon, die überlegte, ob es nicht doch sinnvoller sei, Madame Maxime einzuweihen. Doch dann erkannte sie, daß diese im Moment ja nicht alleine war und Julius nicht so einfach aus ihrer Obhut verschwinden konnte, wenn nicht, um Madame Rossignol für eine Untersuchung aufzusuchen. Die würde dann auch neugierig, was sei. So konnte sich Blanche Faucon darauf berufen, einen Auftrag der Liga auszuführen, deren Mitglied sie genauso war wie ihre Mentorin. Das konnte ihr zwar eine Rüge bishin zur Entlassung einbrocken. Doch im Moment konnte sie eher damit leben, einer geheimnisvollen Spur nachzugehen, ohne Aufsehen zu erregen, als mehrere Leute darauf zu stoßen, daß es vielleicht was gefährliches gab. Hinzu kam das, was sie gelesen hatte, daß jede Hexe, die das Artefakt erlangen könne, diese Macht ausüben könne, eben wie der Mitternachtsdiamant. Sie dachte an die Berichte über den Kampf der beiden Vampire, den blauen Blutfürsten und die Hüterin des Mitternachtsdiamanten. Dieser Vampir war offenbar immun gegen die Kraft des magischen Steines. Wenn jedoch noch ein Gegenstand aus der Zeit Sardonias existierte, der jeder machtgierigen Hexe half, alle Hexen der Welt zu unterwerfen ...

"Es gefällt mir nicht, Austère, daß Sie dort alleine hingehen wollen."

"Es kann sein, daß ich in eine Falle hineinlaufe, aber auch, daß ich noch früh genug diesen Ort finde, wo das Artefakt versteckt ist. Dafür muß ich jedoch schon in den nächsten Tagen hin, falls das mit dem Zeitablauf wirklich stimmt. Denn ich weiß nicht, ob dort die Gestirne oder die Minuten als Tagesmesser gelten. Der Dringlichkeit des Hinweises nach wohl eher Ersteres."

"Und wenn Sie wirklich in eine Falle gehen?" Fragte Professeur Faucon. "Dann wäre es doch günstiger, wenn ich mit ihnen käme."

"Nein, Sie haben hier in den nächsten Tagen zu vile Verpflichtungen, während ich mich darauf berufen kann, wegen des Kampfes gegen Tom Riddle im Ausland zu tun zu haben. Sollte ich nach Walpurgis innerhalb von zwölf Tagen der allgemeinen Zeitrechnung nicht zurückkehren, und Sie keine Anzeichen verspüren, daß jemand sie zu irgendetwas zwingen will, kommen Sie mit einer Vertrauten oder zwei auf die Insel und suchen dort nach mir! Falls ich nicht mehr dort bin, wurde ich entweder verschleppt oder nach dem Tode beseitigt. In jedem Fall dürfte die Falle, wenn es eine ist, dann unwirksam sein und Sie nicht auch noch erledigen."

"Erlauben Sie mir wenigstens, mit meiner Tochter Rücksprache zu halten. Sie kennt sich in den alten Schriften über die Zeit der Druiden noch besser aus als ich, weil ich mich schwerpunktmäßig mit den hermetischen Zaubern und Flüchen befaßt habe."

"Sie kann mir nicht helfen, Blanche. Wenn stimmt, was gesagt wurde, können zum kritischen Zeitpunkt nur Hexen mit sechzig erlebten Jahren dort etwas ausrichten, und sie ist durch ihre zweite Tochter anderweitig verpflichtet."

"Claudine ist entwöhnt, hat meine Schwester mir mitgeteilt. Aber sie haben leider recht. Es wachsen schon zu viele Kinder ohne einen Elternteil auf, und Joseph könnte finden, sich aus der Betreuung seiner Kinder herauszuziehen, falls Catherine ihr Leben riskiert. Doch wenn Sie um Hilfe rufen können ..."

"Falls das mit der Zeitverzögerung zutrifft würde ein einziges gedachtes Wort eine Minute oder mehr brauchen, um ausgesprochen zu werden. Können Sie so langsam formulierte Wörter verstehen?"

"Bedauerlicherweise nicht", entgegnete Blanche Faucon. Austère Tourrecandide nickte bekräftigend. Dann sagte sie noch:

"Ich habe Sie ins Vertrauen gezogen, weil ich weiß, daß Sie jeder Versuchung widerstehen können, dieses Artefakt und die damit verbundene Macht selbst zu gebrauchen. Ich setze meine Hoffnungen darauf, daß es entweder nicht existiert und ich dann lieber mit einer Irreführung leben muß, als daß es wirklich existiert und ich womöglich darum kämpfen muß oder bei dem Versuch, es zu nehmen in eine Falle gerate und mein Leben verliere. Für diesen unerwünschten Fall möchte ich Ihnen jedoch schon jetzt meinen Dank für die Jahre der Zusammenarbeit, Ihres Fleißes und Ihrer bedingungslosen Unterstützung aussprechen und Ihnen noch ein langes, erfolgreiches und auch irgendwie doch noch erheiterndes Leben mit Ihren Liebsten wünschen. Ich habe ja, wie Sie wissen, nie den rechten Sinn und die Geduld, eine eigene Familie zu begründen, nachdem meine Schwester meine eltern und mich derartig bestürzt hat. meine Familie - Dies wissen Sie ja so gut wie Madame Maxime - war die Akademie, und die Arbeit in der Liga hat hoffentlich dazu beigetragen, daß wir alle hoffentlich irgendwann wieder in einer friedlicheren Welt leben dürfen. Falls der Einsatz, auf den ich mich selbst begebe, dazu beitragen kann, diesem Ziel näherzukommen, dann nehme ich diese Aufgabe dankbar und erhobenen Hauptes an. Ihre Aufgaben sind die Unterweisung junger Hexen und Zauberer und die Beratung Ihrer Angehörigen, vor allem Ihrer Enkelkinder. Für diese leben Sie. Und deshalb möchte ich, daß Sie die von mir erbetenen Tage verstreichen lassen, bevor sie jemanden über meine Mission informieren oder selbst nach mir suchen. Ich hoffe, ich kann Ihnen auch in dieser Angelegenheit, die Ihnen eine große Bürde aufläd, so uneingeschränkt vertrauen wie bisher."

"Ich wünsche Ihnen alles Glück, was Sie brauchen können und hoffe, sie bei den ZAG- und UTZ-Prüfungen wieder unter den Prüfern sehen zu dürfen. Viel Glück und Erfolg!" Erwiderte Professeur Faucon. Dann umarmte sie ihre über hundert Jahre alte Lehrerin und kehrte nach Beauxbatons zurück.

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"Was heißt das, du verreist, Daianira. Guck dich mal an. Du hast schon ohne das Baby mindestens dreißig Pfund zugenommen", knurrte Leda Greensporn, als ihre Cousine und Patientin ihr am siebenundzwanzigsten April eröffnete, eine Reise bis zum fünften Mai zu unternehmen, aber nicht sagte wohin und warum ohne sie.

"Ja, und ich merke das auch, ohne daß du mich daran erinnerst", stieß Daianira schroff aus. "Gerade deshalb, weil ich in den nächsten acht Wochen wohl noch mehr zu tragen haben werde muß ich das jetzt machen. Und ich kann dich dabei leider nicht mitnehmen."

"So, kannst du nicht? Und wenn es komplikationen gibt? Auch wenn du körperlich verjüngt wurdest ist das nun einmal die erste Schwangerschaft, die du austrägst und damit für dich keine Routine, wenn bei sowas überhaupt das Wort Routine benutzt werden darf. Ich bin für dein und Thalias Wohlbefinden und den Weg zur erfolgreichen Geburt verantwortlich. Ich könnte dir verbieten, einfach so irgendwo hinzureisen."

"Aber du tust es nicht, weil du weißt, daß du mir per Treueschwur untergeordnet bist und ich damit jeden deiner Ratschläge und jede konkrete Anweisung zurückweisen kann. Und du könntest nicht einmal vor den anderen Heilern darauf drängen, mich bis Thalias Ankunft zu entmündigen. Ich bin keine Kuh und keine Stute, die vom Eigentümer im Stall festgebunden wird, nur weil sie gerade trächtig ist, Leda. Ich weiß, ihr Hebammen habt Überbehütung im Arbeitsauftrag drin. Aber meine Angelegenheiten kläre ich doch noch, solange ich das kann."

"So, du findest, ich sei zu überbehütend! Wer hat denn vor nicht einmal zehn Wochen gejammert, weil sie Angst hat, mit der ganzen Last nicht fertig zu werden? Hast du nicht vor gerade vier Wochen noch gesagt, du wolltest dich auf nichts mehr einlassen, was dich und die Kleine gefährdet, jetzt, wo ihr so lange zusammen seid und dieses vermaledeite Medaillon nicht mehr von dir getragen wird, was ihr noch ein Festhalten an ihrem alten Leben gestattet hat. Jetzt auf einmal willst du ganz allein irgendwo hin, ohne mir zu sagen, wohin, warum und wie lange genau. Sag's ehrlich, hast du Anthelia noch einmal aufwachen lassen, damit sie dich auf irgendeinen kuriosen Unsinn bringt?"

Leda, das verbitte ich mir. Du weißt genau, daß ich will, daß sie als meine Tochter zur Welt kommt. Es ist jedoch etwas aufgedeckt worden, das meinen persönlichen Einsatz fordert, ohne Begleitung."

"Jetzt weiß ich immer noch nicht, wohin du eigentlich fährst und für wie lange", schnarrte Leda.

"Ich reise zu einer Insel im östlichen Nordatlantik, außerhalb der Todeszone um die britischen Inseln. Es wird wohl eine Woche dauern. Ich reise morgen ab, und damit hat es sich."

"So, und damit hat es sich", fauchte Leda. "Ich sollte vergessen, daß ich deine Cousine und gleichzeitig auch Hebamme bin und dich einfach nicht mehr weiterbetreuen. Dann wirst du schon sehen, wie weit du kommst, wenn es soweit ist. Aber ich kann es nicht vergessen und will es auch nicht. Ich bitte dich darum, mir alles zu erzählen. Sonst sehe ich mich gezwungen, dich zu verfolgen, wenn ich schon nicht offen mit dir zusammen dort hinreisen darf."

"Abgesehen davon, daß ich einen Großteil apparieren werde kann ich jeden Verfolger abschütteln, wie du weißt, Leda. So viel nur: Ich begebe mich an einen durch Unortbarkeit versteckten Platz, wo ich hoffe, mehr über diese Entomanthropen herauszufinden. Cloudy Canyon ist immer noch ein Geisterdorf. Und ich hoffe daß dies nur im Sinne von komplett und dauerhaft verlassen gilt. Was machen wir, wenn dieses Monstrum mit tausenden seiner Brut hier einfällt? Ich möchte endlich wissen, ob es überhaupt möglich ist, diese Plage auszurotten."

"Frag doch Anthelia", feixte Leda.

"Du meinst, wo ich die zweite Stufe etabliert hätte, müßte sie mir derlei verraten können? Aber dann werde ich gegen deinen Rat verstoßen und ihr Medaillon noch einmal tragen müssen. Falls dann immer noch ein Rest ihres eingelagerten Geistes darin steckt könnte sie mir antworten? Sie weiß genau, sofern sich ihr Gedächtnis nicht doch zurückentwickelt, daß diese Valery gemeingefährlich ist. Dann hätte sie mir auch so schon verraten, ob sie aus sicherer Entfernung zu stoppen ist. Leda wiegte den Kopf. Dann sagte sie: "Du hast rechtt, daß ich dich nicht hier festbinden kann, weil du mir gegenüber Befehlsgewalt hast. Ich muß dich also wohl ziehen lassen. Eine Woche sagtest du? Gut! Schreibe mir auf, wohin du genau fährst und wie ich dich dort finden kann! Versiegele den Brief mit einem nur dir vertrauten Wort! Wenn die Woche rum ist, möchte ich wissen, wo ich nach dir suchen muß." Daianira nickte aufrichtig. Leda atmete auf. Wie hatte sie auch erwarten können, daß ihre Cousine zum Ende der ungewöhnlichen Umstände hin vernünftiger würde. Sie trug die Kleine schon wie eine Jagdtrophäe, auch wenn sie bei öffentlichen Veranstaltungen einen weiten Umhang trug, der Bauch und Brüste sehr gut verhüllte. Zwar gab es hier und da schon die ersten Vermutungen. Doch so recht glauben konnte das niemand, der oder die Lady Daianira Hemlock kannte oder genug von ihr gehört hatte. Es zeigte sich, daß es gut war, Linda Knowles als neue Mitschwester zu haben. Denn die hätte ganz bestimmt schon groß damit aufgetrumpft, daß sie in Daianiras Körper zwei Herzen hätte schlagen hören können. Denn so manches freudige Ereignis war von ihr bestätigt und in Interviews zur Sprache gebracht worden. Daianiras besondere Umstände hätten einen Knüller im Westwind bedeutet.

"Die aufreibende Unterhaltung hat Lia hungrig gemacht. Zumindest fühle ich mich wieder so, als müßte ich einen ganzen Elefanten verspeisen", grummelte Daianira.

"Dazu möchtest du keine Antwort haben denke ich", erwiderte Leda verstimmt und ließ ihre schon recht füllig aussehende Cousine und oberste der entschlossenen Mitschwestern in die Küche abrücken.

"Was nützt dir noch der weite Umhang, wenn dein Gang schon so ausladend wird, Daianira?" Dachte Leda. Sie wollte das Gefühl nicht so recht abstreiten, daß irgendwas mit ihrer Cousine vorging, daß diese in arge Bedrängnis bringen würde. Einen Moment lang durchzuckte Leda sogar die erschreckende Vorstellung, Anthelia könte es geschafft haben, auch ohne das Medaillon Einfluß auf Daianira zu gewinnen, um sie zu steuern, womöglich sogar in den Tod zu treiben, um die eigene Wiedergeburt zu vermeiden. Auch wenn sie zusammen mit Daianira sterben würde, so mochte es für Anthelia die ehrenvollere Alternative sein, als die endgültige Schmach, von einer Feindin ins Leben zurückgegeben zu werden. So abstoßend dieser Gedanke ihr auch erschien, er hätte seine Berechtigung, falls Anthelia wirklich Gewalt über den Körper der zweiten Mutter errungen hätte. Doch ein logisches Argument verdrängte diese unangenehme Vorstellung: Wenn Anthelia wirklich die Macht errungen hätte, Daianira zu unterwerfen, hätte diese keinen Moment gezögert, die lästige Beschützerin mit einem überraschenden, vorwarnungslos ausgeführten Todesfluch zu beseitigen. Sie hätte ihr wohl kaum erzählt, daß sie verreisen müsse und auch nicht, wohin. Also war es einzig Daianiras Drang zur Beherrschung jeder Lage und die vage Hoffnung, etwas gegen die geflügelte Gefahr zu unternehmen, die immer noch über allen und allem schwebte.

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"Genieße unsere gemeinsame Henkersmahlzeit, Daianira", dachte Anthelia, als sie die Kau- und Schluckgeräusche hörte und fühlte, wie der Platz über ihrem Kopf immer weniger wurde. Sie fühlte, wie die Nabelschnur kräftiger pulsierte, weil Daianiras Herz in kräftigen Stößen Blut pumpte. Spätestens in vierundzwanzig Stunden war das alles vorbei, dachte die sicher verstaute Führerin des Spinnenordens. Leda hätte ihr fast einen Strich durch die Rechnung gemacht. Doch die Aussicht auf mehr Macht über die Entomanthropen hatte Daianira dazu getrieben, ihrer Cousine gegenüber zu verschweigen, daß sie wieder ihr Gebot doch das Medaillon noch einmal umgehängt hatte. Es gluckerte, als Daianira noch eine große Menge Flüssigkeit nachschüttete, um die Menge in ihrem Magen besser durchzuweichen. Anthelia bewegte sich so sachte sie konnte. Durch nichts wollte sie Daianira dazu bringen, ihr Vorhaben doch noch einmal zu überdenken. Sie versuchte, ihre telepathischen Fähigkeiten wieder einzusetzen. Doch es gelang noch nicht. Dann würde es auch nicht mehr gelingen.

"Dann werde ich jetzt meinem letzten Tag in diesem weichen, nassen Kerker verbringen und hoffen, daß Patricia es geschafft hat, ein paar alarmierte Hexen aufzuscheuchen. Denn daran konnte ihr Plan noch immer scheitern.

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Austère Tourrecandide prüfte noch einmal, ob sie alles verstaut hatte, was sie für die Reise mitnehmen wollte. Unterkleidung für drei Tage, Nahrungsvorräte für denselben Zeitraum, Wasser und ihre Kräftigungstränke, die sie immer dann dabei hatte, wenn es um Ausdauer und mögliche Höchstleistungen ging. Sie war schon weit davon entfernt, als junge Hexe zu gelten. Ihr beinahe weißes Haar war mal so schwarz wie das ihrer Schwester gewesen. Doch geistig war sie noch rege genug, minutenlange Duelle zu bestreiten oder komplizierte Zauber zu wirken. Würde ihr das auf dieser Insel nützen? Konnte man da überhaupt zaubern? Sie wußte nur, daß sie dort nicht apparieren und disapparieren konnte, weil eine magische Barriere das Eiland umhüllte. Womöglich behinderte der unterschiedliche Zeitablauf ebenso den zeitlosen Standortwechsel. So blieb ihr nur, mit einem Boot in die Nähe zu fahren und den überlieferten Weg auf die Insel zu nehmen. Sie dachte an alle, die ihr im Leben was bedeutet hatten und jetzt schon nicht mehr auf der Welt waren, ihre Eltern, ihre Großeltern, die alten Kollegen von damals, wo sie in Beauxbatons angefangen hatte. Sie dachte an Lucille, die jetzt Voixdelalune Sangazon hieß und im Dasein der Vampirin ihre persönliche Lebenserfüllung sah. Sie dachte an Madame Maxime und Professeur Faucon, die sie schon als Schulmädchen erlebt hatte. Bis heute wußte sie nicht, was Blanche Rocher, die jetzt Faucon hieß, im letzten Jahr ihrer Schulzeit fast aus der Bahn geworfen hatte. Sie dachte an Madame Maxime, die als junges Mädchen unberechenbar gewesen war, den Fall, wegen dem sie fast nicht nur aus der Akademie entlassen, sondern wegen Totschlages zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Doch heute war die einstige Raufboldin die hochrespektable Madame Ladirectrice de Beauxbatons, und die andere war ihre Stellvertreterin und mögliche Nachfolgerin. Warum war sie eigentlich nicht in der Akademie geblieben? Zu viel Lärm, undisziplinierte Schüler oder einfach nur der Umstand, daß sie sich der Liga gegen dunkle Kräfte stärker verbunden fühlte als Beauxbatons. Mit großer Erleichterung und Genugtuung hatte sie ihrer einstigen Musterschülerin Blanche den Posten der Lehrerin gegen dunkle Künste abgetreten. Sicher, jedes Jahr kehrte sie nach Beauxbatons zurück, wobei sie die aktuelle ZAG- und UTZ-Jahrgangsstufe kennenlernte. Das sie mal wieder einen Dritt- und Viertklässler prüfen durfte hatte sie bis vor drei Jahren auch nicht geglaubt. Aber der betreffende Schüler erwies sich als sehr talentiert und diszipliniert. Diese Eigenschaft mußte der jetzt zwar erst wieder zurückgewinnen, weil er Madame Maximes Blut verabreicht bekommen hatte. Doch laut Blanche Faucon kehrte die alte Selbstbeherrschung wieder zurück. Wenn sie diesen waghalsigen Ausflug überlebte, würde sie ihn wohl wieder prüfen dürfen, ob in ihrem Spezialfach oder einem der anderen ZAG-Fächer. Ihr war klar, daß sie sich da mit ihrem Kollegen Énas auseinandersetzen mußte, wer ihn in der Verwandlungsprüfung haben würde. Doch dazu mußte sie diese Reise zur Insel der hölzernen Wächterinnen heil überstehen, ob es eine Falle war oder nur ein Ablenkungsmanöver. Sie fragte sich, was sie mit dem Kelch anstellen würde, wenn sie ihn finden oder durch einen Kampf erstreiten konnte. War es nicht so, daß Macht verführte. Für starke Macht galt dieser Grundsatz bestimmt noch mehr als für ein kleines Vorrecht. Sie hatte das in ihren Stunden immer betont, daß die größte Gefahr der dunklen Künste darin bestand, daß sie denen, die sie einsetzten erst einmal Erfolgserlebnisse bescherten. Sie flößten eine trügerische Stärke und Sicherheit ein. Das galt sogesehen für alle magischen Studienfelder. Doch die dunklen Künste verlockten mit Erfolg, Macht über andere, Ansehen und Zugewinn. Wie stark mochte da ein Kelch sein, der es seiner Besitzerin erlaubte, andere Hexen ihrem Willen zu unterwerfen. Welche Verlockung wäre es, alle schweigsamen Schwestern dazu zu bringen, ihre Heimlichtuereien aufzugeben. Wie befriedigend mochte es sein, die ihrem Herrn und Gebieter an Größenwahn und Fähigkeiten nicht nachstehende Bellatrix zu zähmen, sie nur noch das tun zu lassen, was der Allgemeinheit nützte, für das größere Wohl. Sie dachte daran, wie sie diese Rechtfertigungen schon von Anhängern Grindelwalds gehört hatte, die den Muggelstämmigen die Wahl lassen wollten, als Sklaven neben ihren Eltern zu leben oder sich Grindelwalds Weltherrschaftsträumen anzuschließen. Und jetzt wollte sie aufbrechen, eine ebenso von der Notwendigkeit ihres menschenverachtenden Treibens besessene Hexe daran zu hindern, einen übermächtigen Gegenstand zu erlangen. sie sah die Bilder aus vergangenen Tagen an. In drei Jahren würde das einundzwanzigste Jahrhundert beginnen. Viele würden das vorangehende Jahr 2000 als großes Ereignis begehen, als Eintritt in das dritte Christliche Millennium. Dann wäre sie, falls sie nicht zu früh starb, eine Hexe, die durch drei Jahrhunderte gelebt hätte. Doch davor hatte das Schicksal diese Reise auf die Insel der hölzernen Wächterinnen gesetzt.

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Er hatte ihn endlich. Der unbesiegbare Zauberstab lag in Voldemorts Hand und wartete darauf, zu großen Taten eingesetzt zu werden. Die Schmach mit den vernichteten Schlangenkriegern konnte er jetzt vergessen machen. Er würde auch bald wissen, wer dieser Junge war, der mit einer Partnerin in seinen Gedanken zusammen gegen seinen Willen angekämpft und fast verloren hatte. Wenn der nicht sein Sklave sein wollte, dann sollte er halt sterben. Doch er wußte nicht, wie er richtig hieß. Dieses Weib, daß ihm geholfen hatte, hatte ihn zwischendurch Monju genannt. Doch die Bezeichnung war sicher ein Kosename gewesen. Aber für wen? Erst einmal mußte er eine neue Streitmacht aufbauen. Dieser Volakin war ihm etwas zu widerspenstig. Und diese merkwürdige Strahlung, die von ihm ausging störte ihn erheblich. Auch wenn es so schien, als würde sich der blaue Blutfürst auf seine Heimat beschränken, hatte Voldemort doch erfahren, daß blaue Vampire auch in Spanien gesehen worden sein sollten. Falls diese blauen Bestien es bis nach England schaffen sollten, mußte er ihren Herrn und Meister endgültig ausrotten.

"Putrifico totum!" Rief Voldemort, als er einen Riesenstapel Äpfel, Birnen, Bananen und Melonen vor sich aufgebaut hatte. Der unbesiegbare Stab aus Elderholz ruckte in seiner Hand. Eine Art Windsäuseln drang heraus. Voldemort sah, wie die aufgebauten Obst- und Gemüsestapel sich innerhalb weniger Sekunden bräunlich verfärbten, weich wurden und einen üblen,penetrant süßen Gestank verbreiteten. Doch der angestoßene Massenfäulnisprozeß lief nicht so schnell ab, wie Voldemort sich das erhofft hatte. Im Grunde wirkte der neue Zauberstab ein wenig behäbiger als sein Eibenholzstab mit Phönixkern. Eigentlich hätte der unbesiegbare Zauberstab diesen Stapel da innerhalb einer Sekunde komplett verfaulen lassen müssen. Warum reagierte der Stab nicht so überragend, wie Voldemort es sich dachte? Er rief den kompletten Zauber für Massenbewegungen aus und versetzte den ungenießbar gewordenen Rest des Experiments auf den großen Müllhaufen der Malfoys. Dann steckte er den Stab wieder fort. Womöglich erkannte dises Stück Holz, daß doch die größte Macht der Zaubererwelt besaß, ihn noch nicht so recht an, weil dessen Eroberer nicht er, Voldemort, sondern Snape war. Doch bevor er das als gegebene Tatsache hinnahm galt es noch mehrere Anschlußversuche zu machen. Außerdem durfte er Snape nicht damit behelligen, daß er den unbesiegbaren Zauberstab besaß. Noch nicht. Denn wenn er dies tat, so würde er Snape wohl töten müssen, um die Macht des Zauberstabes ganz und gar aufzuwecken und ihn endlich seiner wahren Bestimmung zuzuführen.

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Daianira wollte das Medaillon Anthelias erst in der Nähe der Insel umhängen. Vorerst flog sie auf ihrem Bronco Parsec, nachdem sie es erfolgreich geschafft hatte, Ledas Localisatus Inanimatus auszutricksen, den sie auf den Flugbesen geheftet hatte. Hatte sich Leda wirklich eingebildet, ihre Cousine würde vor lauter Babybauch vergessen, ihren eigenen Flugbesen vor dem Start auf unerwünschte Bezauberungen zu prüfen? Als sie endlich ohne Ledas Überwachung disappariert war hoffte sie, möglichst kurz auf jener Insel suchen zu müssen. Falls stimmte, was Anthelia ihr erzählt hatte, würde ein Tag dort nur wenige Minuten dauern. Heute war der siebenundzwanzigste April. Sie apparierte von der Ostküste zur westlichsten Insel der Bahamas, dann zu den Azoren. Sie fühlte, daß es ungleich schwerer war, mit dem nun beachtlich gewachsenen Fötus im Schoß und dem für dieses Baby angefutterten Übergewicht so große Sprünge zu machen. Doch nach knapp zehn Minuten mit den nötigen Atempausen war sie endlich so weit im Osten, daß sie auf ihrem Besen aufsitzen und losfliegen konnte. Ab jetzt würde es wohl noch vier Stunden dauern, bis sie in die entsprechende Region einflog. Erst dort wollte sie das Medaillon wieder umhängen. Anthelia sollte ihr dann den Ortsbestimmungszauber erklären.

Einige Stunden später befand sie sich über einer weithin landlosen blauen Fläche, die mit einzelnen weißen Schaumkämmen durchzogen war und wie eine sich ständig verlagernde Hügelkette wirkte. Sie horchte auf das Geräusch der Wellen. Würden dise ihr verraten, wo sie gegen land anbrandeten? Doch die Wellen taten ihr den Gefallen nicht. Selbst in knapp zehn Metern über dem wogenden Atlantik hörte sie gerade nur das Wasser, das vom Wind aus den Wellenbergen herausgeblasen wurde. Daianira hielt nicht viel vom Meer. Ihr verstorbener Bruder konnte nicht genug davon kriegen. Am liebsten hätte der auf einer kleinen, schwimmenden Insel gewohnt, überall hin fahrend aber immer vom ewigen Ozean umspült. Sie verehrte Bäume und Blumen. Deshalb empfand sie die von Horizont zu Horizont ausgebreitete Wasserwüste unter sich eher als abstoßend. Jetzt sollte sie wohl auch in der betreffenden Gegend sein. Sie hängte sich das Medaillon um und zog ihren Zauberstab, während sie ihren Besen im Langsamflug über den Wellenbergen kreisen ließ.

"Danke Mom, daß du den Mut gefunden hast, dieses Ding zu bergen. Sprich mir bitte die erste Formel nach und führe dann den Stab mit der Spitze nach norden!" Daianira gehorchte und sprach die altdruidische Formel, die ihr den Weg zur Insel zeigen sollte. Dabei fühlte sie, wie der Stab nach osten verlagert wurde. So sprach Anthelia ihr die zweite Formel vor. Danach ruckte der Stab auf Daianira zu, die aus Südwesten angeflogen kam und mußte eine andere Formel sprechen, ohne zu lange zu warten. Schließlich, nach acht Ausrichtungen, durfte sie die drei Namen der ersten Druidinnen mit erhobenem Zauberstab laut ausrufen: "Arianrhod! Ceridwen! Rosmerta!" Bei jedem dieser Namen meinte sie, ein Echo aus allen Richtungen zu hören. Dann sah sie eine Nebelbank direkt aus dem Wasser tauchen. Sie hielt mit dem Besen darauf zu. Dabei fühlte sie, wie das Medaillon unter ihrem weiten, wasserblauen Umhang gegen ihren Brustkorb drückte. Es schien dem Nebel entfliehen zu wollen. Doch als Daianira durch die weiße Wand hindurchflog, meinte sie nur einmal, von tastenden Händen am Körper berührt worden zu sein. Dann lichtete sich der Nebel auch schon wieder, und vor ihr lag eine mit einer Felsenküste gesäumte Insel, auf der sie majestätische Eichen, Ulmen, Weiß- und Rotbuchen sehen konnte. Sie hatte das Gefühl, als flöge sie in Watte hinein. Ihr besen wurde für einen Moment langsamer. Dann glitt er jedoch wie gewohnt weiter. Allerdings begann nun die Sonne am Himmel merklich zu wandern, ohne daß daianira sich anders ausgerichtet hätte. Offenbar stimmte es, daß hier eine andere Zeit galt, und die Bewegung der Gestirne im Verhältnis dazu rasend schnell ablief. Daianira landete gerade auf einem Felsplateau am westlichen Abschnitt der zerklüfteten Küste, als der große Feuerball am Himmel bereits mit zunehmendem Rotton auf den westlichen Horizont herabsank. Es stimmte also wirklich. Der Tag würde hier schneller verlaufen.

"Der Stein, den du finden mußt, liegt in der Mitte der Insel von dicken Buchen und Ulmen umringt. Der Pfad dorthin ist schmal. Ich hoffe, du kommst trotzdem hindurch."

"Sag mir jetzt ja nicht, ich sei zu dick für diesen Waldweg, Kleines, sonst kannst du zusehen, wer für dich in den nächsten Tagen und Wochen genug ißt!" Dachte Daianira und schulterte den Besen. Sie hatte Anthelias Zauberstab mitgenommen, mit dem sie wie mit dem Gürtel der zwei Dutzend Leben solange wunderbar hantieren konnte, wie Anthelias Körper in ihrem verborgen war. Tatsächlich merkte sie, daß sie auf einem schmalen, mit lockerem Erdreich bedecktem Waldweg nicht mehr so gewand laufen konnte wie vor dem fünfzehnten November 1997. Die mächtigen Bäume um sie herum schienen mit ihren Zweigen ein grünes Dach zu bilden. Daianira fragte sich, ob hier je richtiger Winter sein würde, oder ob die Insel nur auftauchte, wenn jemand sie rief und ansonsten in einem Überdauerungszustand jenseits von Raum und Zeit ausharrte. Sie meinte jedoch, daß aus den Baumkronen heraus irgendjemand sie beobachtete. So rief sie "Vivideo!" Doch das grüne Zauberlicht, daß mit lebenden Wesen wechselwirkte, die keinen magischen Schutz davor besaßen, zeigte nur die Bäume. Überhaupt hörte sie hier weder Vögel noch andre Waldtiere. Auch das nun als Brandung hörbare Meer klang bereits nach wenigen Metern im Wald so gedämpft, daß sie meinte, bereits einen Kilometer davon fort zu sein. Sie hatte gerade eine Wegbiegung nach links genommen, als über ihr das Licht verschwand und in einem tiefen Schwarz versickerte. Sie hörte außer dem fernen Meer, daß von allen Seiten zu kommen schien nur ihren eigenen Atem. Es war doch etwas anstrengend, mit mehr als dreißig Pfund Zusatzgewicht durch einen Wald zu wandern. Sie dachte daran, Anthelias Medaillon wieder abzunehmen, weil es versuchte, den Bäumen auszuweichen. Doch dann fand sie, daß Anthelia ihr vielleicht noch die genaue Beschaffenheit des Versteckes verraten müsse. "Lumos!" Daianiras Zauberstab glühte auf und beleuchtete den braunen Weg, der immer wieder von dicken Wurzeln aufgeworfen dalag.

"Ich hätte mir die Wanderstiefel anziehen sollen", dachte Daianira. Doch dann fiel ihr ein, daß ihre Füße in den letzten Monaten etwas breiter und ihre Waden dicker geworden waren. Die alten Wanderstiefel hätten eher behindert als geholfen. Jetzt kamen ihr die ganzen körperlichen Veränderungen der letzten fünf einhalb Monate sehr unangenehm zu Bewußtsein. Jeder Schritt auf diesem nachgiebigen Boden strengte mehr an als auf steinernen Straßen. jede Gewichtsverlagerung war ein heikler Akt, daß sie nicht doch umkippte. Sie hielt sich an den Bäumen fest, wenn sie über besonders dicke Wurzeln steigen mußte. Sie fühlte, wie Anthelia immer wieder ihren Körper neu verlagerte, um nicht mit dem Kopf gegen die Bauchdecke zu stoßen. Doch Anthelias Geist steckte noch in dem Medaillon, oder war das nur ein Gedankenverstärker? Sie hatte damit jedoch eben noch die unsichtbare Mauer um die Insel geöffnet.

"Hoffentlich kommen wir an, bevor es Walpurgisnacht ist", grummelte Daianira von der beschwerlichen Wanderei leicht genervt.

"Der Weg ist quasi ein Ritual, mit dem du dich dem Stein würdig erweisen sollst", dachte ihr Anthelia zu. Dann kam die nächste Wegbiegung. Und so ging es weiter. Mal meinte Daianira, zum Strand zurückzukehren. Mal glaubte sie, bereits auf die andere Seite der Insel vorgestoßen zu sein. Immer noch meinte sie, irgendwer würde sie aus den Baumwipfeln heraus beobachten. Doch sie marschierte weiter, Biegung um Biegung. Sie passierte dabei mehrere Steinbrocken, die wie versteinerte Köpfe von Riesen wirkten und für Daianira eine magische Ausstrahlung besaßen. Als es über ihr wieder zu dämmern begann, blickte sie auf die Uhr. Sie war gerade erst fünf Minuten in diesem Wald. Also mochte der Tag auf der Insel zwischen fünf und zehn Minuten andauern. Heute schrieben sie den neunundzwanzigsten. Sie legte einen Schritt zu, als das durch die Baumwipfel fallende Licht hell genug war. Weitere Biegungen alle dreißig Sekunden führten sie durch den Wald. Sie fürchtete schon, niemals rechtzeitig zur Walpurgisnacht an dem Stein anzukommen, als sich auch schon wieder Dämmerung und Dunkelheit auf den Wald legten. Das war unheimlich, dachte Daianira. Doch was half es. Wenn das Licht wiederkam und ging, bevor sie den Stein erreicht und die letzte Hürde genommen hatte, würde Sardonias Kelch für ein ganzes Jahr hierbleiben müssen. Ein irrwitziger Gedanke, die Zeit hier einfach abzuwarten verpuffte auch schon wieder nach wenigen Sekunden, die in der Welt da draußen mehr als eine Halbe Stunde bedeuten konnten. Das medaillon zitterte nun stärker. Würde das Anthelias Kontakt beeinträchtigen? Das fragte Daianira ihre von der Außenwelt abgeschlossene Begleiterin.

"Das ist der Stein. Er bündelt die Magie des Lebens in sich. Das Medaillon mag ihn nicht, und er mag das Medaillon nicht. Aber wenn du es jetzt ablegst, kann ich dir nicht mehr verraten, wie du an den Kelch kommst." Anthelias Stimme klang schwach wie aus der Ferne. Die Verbindung war also wirklich gestört. Daianira ging rasch weiter. Der nächste Tag dämmerte innerhalb einer halben Minute herauf. Dann konnte Daianira ihn sehen. Von einem schmalen Wassergraben getrennt, ragte auf einer gerade zehn mal zehn meter durchmessenden Felseninsel ein mindestens vier Meter hoher Monolith auf. Eine schmale Balkenbrücke führte auf die Insel innerhalb der Insel. Daianira stutzte. Es gab noch eine Brücke, die genau gegenüber der ersten lag. Sie zusammen verbanden den Monolithen mit dem Rest der Waldinsel. Und genau vor dem Stein, dort wo der Süden lag, saß eine Gestalt auf einem bequemen Lehnstuhl, den Zauberstab vor sich auf den Knien. Sie hatte fast weißes Lockenhaar.

"Verdammt, wie kommt die denn hierher", dachte Daianira und umklammerte ihren Zauberstab. Dann ging sie auf die Brücke, die leicht schwankte. Doch ihr Wille trieb sie an, die kleine Insel und den Stein zu erreichen. "Lia, das ist Professeur Austère Tourrecandide, von der französischen Liga gegen dunkle Kräfte. Weißt du, woher die weiß, was es mit diesem Stein auf sich hat?"

"Sie wird wohl der Erwähnung nachgehen, meine Ex-Tante habe hier etwas wertvolles versteckt", erwiderte Anthelia ungemein kühl. Das machte Daianira leicht nervös. Sie hatte nicht damit gerechnet, hier auf eine Konkurrentin zu treffen. Doch es war ihr ganz klar, daß sie diese aus dem Weg räumen mußte, und sei es durch den Todesfluch.

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Lea Drake tauchte blitzschnell in einen Seitengang ab. Blaise Zabini hätte sie fast umgerannt. Seitdem ihre früheren Hauskameraden wieder groß in Hogwarts auftrumpfen durften, nahmen sie keinerlei Rücksicht. Zumindest war der noch kein Eigentum Voldemorts. Lea dachte daran, daß seit ihrer Rückkehr nach Hogwarts jeden Tag mindestens ein Schüler von den Carrows unter Cruciatus verhört wurde, was er oder sie von Dumbledores Armee wisse. Diese machte den Carrows immer wieder schwierigkeiten, stellte den Todessern Fallen in den Treppenhäusern, brachte Schüler in Sicherheit, die zur Bestrafung abgeholt werden sollten, verfluchte Slytherins, die den Marionetten Voldemorts helfen wollten und stachelte Peeves an, Amycus Carrow oder seiner Schwester Alecto einen Streich zu spielen. Einmal blieb die dicke Hexe an einem Nagel an der Wand hängen, riß sich dabei den Umhang auf und verlor unvermittelt alle Kleidung. Mehrere Schüler, die gerade vorbeikamen, grinsten schadenfroh, machten dann aber schleunigst, daß sie weiterkamen.

"Das zahl ich euch heim!" Keifte sie so laut, daß es durch die ganze Schule schrillte. Tatsächlich präsentierte Filch passende verdächtige, die, wenn es Mädchen waren, Carrows berühmt-berüchtigte Haarlosfrisur abbekamen und wenn es Jungen waren dem Cruciatus-Fluch und Messerverunzierungen im Gesicht zum Opfer fielen. Manchmal schwang Filch auch eine Peitsche, wenn die Carrows meinten, daß nur durch nackte Gewalt die Ordnung wieder herzustellen war. Auch wenn es lustig war, was die DA ausheckte. Die Gegenstöße der drei Todesser waren um so grausamer. Es ging sogar so weit, daß jüngere Schüler von älteren in der großen Halle verprügelt wurden. Immer wieder mußte Lea tatenlos zusehen, wenn wieder einer dem Zorn der Todesser ausgeliefert wurde. Doch es verschwanden auch nach und nach Schüler aus Hogwarts. Die Todesser glaubten, sie seien geflohen und den draußen lauernden Dementoren in die klammen Hände geraten. Doch das wirkte nicht so abschreckend auf die Schüler wie die drei ständigen und die immer mal wieder hier patrouillierenden Todesser hofften. Weitere Schüler verschwanden spurlos. Doch niemand fürchtete sich deswegen. Es schien eher so, als würden sie von einem Geheimkommando in Sicherheit gebracht oder erhielten den Tipp, wo sie eine sichere Zuflucht fänden. Lea berichtete alles was sie miterlebte ihrer Mutter Proserpina. Darüber hinaus sprach sie heimlich mit dem Gemälde Lady Medeas. Das die Todesser nicht hatten abhängen können. Von dieser gemalten Verbündeten erfuhr sie auch, daß ihr ehemaliger Schulkamerad Julius durch den Biß eines Schlangenmenschen beinahe selbst zu einem geworden wäre und nur durch das Halbriesenblut Madame Maximes gerettet werden konnte. Allerdings sei er dadurch zu einem rammdösigen Typen geworden und müsse deshalb in Madame Maximes unmittelbarer Nähe bleiben. Lea empfand eine gewisse Schadenfreude bei dem Gedanken, daß Julius nun jeden Tag mit dieser übergroßen und überstrengen Dame zusammensein mußte. Doch bei dem Gedanken, daß ihm das vielleicht gefallen mochte trübte sich ihre Schadenfreude wieder ein. Immerhin waren die Schlangenmenschen erledigt worden. Im März habe es zwar noch eine Schlacht zwischen Insektenmenschen und Wertigern gegeben. Doch die Tigermenschen aus Indien sein dann zähneknirschend abgereist. Die Entomanthropen waren seid dem nicht mehr über England gesichtet worden.

Während der Osterferien blieb Lea in Hogwarts. Sich noch einmal ihren Vater anzuhören, der über die neuen Babys motzen würde, hatte sie keine Lust. So erfuhr sie von Medeas Bild-Ich, daß die Malfoys großen Ärger mit Voldemort gehabt hätten, weil sie Harry Potter gefangen und dann doch hätten entkommen lassen. Seitdem standen die Malfoys sehr ungünstig da. Auch die sonst so gefürchtete Bellatrix Lestrange hatte sich eine Abfuhr eingehandelt und sollte angeblich nicht mehr aus dem Landhaus der Malfoys raus.

Am Ersten Mai passierte was, daß die Stimmung im Schloß schlagartig aufhellte. Lea war dabei, wie ein Gryffindor-Drittklässler seinem Kameraden aufgeregt erzählte, daß Harry Potter in Gringotts eingebrochen habe. Auf die ungläubige frage, woher der das wisse gingen die beiden in den Schlafsaal. Lea folgte. Anders als bei den Mädchen war der Jungentrakt nicht mit Alteragenus-Warn- und -abwehrzaubern gespickt. So konnte sie unangefochten folgen und eine aufgeregte und schadenfrohe Stimme eines jungen Zauberers hören, der sich im Radio River nannte und mit einem Zauberer sprach, der sich Romulus nannte und Lea an irgendwen erinnerte.

"... ist das unglaublich. Erst sind zwei rein, davon eine ganz bekannte Todesserin, die uns allen so vertraute wie verehrte Bellatrix Lestrange. Die Kobolde haben aber von irgendwem gehört, daß die Dame sich Arrest von ihrem Herrn und Meister eingehandelt hat und gar nicht herumlaufen dürfte. Das heftigste war dann, daß in den Hochsicherheitskellern nicht mehr zwei, sondern drei Einbrecher auf einem der Sicherheitsdrachen geflohen sind. Es soll sich dabei laut nicht ganz klaren Quellen um Harry Potter und seine Freunde Ronald Weasley und Hermine Granger gehandelt haben. Glaubst du das Romulus?"

"Nun, River, es ist allgemein bekannt, daß die Sicherheitsvorkehrungen der Kobolde so gründlich sind, daß jeder Einbruch sinnlos ist, auch wenn jemand verkleidet oder verwandelt bis vor ein Verlies kommt. Daß ausgerechnet Harry Potter einen derartigen Einbruch gewagt hat, obwohl vor Gringotts Ministeriumszauberer mit Überwachungsgeräten stehen und innen die besagten Sicherungen der Kobolde wirken, läßt drei mögliche Antworten zu: Entweder waren das nicht unsere drei Freunde, von denen wir zu Ostern ja schon vermelden durften, daß sie aus der Gefangenschaft der Todesser flüchten konnten. Oder es waren Potter und die anderen. Dann haben diese irgendwas gesucht, von dem sie sicher waren, es im Verlies der Lestranges zu finden, weil sonst die Tarnung als Bellatrix Lestrange nicht nötig gewesen wäre. Oder die Geschichte von dem Überfall ist eine pure Erfindung, entweder um Potter endgültig zum Verbrecher auch in den Augen der Kobolde zu stempeln oder um einen anderen Vorfall in Gringotts zu vertuschen. Ich kann aus den Antworten leider keine heraussortieren, die ich für wahrscheinlich genug halte."

"Lupin", dachte Lea und schickte per Mentiloquismus ihrer Mutter die Nachricht.

"Hätten sich originellere Decknamen aussuchen sollen. Jeder der mit altrömischer Geschichte vertraut ist weiß, daß Romulus der Bruder von Remus war, die mythischen Gründer von Rom. Und River könnte für Jordan stehen, einem ehemaligen Gryffindor."

"Jordan? Ist das nicht der Fluß, über den alle rübergehen, die sterben?" Fragte Lea, die vorsorglich von der Tür wegblieb, durch die die Diskussion im Radio lief.

"Nein, Lea, das war der Styx, aber das auch nur bei den Griechen und Römern", belehrte sie ihre Mutter.

"Styx, wie Styx Crossbow? Oha, da wären ja dann alle gestorben, die über die weggegangen sind."

"Na, Lea! Schäm dich!"

"Ich bin ganz angezogen und auch noch unsichtbar. Also muß ich mich nicht schämen", erwiderte Lea.

"Du redest wie eine drei-Sickel-Wonnefee. Dazu habe ich dich nicht soweit großgezogen und nach Hogwarts geschickt."

"Ich lass besser die Frage, woher du eine Drei-Sickel-Wonnefee kennst, Mum. Nur soviel, wenn das wirklich Potter und seine Freunde waren, die das Ding gedreht haben, könnte der Emporkömmling ziemlich sauer auf die Kobolde werden und die wiederum auf Potter und alle anderen Zauberer."

"Könnte passieren. Halt bitte weiter die Augen und Ohren offen!"

"Mach ich."

"Am besten suchst du dir eine ungestörte Räumlichkeit aus, um mit Julius zu reden. Der hat den Spiegel bestimmt trotzdem mit, wenn er bei Madame Maxime ist."

"Klar, sonst könnte der sich für die nicht schön machen", schickte Lea eine freche Antwort zurück. "Hatten die nicht gestern Walpurgisnacht. Könnte ziemlich lustig gewesen sein, die wieder auf 'nem Besen."

"mach du deine Sachen und laß den anderen ihr Vergnügen!" Bekam sie zurück. Das saß, erkannte Lea. Dann suchte sie sich einen stillen Ort aus, wo so schnell keiner hinkommen würde, die Mädchentoilette, wo seit über fünfzig Jahren die maulende Myrte spukte. Als sie diese gerade in die Kanalisation hinabgespült hatte und ansetzte, Geisterabsperrzauber aufzurufen, vibrierte der Spiegel mit dem Kelchsymbol in ihrer Umhangtasche. "Hui, das ist wortlose Telepathie", dachte sie und holte den Spiegel heraus. Sie sprach und flachste mit Julius, informierte ihn über die Nachrichten von Gringotts und wurde gebeten, Madame Maxime und ihn sofort zu benachrichtigen, wenn sich etwas neues tat. Dann kehrte sie in den allgemeinen Trakt zurück, bevor die Geistersperren sich wieder auflösten, und sie von Myrte noch ein wildes Wutgeheul abkriegen würde.

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Austère Tourrecandide hatte sich ein geräumiges Boot gelihen, weil sie nicht auf einem Besen zu besagter Insel hin wollte. Damit war sie bereits am sechsundzwanzigsten April losgefahren. Der magische Antrieb brachte das Boot auf eine hohe Reisegeschwindigkeit, so daß die altehrwürdige Meisterin gegen Flüche und dunkle Kreaturen schon am Abend den Punkt erreicht hatte, an dem sie die drei Namen aufrufen konnte. Das alleine brachte jedoch nichts, erkannte sie. Erst als ihr klar wurde, daß es hier ja ein druidisches Versteck war, wendete sie den Zauber der acht Richtungen an, der nicht einheitlich, sondern von Wind, Wetter und Sonnenstand abhängig war. Erst als sie alle acht Ausrichtungen mit entsprechenden Formeln besprochen hatte, hob sie noch einmal den Zauberstab und rief "Arianrhod! Ceridwen! Rosmerta!" Vor ihr wallte weißer Nebel auf, der sich zu einem mehr als einen Kilometer durchmessenden Ring bog. Die zeitweilige Ministerialbeamtin trieb ihr Boot durch den Nebel. Dabei meinte sie, etwas nach ihrem Körper greifen zu fühlen. Doch sie konnte keine festen Körper ausmachen. Dann war sie auch schon durch und sah die kleine, bewaldete Insel vor sich. Einen Moment lang schien ihr Boot festgefahren zu sein. Dann glitt es weiter. Sie suchte und fand eine Bucht, in der sie landen konnte. Allerdings ragten hier knapp fünfzig Meter hohe Klippen auf. Sie warf den Anker aus und sprach den Muscapedes-Zauber auf sich, so daß sie mit Händen und Füßen wie mit Saugnäpfen an der glitschigen Felswand hinaufklettern konnte. "In meinem Alter noch sowas", dachte sie verdrossen und turnte die Wand hinauf. Oben angekommen stand sie vor einer Barriere aus Baumriesen. Erst nach zwei Minuten fand sie den Eingang eines schmalen Pfades. In diesem Moment erlosch das Tageslicht. Austère Tourrecandide hatte nicht gesehen, wie rasch die Sonne untergegangen war. Sie prüfte die Uhrzeit, die hier wohl nur relativ zu sehen war. Dann ging sie, mit einer Hand voll heller, warmer, aber kein Fleisch versengenden Flammen auf der linken Hand los, wand und schlängelte, stolperte und schob sich zwischen den Bäumen hindurch, nahm jede Biegung und marschierte weiter. Mit dem zauberstab suchte sie nach einer starken Magiequelle. Doch sie erkannte rasch, daß auch die Bäume starke magische Ausstrahlung besaßen, die ineinanderfloß.So mußte sie drauf hoffen, daß der Pfad sie zum gewünschten Stein führen mochte. Sie passierte einige große Steine, die wie die abgeschlagenen Köpfe versteinerter Riesen auf sie herabzustieren schienen. Überhaupt dachte sie, von allen Seiten beobachtet zu werden. Ihr fiel die Stille im Wald auf. Sie konnte nur das Meeresrauschen hören, aber keine Vögel und auch keine Insekten. Sie dachte daran, daß nur weiblichen Wesen der Zugang zu dieser Insel gestattet war. Dann brachte es Vögeln ja nichts, wenn sie hier nicht brüten konnten. Zwischendurch kehrte das Tageslicht zurück, um innerhalb von fünf Minuten wieder abzudunkeln. Schnell überschlug sie, welcher Tag das gerade gewesen war und erkannte, daß sie noch zwei Tage hatte. So ging sie ruhig weiter, wobei noch einmal Tageslicht für fünf Minuten durch die Baumwipfel schimmerte. Dann erreichte sie eine schmale Balkenbrücke, die über die ruhige Oberfläche eines Teiches auf eine kleine Insel innerhalb der Insel führte. Dort erkannte sie den großen Stein, den sie gesucht hatte. Erneut kam der Tag. Diesmal konnte Madame Tourrecandide sehen, wie die Sonne über die Wipfel emporstieg und in einem schnellen Tempo nach Süden wanderte. Um sich ausruhen zu können, zeichnete die betagte Hexe einen hochlehnigen Stuhl und nahm Platz. Wenn die Walpurgisnacht eintrat - in wohl zehn Minuten - wollte sie keine Zeit versäumen, um unter dem Stein nach dem silbernen Kelch zu suchen. Als dann der dreißigste April im Eiltempo über ihr aufglühte und die Sonne schon im Süden stand, sah die altgediente Lehrerin jemanden aus dem gegenüberliegenden Wald treten. Sie stutzte. Das konnte unmöglich sein! Seit wann hatte Daianira Hemlock eine Tochter! Und die schien auch noch sehr füllig zu sein, weil sie beim gehen leicht wankte und ein rundes Gesicht und dicke Arme besaß. Sie erkannte wohl auch die Wartende auf der Insel und beeilte sich, über die zweite Brücke herüberzukommen. Professeur Tourrecandide ergriff ihren Zauberstab und stellte sich vor den Monolithen.

"Darf ich fragen, wer Sie sind?" Begrüßte Professeur Tourrecandide die andere.

"Dürfen Sie, Professeur Tourrecandide", erwiderte die andere in astreinem Französisch.

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Er fühlte sich sauelend. Sie hatten seine Eltern in Cambridge gefangengenommen und drohten, sie mit dem Cruciatus bis zum Tode zu foltern, wenn er nicht tat, was sie von ihm wollten. Lester Barkshire hatte vor kurzem eine Eule von einem unbekannten Mr. Freedom erhalten, der ihm anbot, ihn und zwanzig weitere Muggelstämmige mit einem Flugzeug außer Landes zu bringen. Barkshire wollte darauf eingehen und rief bei seinen Eltern an. Doch da waren die Todesser schon. Offenbar hatten sie damit gerechnet. Um seinen Eltern den Tod zu ersparen verriet er Zeit und Ort, wo sie in ein Flugzeug Richtung Australien einsteigen sollten. Vorher würden sie noch besondere Unterkleidung kriegen, um an den Magiespürern vorbeizuschlüpfen. Dann hatten sie sie auch alle erwischt und die fremdartigen Kleidungsstücke kassiert. Barkshire fragte, wo seine Eltern seien. Yaxley persönlich, der sich die Verhaftung nicht entgehen lassen wollte, sowie Dolores Umbridge von der Anti-Muggelstämmigen-Truppe, sahen ihn verächtlich an. "Sie werden sie gleich wiedersehen, Mr. Barkshire. Vielen Dank für Ihre Mitarbeit", sagte Umbridge mit ihrer honigsüßen Kleinmädchenstimme. Dann hielt Yaxley den Zauberstab auf ihn gerichtet und rief: "Avada Kedavra!" Das letzte, was Barkshire im Leben wahrnahm, war ein gleißender, grüner Lichtblitz.

"Hat sich auf der Flucht widersetzt und konnte nur durch finalen Zauber an größeren Schäden gehindert werden", sagte Yaxley, als er seinen Zauberstab wieder fortpackte. Umbridge deutete auf die Gefangenen, die hatten zusehen müssen.

"Sie werden unverzüglich nach Askaban gebracht, wo sie verbleiben, bis sie einer nach dem anderen erklären werden, woher Sie Hilfe bekamen", schnarrte Umbridge nun alles andere als honigsüß. "Kooperation erhält Ihnen das Leben."

"Haben wir gesehen", traute sich ein junger Mann in blauer Segeltuchhose und buntem Hemd.

"Der wollte seine Eltern wiedersehen", feixte Yaxley. "Den Gefallen haben wir ihm getan."

"Mörder. Auch euch schlägt einmal die Stunde", stieß eine Frau aus, der gerade der Zauberstab abgenommen worden war. "Auch euer Lord Voldemort ist nicht unbesiegbar." Die Luft flimmerte. Yaxley lachte und schaute sich rasch um. Als ein Rudel verwegen aussehender Zauberer apparierte bellte er wie eine Dogge: "Haut wieder ab, wir haben das hier im Griff!"

"Yaxley?!" fragte einer ungläubig.

"Genau der. Verpfeift euch wieder. Könnten noch welche frei rumlaufen."

"Okay, Sir. Kein Problem, Sir", erwiderte der Anführer der Greifer und machte entsprechende Gesten. Die Männer wirkten schwer enttäuscht, weil ihnen ein dicker Batzen Gold durch die Lappen gegangen war. "Und diese Schlammblüter abführen, wenn ihr euch die Handschuhe angezogen habt!" Schnarrte Yaxley noch. Umbridge lächelte eiskalt. Bald würde die heimliche Fluchthilfe Geschichte sein. Und wenn sie herausbekamen, wie diese Anti-Aufspürsachen funktionierten ...

Als dann einer der Ministeriumszauberer eines der besonderen Unterkleidungsstücke mit Enthüllungszaubern bearbeitete, leuchtete es grün und dann rot auf. Der Prüfer beachtete es nicht weiter und wollte einen Besonderheitenanzeiger anwenden, da fing das Ding an zu pfeifen. Der Prüfer stutzte und wich einen Schritt zurück. Das war sein Glück. Denn das verdächtige Objekt sprang förmlich vom Untersuchungspult an die Decke, wo es mit einem lauten Prasseln zu einer Wolke roter, grüner und silberner Funken auseinanderflog. Gleichzeitig entstand im Prüfungsraum ein widerlicher Gestank nach faulen Eiern. Das Objekt hatte offenbar einen genau auf die Prüfungszauber abgestimmten Selbstvernichtungsfluch eingewirkt bekommen. Und wie es dem einen Prüfer erging, geschah es auch bei drei anderen Prüfern. Nur das die verdächtigen Kleidungsstücke nicht einfach nur explodierten, sondern auch zu stinkendem Nebel wurden, die Sachen das Prüfungspult mit grünem Feuer in Brand setzten und einiges mehr. Somit verfügte Yaxley, daß man die Anti-Aufspürsachen besser gleich vernichten sollte, wenn sie schon nicht verraten wollten, wie sie das machen konnten.

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Daianiras Herzschlag und Atemgeräusche überlagerten fast die Töne, die Anthelia durch die Ohren ihres exotischen Kerkers hörte. Sie hatte schon von Professeur Tourrecandide gehört. Sie war eine langjährige Fachlehrerin für die Bekämpfung dunkler Zauber in Beauxbatons gewesen. Anthelia dachte leise genug, daß das Medaillon es nicht weitergab, daß es wahrlich eine würdige Gegnerin für Daianira war. Das würde Daianira nicht lange fackeln lassen. doch sie sprachen eine kostbare Minute, in der die Sonne weiter in richtung Westen wanderte.

"Ich bin die Bewahrerin des Wissens Anthelias. Ein mächtiger Fluch hat mich alles aufnehmen lassen, was sie ausmachte. Jetzt trage ich ihr Wissen mit mir herum. Ich weiß nicht warum Sie auch hier sind. Aber wenn sie einen gewissen Metallgegenstand suchen, dann muß ich Ihnen sagen, daß ich den nötiger brauche als Sie."

"Ist Daianira Hemlock Ihre Mutter. Sie ähneln ihr außer einer gewissen Leibesfülle", schnaubte die Tourrecandide. Anthelia wollte endlich alles zu Ende kommen lassen. Sie hörte Daianiras Herzschläge. Waren das die letzten zwanzig, zehn oder fünf?

"Besser dick als verblichen und vertrocknet", schnarrte Daianira. "Sie haben fünf Sekunden Zeit, zu verschwinden. Andernfalls muß ich Sie ultimativ bekämpfen."

"Sie drohen mir?! Verheben Sie sich da nicht, Mademoiselle!"

"Ganz sicher nicht. Vier! Drei! zwei! Eins! Avad...""

"Katashari!" Hörte Anthelia von Tourrecandide einen Zauberspruch, den sie nicht kannte. Daianira hätte fast das erste der beiden alles entscheidenden Wörter gerufen. Da traf sie und damit auch Anthelia ein silbernes Licht und überlagerte für zwei Sekunden alle Bildeindrücke wie eine Wand aus Vollmondlicht. Anthelia fühlte sich irgendwie frei von jeder Wut, von jedem Todeswunsch. Daianira stand mit dem silbergrauen Zauberstab da wie eine Statue, unfähig, irgendwas zu unternehmen. Und Tourrecandide hatte noch nicht ausgezaubert. Anthelia fürchtete schon, daß diese dumme Hexe Daianira dadurch das Leben retten würde, als Tourrecandide die zweite Zauberformel rief, die weder Daianira noch Anthelia kannte: "Angarte Kasanballan Iandasu Janasar!" Durch Daianiras Augen sah Anthelia einen fingerdicken weißen Lichtstrahl, der beinahe das Medaillon getroffen hätte. Doch aus irgendeinem Grund ruckte der Zauberstab ein Grad nach unten, so daß der Zauber den Bauch Daianiras traf. Ab da wußte Anthelia nicht mehr, wie viel Zeit verging. Sie hörte nur zwei Herzen, das Herz eines Fötus und das seiner Mutter. Sie sah nur einen goldenen Glanz um sich. Dann trieb sie ohne Geräuschgefühl in einem goldenen Strudel. Wie lange, das wußte sie nicht. Sie dachte jedoch nicht daran, das letzte Wort zu denken, daß ihr die Flucht in das Medaillon ermöglichte. Sie trieb in diesem Wirbel. Dann, mit einem Ruck, fand sie sich am Boden liegen. Ein unerträglicher Druck lastete auf ihren Lungen. Sie mußte atmen. Sie holte tief Luft, während Tourrecandides Stimme in einer Mischung aus tiefster Bestürzung und Schmerzen aufschrie. Anthelia atmete. Sie atmete! Sie hielt die Luft an. Das konnte doch nicht .. das war doch nicht wahr! Das konnte doch nur ein Traum sein. Sie bewegte die linke Hand. Sie konnte die Hand durch leere Luft bewegen! In der Rechten fühlte sie das schmale Stück Holz eines Zauberstabes. Sie war wieder eine Geborene?

"Nein, was ist das? Hauua!" Anthelia stand auf. Sie konnte sich alleine hinstellen. Erst fürchtete sie, sie habe mit Daianira die Körper getauscht. Doch als sie ihren Leib berührte, fand sie keine eindeutige Vorwölbung. Dann sah sie Professeur Tourrecandide, die gerade ihre Hände auf den Unterleib legte, der so heftig vorgetrieben war, daß ihr Umhang gespannt wurde. Gleichzeitig schwollen die eigentlich schon schlaffen Brüste zu doppelt so großen Formen an, daß die obere Schließe des Umhangs aufsprang. Tourrecandide schwankte. Ihr Gesicht blähte sich auf. jetzt sah sie aus wie im siebten oder achten Schwangerschaftsmonat. Sie sah so aus? Anthelia mußte unüberlegt loslachen. Sie sah Tourrecandide an und lachte, während die Hexe ihre Hände auf dem Bauch liegen hatte und merklich schwankte. Anthelia lachte immer noch, als Tourrecandide fast hinfiel. Schnell trat Anthelia hinzu. Denn ihr fiel im Letzten Moment ein, daß sie bloß keine Magie verwenden durfte, die gegen einen lebenden Körper gerichtet war. So setzte sie die mit ihrer Lage absolut überfordert wirkende Hexe auf den von ihr selbst gezauberten Stuhl, der leise knarrte.

"Das kann nicht wahr sein!" Rief Tourrecandide in einem Anfall großer Verzweiflung und Bestürzung.

"Verdammt, was ist das?" Schallte jetzt auch Daianiras Gedankenstimme in Anthelias Kopf. Diese prüfte erst, ob sie die Kleidung und die Sachen am Leib trug, die Daianira mitgenommen hatte. Ja, sie trug den nun viel zu weiten Umhang und wohl die ebenso zu weite Unterwäsche. Ihr Gürtel lag an, der sich bei Daianira wohl von selbst erweitert hatte und sich nach der unerwarteten Verwandlung sofort wieder auf eine dünnere Taille einstellte.

"Ich höre, du bist gut in die französische Einraumwohnung umgezogen, Daianira", mentiloquierte Anthelia. Dann ging ihr auf, daß ihre telepatischen Sinne wieder funktionierten. Tourrecandide konnte wohl unter dem Schock nicht die Occlumentie oder Okklumentik benutzen, und Daianira hatte auch ganz andere Sorgen, als ihren Geist zu schließen.

"Du verdammtes Biest, wie hast du das gemacht?" Dachte Daianira. "Das darf doch nicht wahr sein. Ich will hier wieder raus."

"Das wollte ich auch, Daianira", dachte Anthelia ihr zu. "Ruhiger atmen, Ihr Kreislauf muß die plötzliche Veränderung erst verkraften", sprach sie die auf dem Stuhl hockende, wild keuchende und schluchzende an.

"Wie kommt das? Sie waren doch vorher .. Sie sind jetzt ...", quälte sich Tourrecandide die ersten Worte nach der unerwarteten Veränderung ab. Tränen rannen bereits aus ihren blauen Augen.

"Die Erbin Sardonias, Professeur Tourrecandide. Höchstwahrscheinlich haben Sie schon von mir gehört."

"Hauua, habe ich, verflucht noch mal."

"Daianira, nicht so wild, deine Mutter muß sich erst darauf einstellen, für dich da zu sein", mentiloquierte Anthelia, weil sich etwas ungebärdiges im Bauch Tourrecandides austobte.

"Wie hat sie das gemacht. Warum bist du jetzt wieder draußen und ich drinnen und dann in der alten Schachtel. Die krepiert doch noch und nimmt mich dabei mit", erhielt Anthelia Daianiras wütende Gedankenantwort.

"Sie können mit ihm mentiloquieren?" Keuchte Austère Tourrecandide. Anthelia nickte.

"Ich bin immer noch eine Sie, Sie Vollidiotin", hörte Anthelia, wie Daianira Professeur Tourrecandide anmentiloquierte. Diese verzog das Gesicht. Noch mehr Tränen quollen aus den Augen der älteren Hexe, der regelrecht ein Kind zugeflogen war, daß darüber hinaus noch im Mutterschoß mit ihr schimpfen konnte.

"Sie waren das. Sie haben das mit mir und dieser anderen ... Daianira Hemlock, angestellt", schnaubte Professeur Tourrecandide.

"Sie hätten absolut kein Problem gehabt, wenn Sie Daianira den Todesfluch hätten ausrufen lassen", erwiderte Anthelia, die sich in dieser Lage sonnte, wo gerade der neue Morgen dämmerte. Die Walpurgisnacht war im Trubel des Kindlein-Wechsel-Dich-Zaubers ohne weitere Beachtung verweht.

"Was meinst du damit, du undankbare Schlange?" wütete Daianiras Gedankenstimme. "Wolltest du, das ich die alte umbringe?"

"Das ist noch lustiger, Daianira. Wenn du den Fluch ausgesprochen hättest, wärest du und nicht sie davon getroffen worden. Denn hier, an diesem Ort, nur ganz wenigen bekannt, wirkt jeder Zauber auf ein anderes Lebewesen auf die ein, die ihn aufruft. Deshalb ist es schon interessant, was Sie genau gemacht haben." Anthelia freute sich, mit einer eigenen Stimme sprechen zu können, sich frei bewegen und die Waldlandschaft um sich herum riechen zu können. Zwar pulsierte das Medaillon noch heftig. Aber es pulsierte an der Brust seiner einzig wahren Besitzerin. Beinahe hätte sie sich dort hineingewünscht und wäre dann erst durch das Körperwiederbeseelungsritual wieder dorthin zurückgekehrt. Aber sie war wieder auf der Welt! Sie atmete und stand auf eigenen Beinen. Sie atmete und sprach. Und demnächst würde sie es genießen, Essen mit dem Mund aufzunehmen und mit entwickelten Zähnen durchzukauen, hinunterzuschlucken und nur ihren Magen und ihren Herzschlag zu hören. Die Euphorie drohte Anthelia zu übermannen. Doch im Moment durfte sie sich dieser nicht hingeben. Wenn sie die beiden anderen Hexen sterben ließ, bevor sie von der Insel herunter war, würden die Wächterinnen sie dafür bestrafen, wußte sie. Denn sie duldeten kein Töten zwischen Hexen. Sie horchte. Ja, sie hörte es in den Bäumen wispern. Dort drinnen wohnten die letzten Druidinnen, die ihre alte Zeit verblühen sahen und lieber hier bleiben wollten, als sich dem Patriarchat der frühen Christen auszuliefern. Sie konnte es ihnen nicht verdenken.

"Das heißt, Sie waren ebennoch ... in ihrem Leib?" Keuchte Professeur Tourrecandide. Anthelia bekam mit, daß sie kurz vor dem Zusammenbruch stand. Sie mußte sie beruhigen, und zwar ohne Magie. Daianira hatte sich offenbar schon verausgabt oder bekam zu wenig Blut, um sich weiter zu verausgaben. Anthelia nickte und deutete auf Tourrecandides Unterbauch.

"Ein Versehen, eine Überheblichkeit, wie ich heute zugeben muß. Ich wollte eigentlich sie im Duell mit Infanticorpore belegen. Sie baute einen schwarzen Spiegel auf, gerade als das letzte Wort fiel. Da fiel der Fluch fünfmal so stark auf mich zurück, und ich wurde zu Daianiras ungeborener Tochter. Wie auch immer, Sie haben den Fluch offenbar umgekehrt, aber dabei nicht mich mit ihr, sondern sich mit ihr schwanger werden lassen. Das verstehe ich nicht. Obwohl, Moment!" Sie betrachtete Tourrecandide. Die vorhin noch weißen Haare waren nun tiefschwarz, und die Haut, obwohl durch die blitzartig forangeschrittene Schwangerschaft aufgequollen, wies wenige Falten auf. "Ich darf Ihnen, auch wenn es ironisch erscheinen mag, nicht nur zu ihrer späten Mutterschaft gratulieren, sondern auch zu einer Verjüngung. Oder ist Schwarz nicht ihre frühere Haarfarbe gewesen."

"Du Schlampe", hörte Anthelia Daianiras wütende Gedanken, die aber nicht als Mentiloquismusbotschaft ausgestrahlt worden waren.

"Wie bitte?! Das kann es doch nicht geben. Ich kann mich doch noch an alles erinnern", sagte die unglückliche Hexe. Anthelia zauberte mehrere Kissen herbei und wollte ihre unverhoffte Retterin aus Daianiras Einzelhaft weicher betten. Doch diese wehrte ihre Hände mit einem panischen "Fassen Sie mich nicht an!" ab. Anthelia blieb ruhig, obwohl die Euphorie immer noch versuchte, sie jauchzen und springen zu lassen. Sie war erwachsen, eine voll erblühte Frau, kein hilfloses Bündel Fleisch und Blut in einem nassen Hohlraum mehr.

"In Ordnung, Madame, die Kissen lasse ich Ihnen, falls sie sich bequemer setzen wollen."

"Ich will dieses ... ich will sie nicht ..." Stammelte die Lehrerin, die nun wieder näher am Nerven- und Kreislaufzusammenbruch war als vor einigen Sekunden, die außerhalb der Inselzeit schon Viertelstunden sein mochten.

"Sag ihr, ich will auch nicht aus dieser alten, vertrockneten ..." setzte Daianira an, Anthelia eine Gedankenbotschaft zu senden. Anthelia sagte rasch:

"Sie möchte Ihnen nicht zur Last fallen. Mit dem Ausgang haben weder sie noch ich gerechnet. Ich ging davon aus, meine Widergeburt vermeiden zu können, in dem ich den Freitod durch die Hand dieser Frau, die gerade in Ihnen ruhen darf, vorgezogen hätte. Aber jetzt ist die Situation eine andere, wenngleich für jeden irgendwie erfreulich. Daianira und ich haben überlebt, Sie haben mindestens sechzig Jahre Lebenszeit zurückbekommen, ohne den bei üblichen Verjüngungen begleitenden Erinnerungsverlust, und falls Sie die nächsten zwei Hell-und-Dunkelphasen Ruhe bewahren und sich ganz entspannen und an nichts anstrengendes denken oder es tun, kann ich garantieren, daß Ihnen jemand die Bürde abnimmt, die Sie sich ohne es zu wollen aufgeladen haben." So ganz konnte sie bei aller Sachlichkeit das Freudestrahlen nicht aus dem Gesicht bringen.

"Heuchlerin", schnarrte Daianiras Gedankenstimme. Anthelia konzentrierte sich und schickte ihr die Botschaft:

"Daianira, du hast jetzt die gleichen Chancen wie ich, neues Leben oder vorzeitiger Verlust des Lebens. Ich werde gleich von dieser Insel abreisen, weil von hier aus kein Mentiloquismus möglich ist. Ich verspreche dir, daß ich Leda anmentiloquiere, wenn ich aus dem Zeitverzögerungsbereich heraus bin. Ich gehe davon aus, daß sie mit dir den Transgestatio-Zauber machen wird, nachdem sie den Fortuna-Matris-Trank getrunken hat. Oder möchtest du Madame Tourrecandides späte Lebensfreude werden?"

"Überhaupt nicht. Diese blöde Kuh hat dich befreit und mich dafür einverleibt. Ich will nicht noch deren Tochter sein."

"Okay, dann bleib bitte ganz ruhig und bewege dich nicht übermäßig", dachte Anthelia ihr zurück. Laut sagte sie: "Madam Hemlock, deren Körper sie unabsichtlich in sich aufnahmen, hat eine Base, die Heilerin ist. Ich bin absolut sicher, daß sie mit aller größtem Wunsch die zur Leibesfrucht zurückverwandelte von Ihnen übernehmen möchte. Es sei denn, Sie erwägen, im kommenden Juni der Welt eine gesunde und geistig bereits voll entwickelte Tochter zu präsentieren. Daianira wollte mit mir diesen Weg gehen, und das ist auch der Grund, warum mir daran liegt, daß Sie beide überleben."

"Heuchlerin", dachte Daianira. Anthelia mußte einräumen, daß sie diesmal damit recht hatte. Denn ihr ging es nur darum, nicht von den Wächterinnen bestraft zu werden, wenn sie es nicht schaffte, vor dem Tod der einen oder der anderen die Insel zu verlassen.

"Was denken Sie, wie ich das der magischen Öffentlichkeit erklären soll, die mich vor wenigen Tagen noch mit schlankem Körperbau und nicht so aufdringlich ausgeprägter Oberweite sehen konnte?"

"Na gut, Transgestatio baut die bereits angehäuften Fett- und Milchreserven nicht schlagartig ab. Sie müßten also den Retrolactustrank und einen Körperentfettungstrank einnehmen, eine Ihnen genehmere Figur zurückzugewinnen."

"Haha. Die krepiert hier gleich, meine liebe Tochter", erwiderte Daianiras Gedankenstimme. Anthelia konnte sich denken, daß ihre bisherige Zweckpartnerin und Mutter auf Zeit am unregelmäßigen Herzschlag und Atem hören konnte, daß es Professeur Tourrecandide nicht sonderlich gut ging. Aber sie hatte keine Heiltränke mit. Oder doch?

"Du hast mich ja nicht gucken lassen, was Leda eingepackt hat. Ist auch ein Beruhigungstrank dabei?"

"Ja, extra für Schwangere", gedankenschnaubte Daianira. Anthelia sagte dann nur: "Besagte Heilerin gab Madam Hemlock einen Kreislaufberuhigungstrank mit. Falls Sie mir vertrauen, werden Sie und Daianira lange genug überleben, bis Madam Greensporn eintrifft."

"Eileithyia Greensporn? Die ist doch fast so alt wie ich", erschrak Madame Tourrecandide. Anthelia mußte doch grinsen. Daianira offenbar auch. Denn sie fing amüsierte Gedanken von ihr auf.

"Sie meint Leda Greensporn, meine Hebamme, mit deren Hilfe ich eigentlich dieses hinterhältige Aas anständig wiedergebären wollte, um ihr die Chance zu geben, anständig zu handeln."

"Und Sie sind anständig?" Fragte Madame Tourrecandide. "Ich habe doch gehört, daß Sie als die Führerin dieser Postsardonianerinnen vermutet werden. Erzählen Sie mir, einer eingetragenen Großhexe der Liga zur Abwehr dunkler Künste, nichts von Anstand. Womöglich wollten Sie den Sanctuamater-Zauber auf die dort anwenden."

"Versucht hat sie es in der Tat", erwiderte Anthelia mädchenhaft schmunzelnd. "Problem nur, daß dieser Zauber ausschließlich bei unentwickelten Persönlichkeiten wie eben gewöhnlichen Ungeborenen wirkt und sich als allererste Geisteshaltung überhaupt in der tiefsten Region des Gedächtnisses verankert. Oder was denkst du, warum ich die Situation herbeigeführt habe, die wir jetzt erleben? Weil ich dir Schmerzen ersparen und unnötige Fragen vom Hals halten wollte?"

"Schmerzen", stammelte Madame Tourrecandide. Offenbar wurde ihr Herzschlag schneller, weil Daianira ein verstörtes "Oha", dachte. Anthelia sah sich um und fand Daianiras Tasche, Mit ihrer telekinetischen Begabung, die ihr nun wieder ausgeprägtes Gehirn mühelos aufbringen konnte, holte sie die Tasche zu sich und holte den Kreislauf- und Nervenberuhigungstrank heraus. Sie bot Madame Tourrecandide das Mittel an. Diese wollte ablehnen. Doch Daianira mentiloquierte ihr zu: "Wenn Sie mit mir im Bauch sterben hat die gewonnen. wollen Sie das?" Madame Tourrecandide nahm den Trank und nahm einen großen Schluck davon. Nach wenigen Sekunden setzte die alles beruhigende Wirkung ein.

"Bevor du einnickst, Daianira möchte ich dir drei Sachen sagen, die dir zwar auch wie Heuchelei vorkommen werden, aber von meiner Seite aus die Wahrheit sind. Zum einen bedanke ich mich dafür, daß du mir geholfen hast, die Schlangenkriegerplage zu bekämpfen. Zum zweiten möchte ich deinen Mut loben, eine potentielle Feindin im eigenen Leib auszureifen. Ob ich diesen Mut aufgebracht hätte weiß ich nicht. Zum dritten: Mir lag und liegt nicht daran, daß die Entomanthropen meiner Tante Sardonia wahllos gegen Menschen vorgehen. Sie hat sie dazu gezüchtet, das stimmt. Aber ich will dieses Übel aufhalten. Und nur ich kann das jetzt noch, weil ich die ererbten Erinnerungen meiner Tante auf eine Möglichkeit prüfen kann, die hervorgerufene Pest wieder auszurotten. Ich schicke euch Leda herüber, falls sie den Umschlag, den du ihr gegeben hast, nicht in den nächsten Inselminuten aufmacht und eh herüberkommt. Ich teile ihr mit, was geschehen ist und werde versuchen, weiteren Schaden durch Valery zu verhindern und im Zweifelsfall auch mein wiedergeschenktes Leben dafür einsetzen. Gut, ich war bereit, mich mit dir töten zu lassen. Aber Sardonias Erbe wäre dann nicht verloren gewesen." Hier unterschlug sie, daß jeder, der das Medaillon angefaßt oder umgehängt hätte unwissentlich ihr Leihkörper geworden wäre. Sie hätte also so oder so gewonnen. Sie erfaßte, daß Daianira unter der Wirkung des Trankes langsam wegdämmerte. Auch Professeur Tourrecandide beruhigte sich merklich. Anthelia fühlte ihren Puls, als sie, von der hohen Dosis des Trankes halb betäubt, keine Abwehrreaktionen mehr äußerte.

"So kann ich euch beide hierlassen", dachte die Führerin des im Moment zerfaserten Netzes der Spinne. Dann hörte sie einen Gedankenchor aus den Bäumen:

"Du mußt dafür büßen, diese beiden Hexen gegenihren Willen vereint zu haben. Du wirst bei uns bleiben, bis der letzte Tag anbricht und eine von uns sein, wachend über Leben und Frieden. So komm nun von der Insel und stell dich zu uns."

"Das glaubt ihr aber nur", dachte Anthelia.

"Du hast keine Wahl. Wenn du unsere heilige Erde betrittst, ereilt dich die beschlossene Strafe."

"Danke für diesen ausgezeichneten Hinweis", dachte Anthelia zurück. "Accio Besen!" Rief sie. Es dauerte eine halbe Minute, noch eine halbe Minute. Der Tag verlosch schon langsam. Das war der erste Mai gewesen. Anthelia wartete weiter. Doch der Besen kam nicht. Dann versuchte sie, ihn zu apportieren.

"Wir halten all dein Zaubern von dem Fluggerät fort. Du wirst nun zu uns kommen und deine Strafe empfangen oder elendiglich verhungern und verdursten."

"In dem Graben ist genug Wasser", dachte Anthelia. Ob die Bäume das empfingen wußte sie nicht. Dann mußte sie wieder laut lachen. Sie war doch wieder sie, Anthelia, eine Animaga! "Mal sehen, ob ihr den auch blockiert", dachte sie und konzentrierte sich. Ja, es klappte. Sie fühlte, wie sie kleiner wurde und ihre eh zu weite Kleidung mit Zauberstab und Gürtel unter einem dichten schwarzen Federkleid verschwand. Keine drei Sekunden nach Anthelias Wunsch, ihre Animagus-Form anzunehmen, hockte vor dem Stuhl mit der nun wie verträumt dösenden Tourrecandide eine große Krähe, die kräftig mit den Flügeln Schlug. Luft, saubere, kühle Luft und kein warmes Fruchtwasser mehr. Anthelia hob ab und schraubte sich so schnell sie konnte so hoch, daß sie weit über die Baumwipfel aufstieg. Sie dachte, daß es im Moment nicht hoch genug gehen konnte. Denn die Bäume rauschten und schwangen ihre Äste nach oben, versuchten, sie über die Brücke zu schwingen. Doch Anthelia drehte ihre steilen Aufwärtsspiralen direkt über dem Zentralmonolithen, den ihre Tante Sardonia ihr einmal gezeigt hatte. Sie stieg höher und höher. Sie hörte mit ihrem Gedankenhörsinn noch, wie der Chor der tausend Wächterinnen in den Bäumen ihr nachrief, daß sie nie wieder den Boden der heiligen Insel betreten dürfe, ohne die ihr gebührende Strafe zu erhalten. Doch das war eine Drohung, die leerer war als der Raum zwischen den Milchstraßensystemen. Was wollte sie denn hier noch? Sie hatte den Tod gesucht und ihr Leben wiedergefunden. Sie hatte Daianira bei der Gelegenheit entmachtet. Denn, das wußte sie, Leda würde ihre Cousine bestimmt nicht gleich nach der Geburt wieder groß werden lassen. Sie stieg noch etwas höher. Dann nahm sie Kurs auf das Meer, das sie im Licht der über ihr schnell wandernden Sterne und des ebenso rasch seine Bahn ziehenden Mondes glitzern sah. Kam sie hier überhaupt weg? Immerhin konnte sie die Trennschicht der beiden Zeiten noch zurückhalten. Aber dann hätten es die Wächterinnen triumphierend verkündet, daß sie hier auf ewig gefangen bleiben würde. Sie flog eine halbe Minute. Noch war nacht. Eine Nacht, die sie nie vergessen würde. ihr dritter Geburtstag, der zweite Mai 1998. Das es auch für andere eine unvergeßliche Nacht werden sollte, konnte sie nicht einmal ahnen.

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Lea glaubte es erst nicht, als sie es hörte. Harry Potter war in Hogwarts? Doch die noch herumwuselnden DA-Mitglieder tuschelten, weil sie sich unbeobachtet fühlten und gaben es leise weiter. Lea suchte das Bild der Lady.

"Mylady schickt bitte Aurora Dawn zu Julius! Ich möchte mit ihm direkt sprechen. Harry Potter ist in Hogwarts. Das könnte vielleicht eine Schlacht hier geben, wenn er sich schon hertraut."

"Ich richte es aus, Jungfer Lea", sagte die gemalte Lady Medea. Dann wurde diese zum weißen Schwan und flog aus dem Bild.

"Das lerne ich auch, wenn ich weiß, welches Tier mir liegt", dachte Lea und lief die Korridore entlang. Dabei konnte sie gerade so noch Adrian Moonriver ausweichen, der einem Hufflepuff-Erstklässler beistand, der gerade von zwei Sechstklässlern aus Slytherin bedrängt wurde, ihnen zu verraten, woher das käme, daß Potter in Hogwarts sei. Lea fühlte, daß ihre Unsichtbarkeit gefährdet war. Dieser Moonriver, der mindestens fünfmal älter war als er aussah, hatte was an oder bei sich, mit dem er ihre Unsichtbarkeit aufheben konnte. Sie sah noch, wie er die beiden Rüpel mit einer einzigen Zauberstabbewegung durch die Luft fliegen ließ.

"Ihr seid so feige Säue, euch zu zweit an einem Kleineren zu vergreifen", blaffte er wie ein wütender Kampfhund. "macht euch in euer Dreckloch. Wenn Potter echt hier bei uns ist, wird Old Slughorn das schon mitteilen, ob der hierbleibt oder wieder verschwindet."

"Wie macht der das?" Rief einer der gerade wuchtig durch die Gegend telekinierten Jungen. "Der kann doch als Drittklässler nicht sowas."

"Ah, dann passen Sie mal auf, Junger Sir, was der Kleine noch alles kann", knurrte Moonriver und machte zwei rasche Zauberstabbewegungen. Peng! Peng! Statt der beiden übergroßen Schüler standen da zwei rosarote Jungeber und glotzten verdattert mit ihren Schweinsaugen. Einer grunzte laut. Sollten wohl Wörter werden. Aber weil das kein Animagus oder die innere Tiergestalt war, klappte das nicht.

"Oink!Oink! Ich sagte, ihr seid zwei feige Säue -Okay, Eber. Ich wollte es nicht ganz so arg machen."

"Quuuuiiiiieeek!" Stieß der zweite verstört aus. Der erste preschte im Schweinsgalopp los. Lea dachte das, was Moonriver aussprach: "Ist das ein Trottel."

"Schwein muß man haben", dachte Lea dann noch und tauchte schnell in einen Seitengang, während hinter ihr ein neuer Knall die Rückverwandlung des verbliebenen "feigen Schweines" betonte. Sie lief weiter in einen anderen Korridor hinein, als ihr Zweiwegespiegel vibrierte und zwar so, daß sie ihn sogar summen hören konnte. Sie fischte das magische Bild-Sprech-Werkzeug aus ihrem Umhang, wobei sie einen für sogenannte anständige Hexen verbotenen Gedanken dachte: "Wenn der mir zeigt, wie der den so anwirft tu ich mir den demnächst anderswo hin." Laut sagte sie dann, als sie statt ihres Spiegelbilds gerade noch Julius' Gesicht in einem silbrigen Glanz erkennen konnte, was sie gerade fast erlebt hatte, wobei sie die Schweinerei Moonrivers ausließ. Mußte die Halbriesin und diese überkorrekte Blanche Faucon nicht wissen. Die waren bestimmt verblüfft, weil sie ihnen im guten Polyglosse-Babel-Französisch kam. Sie schilderte die Situation und eilte dann zum Haus Ravenclaw, wo sie Zeugin und Live-Berichterstatterin wurde, wie die Carrows von Harry Potter, Luna und Professor McGonagall außer Gefecht gesetzt wurden. Danach wollte sie an und für sich hinter den beiden her, mußte jedoch herunterrennenden Ravenclaws ausweichen. Dann ging's zu Snape. Doch der hatte sich wohl verflüchtigt. Denn Professor McGonagall rief "Feigling!" durch den Korridor. Julius blickte das erst nicht, was Lea amüsierte. Doch nur so konnte das ausgegangen sein. Dann kam Voldemorts Stimme magisch verstärkt in allen Räumen und Gängen an. Der Herr der Todesser forderte die Herausgabe von Harry Potter, sonst würde seine Mörderbande angreifen. Sie postierte sich in der großen Halle und verfolgte für sich und die anderen mit, wie der Evakuierungsplan verkündet wurde.

"Mum, Hogwarts steht vor Entscheidungsschlacht zwischen Potter, dem Emporkömmling und deren jeweilige Anhängsel. Minderjährige werden alle rausgeschmuggelt."

"Evakuiert? Dann ist es ernst. lea, du läßt dich auch evakuieren!"

"Mum, was hier gleich abgeht ist bestimmt das wichtigste der nächsten hundert Jahre. Ich bin doch unsichtbar."

"Keine Widerrede, mein Kind. Wenn die evakuiert werden gehst du mit."

"Okay, mach ich", schickte Leazurück. Doch in wirklichkeit fiel ihr das im Traum nicht ein, sich aus Hogwarts rausevakuieren zu lassen. Sie hatte ihrer Mutter nicht erzählt, daß sie die Spiegelverbindung angeworfen hatte. Würde sie später tun, wenn sie wußte, ob die Todesser oder die D-Armisten und die Phönixleute gewonnen hatten. Wenn erstes passierte, würde sie wohl nicht mehr nach Hogwarts zurückkommen. Falls es dann überhaupt noch stand. Wußte sie denn, mit welchen Kräften die Angreifer zulangten?

Sie wollte Harry Potter hinterher. Doch der verschwand schon wieder. Der kannte offenbar alle Geheimgänge in Hogwarts. Da müßte sie wohl noch dran arbeiten. Als dann Mitternacht kam ging die Schlacht auch schon los. Sie konnte einen Riesen mit einem Erstickungszauber belegen, half mehreren Mitschülern unsichtbar, wobei sie sich fragte, ob dieser Übermensch Moonriver sich wirklich freiwillig hatte evakuieren lassen.

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"Könnte sein, daß Todesser den Eberkopf angreifen, wenn wir da alle landen", dachte Adrian Moonriver. Deshalb verwarf er seinen ersten Gedanken, sich aus der Reihe der Gryffindors abzusetzen und sich heimlich in Stellung zu bringen. Eigentlich mußte er das tun. Denn außer den Lehrern und denen vom Phönixorden war doch keiner hier, der ein anständiges Duell durchkämpfen konnte. Das gab doch nur ein unnötiges Blutbad. Doch der Gedanke, alle Minderjährigen beschützen zu können, wo die Lehrer in Hogwarts blieben, wog schwerer. So trippelte er mit den echten Grünschnäbeln mit hinauf zum Raum der Wünsche. Von dort aus ging es im schnellen Galopp durch einen Tunnel hinunter, der mitten in einem Raum aufhörte, den Adrian schon einige Male beehrt hatte, als er hier mit dem alten Aberforth auf die wilden Zeiten angestoßen hatte. Auch wenn Aberforth das nie verstand, daß Adrian, der damals noch Adamas Silverbolt geheißen hatte, Dumbledore immer wieder beipflichtete, waren die beiden Rauhbeine Freunde geblieben. Tja, und jetzt stand er wieder hier in diesem Raum und sah, daß sie aus einem besonderen Bild herausgepurzet kamen. Er hatte keine Zeit zum warten und lief mit den anderen Ankömmlingen durch den Raum hinüber in die Gästezimmer. Wie immer hielt A. D. nichts vom Saubermachen. Auf den Betten tummelten sich Wanzen. In den Nischen klebte feuchter Staub. Hier schlafen wollte er nicht. Da war ja die erste Windel, die er als Baby Adrian vollgemacht hatte sauberer als dieses Loch hier.

"Was ist das denn?" Ekelte sich Romilda Vane, eine ZAG-Kandidatin über ein grünlich-graues Geflecht über dem Bett.

"Das könnte eine Unterart von Aspergillus sein, Grünschimmel", meinte Timo Walleby, ein Viertklässler aus Ravenclaw.

"Das ist doch nicht wahr", gab Glenda Honeydrop, Romildas Klassenkameradin angewidert zurück."

"Sicher ist das wahr, Mit dem Zeug kann man geniale Tränke gegen Entzündungen und Eiterbeulen ansetzen", bestand Walleby darauf, das grün-graue Zeug richtig bestimmt zu haben.

"Mädels, ich ratzeputz das mal eben durch, wenn euch das ankotzt", bot Adrian an. Die Mädchen nickten, während die Jungen mit ihren Lippen das Wort "Schleimer" formten. Doch Adrian ließ sich davon nicht irritieren. "Ratzeputz Maxima!" Als sei sein Zauberstab eine Schaumkanone fegte aus diesem eine große rosarote Schaumfontäne heraus und traf auf den Grünschimmel. Dann ging die magische Scheuerarbeit los. Innerhalb von zehn Sekunden war die Wand blitzblank, daß die unter dem Staub und Dreck der Jahrzehnte liegenden Vertäfelungen wieder zu sehen waren. Ein Holzwurm lugte verstört hervor und plumpste, von der Scheuerbewegung des Zauberstabes erwischt in den rosaroten Schaum, der am Boden gleich den Dreck aufnahm.

"Kuck dir an, wie der Kleine mit dem Zauberstab reinhaut", sagte Lester Stibbins, ein UTZ-Schüler mit Spezialgebiet Zauberkunst.

"Mädchenzauber", knurrte sein Klassenkamerad Wilbur Cronk, der sich wohl ärgerte, daß er erst in einer Woche volljährig würde. Dafür fegte Moonriver ihm mal ganz kurz mit einem Schaumstrahl übers Gesicht. "Ey, wenn du Krach suchst nur weiter so", prustete Cronk.

"'tschuldigung, mein Zauberstab hat einen eingebauten Ausrichtungszauber für dumme Sprüche. Da wo welche herkommen zielt er immer gerne hin. Muß ich noch richtig einüben", erwiderte Adrian. Als langjähriger Jungeselle und noch langjährigerer Vater und Großvater war er der Meinung, daß Sauberzauber nicht nur Frauensachen sein sollten, wenn die gerade anderswo waren. Die Jungen aus Cronks Jahrgang lachten erheitert. Es folgte keine weitere Reaktion. Das Zimmer war nach nur einer Minute so sauber wie seit Adrians merkwürdiger Geburt nicht mehr. Nur das Bettzeug mit den ganzen Untermietern konnte er so nicht klar kriegen.

Es trafen noch mehr Schüler ein. Sie verteilten sich auf alle Zimmer und Gänge. Denn draußen war ja noch der Katzenjammerzauber eingerichtet.

Dann ging die Schlacht los. Adrian sah enttäuscht, wie die Straßen sich leerten. Ein Angriff auf den Eberkopf gab es wohl nicht, weil die ganze Saubande nach Hogwarts unterwegs war. Dann sollte er da auch besser wieder hin. Aber er müßte dann Disapparieren. Das aber verstieß gegen die Verhaltensbedingungen. Mit dem sauberzaubern das war noch gerade so klar. Aber zu apparieren könnte ihm mächtigen Ärger eintragen.

"Mann, warum habe ich diesen Unfug zugelassen!" Brüllte Aberforth Dumbledore. Dann sagte er. "So, alle Rotznasen und Gören sind hier. Dann sollen eure Eltern euch mal einsammeln kommen." Adrian wollte aber nicht eingesammelt werden. Wenn hier niemand mehr war, dann wurde er da oben in Hogwarts gebraucht. Dann blieb er eben solange im Zimmer, bis alle raus waren. Dann konnte er disapparieren ...

"Adrian, wo bist du?" hörte er die Gedankenstimme seiner Ziehmutter. Die brauchte er jetzt aber echt nicht, diese junge Gans. "Adrian Moonriver, ich merke, daß du mich hörst. Wo bist du?" Adrian machte sich okklumentisch zu. So, da konnte die ganz sicher nicht durchmentiloquieren. Das schaffte nicht einmal Sophia Whitesand. Die Frage war überhaupt, woher die das schon wußte, daß er anderswo als in Hogwarts sein konnte. Wer hatte denn da gepetzt?

"Unten im Schankraum, wo sich auch viele zusammengeknäuelt hatten, apparierten die ersten Abholer und suchten ihre Kinder. Die meldeten sich natürlich sofort und ließen sich Seit-an-Seit mitnehmen. So lichtete sich die Masse der Hogwartsschüler, die nicht mitkämpfen durften oder wollten. Doch an Stelle der disapparierten Hogwarts-Schüler apparierten Leute vom Phönixorden und ehemalige Schüler, die vor vier Jahren noch die Schulbank gedrückt hatten. Dann erschien auch Patience Moonriver, allerdings nicht direkt aus dem Nichts heraus, sondern aus einer blauen Portschlüsselspirale. Diesmal war es ein Schneebesen. Sie sah Adrian und winkte ihm mit dem Schneebesen.

"Komm, ich bring dich nach Hause, Adrian."

"Mum, ich muß aber wieder nach Hogwarts", fauchte Adrian Moonriver. einer der älteren lachte schadenfroh und sagte: "Nah, muß das halbe Hemd nach Hause, wo der doch soooooo stark ... Mpf!" Patience Moonriver hatte ihren Zauberstab geschwungen, dabei was leises gemurmelt, und dem Großmaul einen rosaroten Schnuller genau in den Mund versetzt. Der Junge versuchte, das Babyutensil wieder herauszunehmen. Doch es hatte sich irgendwie angesaugt.

"Alter Berufsammentrick", erläuterte Patience sehr entschlossen klingend. "Wenn zu viele Babys plärren kriegen sie ihre Schnuller."

"Der hat aber 'n Mädchenschnuller", feixte der Klassenkamerad des gerade abgewürgten. Patience behob diesen farblichen Fehlgriff mit einer weiteren Zauberstabbewegung und machte den rosaroten zum blauen Schnuller. dann winkte sie Adrian. "Wag dich bloß nicht, zu disapparieren", mentiloquierte sie ihm. "Tante Sophia sagt, wenn du da mitkämpfst und dabei zu viel zeigst hätten die jeden am Kanthaken, der mit dir gut befreundet ist. Also komm."

"Ey, wie kriegt denn Joey diesen Hexenschnuller wieder raus?" Fragte Timo Walleby.

"Wenn ich ihm sage, daß er ihn ausspucken soll. Erst dann", erwiderte Patience resolut. Dann zupfte sie Adrian am ärmel. Der starrte hinaus. Er würde jetzt am liebsten direkt in den Astronomieturm reinapparieren und von da aus voll auf die Mistkerle draufhalten. Aber er alleine würde die nicht schaffen. Und wenn die Mistkerle trotzdem gewönnen hätten sie seine Schulfreunde gleich alle am Wickel, woher er das alles konnte. So knirschte er mit den Zähnen und hielt sich am Schneebesen fest. "Spuck deinen Schnuller aus!" Rief Patience fast trällernd. Da fiel das blaue Ding aus dem Mund seines unwilligen Besitzers und löste sich auf. Im gleichen Moment leuchtete der Schneebesen blau auf, und Adrian fühlte den zu vertrauten zug an seinem Bauchnabel.

"So, den Zauberstab kriege ich diese Nacht, damit du nicht doch meinst, mal eben von hier nach Hogwarts reinapparieren zu können", sagte Patience.

"Langsam geht mir deine Kinderschwestertour auf den Keks, Patience. Du hast mich nicht nur vor den Jungs blamiert, sondern auch eine Möglichkeit versaut, dem Obergangster die Hucke vollzuhauen."

"Ich weiß, daß du das gerne machen würdest, diesen Widerling bekämpfen und ihm zeigen, daß du ein Sohn Ashtarias bist. Aber du weißt auch, daß dein Stern keinen Übermut mag. Also sei friedlich und gib mir bitte deinen Zauberstab!"

"Wieso lieben Männer Frauen?" Fragte Adrian.

"Vielleicht, weil die die einzigen sind, die sie nehmen können wie sie sind", vermutete Patience Moonriver und nahm Adrian den Zauberstab aus der Hand. Damit war für Adrian die Nacht und die Schlacht gelaufen, wer immer sie gewinnen würde.

__________

Anthelia hatte befürchtet, daß die Zeitschicht, die zwischen der üblichen und der verlangsamten Zeit der Insel verlief, sie nicht so einfach durchlassen würde. Doch als sie immer wieder gegen eine unsichtbare Barriere flog, erkannte sie, daß sie so nicht freikam. Auf der Insel zu landen war absolut tabu, weil sie dort zum Baum unter Bäumen werden würde. Doch wenn sie Madame Tourrecandide und Daianira am Leben halten wollte, dann mußte sie hier raus. hier Raus? Das gefühl kannte sie. Und wo sie unter sich das meer rhythmisch rauschen hörte, wähnte sie sich bereits zurück in Daianiras schützendem Schoß. War das wirklich richtig, sie derartig auszutricksen? Jetzt mußte sie statt Anthelia noch mehr als acht Wochen in einem dunklen, nassen Hohlraum aushalten und dann unter großen Schmerzen den Körper einer Mutter verlassen. Wenn Anthelia jedoch hier nicht wegkam, hatte sie nichts erreicht. Da fiel ihr ein, die Namen der ersten Druidinnen zu krächzen. Doch nichts geshah. Anthelia überlegte. Dann rief sie die Namen in der umgekehrten Reihenfolge auf: "Rosmerta! Ceridwen! Arianrhod!" Da fühlte sie, wie etwas sie nach vorne warf und durch einen langen Tunnel aus Nebel hinaustrieb, immer schneller. Dann flog sie nur über offenem meer. Toll! Sie war der Insel entkommen, würde aber nirgendwo landen können, um zu disapparieren. Obwohl, das mußte sie doch nicht. Sie flog erst einmal weiter. Die Sonne, eben gerade rot aufgeleuchtet und dann zum goldenen Feuerball geworden, ließ sich nun Zeit. Sie war wieder im richtigen Ablauf der Zeit angekommen. Was für Tourrecandide und Daianira nur Minuten dauerte, würde für sie nun wieder in vierundzwanzig Stunden verstreichen. Sie stieg noch etwas nach oben. Dann konzentrierte sie sich auf die Rückverwandlung. Es war wohl ein wenig eingerostet, dachte Anthelia. Doch es gelang. Sofort stürzte sie in Richtung Ozeanoberfläche. Doch sie würde mindestens dreißig Sekunden brauchen, um dort aufzuschlagen. Das reichte. Sie genoß für einige Sekunden den freien Fall. Wäre der Wind nicht immer stärker geworden, sie hätte schon wieder gedacht, bei Daianira sicher untergebracht zu sein. Vielleicht träumte sie diesen unerwarteten Triumph aber auch nur und würde gleich reumütig von Daianiras Herzschlägen und Blutrauschen umgeben sein. Vielleicht hatte sie aber auch nur die Zeit mit Daianira geträumt. Aber warum fiel sie dann jetzt vom Himmel herunter? Sie kniff sich in den linken Arm. Nein, sie träumte nicht. Sie konzentrierte sich auf die nächste der Kanareninseln und disapparierte.

Nach drei gut abgesicherten Sprüngen erschien sie in der Daggers-Villa. Drei Sachen galt es jetzt zu erledigen. Leda anrufen, daß sie wußte, daß sie ihre Cousine auf der Insel abholen durfte. Patricia Straton informieren, daß sie den Kelch, den es nicht gab, nicht gefunden hatten, sie aber dafür wieder frei war. Ja, sie war frei. Die Zeit des Eingesperrtseins war vorbei. Der dritte Auftrag an sie bestand darin, endlich zu klären, ob es gegen Valery nicht doch ein wirksames Mittel gab, um sowas wie das Cloudy-Canyon-Massaker zu vergelten und etwas ähnliches nie wieder stattfinden zu lassen. Und dann viel ihr noch etwas ein. Auch wenn Daianira wohl erst einmal wieder neu aufwachsen mußte könnte sie auf die Idee kommen, sie hier in der Villa aufzusuchen. Aber dagegen konnte sie was tun. Sie ging in ihren geheimen Vorratskeller und holte diverse Zutaten. Als sie damit im Empfangssaal der Villa apparierte umschwirrten sie zwei Soldatengeister, die erstaunt guckten.

"Habt ihr nicht mehr mit gerechnet, daß ich noch da bin, oder. Ich war nie weg und habe es auch bewundert, wie Daianira mit euch umgesprungen ist. Aber jetzt möchte ich sie nicht mehr hier haben." Die Geister flüchteten. Sie wußten, daß Anthelia genauso unerbittlich sein konnte. Sie bestrich die Außenwände und die Türen der Villa mit ihrem eigenen Blut und den Substanzen und murmelte dabei auf altdruidisch:

"Das Wesen, das Daianira Hemlock geheißen,
Wie immer sie fortan auch möge heißen
soll nimmer mehr sehen was in euch enthalten.
Doch wenn sie es versucht, sollen alle Gewalten,
ihr sofort den Tod und Vernichtung gestalten."

Diesen Fluch wiederholte sie mehrmals und bezog dabei auch Worte ein, die mit dem Haus selbst verbunden waren. Dann rief sie "Sharagorian!" Was war sie erleichtert, ihre wertvollsten Besitztümer, den Gürtel, das Medaillon und den Stab des dunklen Wächters, nicht verloren zu haben. Auch der Mantel und der Entomolith waren ihr noch sicher. Sie lagen jetzt in Daianiras geheimem Haus, wo sie durch den Blickkontakt über das Medaillon hinapparieren konnte. Das mußte sie sofort tun. Denn wenn Daianira einen neuen Namen erhalten sollte, würden alle sie betreffenden Schutzzauber aufgehoben sein. So holte sie sich schnell noch ihre Sachen, um dann im Schutz des Weinkellers eine Gedankenbotschaft an Leda zu schicken:

"Hallo Leda, ich bin wieder frei. Deine Base wurde durch die Fehleinschätzung einer alten Hexe namens Tourrecandide in deren Uterus versetzt, wo sie darauf wartet, daß du sie entweder selbst übernimmst oder ihrer neuen Mutter hilfst."

"Das ist unmöglich", hörte sie Ledas Gedankenstimme. "Ich will dich sehen", sagte sie. Anthelia nahm an. Sie zog sich den Mantel Sardonias unter ihren rosaroten Umhang und traf Leda bei Daianiras Haus.

"Wie auch immer du es angestellt hast, meiner Cousine zu entschlüpfen und sie statt deiner auf eine Wiedergeburt warten zu lassen werde ich nicht zulassen, daß sie irgendeine andere austrägt. Wer sagtest du soll das sein."

"Professeur Austère Tourrecandide. Du hast wohl noch zehn Tage Zeit, bevor die Dosis des Beruhigungstrankes nachläßt, und beide sich wieder darüber aufregen können, was passiert ist. Du weißt, daß du keine Magie gegen lebende Wesen anwenden darfst, solange du auf der Insel bist. Sonst landest du noch neben deiner Base im Schoß dieser überheblichen Dame, die wohl einen sehr brauchbaren Fluchumkehrer erlernt hat, aber nicht wußte, daß der körperliche Fluch zuerst umgekehrt wird. Warum ich dann nicht deine Cousine nach Hause tragen durfte entzieht sich mir."

"Wohl weil bei einer vollständigen Verkehrung, sofern es wirklich sowas gibt, du um so viele Jahre jünger geworden wärest wie meine spätere Tochter." Anthelia entging das zufriedene Lächeln nicht, daß Leda zeigte. "Da dein besetzter Körper jedoch nur vierunddreißig Jahre alt war, als du das Duell beendetest, wärest du dreiunddreißig Jahre unter den Zeugungszeitpunkt verjüngt worden. Selbst das gelingt in der Magie nicht. Diese Tourrecandide bot sich also als Ausweichkörper an und wurde um die entsprechend vielen Jahre verjüngt. Aber das Daianira nicht ... natürlich nicht, weil ja doch eine gewisse Zeit verstrichen ist. Deshalb werde ich schnellstmöglich dort hinreisen. Und wehe, du hast mich verladen. Ich meine, dich zu sehen und deine Stimme zu hören sind schon Beweis genug. Aber was willst du nun unternehmen. Deine Bundesschwestern sind reumütig zu ihren eigenen Schwesternschaften zurückgekehrt."

"Zunächst gilt es, einen großen Fehler aus der Welt zu tilgen. Ich hoffe, ich finde heraus, wie Valery Saunders getötet werden kann. Sowas wie Cloudy Canyon darf sich nicht wiederholen."

"Vielleicht interessiert dich diese Neuigkeit auch. Vor wenigen Minuten erhielt ich eine Blitzeule von Lady Ursina. Sie erwähnt, daß es in Hogwarts eine Schlacht zwischen Todessern und den Anhängern Harry Potters gegeben hat. Dabei ist jener Emporkömmling, der sich überheblich als Lord Voldemort bezeichnet hat, über seinen Größenwahn gestolpert und hat mit einem unberechenbaren Zauberstab den eigenen Todesfluch abbekommen. Er ist nun endgültig tot und wird nicht mehr wiederkommen. Ist das nicht ein nettes Wiedergeburtstagsgeschenk?"

"Eindeutig", lachte Anthelia. Der Waisenknabe war tot. Aber im Grunde hatte sie ihre schmerzlose und Kindheitslose Wiedergeburt doch schon in der Walpurgisnacht erlebt. Das sagte sie Leda auch.

"Ich werde jetzt den Fortuna-Matris-Trank trinken, um der guten Tourrecandide die schwere Last abzunehmen. Vielleicht sollte es so sein, daß ihr beiden nicht weiterhin zusammen sein solltet", seufzte sie dann. Aber sie lächelte zufrieden. Doch sie schirmte ihren Geist gut ab. Anthelia kehrte in die Daggers-Villa zurück und vertiefte sich in die Erinnerungen über die Entomanthropen. Tatsächlich fand sie etwas, was sie bisher nicht bedacht hatte. Ja, so konnte es gehen. So mußte es gehen. Doch nur sie konnte es tun. Daianira hätte es auch mit ihrer Unterstützung nicht vollbringen können.

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Die Jubelfeiern zum Sturz von Voldemort hatten nicht nur Großbritannien im Griff, sondernauch alle anderen europäischen Länder. Catherine Brickston besuchte ihre Mutter in Beauxbatons. Dabei fragte Catherine auch, was mit Professeur Tourrecandide los sei.

"Sie ist wahrscheinlich noch auf einer fremdartigen Insel, wo die Zeit anders verläuft, Catherine. Dort soll sie ein Artefakt aus Sardonias Zeit bergen, einen Kelch, der einer Hexe Macht über andere Hexen gibt. Es könnte auch eine Falle der Wiederkehrerin sein."

"Was erzählst du da?" Fragte Catherine sichtlich beunruhigt. Blanche Faucon berichtete ihr die Geschichte.

"Und du hast es nicht mit deiner Rangstellung und deiner Selbstverpflichtung vereinbaren können, mich zu fragen, was ich über die Insel der hölzernen Wächterinnen weiß?" Fragte Catherine. Bevor ihre Mutter darauf antworten konnte sprach sie schon weiter. "Maman, diese Insel ist gefährlicher, als du vielleicht denkst. Es steht nicht in jedem Buch, daß die Insel erwähnt. Aber ich habe bei einer Reise durch Irland ein paar Handschriften gefunden, die davor warnen, auf dieser Insel Zauberkraft gegen lebende Wesen zu wenden. Die hölzernen Wächterinnen haben sich dort mit den Bäumen verbunden und spannen eine Magie der Friedfertigkeit, aber auch unverzüglichen Vergeltung auf."

"Wie bitte?! Soll das deinen Quellen nach heißen, daß wer zuerst einen Fluch wirkt, diesen selbst auf sich zieht?"

"Ganz genau. Zumindest gilt das für körperverändernde Flüche, aber auch für Zauber, die Menschen verlangsamen können. Beeinträchtigungen der eigenen Handlungsfreiheit fällt sofort auf den Urheber zurück, ohne den Gegner zu berühren. Wenn ihr beiden, Professeur Tourrecandide und du, mich gefragt hättet, wäre es kein Problem gewesen, euch die Quellen zu zeigen, aus denen ich das habe. Wenn jemand den Todesfluch wirkt, stirbt sie selbst, ähnlich wie Tom Riddle. Damit ist die Antwort klar. Es ist eine Falle. Die Wiederkehrerin wollte einen Angriff auf sich provozieren. Könnte sein, daß Professeur Tourrecandide nicht mehr lebt, und das nur, weil du meintest, was zu geheimnissen, obwohl ich genauso in der Liga bin wie ihr zwei", erzürnte sich Catherine. Professeur Faucon seufzte schuldbewußt. Ihre sonstige Autorität war einstweilen vergessen. Denn sie hatte noch was zu beichten, obwohl sie an der Sünde selbst keine Schuld trug.

"Während der Ereignisse in Hogwarts erfuhr ich, daß Anthelia sich mit Daianira Hemlock duelliert hat. Dabei ist etwas sehr außergewöhnliches eingetreten ..." Als Catherine diese Neuigkeit erfahren hatte blickte sie ihre Mutter mit der Strenge an, die sie sonst immer von ihr zu spüren bekam.

"Dann ist mir klar, was das für eine Falle ist, Maman. Die Wiederkehrerin hat ab einem bestimmten Zustand ihres Körpers ihr Bewußtsein wiedergefunden und wollte nicht weiter im Bauch Daianiras bleiben. Anstatt brav darauf zu warten, wiedergeboren zu werden, hat sie Daianira und andere dazu angestachelt, auf diese Insel zu kommen und den Kelch, den es dann wohl nicht gibt, an sich zu bringen. Dabei mußte es zwangsläufig zum Duell kommen. Sag mal, wirst du langsam alt? Oder warum kannst du derlei Möglichkeiten nicht mehr erkennen?"

"So lasse ich dann doch nicht mit mir reden, werte Madame Brickston", begehrte Professeur Faucon auf. "Professeur Tourrecandide setzte ihr Vertrauen in meine Verschwiegenheit. Sie war sich dessen bewußt, in eine Falle zu gehen. Doch das nahm sie in Kauf, um diese Gefahr zu beseitigen. Darum ging es. Daß Anthelia vielleicht aus einem schützenden Mutterleib heraus mentiloquieren könnte wäre doch niemanden eingefallen. Denn ich kann mich nicht entsinnen, daß Babette oder Claudine zu mir gesprochen hätten oder du, als du noch nicht geboren warst."

Wie viele Hexen oder Zauberer kennst du, die bereits den Iterapartio-Zauber an sich haben ausführen lassen?" Stieß Catherine nach.

"Mir ist keiner bekannt, weil das Gesetz befiehlt, daß solche Wiedergeburten wie Neugeburten zu werten sind, also mit neuem Namen und allem."

"Deshalb können wir auch nicht mit Sicherheit ausschließen, daß ein bereits vorher entwickelter Geist, wenn er sich in einem ausreichend herangewachsenem Gehirn befindet, nicht ab einem bestimmten Monat mentiloquieren kann. Sie brauchte so nur ihre freien Mitschwestern zu instruieren, Professeur Tourrecandide diese Geschichte zuzuspielen und brachte Daianira auch dazu, diese Insel zu besuchen. Anthelia wollte haben, daß Daianira eine Konkurrentin rücksichtslos tötet. Dabei wäre sie zwar körperlich selbst gestorben. Aber ihr Geist, ihre Seele, wäre womöglich wieder dort einkonserviert worden, wo sie vor dem zweiten Leben war. Zumindest hätte sich Anthelia die Wartezeit im Mutterschoß und die Geburtsschmerzen erspart."

"Sie hat uns hereingelegt, Daianira, Austère, mich und wen noch alles", seufzte Professeur Faucon. "Und das an diesem Tag, wo wir beide auch einen sehr persönlichen Grund zur Freude hätten."

"Tja, Maman. Vielleicht sollte man keinen Tod feiern, sondern nur das Leben."

"Apropos, Camille hat ihrer Tochter den Namen von Martha mitgegeben. Bestelle ihr bitte schöne Grüße, wenn du nachher zurückkehrst."

"Das kann Jeanne übernehmen, die kam mit Martha und mir an."

"Mach du das besser, Catherine", seufzte Professeur Faucon. Sie fühlte sich sichtlich gedemütigt. Sie hatte mehrere kapitale Fehler begangen. Der schlimmste war der, daß sie sich nicht ausreichend genug über die Umgebung und ihre magischen Eigenschaften informiert hatte. Austère hatte das zwar auch nicht. Doch das änderte nichts, daß sie, Blanche Faucon, etwas unterlassen hatte, was vielleicht entscheidend gewesen wäre.

"Wir gehen morgen auf diese Insel. Ich frage Hera, ob sie mitkommt", legte Catherine fest. Ihre Mutter war einverstanden.

__________

Sie fand wieder zu sich. Das Elixier hatte seine überstarke Wirkung verloren und hielt sie nun entspannt. Sie hatte etwas grundlegendes falsch gemacht: Sie hatte einfach einen scheinbar so mächtigen Zauber gewirkt, ohne sich zu überlegen, was der dann wie veränderte. Sie wußte es ja schlicht nicht, daß die Fremde nicht Daianiras Tochter sondern sie selbst war und die Fülligkeit von einer Schwangerschaft auf Infanticorpore-Basis herrührte. Jetzt hockte sie hier auf einem Stuhl auf einer kleinen Felseninsel, und Daianira ruhte in ihrem Schoß. Die Umstellung machte sie unfähig, aufzustehen. Jeder Schritt konnte zum Sturz führen. Dann konnte sie nicht nur Daianira verlieren, sondern verbluten.

"Fühlen Sie sich jetzt wieder besser?" Wurde sie gefragt. Es ging also wirklich. Iterapartio-Kinder konnten bereits im Mutterleib mentiloquieren.

"Ich möchte mich bei Ihnen für die Situation entschuldigen. Aber Sie bedrohten mich mit dem Todesfluch. Mal eine Frage: Glauben Sie noch, daß es diesen Kelch je gegeben hat?"

"Ich glaube, den hat es nie gegeben. Anthelia wollte nur feige vor ihrem neuen Leben davonlaufen. Der Mut, den sie mir zugesprochen hat, den hat sie nicht aufgebracht. Sind Sie mutig, ein neues Leben anzufangen?"

"Sie haben mir sechzig Jahre zurückgegeben. Ich war bereits hundertzweiundzwanzig."

"Gratuliere, dann sind Sie jetzt fünfundfünfzig Jahre alt, für eine Hexenmutter noch verträglich", erwiderte Daianira.

"Wollen Sie denn, daß ich Ihre Mutter werde. Ich meine, wann wäre ich dann fällig?"

"Meine Base und Hebamme hat für Anthelia den siebenundzwanzigsten Juni vorausgesagt. Wenn Sie hier auf sie warten müssen, vershiebt sich das Datum."

"Noch einmal die Frage: Wollen Sie als meine Tochter neu geboren werden? Ich müßte diese ungewöhnlich schnell forangeschrittene Schwangerschaft ja dann irgendwie erklären."

"Haben sie denn schon mal ein Baby gehabt? Ich kann mich nicht erinnern, sowas gelesen zu haben. Hier drinnen klingt das irgendwie paradox, von lesen zu sprechen."

"Wie Sie das "hier drinnen" betonen klingt das für mich irgendwie unheimlich, als sei ich sowas wie ein Gefängnis auf Beinen. Dabei muß ich mich auch sehr drastisch umstellen, falls Sie darauf bestehen, mir als Kind geboren zu werden."

"Falls meine Base wirklich informiert wird und eintrifft, möchte ich Sie nicht länger behelligen. Ich ärgere mich zwar, daß sie Anthelia freigelassen und mich dafür eingesperrt haben. Aber das heißt nicht, daß ich Ihnen jetzt das ganze Leben lang erhalten bleiben will. Sicher, wenn Sie mich hier und jetzt austreiben müßten, müßte ich damit Leben, Ihre Tochter zu sein. Aber noch habe ich die Wahl."

"Wäre es Ihnen denn so wichtig gewesen, Anthelia als Ihre Tochter zur Welt zu bringen?"

"Ja, wäre es. Ich hätte mit ihr eine unleugbare Verbindung gehabt. Sie hat die Entomanthropen gerufen, das ist ein unverzeihlicher Eingriff in die Natur. Dabei hat sie selbst einsehen müssen, daß dieses Experiment schiefgehen kann. In den Staaten taucht ab und an eine Entomanthropenkönigin auf, die durch die Einverleibung von Zauberern und Hexen magische Kräfte hat und apparieren kann. Zumindest hat sie das eingesehen, daß diese Art von Lebensform .. Moment, ich muß mich mal anders legen." Austère Tourrecandide nahm dieses Gefühl hin, ja empfand es im Moment sogar irgendwie erhaben. Ihr Leib trug neues Leben, wie auch immer es dorthin gelangt war. Dann hörte sie Blanche Faucons Gedankenstimme im Kopf. Sie antwortete ihr. Zwei rasch verlaufende Tage später trafen Catherine, ihre Mutter und die Hebamme Hera Matine ein.

"Sie leben zumindest noch, Austère. Was haben Sie mit Ihrem Haar ... Oha!" Professeur Faucon erbleichte. Austère wollte aufstehen. Doch Hera drückte sie sanft auf den bequemen Sitz zurück.

"Haben Sie den Fluchumkehrer gegen Daianira verwendet?" Hörte die vor einigen Tagen noch weißharige Lehrerin in ihrem Kopf.

"Ja, in dummer, einfältiger Ignoranz des Prinzips, immer erst zu prüfen, welcher Zauber gerade wie und wodurch wirkt."

"Ey, nicht so doll!" Protestierte Daianira, als Hera Matine sie mit den Händen abtastete.

"Experimente mit Menschenleben können nun einmal schief gehen, werte junge Dame", sagte Hera, als Austère es übersetzt hatte. "Wollen Sie jetzt untertauchen und dieses ... Glückskind ... in aller Heimlichkeit gebären, Professeur Tourrecandide?" Fragte die Heilerin.

"Sie wartet darauf, daß ihre Cousine, Leda Greensporn, sie übernimmt."

"Die ist nicht viel jünger als die, über deren Neuwerdung sie gerade befinden, Austère."

"Sagen Sie Ihrer Heilerin, daß meine Base soeben durch den Nebel gekommen ist. Ich habe bereits signalisiert, daß ich nicht mehr nur allein mit Professeur Tourrecandide bin", verkündete Daianira.

Drei Hell und Dunkelphasen später traf Leda Greensporn mit einem großen Bett und drei Besen ein. Sie stellte sich ruhig vor und begrüßte dann Daianira mit Handauflegen. "Hast du dich von Anthelia hereinlegen lassen, und das im wahrsten Sinne des Wortes."

"Ein bißchen mehr Sachlichkeit, Kollegin Greensporn", sagte Hera Matine.

"Sachlichkeit, natürlich, Kollegin Matine. Professeur Tourrecandide, hat meine Noch-Cousine geäußert, ob Sie ihre Mutter werden sollen oder sie lieber durch mich neu geboren wird."

"Sie hat mir mitgeteilt, daß sie gerne in Ihre Obhut überwechseln möchte." Daianira stupste vorsichtig an, um zu zeigen, daß es so sein sollte.

"Haben Sie Vorkehrungen getroffen, um dieses Kind gesund und ohne Gefahr für sich und es zu ende zu tragen?" Fragte Hera Matine.

"Ich habe die für eine Transgestatio-Mutterschaft in meinem Alter die nötigen Dosen FMT eingenommen und kann meine Base also ohne Probleme für mich oder sie übernehmen, wenn die, die sie gerade trägt, auf ihr Recht auf Mutterschaft verzichtet."

"Ich trete meine Rechte und Ansprüche an Sie ab, Heilerin Greensporn", sagte Professeur Tourrecandide. Als Zeugen traten Catherine Brickston und Blanche Faucon ein.

"Hier auf der Insel können wir das nicht tun", sagte Catherine. Leda Greensporn nickte. Ihr Körper schien wirklich schon auf eine Empfängnis nach dem sechsten Monat eingerichttet zu sein. So hoben sie Austère Tourrecandide auf das breite Bett. Leda flog mit dem Besengespann los.

"Hast du schon einmal einen Transgestatio-Zauber durchgeführt, Hera?" Fragte Blanche Faucon.

"Nur im Jahr nach dem HIP-Jahr", sagte Hera. Sie wird zu Austères Boot fliegen. Wir können da auch hin. Accio Besen!" Die Flugbesen kamen, weil diesmal niemand befand, sie für irgendwas bestrafen zu müssen. So konnten sie zum Boot fliegen, wo Professeur Tourrecandide auf dem Bett liegen blieb.

"So, Daianira, entspann dich!" Sagte Leda Greensporn.

__________

Daianira hatte resigniert. Anthelia hatte sie gründlich verladen. In ihrer Arroganz hatte Daianira außer Acht gelassen, daß eine so geistesstarke Hexe wie Anthelia wohl schon Wochen vor der körperlichen Wiedergeburt außenstehende Kontakte erreichen konnte. Den Preis für diese Arroganz mußte sie jetzt zahlen. Sie würde ihren Namen, ihre Besitzungen und ihre erarbeiteten Privilegien aufgeben müssen. Sie lauschte auf das rhythmische Rumm-Bumm Rumm-Bumm und das dagegen anpochende kleine Herz, das sie gerade besaß. Sie bedankte sich noch bei Professeur Tourrecandide für die kurze aber interessante zeit. Denn irgendwie hatte es sie seit Anthelia von ihr getragen wurde immer interessiert, was genau sie mitbekam. Man sollte mit dem Wünschen doch vorsichtig sein. Dann hörte sie wie durch dicke Polsterwände die Formel:

"Vita Praenata ex Utero Austèreae in Uterum Ledae transcede pro crescentia naturaque!" Diese Formel wurde drei mal wiederholt. daianira fühlte noch nichts. Dann, beim Vierten Mal, war ihr, als treibe sie rasend schnell in einem dunklen Strudel. Mit einem leichten Ziepen am Bauchnabel fand sie sich wieder in jener kleinen Unterwasserhöhle mit weichen Wänden. Dann hörte sie noch: "Sanguis Fructi ventris adaptato cum materno!" Das war Ledas Stimme, die laut und dröhnend um sie herum dröhnte. Sie fühlte, wie etwas durch ihren Körper ging. Dann klopfte ihr kleines Herz weiter. Der Vorgang war abgeschlossen. Sie fühlte sich jetzt sehr geborgen. Lag das am Zauber oder an der Tatsache, daß Leda sie nun hatte?

"Ui, das war ja wie ein Sog durch die Eingeweide", hörte sie Professeur Tourrecandide.

"Ihre eigene Heilerin wird Sie dann zurückführen, während ich mir wohl in zwei Tagen den nötigen Speck anessen werde", sagte Leda. "Ich hoffe, wir alle haben aus dieser unrühmlichen Episode etwas gelernt."

"Keine Duelle zu führen, die am Ende in Windeln enden", schickte Daianira an ihre Cousine. Nein, jetzt mußte sie sich wohl daran gewöhnen, sie Mom zu nennen. Das würde nicht einfach werden. Denn ihr wurde auf einmal klar, daß sie sich dieser Heilerin da jetzt ausgeliefert hatte. Sie fühlte sich gut aufgehoben, aber was war nach dem Tag X?

Sie hörte was lautes rauschen, das nicht im Körper war. Dann Apparierten sie.

"Hui, der FMT ist wirklich sein Geld wert", mentiloquierte Leda. "Wir sind gleich zu hause. Es schaukelte wie auf einem Schiff oder in einer Wiege. Dann mentiloquierte ihre Cousine: "So, Damit wir das klar haben. Daianira Hemlock ist am dreißigste April gestorben. Todesursache, Absturz bei der Verfolgung dieser Valery Saunders ins offene Meer. Ich werde mich am zehnten Mai an Lino und die Presse wenden, und ihnen von deiner Ankunft zu Beginn Juli erzählen, Lysithea Greensporn. Dein Vater ist ein Wissenschaftler der Muggel, den ich im Rahmen einer Erkundungsreise in Chicago traf und dich bei der Gelegenheit auf den Weg brachte. Da ich den Mann nicht heiraten wollte und auch nicht zu Unterhaltszahlungen verdonnern will, wächst du unter meinem Familiennamen auf, Lysithea. Das heißt, alles, was Daianira Hemlock erlebt, getan und erreicht hat, fließt in ihr Erbe ein. Kann sein, daß ich was davon abbekomme. Das hängt von ihrem Testament ab. Damit du mich nicht so austricksen kannst wie Anthelia dich, werde ich ab heute jeden Tag bis zur Niederkunft einen Gürtel tragen, der das Mentiloquieren über einem Meter hinaus unterbindet. Anthelia will Valery erledigen, hat sie gesagt. Da sie mich zu dir geführt hat hoffe ich mal, daß die Zeit bei Daianira ihr geholfen hat, ihre Fehler einzusehen. Ich ess jetzt noch was für uns beide und du kannst versuchen zu schlafen. Träum was schönes!"

Daianira schickte nur zurück, daß sie alles verstanden hatte. Was sie jetzt nicht sehen konnte, war das höchst triumphale Lächeln ihrer neuen Mutter. Es war dieser schon immer sehr unangenehm gewesen, daß Daianira so skrupellos mit Tötungszaubern umgesprungen war. Als Baby würde sie diese Taten nicht mehr begehen können. Anthelia mochte zwar auch skrupellos sein. Doch gerade die Aktion mit Daianira hatte bewiesen, daß sie einen starken Willen besaß und schlau war. Wenn sie auch weise war, kam sie mit der vielleicht besser zurecht als mit Daianira. Denn eine gemeinsame Wellenlänge gab es. Sie waren beide Heilerinnen, auch Wenn Anthelia den Schutz des Menschenlebens nicht mehr um jeden Preis achtete.

"Mom, wer macht Tante Daianiras Job jetzt bei den Schwestern?" Tat Daianira schon so wie ein Kind.

"Donata Archstone. Sie wurde wohl während meiner Reise zu dir eingeschworen. Ich werde ihr morgen meine Reverenz erweisen."

"Warum die? Die gehörte zu Anthelias Schwestern."

"Mein Vorschlag. Und jetzt gib Ruhe. Mom muß jetzt essen!" Daianira verstand. Leda suchte nicht den Streit mit Anthelia, sondern einen gemeinsamen Weg, wie immer der aussehen sollte. Donata war der Anfang, und sie selbst fing erst im Juli an.

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"Das wird dieser Kerl noch bereuen, mich festgesetzt zu haben", dachte Lady Nyx, als sie durch Elvira Vierbeins Augen sah, wie der Mond aufging. Endlich hatte sie es geschafft, auch die schlafenden Kinder aufzuwecken. Sie hatte lange gebraucht, bis sie heraushatte, ihren Geist ohne Zeitverlust in die Körper von ihr gezeugter Vampire überwechseln zu lassen. Die sie körperlich bannende Kraft des Diamanten hatte ihr die Gabe verliehen, in die Körper anderer Vampire zu schlüpfen. Doch viele waren einfach in Starre versunken, wie Elvira Vierbein und ihr Gefährte und Bruder im Blute Arnold. So hatte Nyx ihre neue Gabe erst an wachen Vampiren ausprobiert. Bei denen, die nicht ihre eigenen Kinder waren gelang es nur, deren fünf Sinne wahrzunehmen und ihnen in Gedanken Anweisungen zu erteilen. Damit konnte sie schon einiges ausrichten. So war ihr durch die Führung eines bulgarischen Vampirs gelungen, einen von Volakins blauen Abkömmlingen aufzuspüren und im direkten Kampf mit einem Eichenholzpfahl zu durchbohren. Der Pfahl war dabei jedoch zu einer lodernden Fackel geworden, an der sich der ferngesteuerte Vampir selbst entzündete. Der Blaue Vampir hauchte zwar sein Dasein aus, nahm seinen Scharfrichter jedoch mit in den Tod. Nyx hatte sich schnell aus der Wahrnehmung des Vampirs herausgezogen, um den grausamen Schmerz nicht weiter erdulden zu müssen. Dann hatte sie eine Vampirin aus Polen, die noch den Dserschinskis ergeben gewesen war, dazu gebracht, nach einem Wissenschaftler zu suchen, der sich mit dieser Atomstrahlung auskannte und ihn dazu zu bringen, ihr Sohn oder Gefährte zu werden. Das hatte jedoch Wochen gedauert, während derer Nyx immer wieder gedacht hatte, den Kontakt zu verlieren. Doch die Ruhephasen der von ihr ferngesteuerten verhalfen ihr selbst zur nötigen Erholung. Volakin hätte sie nicht angreifen dürfen, dachte sie.

Jetzt stand ihrer Sippschaft ein Mann zur Verfügung, der sich mit dem Betrieb und den Gefahren von Atomkraftwerken auskannte. Daß sie als lange in der Muggelwelt lebende genug von dieser Energiegewinnungsweise erfahren hatte würde diesem blauen Wicht auch noch arg aufstoßen, selbst wenn sie jetzt seine Gefangene war. Seine Gefangene? Jetzt, wo sie Elvira Vierbein nicht nur mit Gedanken erreichen, sondern sie förmlich als Leihkörper übernehmen konnte, hatte sie wieder alle Bewegungsfreiheit und noch dazu Elviras Wissen zur Verfügung. Sie würde die Solex-Folien in mehreren Ländern weiterproduzieren lassen, auch wenn das Zaubereiministerium Nordamerikas darauf ausging, die Pläne zu erbeuten. Die Ära der Nachtkinder würde bald beginnen. Die abartigen blauen Vampire würden ausgelöscht und vergessen gemacht werden. Gegen die Macht des Mitternachtsdiamanten aufzubegehren würde Volakin noch sehr sehr leid tun.

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Sie waren über die nun neun Monate und drei Tage eine verschworene Gemeinschaft geworden. Als Sophia Whitesand am Morgen des zweiten Mais von Professeur Faucon und auch von ihren eigenen Bundesschwestern erfuhr, daß Tom Riddle in der Schlacht von Hogwarts durch Fehleinschätzung eines unberechenbaren Zauberstabes den eigenen Todesfluch auf sich gezogen hatte und Snape kein heimtückischer Mörder, sondern ein treuer Anhänger ihres Vetters Dumbledore gewesen war, mußte sie erst einmal die Fassung wiederfinden. Der Alptraum war vorbei. Sie hatte mehrere unschuldige Menschen beschützt und gerettet, mit Martha Andrews, Ceridwen Barley, deren Schwiegersohn Tim Abrahams und auch Julius Latierre hatte sie einen gewaltlosen Kampf gegen diesen brutalen Gegner geführt. Sie hatte dabei zwei knapp unter der Squip-Grenze stehenden jungen Menschen eigene Magie ermöglicht und mitverfolgt, wie unter ihrem Dach ein junger Mensch geboren und zwei auf ihren Weg in die Welt gebracht worden waren. Diese Errungenschaften erfüllten Lady Sophia Whitesand mit Stolz. Sie hatte ihre Verantwortung als Führerin der verschwiegenen Schwestern voll und ganz erfüllt. Und im Juli würden noch zwei neue Hexen geboren, die in spätestens siebzehn Jahren von ihr oder einer würdigen Nachfolgerin in die erhabene Schwesternschaft eingeführt werden konnten, auch wenn zu befürchten stand, daß Proserpina Drake Ursinas Ungeduld auf die beiden neuen übertragen würde.

Jetzt ging es nur noch ans Abschiednehmen. Sie bedankte sich bei ihren unfreiwilligen Mitbewohnern, daß sie sich in ihrem Haus doch gut eingerichtet hatten. Die Leelands und Prudence bat sie darum, noch eine Weile zu bleiben. Die Watermelons und Powders, Bill und Lynn ließ sie in Frieden ziehen, nachdem sie Bill und Lynn mit den neuen Namen William und Kate Halligan eine neue Identität als Einwanderer in Australien ausgestattet hatte. Sie dachte daran, welche Zukunft alle die haben würden, die bei ihr im Whitesand Valley untergekommen waren. Besser als von Riddles Schergen niedergemacht zu werden war die Zeit hier für sie alle wohl allemal gewesen.

ENDE

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