ÜBEREINKÜNFTE

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Milton Cartridge wußte nicht, ob er sich über seinen Erfolg freuen konnte. Zwar hatten sein Ministerium und das Laveau-Institut die übermächtige Vampirin Nyx alias Griselda Hollingsworth in eine tödliche Falle gelockt. Doch er wurde das Gefühl nicht los, daß die Gefahr eines weltweiten Vampirreiches damit nicht ausgeräumt war. Er hatte der Presse gegenüber keine Angaben gemacht, was passiert war, lediglich, daß die Zucht der weißen Vampirfledermäuse offenbar zu einem raschen Rückzug der Vampire aus Amerika geführt habe. Mehr wollte er im Moment nicht tun. Seine Frau Godiva war für einige Tage wieder zu ihm ins Ministerium gekommen, auch um die als sie auftretende Sicherheitshexe darin zu unterrichten, wie sie sich im derzeitigen Stadium ihrer Schwangerschaft bewegte. Dann hatte Cartridge sie wieder in das durch Fidelius-Zauber und andere magische Schutzmaßnahmen gesicherte Haus zurückgeschickt. Denn er wollte sie auf keinen Fall einer Gefahr aussetzen. Er würde erst wieder wirklich ruhig schlafen können, wenn alle Hinterlassenschaften von Nocturnia beseitigt waren und er das Problem mit der Erbin der Sardonianerin genau einordnen konnte. War die Schwesternschaft Anthelias noch eine echte Bedrohung für die Zaubererwelt? Oder hatte mit dem möglichen Tod Anthelias auf Grund überhöhter Strahlung ein Umdenken stattgefunden. Sicher war nur, daß es da eine Hexe gab, die eine unheimliche wie einzigartige Kunst beherrschte. Sie konnte zu einer schwarzen Riesenspinne werden. Diese war gegen die allermeisten direkten Flüche immun, sogar gegen den tödlichen Fluch. Er wußte nicht, wie er sie einsortieren sollte.

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Es war am 17. Mai 1999, als dem Minister der Besuch von drei Hexen gemeldet wurde. Zwei waren sehr bekannt, Eileithyia Greensporn und ihre Enkelin Leda. Als der Zauberstabprüfer im Voyer die dritte weitermeldete wurde er sehr hellhörig. "Theia Hemlock? Die Tochter der verstorbenen Daianira Hemlock?" Fragte er nach.

"So hat sie sich tatsächlich beim Besuchereinlaß identifiziert, Sir", sagte der Sicherheitszauberer. Sie hat keinen Zauberstab mitgeführt. Ich habe es geprüft. Offenbar hat sie keinen."

Milton Cartridge beorderte eine diskrete Leibwache in "die unsichtbare Ecke" des Büros. Das war eine Ecke, von wo aus das Büro vollständig überblickt werden konnte. Ein besonderer Verhüllungszauber ließ sie immer leer erscheinen, auch wenn dort bis zu fünf Schutzzauberer und Hexen Aufstellung nehmen konnten. Als dann die drei Hexen eintraten begrüßte erst Eileithyia Greensporn den ranghöchsten Zauberer der USA. Dann kam Leda Greensporn an die Reihe. Danach sah er die in einen weiten, blattgrünen Umhang gehüllte Hexe an und erstarrte. Sie sah wirklich aus wie Daianira Hemlock vor vierzig Jahren. Er hatte sie damals in Thorntails erlebt, wo sie Lehrerin war. Die Zeit vergaß er nicht. "Nun, Die Dame kam vor einer Woche zu mir und erklärte, sie sei die Tochter meiner Enkelin Daianira", begann Eileithyia Greensporn. Die dem Minister scheinbar völlig unbekannte Frau bat um das Wort und erzählte dann, daß sie vor beinahe zwanzig Jahren auf einer der kleineren Malediveninseln geboren worden war. Ihre Mutter, Daianira Hemlock, habe damals die tropischen Zauberpflanzen erforscht. Der Zaubereiminister hörte sich die Geschichte der jungen Frau an, die ihm so dramatisch und unglaublich vorkam, daß er nicht wußte, ob sie nicht vielleicht doch wahr sein mochte. Allein schon, wie Theia, wie sich die junge Hexe nannte, erst dann von ihrer Geburtsinsel herunterkam, als sie selbst ein Kind trug, erschien ihm schwer zu glauben. Doch andererseits kannte er Zauber, die die junge Hexe an ihre Heimat gebunden haben mochten und auch, daß solche Bannzauber durch bestimmte nichtmagische Bedingungen unterbrochen oder gänzlich aufgehoben werden konnten. Sie schilderte ihre Reiseerlebnisse auf dem Weg nach Nordamerika, bis sie vor genau einer Woche in den Staaten ankam. Dort fand sie Eileithyia, die die Geschichte natürlich nachprüfen mußte. Vom Blut, der magischen Schwingungen und Hautproben her stand fest, daß sie die Tochter Daianiras sei und das in ihr wachsende Kind Mitte Juli zur Welt kommen würde. Um sie zu schützen wohne sie derzeitig in einem sicheren Haus. Denn möglicherweise seien immer noch Zauberer von dieser Insel darauf aus, sie als ihre Ehefrau zu gewinnen, wobei ihr Kind dann wohl ein unrühmliches Los erfahren würde. Nur wenn sie hier in den Staaten als legitime Tochter Daianiras anerkannt würde und ihrem Kind auf US-amerikanischem Boden das Leben schenke, sei sie endgültig sicher vor möglichen Nachstellungen.

Der Minister war skeptisch. Nicht, daß wieder wer einen Doppelgänger oder einen angeblichen Verwandten nach Amerika schleuste, um die Zauberer- und Muggelwelt zu unterminieren. So verfügte er, daß die Überprüfungen von neutralen Heilern vorgenommen würden und die werdende Mutter sich einer Befragung ohne Verwendung von Veritaserum stellen müsse. Das Wahrheitselixier durfte nicht bei schwangeren Frauen verwendet werden. Zum einen galt die Unversehrtheit unschuldigen Lebens in dem Fall des ungeborenen Kindes. Zum anderen hatten die niedergeschriebenen Erfahrungen mit Verhören schwangerer Hexen erbracht, daß deren Kinder nach dem Kontakt mit Veritaserum vor der Geburt nach der Geburt eine aggressive Abneigung gegen Unehrlichkeiten und Heimlichkeiten zeigten. Daher forderte er lediglich eine geistige Durchforschung der werdenden Mutter und eine Überprüfung von Zeugen, auch wenn er auf den Malediven selbst keine Befugnisse hatte. So schickte er am neunzehnten Mai mehrere als Touristen getarnte Ministerialzauberer mit einem Geheimauftrag der Stufe 9 los, die Angaben vor Ort zu recherchieren und auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Doch das Verfahren würde auf Grund seiner Heimlichkeit Zeit kosten. Am Ende kam diese Frau, die gemäß Zauberkraftgrundpotentialmessung eine richtige Hexe war, tatsächlich auf dem Boden der vereinigten Staaten nieder. Die Greensporns wurden vereidigt, sie solange nicht in die Öffentlichkeit gehen zu lassen, bis die Legitimität ihres Anspruches, Daianiras Tochter zu sein bestätigt oder verworfen war. Würde sie verworfen, so konnte die junge Mutter genauso heimlich wieder aus den Staaten hinausgeschafft werden wie sie eingereist war.

Cartridge fragte sich, ob nicht alle Probleme der Zaubererwelt so geplant bekämpft werden konnten wie die Überprüfung einer Identität.

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Es war wie ein Blitz aus heiterem Himmel in sie eingedrungen. Feuriger Schmerz ließ sie erstarren. Gleichzeitig hörte sie einen langen Aufschrei, der unabwendbare Qualen und Todesangst vermittelte. Dann war sie bewußtlos geworden. Als sie wieder erwachte, glaubte sie, nicht mehr sie selbst zu sein. Etwas war in ihr, das sich sachte in ihrem Kopf und von da aus über ihre Arme und Beine ausbreitete. Sie versuchte, es abzuschütteln, es von sich zu weisen. Doch es wurde stärker. Dann hörte sie die in ihr klingende Stimme: "Wehre dich nicht gegen mich. Nimm mich auf und verschmelze mit mir!" Das war die Stimme der erhabenen Königin, Lady Nyx, die Herrin von Nocturnia. Doch eben noch hatte sie ihren mentalen Todesschrei vernommen. "Sie haben mich in eine Falle gelockt und meinen Leib zerstört. Der Stein ist im Meer versunken. Aber er hält mich in der Welt. wir zwei werden eins. Du wurdest als meine wichtigste Tochter erwählt, mir Hülle und Hirn zu sein. Laß uns eins sein und Nocturnia weiter ausdehnen!"

"Mutter, nein, ich will mein Leben behalten und ..."", hatte sie aufzubegehren gewagt. Es war nicht das erste Mal, wo der Geist ihrer Mutter in sie eingefahren war. Doch so stark und so fordernd wie jetzt hatte sie es nie erlebt.

"Du bist mein Kind. Dein Blut wurde gegen meines ausgetauscht. Du bist meine Tochter. Sei meine Erbin! Du wirst mit mir das Erbe von Nocturnia bewahren und mehren. Nimm mich auf und werde eins mit mir!" Diese Befehle waren so eindringlich, daß sie sich ihnen nicht länger verweigern konnte. Sie fühlte, wie der Geist ihrer getöteten Mutter in ihr stärker wurde, sich in ihrem Bewußtsein ausbreitete. Eine große Glückseligkeit überkam sie. Sie wurde die neue Nyx, die Erbin Nocturnias. Auch wenn der mächtige Stein verloren war, so bekam sie, die nun die Kraft zweier Seelen entfaltete, und weil sie das vorhin so mächtige Blut der Königin wie nährende Muttermilch in sich aufgenommen hatte Ströme der Magie zu spüren, die in ihr wechselwirkten. Sie fühlte, wie ihr bisher nur schwach magischer Körper erstarkte. Sie dachte an ihr früheres Leben. Bilder daraus vermengten sich mit Erinnerungen von Nyx. Sie fühlte, wie sie und die Königin eins wurden. Die Nachfolgerin erwachte, und Nocturnia würde sich wieder aufraffen, um Vergeltung zu üben und das große Ziel zu erreichen. Ihr Körper erhitzte sich unter den Strömen der Kraft, die in ihr pulsierten. Sie fühlte, wie jede Faser in ihr sich anspannte. Es war wie ein Bad in elektrisch geladenem warmen Wasser. Gleichermaßen dachte sie nun mit einem einzigen Bewußtsein: "Ich werde nach außen einen neuen Namen benutzen. So wie ich es als Testament niedergeschrieben habe, so heiße ich ab heute Lady Lamia, die Blutmondkönigin."

Sie erhob sich lautlos. Um sie herum lagen mehrere ihrer Blutsgeschwister immer noch in Starre. Nur weil sie und Nyx nun eins geworden waren, war sie früher aus der Erstarrung erwacht. Wie selbstverständlich schlich jene, die sich ab heute Königin Lamia nannte, durch das Hauptquartier Nocturnias, das gerade vor einem Mond seine Arbeit aufgenommen hatte. Sie trat an eine Wand mit drei Tastenfeldern heran und legte ihre linke Hand auf ein rotes Sensorfeld. Winzige Laser tasteten ihre Handinnenfläche ab. Dann piepte es. Lamia tippte in das erste der Tastenfelder eine Codenummer ein und drückte eine grüne Bestätigungstaste. Es piepte erneut. Dann tippte sie in das zweite Tastenfeld eine zweite Codezahl ein und betätigte auch dort eine Bestätigungstaste. Es erfolgte ein kurzer Doppelpiepton. Schließlich gab sie über das dritte Tastenfeld die letzte von drei zehnstelligen Zugangsnummern ein. Ein elektronisches Klingelzeichen ertönte. Dann klickte es mehrmals, und die Wand wich leise summend nach rechts. Lamia tauchte in die dahinterliegende Kammer, die eher ein besserer Wandschrank war. Dort lagen drei Dinge, ein blutroter Umhang, ein Tagebuch mit Schlüssel und ein in einem Lederfutteral steckender Holzstab. Sie nahm den Umhang, warf ihn sich um und schloß ihn vor Brust und Bauch mit silbernen Schließen. Das Tagebuch beließ sie im Schrank, nahm jedoch den im Vorhängeschloß steckenden Schlüssel an festem Band an sich. Danach zog sie das Futteral mit dem Stab hervor. Mit angespanntem Gesicht befreite sie den Stab aus seiner Umhüllung und wandte sich vom Geheimschrank ab. Sie schwang den gezogenen Stab dreimal sanft durch die Luft. Silberne, blaue und weiße Funken prasselten daraus hervor. Dann fegte ein eiskalter Luftstrom aus dem Stab, wurde zu einem Wirbelwind und umtoste sie eine Viertelminute lang. Lamia lächelte. Der Stab hatte sie als seine Trägerin und als Hexe der Nacht anerkannt. Der Wind ebbte Ab. Schneeflocken umtanzten sie von oben her und rieselten lautlos auf den Boden, wo sie sofort zu kleinen Wassertropfen zerrannen. Sie fühlte eine immer größere Euphorie. Der Stab hatte sie angenommen. Mit ihm war sie nicht nur eine Tochter der Nacht, sondern auch eine Lenkerin der magie. Lamia, die Blutmondkönigin, konnte das Reich ohne Grenzen führen. Von hier aus würde sie die Macht der Nachtkinder stärken. Von diesem Ort aus würde sie mit allen Nyx durch Blut und Magie verbundenen Helfern Vergeltung an denen üben, die Nyx und den mitternachtsdiamanten in diesen unüberwindlichen Wasserstrom geworfen hatten. Sie erinnerte sich, Zachary Marchand als einen der beiden Männer erkannt zu haben. Ja, dieser Kerl, der es abzulehnen gewagt hatte, der Sohn von Lady Nyx zu werden, hatte die frühere Herrin in den Strom geworfen. Lamia, die nun das wußte und konnte, was Nyx ohne Mitternachtsdiamant konnte, aber auch das wußte und konnte, was die erwählte Nachfolgerin konnte, dachte daran, daß Zachary Marchand den Tag seiner Geburt verfluchen würde. Aber nein, das konnte und das würde sie tun. Der Gedanke an ihre Rache zauberte ein dämonisches Lächeln auf Lamias Gesicht. Da es in diesem Raum kein Licht gab, würde nur jemand ihrer Art die beiden Fangzähne sehen, die unter ihrer Oberlippe hervorlugten. Lamia hatte es geschafft. Sie hatte das Erbe Nocturnias übernommen.

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Warum hatte sie ihm dieses verflixte Armband umgelegt? Er hatte doch nicht vor, mit irgendwem außerhalb des Hauses zu mentiloquieren. Abgesehen davon tat ihm der Kopf immer noch weh, vom Rest des Körpers ganz zu schweigen. Wenn ihm irgendwann irgendwo noch mal wer sagen würde, er oder sie fühle sich wie neugeboren, würde er der- oder demjenigen ins Gesicht schlagen. Gegen dieses schwer irgendwo draufliegen und die vielen Geräusche war das in ihrem Bauch ja richtig komfortabel gewesen, auch wenn er sich kurz vor der Rückkehr auf die Welt keinen Zentimeter mehr bewegen konnte. Einen Tag war er jetzt schon ihr achso sehr gewünschtes Baby, noch dazu sein eigener Sohn. Die ganze Tortur war am 26. Mai passiert, zwei Tage nach dem eigentlich errechneten Termin. Er hatte irgendwann gehofft, er würde alles bisherige in der zusammenquetschenden Enge von Tracys Vagina vergessen. Doch er konnte sich noch an alles erinnern, nachdem er die ganze Höllenfahrt ins Leben überstanden hatte. Offenbar hatte dieser Zauber, den er mit seiner früheren Tante gemacht hatte etwas schützendes in ihn eingewirkt, daß er sofort richtig an ihren Brüsten saugen konnte und nicht verhungern mußte. Aber sie wollte auch, daß er schrie, wenn er was brauchte. Wie oft hatte er mit seinen Freunden und Kollegen gescherzt, er oder sie bräuche nur zu schreien, wenn wer was nötig hatte. Donald, ein Thorntails-Kamerad, hatte ihm darauf mal geantwortet, daß er aus dem Alter schon seit über zehn Jahren raus sei. Diese ganzen Erinnerungen und natürlich alles, was Lucas Wishbone als Zaubereiminister erlebt hatte waren trotz der zusammenstauchenden Belastung im Geburtskanal erhalten geblieben. Doch er durfte nicht zeigen, daß er trotz Babykopf ein erwachsener Mensch war. Diese vermaledeiten Iterapartio-Regeln zwangen ein selbsterwähltes Mutter-Kind-Gespann dazu, wie ein natürlich entstandenes Mutter-Kind-Gespann zu leben. Ansonsten drohte dem durch den Zauber wiedergeborenen eine Gedächtnisblockade, damit er oder sie nur das konnte und wußte, was ein natürlicher Säugling konnte und wußte. Zumindest wußte er jetzt, daß ungeborene Kinder schon einiges mitbekamen, bevor sie von ihren Müttern entbunden wurden. Jetzt lag er in einer sanft schaukelnden Wiege und fragte sich, ob es das wirklich wert gewesen war. Diese verruchte Anthelia hatte ihn mit einem Schnellalterungsfluch belegt. Vielleicht wäre es besser gewesen, den Tod wie ein Mann hinzunehmen. Doch er wollte Rache. Er wollte diese Sardonianerin vernichten. Und Tracy, die Schwester seiner ersten Mutter, hatte es genossen, ihn jetzt als eigenen Sohn zu bekommen. Sicher, wo er genug wache Phasen in ihrem Schoß erlebt hatte, genoß er es sogar, daß sie ihn ganz und gar geborgen trug. Doch jetzt war er an der Luft, lag in dieser schaukelnden Wiege und wünschte sich entweder tot oder für immer in Tracys warmem Leib. Wie erniedrigend war es für ihn, darauf zu warten, bis er in seinen eigenen Ausscheidungen lag und nach einer neuen Windel schreien mußte. Denn richtige Wörter konnte er nicht formen. Die Zähne fehlten ihm. Und die Zunge war noch zu unbeweglich. außerdem würde Tracy, die er nun Mom nennen mußte, nicht lange zulassen, daß er versuchte, mehr zu können als ein gerade mal einen Tag alter Säugling. Zumindest war die Nahrungsaufnahme für ihm angenehm. Daran konnte er sich durchaus gewöhnen. Doch er wußte, daß er eines nicht mehr so fernen Tages auch diese Annehmlichkeit aufgeben mußte, wenn er zu einem eigenständigen Mann aufwachsen wollte. Doch wozu das alles? Anthelia, so hatte ihm seine neue, glückliche Mutter eine Woche vor seiner Geburt mentiloquiert, sei wohl von diesem blauen Vampir Volakin erledigt worden, weil dessen Vernichtung ihr eine tödliche Strahlendosis versetzt hatte. Doch sie hatte eine Erbin, die noch dazu mehr konnte. Die hatte eine Invasion von Zombies vereitelt und wollte wohl Anthelias Werk fortsetzen. Mehr wollte ihm Tracy Summerhill nicht an Wissen zumuten.

"Ich sehe zu, daß ich euch in vier Jahren, wenn ich einen Zauberstab festhalten kann, die Höllen aller Religionen auf Erden bereite", dachte der Wiedergeborene, der nun als Anthony Summerhill aufwachsen sollte. Doch dann viel ihm ein, daß die Sardonianerinnen ja erfahren haben mochten, daß er Tracy Summerhills Sohn geworden war. Sicher würden die zusehen, ihn nicht zu nahe an sich heranzulassen. So oder so hatte er sich selbst in diese verdammte Lage gebracht.

Er hörte die Türglocke. Die Ohren eines Neugeborenen waren tatsächlich empfindlicher als die eines mehrere Dutzend Jahre alten Mannes, erkannte Anthony Summerhill. Dann hörte er die Stimmen von zwei Frauen, Eva Gladfoot, die ihm aus seiner Mutter herausgeholfen hatte und Linda Knowles, die Westwindreporterin, deren Stimme er eine Woche vor seiner Rückkehr auf die Welt mehrmals gehört hatte.

"Unsere Leser und vor allem Leserinnen möchten gerne Bilder von Ihrem Kleinen sehen, Ms. Summerhill", sagte Linda Knowles. "Immerhin möchten sie ja wissen, wem er ähnlicher sieht."

"Ich verstehe, erst war es mein Bauch und jetzt mein Sohn, der öffentliches Interesse erweckt", hörte er Tracy Summerhill erheitert antworten. "Im Moment dürfte er schlafen. Er hat eine sehr kräftige Stimme. Außerdem muß er ja noch rauskriegen, wann er schlafen kann und wann er wach sein kann. Er ist ja gerade einen Tag auf der Welt."

"Was hat die mir ins Hirn gesetzt? Ich soll's genießen, von ihr herumgetragen zu werden", dachte anthony Summerhill. Da hörte er auch schon die drei Hexen näherkommen. Er schloß die Augen. Im Moment waren die eh noch nicht zu gebrauchen. Alles was weiter als eine Handbreit von ihm weg war verschwand in einem lästigen Nebel. Alles war grau in Grau. Er nahm es hin, wie die drei Hexen an der Wiege standen, roch das Parfüm von Linda Knowles und die Pflegelotion, die Eva Gladfoot sich immer auf die Hände schmierte, um selbst babyzarte Haut zu behalten. Das war der erste Geruch, den er wahrgenommen hatte, als das ganze Fruchtwasser aus seiner Nase raus war.

"Schade, daß er schläft. Sicher interessieren sich Leute dafür, wessen Augen er hat."

"Lucas und ich hatten dieselbe Augenfarbe. Insofern von jedem von uns beiden eines", hörte er Tracy Summerhill scherzen. Die Hexe genoß es wirklich, ihn nun nicht mehr als Neffen oder Liebhaber um sich zu haben. Er war ihr nun wortwörtlich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

"Ist da noch was nachgekommen, weil das eigentlich Ihr Großneffe ist, Ms. Summerhill?" Wolte diese neugierige Zeitungshexe Knowles wissen.

"Sein Vater Lucas hat ihn mir anvertraut. Ich habe ihn getragen und geboren und ziehe ihn auf. Er ist mein Sohn", erwiderte Tracy Summerhill. "Abgesehen davon erinnere ich Sie gerne daran, daß Ihre Urgroßeltern auch Onkel und Nichte gewesen waren, Ms. Knowles. Die hatten fünf gesunde Kinder zusammen. Insofern bin ich sehr zuversichtlich, daß Anthony auch gesund und glücklich aufwachsen wird."

"Zumal das Liebesleben meiner Patientin eigentlich nicht in die Zeitung gehört", mußte Eva Gladfoot einwerfen. "Ich habe ihr abgeraten, damit hausieren zu gehen, daß sie das Kind ihres eigenen Neffen austrägt."

"Ms. Knowles darf es gerne noch einmal zitieren, daß ich mich nicht deswegen schäme, mit meinem hoffentlich in Frieden ruhenden Neffen Lucas Wishbone die Schönsten Jahre seines und meines Lebens verbracht zu haben und stolz bin, seinen Sohn geboren zu haben", erwiderte Tracy.

"Ich würde gerne in Frieden ruhen, wenn dieses neugierige Langohr da weit genug von diesem Wackelbett weg ist", dachte Anthony Summerhill. Da fühlte er, wie eine starke Blähung seinen Bauch durchwanderte und mit einem Schwall dünnen Stuhls in seiner Windel endete. Sofort fühlte er die unangenehme Wärme und Nässe der eigenen Ausscheidung. Er wälzte sich, öffnete die Augen und quängelte. Dann plärrte er mit ganzer Hilflosigkeit los, die er empfand. Aus dem ihn umgebenden Nebel schälte sich riesenhaft das lächelnde Gesicht seiner Mutter und senkte sich zu ihm herab. Er verstummte. Sie ergriff ihn sacht, während zwei grelle Blitze und das laute Klicken eines Fotoapparates auf Anthony einwirkten. Er strampelte einmal kurz. Dann ließ er sich gefallen, wie er aus der Wiege gehoben wurde. Tracy lachte aufmunternd und beschnupperte ihn. Dann sagte sie zu Eva und Linda: "Sie kennen den Spruch, wer richtig ißt, der richtig muß. Ich ziehe mich mit ihm für einige Minuten zurück. Denn was jetzt nötig ist gehört nicht in die Zeitung."

"Wie oft muß er denn?" Fragte Linda Knowles. Dieses Weib war unheilbar neugierig.

"Das erzähle ich auch nicht", erwiderte Tracy Summerhill und trug ihren gerade einen Tag frei atmenden Sohn aus dem kleinen Kinderzimmer hinaus.

Anthony war ihr dankbar, als sie ihn aus den vollen Windeln befreit, gesäubert und neu gewickelt hatte. "Ist das Bäuchlein jetzt wieder leer, Süßer", säuselte sie und piekste ihm ihren Finger knapp über dem noch wunden Bauchnabel in die Bauchdecke. "Wenn die beiden Tanten weg sind gibt's was an Mom Tracys kleiner Bar." Anthony verzog das Gesicht. Er wollte wohl lächeln. Doch die Gesichtsmuskeln wollten noch nicht so wie er gerne hätte. So blieb ihm nur ein erheitertes Glucksen, wenn er schon nicht mentiloquieren konnte.

Linda Knowles durfte noch ein Foto von Tracy mit Anthony in den Armen machen. Dann befand Eva Gladfoot, daß sie mit ihrer Patientin alleine sein wollte. Linda Knowles verließ das Haus. anthony konnte es nur hören, daß seine Mutter einen Klangkerker zauberte, um mit Eva Gladfoot unbelauschbar zu reden.

"Ich hoffe sehr, dieser Rummel um den Kleinen hört bald auf. Oder wollen Sie Ihren Sohn wirklich als öffentliches Eigentum groß werden lassen, wie ein Jungtier im magischen Tierpark?"

"Ich habe es mit Ihrer Chefin Greensporn und mit Ihnen geklärt, daß ich dieser neugierigen Bande nur dadurch Herrin bleibe, wenn ich denen gerade genug liefere, um ihre noch neugierigeren Leser abzufüttern. Ihnen muß ich doch nicht erzählen, wie heftig die Gerüchte um Ihre Kollegin Leda Greensporn gebrodelt haben. Ich habe kein Problem damit, zu verraten, wessen Kind ich bekommen habe und daß ich stolz bin, etwas von meinem zu früh verstorbenen Neffen bewahrt zu haben. Außerdem ist die werte Godiva Cartridge noch heftiger dran, was ihren Umstandsbauch angeht."

"Ja, sie ist Ministergattin. da ist es leider nicht möglich, das Interesse der Reporter zu ignorieren", knurrte Eva Gladfoot, während Anthony erfreut zur Kenntnis nahm, wie seine frühere Tante und jetzige Mutter ihn zurechtrückte, damit er bequem an eine ihrer Brustwarzen gelangen konnte. Keine halbe Minute später sog er begierig ein, was sie für ihn bereithielt.

"Ja, doch Lucas Wishbone ist tot, und Sie sind keine Person der Öffentlichkeit. Ihre Affäre mit Lucas Wishbone hat mehr Verärgerung als Bewunderung ausgelöst. Ich habe gestandene Ehefrauen getroffen, die sich darüber beschwerten, daß Leute wie meine Kollegin Leda und Sie offen gegen die geltenden Anstandsregeln verstoßen dürften."

"Wollen Sie jetzt dem Kleinen unterstellen, er hätte nicht zur Welt kommen dürfen, Eva?"

"Ich wäre die allerletzte, die das behaupten würde", schnarrte Eva Gladfoot. Anthony genoß derweil sein warmes Abendmahl.

"Ui, du willst wohl gerne in zwei Jahren schon groß sein, wie?" Scherzte Tracy, der es doch etwas unangenehm war, wie stark ihr Sprössling an ihr sog. Doch sie lachte sofort wieder: "Na ja, dann kriege ich auch die restlichen zwanzig Pfund Übergewicht los. Aber muß ja nicht gleich am ersten Tag sein." Anthony fühlte den Druck im Magen und setzte ab. Ohne es zu wollen stieß er auf. Damit rief er ein erfreutes Lachen beider Hexen hervor.

"Ich gehe davon aus, wenn Ms. Sweetwater noch bei mir war hört der Rummel um Tony in einem Monat wieder auf. Es gibt zu viel anderes, was in die Zeitung rein muß", sagte Tracy Summerhill, während sie ihrem Sohn Speichel und Milchreste aus dem Gesicht wischte.

"Ich bin nur um Ihrer beider Wohl besorgt, Ms. Summerhill", seufzte Eva Gladfoot. "Wir sehen uns dann übermorgen wieder, und vergessen Sie bitte nicht, die Stillzeiten aufzuschreiben, damit ich genau bestimmen kann, ob Sie genug Milch für Ihren Sohn ausbilden oder wir mit Nutrilactus-Trank nachhelfen müssen."

"Das wird wohl nicht nötig sein", hörte Anthony Tracy Summerhill erheitert antworten. "Der verhungert bei mir nicht."

"Ich weiß, Sie hören es nicht gern, aber Sie sind keine zwanzigjährige Hexe mehr", erwiderte Eva.

"Wenn Sie damit sagen möchten, daß ich knapp zwanzig Jahre älter als Sie bin, junge Dame, dann ist das nichts neues für mich. Aber ich habe mir dieses Kind gewünscht. Ich war froh, es in mir heranwachsen zu fühlen. Ich werde es nicht verhungern lassen, aber auch nicht mehr an irgendwelchen Tränken schlucken, wenn ich das nicht brauche. Ich habe das nicht nur aus Spaß so gesagt, daß ich noch genug Speck am Leib habe, den der Kleine mir aus meinen Brüsten saugen darf. In einem halben oder Dreivierteljahr kann der gerne selbst zwanzig Pfund schwer sein."

"gut, wir sehen uns übermorgen wieder", sagte Eva Gladfoot und verließ das Haus. Tracy Summerhill legte ihren Sohn zurück in die Wiege.

"Schlaf gut, Kleiner. Mom ist in der Nähe", sagte sie, bevor sie ein altes Schlaflied sang. In dessen Rhythmus schaukelte sie die Wiege sanft und behutsam, bis ihre Stimme und die wiegenden Bewegungen Anthony in einen tiefen Schlaf lullten.

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Die südspanische Sonne gleißte und glühte vom wolkenlosen Himmel. Es war ein wundervoller Mittag. Doch was unter der Sonne vorging war alles andere als wundervoll.

Zwei junge Frauen rannten um ihr Leben, zumindest um ihre Freiheit. Die eine war Ende dreißig. Sie besaß weizenblondes Haar und silbergraue Augen, war schlank und offenbar auch sehr in Form. Die zweite Frau war gerade Anfang zwanzig. Sie besaß strohblondes Haar, jedoch einen dunkleren Hautton und dunkelbraune Augen. Beide trugen sie Sommerkleidung. Hinter ihnen, noch fünfhundert Meter entfernt, klangen wütende Männerstimmen und das bedrohliche Bellen zweier großer Hunde, die gerade hinter den beiden Flüchtenden herjagten. Knapp einen Kilometer weiter zurück lag eine alte Burg im Glanz der Mittagssonne. Dort waren die beiden mehrere Wochen lang gefangengehalten worden. Sie sollten von el Gatos Bande nach Marokko verschifft und an einen dort lebenden Zuhälter verschachert werden, der auf blonde Europäerinnen stand. Nur der unvermittelt explodierten Kampfkraft der älteren war es zu verdanken, daß sie und ihre jüngere Begleiterin kurz vor dem Einladen in einen Kastenwagen entkommen konnten. Doch nun schickte El Gato ihnen seine beiden Dobermänner Brutus und Nero auf den Hals.

"Luna, ich kann nicht mehr", keuchte die jüngere. Schweiß und Tränen strömten über ihr Gesicht. Die Ältere trieb sie an, noch schneller zu laufen. Doch die Jüngere schnaufte und pfiff beim Atmen. "Mann, die beiden Köter sind gleich bei uns, dann bist du alle!" Bellte die Ältere, die eigentlich hätte weiterrennen können. Ihr war die Belastung nicht anzusehen. Doch sie blieb bei der Jüngeren, die Nina hieß. Sie hörten das wilde Gebell der sie jagenden Kampfhunde. "Ich seh's ein, Nina, du kannst nicht weiter", stöhnte die Ältere und lief zu Nina zurück und an ihr vorbei. Dabei riß sie sich hemmungslos das dünne Top vom Oberkörper. Darunter trug sie nichts. Ebenso warf sie im Laufen ihre kurze Hose und den Schlüpfer fort. Nina kapierte nicht, was war. Die Todesangst und die totale Erschöpfung ließen sie wanken. Gerade so ließ sie sich auf ihr Hinterteil fallen. Sie heulte hemmungslos. Sie hatte mit ihrem Leben abgeschlossen. Gatos Bluthunde würden sie zerfleischen.

"Da seid ihr beiden", brüllte Luna scheinbar lebensmüde. Denn die auf sie zujachernden Hunde waren nur noch zweihundert Meter fort. Da passierte es. Luna ließ sich auf die Hände fallen. Nina glaubte, die Todesangst habe sie wahnsinnig gemacht. Denn was sie sah konnte nicht wirklich passieren. Auf der hellen, geschmeidigen Haut ihrer Mitflüchtenden wuchs weißer Flaum, der zu einem mondlichtfarbenen Fell wurde. Lunas Gesicht veränderte sich auch. Die Ohren wurden breiter und spitz. Nase und Mund zogen sich auseinander und wuchsen dabei zu einer kurzen, aber mit messerscharfen Zähnen gespickten Schnauze. Aus dem Steißbein der sich verwandelnden sproß ein buschiger Schwanz. Innerhalb von nur vier Sekunden stand da eine weiße Wölfin, wo vorher noch eine Frau gestanden hatte. Das konnte es nicht geben, dachte Nina. Da preschten die beiden muskulösen Dobermänner heran.

Laut hächelnd und Knurrend galoppierten sie auf die weiße Wölfin zu. Geifer troff ihnen aus den halboffenen Mäulern. Doch als sie rochen und sahen, was da vor ihnen wartete, vergaßen sie ihren Laufrhythmus. Sie schlidderten einige Meter. Dann sprang die weiße Wölfin dem ersten an die Kehle. Der war nicht auf einen Angriff gefaßt und reagierte zu spät. Laut jauelnd und dann röchelnd fiel der Dobermann um. Sein Hals war eine einzige klaffende Wunde. Der zweite Kampfhund griff nun an. Doch die Wölfin wich aus, schlug einen Haken und sprang los. Im Flug drehte sie sich, so daß sie in dieselbe Richtung wie der Kampfhund blickte, der gerade erkannte, wo seine Gegnerin war. Diese krachte ihm auf den Rücken und krallte sich sofort an dem großen Hund fest. Dieser warf sich zu Boden, um die Gegnerin abzuschütteln. Diese schnappte zu und erwischte den Hund am Ohr. Dieser war nun rasend vor Schmerz und Wut. Es entspann sich ein wilder Kampf. Knurrend, Blaffend und Jaulend gingen sich die beiden vierbeinigen Gegner an. Die Wölfin schien dabei nicht nur ihren Instinkten zu folgen, sondern setzte auf Täuschen und Überraschungstreffer. Während der Kampfhund wild nach ihrer Kehle, ihren Läufen oder ihren Flanken zu schnappen versuchte, biß sie ihm in jedes Ohr, hieb ihm kräftig ihren Vorderlauf ins linke Auge und tanzte kurz an ihm vorbei, als er vom eigenen Schwung getragen ins Leere stieß. Dann tauchte die mondhelle Wolfsschnauze unter den Körper des Hundes und schnappte kräftig zu. Ein unerträglich lauter schriller Heulton entfuhr dem Hund, während es zwischen seinen Hinterläufen heftig blutete. Nina erkannte, daß die Wölfin den Hund kurzerhand kastriert hatte. Dadurch abgelenkt und auf dem linken Auge blind bekam der Dobermann nicht mehr mit, wie seine Gegnerin pfeilschnell von links zustieß und ihn voll an seiner Kehle erwischte. Laut knurrend zerrte sie am Hals des Hundes und ließ erst ab, als der Dobermann mit letztem Jaulen zusammenbrach. Das Blut der Gegner troff der Wölfin aus dem Maul, während sie sich umsah. Da kamen Gatos Leute. Doch als sie sahen, was passiert war standen sie nur da. Einer von ihnen bekreuzigte sich. Denn was er sah konnte nur Teufelswerk sein. Die Wölfin fixierte die vier Verfolger, während Nina immer noch vom Geschehen gelähmt dasaß. Dann stieß sie ein wütendes Knurren aus und rannte los, daß der knochentrockene Straßenstaub hinter ihren Hinterläufen hochgeschleudert wurde.

Gatos Männer zückten Messer und Schlagringe. Einer hielt einen Funken sprühenden Elektroschocker in der Hand. Diesen Mann nahm die weiße Wölfin zuerst aufs Korn. Sie täuschte einen Sprung an. Der Mann stieß den eingeschalteten Schockapparat nach vorne und hieb damit ein Loch in die Luft. Sein Waffenarm geriet dadurch jedoch sofort in die Reichweite der Wolfsschnauze. Mit gnadenloser Brutalität schnappte diese zu und zerfleischte den Waffenarm. Der Helfer El Gatos schrie so laut, daß selbst Nina, die nun zweihundert Meter entfernt stand, es hören konnte. Das Schockgerät entfiel dem Mann. Jetzt sprang ihm die Wölfin an die Gurgel und schlug ihm ihre Scharfen Fang- und Reißzähne in den Hals. Das war das Ende eines Verbrechers. Die anderen griffen die Wölfin nun mit ihren Hieb- und Stichwaffen an. Doch diese krachten wie auf hartes Gestein. Die Messer glitten ab. Die Schlagringe fielen ihren Trägern beinahe aus den Händen. Die Wölfin warf sich herum. Sie schnappte gezielt nach den Waffenhänden und erwischte einen ähnlich brutal am Unterleib wie zuvor den Kampfhund. Sie zerfetzte Kleidung und riß klaffende Wunden. Der, der sich bekreuzigt hatte, suchte sein Heil in der Flucht. Die Wölfin kämpfte noch eine Minute mit den verbliebenen Männern, bis diese von ihren schweren Verletzungen gepeinigt am Boden lagen. Unverzüglich setzte die Wölfin dem Fliehenden nach. Nina konnte noch sehen, daß der Flüchtende auf die Burg zujagte. Dann hörte Nina es rattern. Das klang wie ein Maschinengewehr im Krimi oder Kriegsfilm, dachte Nina. Tatsächlich schwirrte etwas über Ninas Kopf hinweg. Eher aus Reflex als aus Überlegung warf sich die junge Frau flach auf den Boden. Wieder schwirrte etwas in schneller Folge über sie hinweg. Dann trat für eine Sekunde totenstille ein, bevor ein langgezogener Schmerzensschrei über den Weg zur Burg hallte. Nina hörte es aus der Ferne wütend schnauben. Dann erfolgte ein triumphales Geheul. Die Wölfin hatte ihren letzten Verfolger erledigt. Wieder ratterte es. Wieder pfiffen Dutzende von Kugeln über Nina hinweg. Doch das Wolfsgeheul hielt an. Nina keuchte. Hatte sie das gerade wirklich erlebt?

Erst als zwei Minuten vergangen waren, ohne daß was passiert war, stand sie auf und drehte sich um. Da lagen die Kleidungsstücke Lunas. Jetzt ahnte Nina, warum ihre Mitgefangene diesen Namen trug. Ihr fielen die Legenden und Horrorgeschichten von Werwölfen ein. Das waren tagsüber gewöhnliche, ja harmlose, liebenswerte Menschen. Aber bei Vollmond verwandelten sie sich in mörderische Bestien. Aber es war gerade hell, und die Sonne schien. Dann konnte es keine dieser Kinowerwölfe gewesen sein. Eine Außerirdische, eine Gestaltwandlerin? Sie dachte an das, was ihr Vetter gerne im Fernsehen sah oder mit Freunden nachspielte. Sie blickte zurück auf den Weg, auf dem sie geflüchtet war. Da lagen die beiden blutüberströmten Kadaver der vorhin noch so gefährlichen Hunde. Mehrere hundert Meter weiter zurück sah Nina drei leblose und einen sich in Todesqualen windenden Mann. Sie wandte sich der Burg zu. Das Tor stand weit offen. Zu sehen und zu hören war niemand. Nina fühlte, daß sie trotz der Anstrengungen nicht hier stehenbleiben durfte. Sie wandte sich mit einem Ruck ab und lief los, immer schneller. Auch wenn ihre Beine schwer wie Blei waren und sie mehr stolperte als lief mußte sie von hier weg. Sie mußte einfach nur weg.

Nach weiteren fünfhundert Metern über die knochentrockene Straße forderten die Mittagsglut und die Erschöpfung doch ihren Tribut. Nina sackte zu Boden und blieb liegen. Ohnmacht übermannte die junge Frau.

So merkte sie nicht, wie die Zeit verging. Sie hörte nicht, wie krallenbewehrte Pfoten auf die Straße klatschten. Sie roch den nach Blut und verdorbenem Fleisch stinkenden Atem nicht, der ihr ins Gesicht wehte. Sie fühlte erst etwas, als zwei messerscharfe Zahnreihen sich kurz aber überaus schmerzhaft in ihren linken Arm gruben. Sie schrie auf. Dann fühlte sie erneut diesen Schmerz und erkannte, daß die weiße Wölfin über sie hergefallen war. Doch das Ungeheuer hatte sie nur zweimal schmerzhaft gebissen. Nun ließ es von Nina ab und zog sich mit aufgestellten Ohren zurück. Nina fühlte wie es in ihrem Arm brannte, als habe ihr jemand Säure über den Arm gekippt. Sie wimmerte und schlug nach der Wölfin, die jedoch zu weit fortstand, um getroffen zu werden. Dann setzte sich das mondhelle Monstrum noch hin wie ein braver Haushund. Nina blickte in die gerade gelben Augen der Kreatur, die ihr zwar die Freiheit gerettet hatte, aber ihr selbst gerade tiefe Bißwunden beigebracht hatte. Mit eisigem Schrecken erkannte Nina, was ihr da passiert war. Sie war von einer Werwölfin gebissen worden! Hieß es nicht, daß wer von einem Werwolf gebissen wurde seinen Fluch wie Tollwut abbekam? Aber wenn die da keine von den früher erwähnten Werwölfen war ... Ein dumpfes Pochen mischte sich in das Gefühl in ihrem Arm brennenden Feuers. Dieses Feuer glühte nun nicht nur in ihrem Arm, sondern kroch langsam in ihre Schulter. Sie hörte ihr Herz dumpf in den Ohren. Sie keuchte und versuchte, sich wieder aufzusetzen. Doch Hitze und Erschöpfung ließen sie schwindeln. Sie schlug mit dem Hinterkopf unsanft auf die Straße. Die Wölfin hockte vor ihr und beobachtete sie. Ihre Ohren vollführten sanfte Drehungen und lauschten mal in die eine, mal in die andere Richtung. Die schwarze Nase glitzerte feucht im Sonnenlicht. Nina hörte, wie die Wölfin schnüffelte. Sie war diesem Geschöpf ausgeliefert. Sie sah auf ihren Arm. Die Bißwunden waren wie zwei rote, zackige Halbmonde in ihre dunkle Haut eingestanzt. Sie versuchte noch einmal, sich aufzusetzen, langsam und behutsam. Es gelang. Sie probierte es, aufzustehen. Da kippten die Wolfsohren in ihre Richtung, und die Wölfin fixierte sie mit ihren Augen. Nina verlor den Mut und blieb sitzen. So saßen sich Frau und Wölfin mehrere Minuten gegenüber, während es in Ninas ganzer linker Seite zu pochen begann. Jetzt fühlte sie auch ein Prickeln in ihrem Körper. Gleichzeitig meinte sie, alles um sie herum würde langsam immer lauter. Und dann stieg ihr auch noch der Geruch immer stärker in die Nase. Der Geruch von Angstschweiß, Blut, Hundefell und allem anderen, was in dieser Umgebung war. Sie fühlte, wie das Brennen ihren Körper durchpulste. Es kam nicht nur von der Sonne her. Als sie einen weiteren Erschöpfungsanfall erlitt und hinten überkippte glaubte sie, ihr Körper würde ganz taub. Sie hörte nur noch ihr wild hämmerndes Herz und ihren keuchenden Atem. So blieb sie weitere Minuten liegen, bis Herz und Atmung sich wieder beruhigten. Sie fühlte immer noch das Brennen in den Bißwunden. Doch das Gefühl für ihren Körper kehrte zurück. Sie setzte sich wieder auf. Ihr Mund war vom heftigen Keuchen fast ausgetrocknet. Die Wölfin saß immer noch vor ihr und beobachtete und belauschte sie. Von ihr ging ein vertrauter Geruch aus, etwas, das Kraft, Wildheit, aber auch Zugehörigkeit vermittelte. Nina erschrak erneut, als ihr klar wurde, was das hieß. Sie war wahrhaftig zu einem anderen Wesen geworden. Die weiße Wölfin hatte sie mit ihren Bissen infiziert, mit ihrer unheilvollen Natur angesteckt und damit verflucht. Womöglich konnte sie nur sterben, wenn ihr jemand eine Kugel aus reinem Silber oder drei Stück davon ins Herz jagte. Zumindest war das in den meisten Werwolfgeschichten das einzige, was eine derartige Kreatur erlösen konte. Eine Kreatur, wie sie nun eine war. Sie war den Mädchenhändlern entkommen, um ihr restliches Leben mit einem Fluch oder besser mit einer gefährlichen Krankheit behaftet zu sein. Als hätten ihre resignierenden, in Selbstverachtung ausufernden Gedanken etwas ausgelöst stellte sich die weiße Wölfin wieder auf alle vier Läufe. Dann stieg sie mit dem Vorderkörper hoch und pendelte mit ihren Vorderpfoten und der buschigen Rute ihr Gleichgewicht aus. Sie sah aus wie eine verspielte oder bettelnde Hündin, die Männchen machte. Dabei lichtete sich das wmondlichthelle Fell. Die kurze Schnauze schrumpfte zurück. Die gelben Augen ergrauten und bekamen wieder menschliches Aussehen. Die Ohren schrumpften ebenfalls und wurden wieder abgerundet. Dann wurde aus der Wölfin wieder eine Frau, weizenblond und hellhäutig und so pur, wie die Natur sie gemacht hatte. Doch der Geruch der Vertrautheit blieb, auch wenn der typische Wildtiergeruch in den Duft einer gesunden menschlichen Haut übergegangen war.

"Dir ist klar, was dir passiert ist, Nina?" Fragte die Zurückverwandelte ansatzlos.

"Du bist ein verfluchtes Wesen, ein Monster. Und du hast mich mit deinem Fluch angesteckt, du Biest!" Rief Nina und erschrak, wie laut ihre eigene Stimme in ihren Ohren dröhnte. Sie hörte das Echo von den knapp hundert Meter entfernt stehenden Pinien und schwieg. Sechs Sekunden später wehte ihr das Echo von der Burg in die Ohren. Es klang jedoch so, als stehe das Gemäuer keine hundert Meter vor ihr. Ihre Sinne waren verstärkt worden.

"Ich habe die alle erledigt. Leute wie Gato haben die Ehre nicht verdient, Brüder unter dem Mond zu werden. Aber du wirst mitmir zusammen in meine Heimat zurückkehren und mit mir und dreißig anderen Geschwistern des Mondes ein neues, wesentlich angenehmeres Leben führen."

"Ich habe Freunde und Verwandte. Die werden mich hassen vor Angst", stieß Nina aus, während sie das Pochen der beiden Bißwunden stärker fühlte.

"Deshalb fährst du ja mit mir. Gato hat uns freundlicherweise seinen klimatisierten Panzerbenz vererbt. Ali wollte mich zwar noch mit seiner Kalaschnikov erschießen, aber kam nicht weit damit. Jetzt schmort der Kerl in irgendeiner Hölle oder darf bald als Bettwanze aus einem Ei schlüpfen. Du hast Glück, daß ich weiß, wie wir unsere überragende Natur beherrschen können, ohne nur bei Vollmond und komplett willenlos herumzulaufen. Also komm mit!"

"Und wenn nicht. Wirst du mich dann auch umbringen wie Gatos Kerle?" Fragte Nina mit Todesverachtung. Sie wollte nicht so leben, kein Geschöpf der Finsternis sein. Ihre katholische Erziehung machte, daß sie sich selbst verachtete.

"Dann wärest du jetzt tot, Schwester. Aber wir Wölfinnen sind in der Gemeinschaft des Mondes in der Unterzahl. Daher habe ich beschlossen, daß du eine von uns wirst. Steh auf und komm mit!" Nina fühlte, wie die Worte der Wolfsfrau ihre trüben Gedanken durchdrangen, ihre Selbstverachtung niederstießen und in ihrem Bewußtsein nachhalten. Sie konnte nicht anders als der Unheimlichen zu gehorchen. Luna klaubte ihre Sachen auf und zog sich wieder an. Dann winkte sie Nina. Diese folgte der Wolfsfrau, deren Artgenossin sie nun war. Sie rechnete jeden Moment damit, selbst zu einem solchen Geschöpf zu werden.

In der Burg lagen die blutüberströmten Leiber der Mädchenhändler herum. Der Kastenwagen stand noch mit offener Klappe da. Die Helfer Alis lagen dahinter. Luna wuchtete jeden Leichnam in den Kastenwagen. Nina widerte der Gestank an. Die ersten Fliegen waren auch schon da und summten um die frischen Kadaver herum.

"Bleiben die hier?" Fragte Nina angewidert.

"Hier sucht die keiner, und hier stören sie keinen mehr", kam Lunas kühle Antwort. Nina wurde angehalten, ihrer neuen Artgenossin zu helfen, die letzten Toten in den Kastenwagen zu laden. Dann klappten sie die Türen zu. Luna winkte mit einem Zündschlüssel, auf dessen Griff ein Mercedesstern aufgedruckt war. Der Zündschlüssel gehörte zu einer silbergrauen Limousine mit verspiegelten Scheiben. Luna entriegelte die vier Türen per Knopfdruck. Dann gebot sie Nina, sich auf den Beifahrersitz zu setzen. Luna schlüpfte hinter das Steuerrad. Die schweren Türen wurden zugeklappt. Zehn Sekunden später erwachte der PS-starke Motor des Mercedes zum Leben. Dann bugsierte Luna den überschweren Wagen aus seiner Garage und trieb ihn mit sanftem Druck auf das Gaspedal über den Hof der Burg, durch das Tor hinaus auf die Straße. Sie passierte die getöteten Männer und Hunde mit niedriger Geschwindigkeit. Dann brachte sie den Wagen auf Touren.

"Das Ding ist ein Panzerwagen. Die Scheiben sind kugelsicher, und alle möglichen Stellen sind mit verstärkten Stahlplatten ausgelegt. Mit dem Schlachtschiff kommen wir unanfechtbar zu meinem Hauptquartier."

"Wie konnte eine wie du überhaupt von Gatos Leuten kassiert werden?" Fragte Nina.

"Weil ich so blöd war, mich als anhalterin nach Barcelona mitnehmen lassen zu wollen", knurrte Luna. "Ich habe nur einen Typen im Wagen gesehen. Aber ich habe den zweiten Typen gerochen. Als ich wieder aussteigen wollte, hat mich der zweite Kerl mit diesem stinkenden Schlafgebräu erwischt, Klodoform oder wie das Zeug heißt. Jetzt weiß ich, daß ich gegen sowas nicht so immun bin wie gegen Bleikugeln und Stahlklingen. War zumindest eine nützliche Lektion", erklärte Luna und fuhr die Straße lang.

"Ich weiß gar nicht wo wir sind. Aber die Karre hat ein Navi", sagte Nina und deutete auf einen Apparat auf Höhe der Lenkung. Sie schaltete es ein und fragte Luna, wo sie hinwolle. Sie kannte sich mit dieser Technik wunderbar aus. Denn ihr Vater hatte ihr voller Stolz gezeigt, wie ein solches Gerät bedient wurde. So stellte sie die Zielführung richtung Südostspanische Mittelmeerküste ein. Mit künstlicher Frauenstimme sagte das Gerät nun an, wo sie hinfahren mußten. Gleichzeitig verfolgte Nina den Kurs auf der in der Anzeige dargestellten Landkarte. Die Selbstverachtung war gewichen. Sie lebte. Wie sie dieses Geschenk des Schicksals benutzen würde mußte sie eben herausfinden.

Unterwegs erklärte ihr die Frau, die sich ihr gegenüber jetzt als Lunera ausgab, was es mit den Mondbrüdern auf sich hatte. Sie erwähnte auch einen Zaubertrank, an dessen Rezeptur sie erst vor einem Jahr gelangt war, als sie das Ausweichquartier ihres großen Vorkämpfers Espinado gefunden und das Rezept nachzubrauen geschafft hatte. Dieser Trank verhalf einem Werwolf dazu, jederzeit die Gestalt zu wechseln und in Wolfsgestalt nur das zu tun, was man wollte. "Wolfsrache", hatte Espinado ihn erst genannt, um ihn dann hochtrabender Lykonemesis-Trank zu nennen. Dann erzählte Lunera noch etwas, daß Nina erschauern ließ:

"Daa du jetzt weißt, daß es Lykanthropen gibtt wirst du auch hinnehmen, daß es echte Vampire gibt. Die Märchen der Magielosen stimmen, daß wir mit denen immer schon Krach hatten. Eigentlich dachten wir, wir seien mit Hirudazos Ende alle diese Blutegel los. Aber irgendwo auf der Welt hat eine Blutsaugerin was gefunden, was die hundertmal stärker gemacht hat. Die hält sich jetzt für die Königin der Vampire und will ein Weltreich der Blutschlürfer aufbauen. In dem haben Menschen nur als Blutvieh zu leben und wir Mondgeschwister sind zum Abschuß freigegeben. Auch deshalb brauchen wir genug Männchen und Weibchen. Ich habe mir zwei nette Burschen ausgeguckt, die mich irgendwann demnächst mal mit einem Baby auffüllen dürfen. Sicher findest du bei uns auch einen Typen, von dem du was Kleines haben möchtest. Muß nicht sofort sein", sagte Lunera schnell, als sie fühlte, daß Nina das nun abscheulich fand, als Zuchthündin herzuhalten. "Erst kriegen wir raus, wo diese Vampirkönigin wohnt und machen die alle, bevor die das mit uns machen kann. Dann legen wir ein paar hübsche kleine Wolfskinder auf."

"Du sagst, du führst dieses Werwolfsrudel an, Luna oder Lunera. Hast du keine Angst, daß die Männer dir das streitig machen?"

"Ich kenne den Trank und bin dagegen geschützt, ihn unter Folter zu verraten. Ohne den sind die alle nur Mondanheuler. Außerdem gibt es wie erwähnt auch echte Hexen und Zauberer. Die mögen uns auch nicht sonderlich. Da müssen wir immer bei klarem Verstand sein." Nina nickte. Den Rest der Fahrt sprachen sie nur noch über ihre Vergangenheit. Nina fragte, ob sie den Tag, an dem Lunera sie gebissen hatte, wie einen Geburtstag oder als Todestag feiern sollte. Lunera schlug vor, ihn als ihren neuen Geburtstag zu feiern.

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Dunkelheit, Stille und das Treiben im Nichts. Diese drei Eindrücke waren das erste, was ihr in den Sinn kam. Doch dann stiegen Geräusche aus der Stille, die durcheinanderklangen, Dumpf, leise und laut. Drei immer wieder kehrende Geräusche ordneten das Durcheinander. Das langsame Pochen, daß um sie herum erklang. Das immer wieder klingende Fauchen und das schnelle Wummern von etwas, daß aus ihr selbst kommen mochte. Aus der Dunkelheit blitzten immer wieder bunte Bilder und Muster auf, die jedoch verschwanden, bevor sie was damit anfangen konnte. Immer wieder sah sie goldenes Licht und hörte etwas, das wohl von jemandem gesagt wurde. Dann verdichteten sich die Bilder, wurden zu Bildern aus einer bereits vergangenen Zeit. Doch diese Bilder verschwanden immer wieder in Dunkelheit. Sie fühlte nun, daß sie noch einen Körper hatte. Doch der schwebte in etwas, daß unendlich groß oder beengend klein sein mochte. Mehr und mehr kehrte eine Vorstellung zurück, daß sie noch lebte. Doch nein, sie war nicht mehr sie selbst. Dann erkannte sie stimmen und verstand, was sie sagten. Die mit Abstand lauteste Stimme war die einer Frau, die trotz ihres dumpfen Klangs klar zu erkennen war. Dann explodierte die Welt noch einmal um sie herum in einem goldenen Licht. Einen Moment schwebte sie wieder über diesem großen Stein auf der Waldinsel, über der die Gestirne schneller auf- und untergingen als sonst auf der Welt.

"Da ihr die Sühne habt beendet, sei euer beider Los nun umgewendet!" Dieser Satz, den sie nun verstand, obwohl sie ihn bereits mehrmals gehört hatte, ließ sie erkennen, was passiert war. Als sie endgültig erkannte, wo sie war und was mit ihr geschehen war, fühlte sie eine Mischung aus Niedergeschlagenheit, Demütigung, Furcht und Verachtung. Das durfte nicht sein. Dennoch konnte es nur so sein.

Sie bewegte ihre Arme und Beine und traf auf weichen und glatten Wiederstand. Sie lag unter Wasser. Doch sie fühlte nicht den mindesten Drang zu atmen. Sie bewegte ihre schwerfällig ansprechenden Arme und ertastete ihren Körper. Da fand sie, was sie befürchtet hatte. ein pulsierendes, spiralförmiges Etwas kam aus ihrer Körpermitte und ging in etwas weiches, pulsierendes über. Sie hätte geschrien. Doch sie konnte nicht einmal luft holen. "Da ihr die Sühne habt beendet, sei euer beider Los nun umgewendet!" Erklang der Chor der Frauenstimmen in ihrem Geist. Sie hörte die laute Stimme um sich herum sagen:

"Und ihr seid alle sicher, daß diese Geschichte wasserdicht ist?"

"Wir haben das lange genug vorbereitet, Theia. Cartridge wird keinen Haken finden, aber auch nicht zu deutliche Spuren finden. Es wird viele geben, die nur Gerüchte erzählen können", klang die Stimme einer älteren Frau wie durch eine Wand hindurch und versickerte fast im Wirrwarr der hier vorherrschenden Geräusche.

"Noch zehn Wochen, Oma Thyia. Ob sie wirklich aufwacht?"

"Das können wir ja mal prüfen. Aus diesem Raum dringen Melo-Botschaften nicht weiter als zehn Meter. Zieh mal den Umhang aus!"

Sie hörte, wie etwas um sie herum raschelte und fühlte, wie etwas ihre dunkle Behausung etwas eindrückte. Sie stieß mit einem Fuß zurück. Sie fühlte die Wut und die Demütigung in sich. Sie wollte nicht hier sein, nicht so sein, nicht das werden. Ein Impuls, die pulsierende Verbindung mit den Händen zu zerreißen und zu hoffen, daß das endgültige Verschwinden aus der Welt sie schnell ereilte wurde von einer erheiterten Frauenstimme in ihren Gedanken verdrängt.

"Hallo, jemand zu Hause?" Sie kannte die Stimme gut. Es war Leda Greensporns Stimme. "Offenbar ja", kam eine weitere Botschaft. Sie fühlte, wie die Wut zur Verzweiflung und wieder zur Wut wurde. Sie trat und schlug um sich. "Na, nicht so rabiat", erklang nun eine andere, ältere Frauenstimme in ihrem Kopf. Das war wohl diese Oma Thyia, wohl die Kurzform von Eileithyia. Ihre Stimme klang ruhig aber durchaus fordernd. Sie wirkte wie ein Befehl und trieb sie dazu, sich ruhig zu verhalten.

"Na toll, die hat bis heute wunderbar in mir geruht und meint jetzt, sich und mich gleich mit umbringen zu dürfen", hörte sie die dumpfe, laute Stimme, die sie als die Daianira Hemlocks erkannte.

"Ich wollte nicht in Sie hineinschlüpfen", schaffte sie es nach einem Moment, eine kurze, mit Daianiras Stimme formulierte Gedankenbotschaft zu versenden.

"Kein Kind schlüpft gewollt in den Leib seiner Mutter, es sei denn, es ist eine Iterapartio-Geburt", klang die ihr nun so vertraute Stimme nun in ihrem Kopf. Sie fühlte, wie ihre Sinne zu schwinden begannen. offenbar war ihr diese Art der Kontaktaufnahme noch zu anstrengend. Dennoch schickte sie noch eine Botschaft aus:

"Dann hätte ich bestimmt nicht Sie als meine Mutter erwählt, Madam Hemlock."

"Das klären wir später, wenn du etwas weiter bist. Halt dich schön still und genieße meinen ganz privaten Zimmerservice! Wenn wir beide durch dich totgehen landen wir womöglich zusammen in einem Hexenbauch." Das wirkte heftiger als eine Morddrohung. Sie vermied es, den sie umschließenden Leib weiter mit Tritten und Schlägen zu malträtieren. Sich vorzustellen, daß sie beide dann Töchter dieser Wiederkehrerin werden könnten war noch abscheulicher als das, was ihr nun bevorstand. Sie fühlte, wie ihre Kräfte schwanden. Die Wut und das Gedankensprechen hatten sie so sehr erschöpft, daß sie in einen tiefen Schlaf fiel.

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FREUDE IM HAUS SUMMERHILL


TANTE UND GELIEBTE VON ALTZAUBEREIMINISTER LUCAS WISHBONE GLÜCKLICHE MUTTER EINES SOHNES

In der Nacht zum 26. Mai 1999 erfolgte die bereits lange ersehnte Ankunft von Lucas Wishbones spätem Sohn im Hause seiner Mutter, die pikanter Weise auch als seine Großtante auftreten könnte. Die Geburt dauerte genau vier Stunden. Die aufstrebende Heilerin Eva Gladfoot assistierte Ms. Tracy Summerhill während ihrer Niederkunft. "Mutter und Sohn sind wohlauf", verkündete Heilerin Gladfoot um vier Uhr der erwartungsvollen Zaubererweltpresse. "Es ist wie bereits erkannt ein kleiner Junge. Er wiegt 3944 Gramm und hat eine sehr kräftige Stimme. Sein Name soll Anthony lauten, nach dem Urgroßvater mütterlicherseits des Jungen. Wir bedanken uns bei Ihren leserinnen und Lesern für das große Interesse und die guten Wünsche für eine beschwernisarme Niederkunft. Sie haben sich ausgezahlt. Ms. Summerhill wird nun einige Tage ausruhen und sich ihren neuen Aufgaben widmen. Noch einen Schönen Tag!" So die Hebamme. Auf weitere Stellungnahmen ließ sich Heilerin Gladfoot nicht ein. Auch wies sie alle Anfragen bezüglich Bildern von Mutter und Kind erst einmal zurück. Dafür sei noch Zeit, wenn Ms. Summerhill die Belastung der Niederkunft überstanden habe und sich ihr Sohn von der körperlichen und seelischen Tortur der Geburt so weit erholt habe, daß er zumindest für ein Foto lächeln könne, so Heilerin Gladfoot.

Früher hätte Anthelia über eine solche Meldung gegrinst. Immerhin hatte dieser Junge keinen Vater, sondern zwei Mütter, jene Tracy Summerhill und sie, Anthelia. Sie erinnerte sich daran, wie sie Lucas Wishbone für seine Unverschämtheiten bestraft hatte. Er hatte sie als seine Mörderin angeprangert. Er wollte haben, daß seine gegen Hexen gerichtete Politik im Nachhinein für richtig und notwendig gehalten würde und dann, wenn genug Zeit verstrichen war, aus dem Hintergrund heraus wieder ins Geschehen eingreifen. Er hatte versucht, seine Bluthunde von der sogenannten My-Truppe zu Aufpassern im Ministerium zu machen, bis er die Fäden aus einem sicheren Versteck heraus wieder in die Hände nehmen konnte. Doch Anthelia hatte es ihm verdorben, ihn mit seinen eigenen Mitteln aufgestöbert, gefangengenommen und dann mit einem Fluch beladen, der ihn innerhalb weniger Stunden töten mußte. Vorher hatte sie seiner langjährigen heimlichen Metresse die Aussicht geboten, ihren Geliebten und eigenen Neffen vor einem qualvollen Tod zu bewahren, indem sie ihn durch den mächtigen Iterapartio-Zauber als ihr eigenes Kind empfing und neu zur Welt brachte. Das war nun passiert. Anthelia dachte daran, daß dies noch vor der Vereinigung mit Naaneavargia geschehen war. Lange Zeit hatte sie sich sehr zurückhalten müssen, Rückschläge verkraften und damit leben müssen, daß sie immer noch als Mörderin Wishbones galt. Doch es gab immer mehr Stimmen in der Zaubererwelt, die daran zu zweifeln wagten. Die meisten, die nicht an die von Wishbone angezettelte Mordanschlagstäuschung glaubten, begründeten diese Zweifel damit, daß sie sich nicht vorstellen konnten, daß sie, die Sardonianerin, die sonst immer kalt und berechnend handelte, so unbedacht und dumm gehandelt haben sollte. Früher hätte sie über diese Erfolgsnachricht in der Zeitung gelächelt. Die zehn von Hyneria Swordgrinder erstarrten Schwestern in Nordamerika fehlten ihr schmerzhaft. Die größere Sorge galt jedoch der Tatsache, daß das Vampirreich Nocturnia mit dem Tod von Nyx alias Griselda Hollingsworth nicht vernichtet worden war. Anthelia hatte aus einem österreichischen Jagdschloß Aufzeichnungen bergen können, denen nach die Nocturnianer auf die Ankunft oder die Befehle einer Nachfolgerin warten sollten. Als sie dann noch über eine sehr riskante Verbindung ins Ministerium erfuhr, wie Nyx gestorben war und daß der Mitternachtsdiamant Iaxathans dabei nicht vernichtet wurde, konnte sich Anthelia ausmalen, daß der Körper vernichtet war, aber der Geist der Vampirhexe in der Welt verblieben war. Würde er wie ein übliches Gespenst umgehen wäre er unbesiegbar, weil unzerstörbar. Allerdings könnte sie oder ein orientalischer Zauberer diesen Geist bannen und zur Gefangenschaft in einem Kerkerbehälter verdammen. Doch wenn Nyxes Geist kein übliches Gespenst war, wofür leider vieles sprach, so konnte sie sich vielleicht im Körper eines ihrer Nachtkinder einnisten. Sie erinnerte sich, daß Iaxathan etwas erwähnt hatte, er könne mit dem Stein seinen Geist in den Körper eines seiner Nachtgeschöpfe hinübertreten lassen. Falls Nyx dieses Geheimnis erfahren und bereits angewendet hatte, so mochte der Mitternachtsdiamant ihr als Anker in der stofflichen Welt dienen wie ein Horkrux oder wie Dairons Seelenmedaillon. Sie haderte damit, daß sie dieses Wissen nicht für sich behalten durfte. Doch andererseits durfte sie sich niemandem außer ihren Schwestern anvertrauen. Sie wußte, daß Nocturnia wohl einen Monat Ruhe geben würde. Wer dann als Nyxes Nachfolgerin auftreten würde sollte dann aber nicht denken, sie sei vergessen worden.

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Hatte Anthony es am Anfang verabscheut, welchen Trubel man um ihn machte, so empfand er die Anfragen der Presseleute und die Besuche bei Eva Gladfoot als willkommene Abwechslung seines Alltages. Zwei Wochen war er nun schon auf der Welt. Seine Augen fingen eerst langsam an, sich auf ferne Dinge einzustellen. Doch außer den Besuchen bei oder von Eva Gladfoot und denen Linda Knowles' und Willow Sweetwaters passierte nichts. Milch saugen, schlafen, Windeln vollmachen, schreien, gebadet und gewickelt werden, Milch saugen ... Immerhin hatte er es einmal versucht, mit rhythmischen Klopfzeichen an den Körper seiner Mutter eine bestimmte Kommunikation zu ermöglichen. Doch sie hatte ihm darauf hin sehr leise aber unmißverständlich zugeflüstert: "Nicht so früh so viel, Kleiner. Ich möchte das genießen, wie wir beide miteinander groß werden." Irgendwie hatten ihm diese Worte tief ins Gewissen geklungen. Er unterließ es, sich ohne Sprechen und Gedankenkontakt mitzuteilen. Wenn er was brauchte schrie er. Langsam hatte er Übung darin, die Art der benötigten Hilfsleistung durch die Tonlage seiner Schreie zu vermitteln. Darin, so wußte er, unterschied er sich wohl nicht von anderen Neugeborenen, die irgendwann anfingen, bestimmte Bedürfnisse durch bestimmte Laute oder Handlungen zu vermitteln.

Als er drei Wochen alt war fing seine Mutter an, ihm während des Frühstücks aus der Zeitung vorzulesen. Da stand nicht nur drin, wie er als Sohn eines gefallenen Helden oder Bösewichts heranwuchs, sondern auch, wie die Quidditch-Weltmeisterschaft vorbereitet wurde. Wie gerne wäre er als Zaubereiminister dorthin gereist. Doch dann fiel ihm ein, daß er vielleicht nicht nach Millemerveilles gelangt wäre, weil er den finalen Fluch vorbereitet hatte, den er gegen übermächtige Feinde wirken wollte. Vierzehn Kinder, sieben Jungen und gleichviele Mädchen, hatte er in einem magischen Ritual töten lassen. Das mochte reichen, um ihn nicht durch Sardonias Schutzglocke zu lassen. Reue und auch Enttäuschung erfüllten ihn, daß diese Opfer nicht nur grausam, sondern ganz und gar unnötig gewesen waren. Vierzehn Kinder waren auf seinen Befehl hin rituell ermordet worden. Jetzt war er selbst wieder Kind und doch kein richtiges Kind. Er war gefangener seiner eigenen Ideen geworden. Anthelia, dieses verfluchte Weib, hatte das gewußt. Seine Täuschungen, seine Vorhaben, alles war auf ihn zurückgeschlagen. Sollte er deshalb froh sein, daß er nur damit bestraft war, der Sohn seiner Geliebten zu sein? Oder sollte er wütend bleiben, um die Sardonianerinnen zu jagen, wenn seine neue Mutter ihn nicht mehr gut genug beaufsichtigen würde? Seine Vergeltung war die Rechtfertigung für die durchgestandenen Unannehmlichkeiten.

"Ms. Summerhill, wir müssen reden!" Hörten Mutter und Kind eine verärgerte Frauenstimme aus dem Kamin. Tracy erwiderte:

"Mein Sohn ist noch nicht satt. Und vorher rede ich mit keiner, die keine säugenden Mütter aushalten kann, Madam Pabblenut."

"Genau darum geht es auch", erwiderte die verärgerte Frauenstimme, die Anthony aus seinem früheren Leben zu gut kannte.

"Ihr Verhalten ist uns, der Liga der rechtschaffenden Hexen ein Gräuel. Wir verlangen eine Klarstellung, daß Sie sich bei allen anständigen Hexen für Ihren Fehltritt mit diesem Versager, den Sie in Vergessenheit aller Moral als Liebhaber kultiviert haben, zu tiefst bereuen und anbieten, die unrechtmäßige Frucht seiner Lenden in die Obhut anständiger Pflegeeltern zu geben und mit uns und dem Ministerium zu vereinbaren, daß er nichts von seiner unrühmlichen Abkunft erfährt, solange er lebt."

"Aber sonst geht es Ihnen noch ganz gut, Alexandra", entrüstete sich nun Tracy Summerhill. "Wie käme ich dazu, mir von einer, die sich selbst von jedem Spiel ausgeschlossen hat, die Regeln für das Spiel des Lebens diktieren zu lassen? Abgesehen davon steht es längst in zwanzig Ausgaben beider Zeitungen, wessen Sohn ich bekommen habe und daß ich sehr stolz bin, ihn zu haben. Aber das wird eine, die ihren Unterleib unter Vereisungszauber hält, um sich nicht von ihm zu Spaß und Lebensglück verleiten zu lassen, niemals verstehen. Sie sind doch nur so verärgert, weil man Ihre Verziehungsanstalt unschuldiger Hexen nicht wieder aufmachen möchte und die Mädchen, die man aus Ihren Krallen befreit hat endlich gelernt haben, was sie bisher verpaßt haben und wofür es sich lohnt, eine Hexe zu sein. So, und bevor mir ihretwegen die Milch sauer wird und mein Sohn deshalb Sodbrennen bekommt verschwinden Sie mit ihrem Sturschädel aus meinem Kamin!"

"Ich habe die Vollmacht, Sie zu warnen, daß wir Ihre Umtriebe und Hurereien mit diesem Lügner und Wortbrecher Wishbone ..." Anthony fühlte, wie der rechte Arm seiner Mutter ihn freigab. Er hörte ein lautes Fauchen und einen erschreckten Aufschrei, der wie jäh abgewürgt verstummte. Dann vernahm er die Worte, mit denen sie den Kaminanschluß sperren konnte. Ihr Linker hielt ihn jedoch noch fest und sicher, sein Gesicht an der linken Brust. Da er nichts besseres tun konnte sog und schluckte er weiter.

"Die weiß, daß Lukes Unbefugtheitszauber sie nicht in voller Gänze zu uns durchläßt. Und da du ja sein Fleisch und Blut bist hält der immer noch vor, Kleiner", lachte Tracy. Anthony hätte zu gerne gefragt, wer diese neue Liga rechtschaffender Hexen sein sollte. War es eine Gegenbewegung zu der sardonianischen Schwesternschaft? Oder war es schlicht der Versuch Alexandra Pabblenuts, ihre verbohrte Weltanschauung auf ein neues Fundament zu stellen? Als ob seine Mutter seine Gedanken trotz Antimeloarmband empfangen hätte raschelte sie mit der Zeitung und suchte was. Dann las sie laut vor:

"Die LRH, die Liga rechtschaffender Hexen, verlangte in einer Petition an das Zaubereiministerium eine Reform der geltenden Familienstandsgesetze, denen nach es verboten werden solle, daß ledige Mütter die Erziehungsgewalt über ihre unrechtmäßig empfangenen Kinder ausübten. Zudem forderten sie von Minister Cartridge eine grundsätzliche Überarbeitungen des geltenden Schulrechtes, nachdem es nicht weiterhin gestattet bleiben solle, daß im Namen der sogenannten Koedukation Jungen und Mädchen unter einem Dach beschult und verköstigt werden dürften, da dabei jeder Ansatz eines ehrbaren und vorbildhaften Lebenswandels im Keim erstickt werde. Weiterhin forderte die selbsternannte Liga rechtschaffender Hexen eine Gesinnungsprüfung aller in öffentlichen Ämtern tätiger Hexen und eine magisch bestärkte Vereidigung darauf, niemals gegen das Leben und die Ehre magischer Menschen und Muggel zu verstoßen und sich klar zur Loyalität zum Ministerium für Zauberei zu bekennen. Minister Milton Cartridge (43), dessen Frau im August das zweite gemeinsame Kind erwartet, fragte nach, ob es sich bei den insgesamt sibenundsiebzig Unterschriften um die Führungsriege oder alle eingetragenen Mitglieder der Liga handele. Er erhielt die Antwort, daß es sich um alle eingetragenen Mitglieder handele. Wer genau auf der Unterschriftenliste stehe möchte das Ministerium nicht veröffentlichen und verweist an die Sprecherinnen Alexandra Pabblenut, vormalige Leiterin der Broomswood-Akademie für junge Hexen, Lavinia Thornbrook, die in der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe im Büro für Gewesene und nachtodbedingte Angelegenheiten arbeitet, sowie Ms. Thelma Archer, ehemalige Lehrerin für Zauberkunst an der Broomswood-Akademie für junge Hexen." Sie pausierte einen Moment und sagte dann: "War schon ganz richtig, diesen Laden zuzumachen. Aber die langweilen sich jetzt, und weil sie sich selbst jede Chance verbaut haben, sowas knuddeliges wie dich in den Armen zu halten, versuchen sie es jetzt, anderen Hexen den Spaß am Leben zu vergellen. Dich irgendwem auszuliefern und nicht mehr sagen dürfen, daß du mein Sohn bist. Das könnte denen so passen. Gut, daß die Bagage mir keinen Fluch ins Haus schicken kann. Achso, dann lesen wir den Kram richtig zu ende. " Es raschelte wieder. "... wies der Minister alle Aufforderungen und Vorschläge der LRH mit nachdruck zurück, da er zwar Hüter des magischen Rechts und Friedens sei, aber nicht als Moralapostel aufzutreten beliebe, zumal er durch seine eigene Frau erfahren habe, wie glücklich diese nun sei, wo sie den Erziehungsgrundsätzen der Broomswood-Akademie entronnen sei. er, so der Minister, habe kein Recht, anderen Hexen dieses Glück zu verwehren, solange sie sich an die zum friedlichen Miteinander in der magischen Welt geschaffenen Gesetze hielten, was er bei den allermeisten Hexen für selbstverständlich halte. Das ausführliche Interview zur Gründung der LRH konnten sie bereits in unserer Ausgabe vom 15. Mai nachlesen."

Anthony grinste, als er als Reaktion auf diese Vorlesung eine lautstarke Blähung in seine Windeln entfahren ließ. Seine Mutter knuddelte ihn und lachte. "Deutlicher und unmißverständlicher kann das nicht beantwortet werden, was die Bagage da verlangt hat, Kleiner."

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"Die machen wieder ernst, Lunera", meldete Rabioso, ein rothaariger Mann mit buschigen Augenbrauen, der mit Hilfe des Lykonemesis-Trankes auch ohne Vollmond zu einem rotbraunen Wolf wurde. "Rodrigo ist auch einer von diesen Blutegeln. Ich kam gerade noch weg, bevor der uns mit einem Flammenwerfer gegrillt hat."

"Wir wollen wissen, ob das mit der Königin wirklich stimmt, Rabioso", schnurrte Lunera. "Ist die erledigt und jemand anderes jetzt am Drücker?"

"Bevor er Moncho erwischt hat rief dieser Blutegel noch was, daß die Erbin der Königin Nocturnia wieder aufbauen würde. Außerdem hat dieser Rodrigo von einem anderen Bleichgesicht einen Sack mit irgendeinem Pulver bekommen. Nachher ist da noch getrocknetes Blutegelzeug, um andere Leute damit anzustecken."

"Hat der dich verfolgt, Rabioso?"

"Habe keine Blutschlürfer hinter mir gerochen, und mein Porsche ist schön schnell, wenn ich vor wem wegfahren muß."

"Hoffentlich hat der dir keinen Peilsender ans Auto gehängt. Das ist so ähnlich wie ein Aufspürzaubergegenstand."

"Toll, ruf die Mondfinsternis, Schwester Lunera", knurrte Rabioso. Dann lauschte er. "Verdammt, du hast recht. Da draußen rumpeln gerade schwere Motorwagen ran. Dieser Langzahnbastard hat mich echt an der langen Leine laufen lassen."

"Alle durch den Geheimgang raus. Ich fackel das Haus ab!" Rief Lunera und fischte nach einem verschlossenen Kessel, in dem man ein ganzes Ferkel hätte kochen können. Dann sprang sie auf und hieb auf den Alarmknopf. Leises Wimmern erfüllte das dreistöckige Haus, in dem die mondgeschwister ihr Mittelmeerquartier gehabt hatten. Alle im Haus wohnenden Wolfsmenschen, darunter Nina liefen die Treppen zu einem geheimen Tunnel hinunter, der zu einem Bootssteg führte, an dem eine gekaperte und mit Tarnnetzen verhüllte Yacht festgemacht war. In disziplinierter Hast jagten die Werwölfe aus dem Haus. Lunera schloß als letzte die Tür, als bereits Leuchtkugeln und wahrhaftige Silbergeschosse durch die Fensterkrachten. Die Leuchtkugeln entzündeten sofort die Möbel. "Spielverderber", knurrte Lunera und jagte ihren Gefährten nach. Unterwegs hieb sie mit der linken Hand auf einen runden Stein, der etwas aus der Wand herausstach. Sie hörte mit den überempfindlichen Ohren ein ultrahohes Piepen, das im Sekundentakt erklang. "In einer Minute fliegt ihr alle in die Luft", dachte sie und erreichte ihre Gefährten, die gerade die Verbindungstür zum Anlegesteg öffneten. Wie eine Kompanie Marinesoldaten enterten sie die Yacht im Laufschritt. Der Steuermann war bereits auf der von kugelsicheren Glasscheiben abgeschirmten Brücke. Zwei Bootsleute rollten gerade das Tarnnetz zusammen. Da sprang erst der Steuerbord und dann der Backbordmotor an. Lunera blickte sich um und rief dann: "Alle sind an Bord! Los und weg!" Innerhalb von vier sekunden waren die Haltetaue gelöst. Die Yacht legte ab. Kaum fünfzig Meter vom Steg fort drehte sie nach Steuerbord und nahm Fahrt auf. Die beiden Motoren wurden auf äußerste Kraft voraus gestellt.

"Wie ist das mit der Radarortung?" Fragte Nina.

"Da sehen die uns nicht drauf, weil Pico einen Funkstörkristall am Mast festgemacht hat, der alle Funkwellen schluckt. Hätten wir auch in Rabiosos Auto einbauen können. Aber dann hätte der mit dem Muggelfernsprechding nicht mit uns reden können. "Zur Insel, Mauro!" Befahl sie dem Kapitän des Bootes, der ebenfalls zu den Mondgeschwistern gehörte.

"Sollen wir uns da einbunkern?" Fragte Pico, ein schwarzhaariger Hühne, dem anzusehen war, daß er lieber im Kampf gestorben wäre.

"Fino ist noch in Sevilla unterwegs, um zu sehen, ob er diesen Rodrigo irgendwie an die Zauberstabschwinger und die Schwarzmützen von der magielosen Polizei ausliefern kann. Wenn der "Blutmonduntergang" funkt, bleiben wir erst mal auf der Insel. Weil dann hat es nicht geklappt. Wenn er "Sommermondnacht" funkt, sind wir das Problem Rodrigo los."

Die Yacht verringerte ihre Geschwindigkeit nach zehn Minuten auf AK und steuerte mit voller Kraft voraus die kleine Insel knapp zwanzig Kilometer von der katalanischen Küste an, wo die Mondgeschwister sich vor Vampiren sicherfühlen konnten.

Dort angekommen richteten sich alle in den Zimmern mehrerer Ferienhäuser ein. Die Häuser waren jedoch schon alt und verfallen. Doch die Werwölfe störte es nicht. Hier warteten sie drei Tage ab, bis das altmodische Wählscheibentelefon mit echt museumswürdiger Klingel um Aufmerksamkeit bat. Lunera nahm den klobigen Hörer ab und sagte nur "Ja!"

"Sommermondnacht, Süße. Mehr dann, wenn wir uns bei Sevilla treffen", klang eine hocherfreute Männerstimme. Dann knackte es im Hörer. Lunera grinste. Dann befahl sie Nina und Rabioso, sie zu begleiten.

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Harfenmusik klang durch die weiche Wand zu ihr herein und nahm den Rhythmus des großen Herzens an, das für sie mitschlug. Sie hatte gerade noch von ihrer Schulzeit in Beauxbatons geträumt. Wie lang mochte das her sein. Wenn Daianira erst wieder zur Frau hatte aufwachsen müssen mochten mehr als zwanzig Jahre vergangen sein. Für die hölzernen Wächterinnen, die ihr dieses Los aufgezwungen hatten, war das sicher kein nennenswerter Zeitraum. Sie prüfte die Beweglichkeit ihrer Glieder und ihres Kopfes. "Ah, gefällt dir die Musik?" Hörte sie Daianiras Stimme um sich herum sagen. "Das finde ich schön, kleine Selene."

"Ich bin Austère Tourrecandide", schickte sie nach mühsamer Abfolge der Mentiloquismusstufen eine Antwort zurück.

"Ich trage dich schon seit Oktober letzten Jahres. Ich werde doch wissen, wie meine kleine Tochter mal heißen wird", kam eine belustigte Antwort zurück. Die Musik erklang leise und beruhigend weiter.

"Oktober letzten Jahres. Welches Jahr ist dieses Jahr?"

"1999, mein Kind."

"Kann nicht sein, Daianira Hemlock wurde ja gerade selbst erst zum Säugling", widersprach jene, die mal Selene heißen sollte.

"Ich versteh auch nicht, wieso ich deine Mom werden darf. Aber nachdem mich eine hinterhältige Kanallie in einen Zeitfresserkasten gesteckt hat und meinte, mich darin vom Baby zur Hutzelhexe blitzaltern zu lassen, fand ich mich ganz weit davon weg im Körper einer zwanzigjährigen. Dann bekam ich mit, daß du jetzt in mir heranwächst. Lysithea Greensporn lebt offiziell in einem Versteck, wo sie die nächsten elf Jahre ausharren soll. In der Zeit kann viel passieren. Ich bin jetzt Theia Hemlock, Daianiras Tochter."

"Das kauft Ihnen niemand ab, und wenn Sie mir nicht die Gnade erweissen, mir vor der von Ihnen erhofften Niederkunft alle Erinnerungen auszulöschen, werde ich ..."

"Was, nach Tourrecandides Freundin Blanche Faucon schreien, daß Austère jetzt ein kleines Wickelhexlein sein soll? Habe ich auch gedacht, ich könnte das. Aber meine zeitweilige Mutter Leda und meine werte Oma Thyia haben das unterbunden." Da fiel der vor der Außenwelt verborgenen ein, wie das ging. Ein fest am Körper getragener Gegenstand, der nur durch Magie zu lösen war, unterband jede geistige Kontaktaufnahme und jede Legilimentie. Dann fielen ihr noch die Iterapartio-Regeln ein, die sie mit Hera Matine besprochen hatte. Wenn sie irgendwas tat, das zeigte, daß sie mehr war als ein Säugling und das Ministerium es erfuhr, würde man ihr das Gedächtnis nehmen. Aber gerade das wollte sie ja. Die Vorstellung, sich an dieses ganze Leben von jetzt bis später erinnern zu müssen graute ihr. Dann fiel ihr ein, daß sie gerade abfällig, ja verächtlich von Daianira alias Theia dachte. Sie fühlte kein schlechtes Gewissen oder gar einen Drang, ihr Dankbar zu sein. Also hatte dieses Biest zumindest keinen Sanctuamater-Zauber angewendet. Dann fiel ihr ein, daß das bei Anthelia ja auch nicht geholfen hatte. Denn sonst wäre sie jetzt nicht hier.

"sie lassen mich unbeeinflußt wachsen, weil Sie wissen, daß ich Ihnen nicht gefährlich werden kann, bis ich einen Zauberstab führen kann, nicht wahr?"

"Ich habe es mir nicht ausgesucht, daß ich mehrere Monate ein Baby sein mußte. Ich habe es mir nicht ausgesucht, in diese Zeitfresserkiste gesperrt und blitzgealtert zu werden. Und ich habe ganz sicher nicht darauf hingewirkt, daß du jetzt meine Tochter wirst. Aber ich freue mich doch, daß wir zwei zusammen sind. Immerhin muß ich ja dafür danken, daß ich nicht als Tochter von Austère Tourrecandide geboren wurde und dann heute eine Vampirin zur Mutter hätte." Das traf die Ungeborene wieder so heftig, wie die Androhung mit Daianira als möglicher Zwillingsschwester. Sie erinnerte sich zu gut an Éclipsian Sangazon, der sie fast gebissen hätte. Hätte sie das von den hölzernen Wächterinnen aufgezwungene Los angenommen und Daianira als ihre Tochter geboren, hätte sie wohl in einem sicheren Haus gelegen und geschlafen, während sie sich ganz und gar wehrlos von diesen Vampiren hätte aussaugen und zu ihrer Blutstochter hätte machen lassen müssen. Auch fiel ihr ein, daß sie ja diesen Fluchumkehrer benutzt hatte, der diese Kette von wahrhaft anderen Umständen ausgelöst hatte. sie hätte ja auch den Feindesverscheuchezauber versuchen können. Aber sie wollte ja unbedingt einen an Daianira haftenden Fluch zerstreuen. Das war ihr ja auch gelungen. Nur daß danach Anthelia wieder frei und Herrin ihrer Sinne und Möglichkeiten war.

"Dann muß ich mich wohl oder übel bedanken, daß Sie mich nicht abgetrieben haben, oder sollte ich Ihnen das vorwerfen, daß Sie mich nicht abgetrieben haben?" Schaffte sie es noch, eine Frage abzusetzen.

"Das klären wir irgendwann mal nach deiner Geburt, Selene."

"Damit Sie mir mit einem anderen Zauber Ihren Willen aufzwingen können?" Fragte die Ungeborene noch. Da erklang Eileithyias Gedankenstimme in Selenes Kopf:

"Überanstreng dich nicht, Selene. Sonst lasse ich dich bis zur Niederkunft im Erholungsschlaf verbringen!"

"Sie alte Hexe freuen sich offenbar noch, daß ihre vom Weg abgekommene Enkeltochter mich neu zur Welt bringen darf, wie?"

"Daß sie lebt und daß sie eine gesunde Tochter bekommt freut mich wirklich", erwiderte Eileithyias Gedankenstimme. Dann fühlte Selene, wie eine große Müdigkeit über sie hereinbrach. Gähnen konnte sie nicht. Sie konnte nur den Mund öffnen, und das sie umgebende Fruchtwasser hineinlaufen lassen. Ein Schluckauf stieß es wieder hinaus. Dreimal mußte sie das über sich ergehen lassen. Dann versank sie wieder in tiefen Schlaf.

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Die Hand verkrampfte sich so stark um den Telefonhörer, daß die Fingerknöchel weiß hervortraten. Sein Gesicht nahm einen immer bedrohlicheren Rotton an. Karol Bronsky, König der Zigarettenschmuggler, war stinksauer. "Du wirst langsam lebensmüde, Kleiner. Nur weil du einen tollen Vater hast bist du nicht unverwundbar", schnaubte Bronsky in den Hörer.

"Du kannst dich ja bei ihm ausheulen, Genosse", erklang die unverschämt überlegen klingende Stimme eines jungen Mannes aus der Hörmuschel. Der Bursche sprach astreines Polnisch, Bronskys Muttersprache. Aber die Anrede "Genosse" fuchste ihn ebenso wie das, was sich der junge Kerl gerade geleistet hatte.

"Zum x-ten mal, Bursche, ich bin kein Genosse, schon gar nicht deiner. Du redest mich mit Panje Bronsky oder Boss an! Vor allem legst du dir einen respektvolleren Ton zu, wenn dir deine Gesundheit was wert ist, klar?"

"Och, so schnell haben Herr Major vergessen, daß Oberst Borodin ihn als wertvollen Mithörer in die katholische Kirche Polens eingeschleust hat? Erzählt uns immer noch das Märchen vom Doppelagenten, der dem achso satanischen KGB ständig dummes Zeug als brandheiße Informationen verkauft hat? Du warst ein schleimiger Wurm und bist es immer noch, Genosse Bronsky. Frag mal die Leute, die auf Grund deiner angeblichen Falschinformationen im Lubianka-Gebäude gelandet sind! Und ja, ich lege wert auf meine Gesundheit. Deshalb qualme ich deine verschnittenen Glimmstengel nicht, sondern gebe die an dümmere weiter, die das Zeug nehmen, weil's billig ist. Dein Laster ist durch mein Gebiet gefahren, ohne Wegzoll zu zahlen. Da habe ich die ganze Ladung beschlagnahmt und den Fahrer in den Zug nach Hause gesetzt. Lebt der noch?"

"Du legst es also wirklich drauf an, daß ich dich in kleine Scheiben schneiden lasse, Juri Anatolijewitsch. Weiß dein Vater, daß du sein und mein Abkommen gerade bepinkelst?"

"Der ist nicht zu Hause, Genosse. Aber das weißt du ganz sicher. Du hättest mich sonst nicht so stocksauer angeblökt", erwiderte Bronskys Gesprächspartner. "Dann hätten erst er und dann du mir euer neues Abkommen über gute Nachbarschaft um die Ohren gehauen. Da ihr das nicht könnt, bist du wütend. Ich behalte deine Ladung und verkaufe die selbst. Aber wenn du sie gerne wiederhaben möchtest können wir gerne über eine Auslösesumme sprechen."

"Ich schicke dir ein paar Leute vorbei, die dich zerlegen. Dein Alter ist wirklich nicht in seinem Luxuspalast. Dann wird der auch nicht erfahren, an was sein überheblicher Kronprinz gestorben ist."

"Ich komm dir auf halbem Weg entgegen", sagte die Stimme am Telefon. Kaum hatte Bronskys rechtes Ohr diese Antwort aufgenommen, gab es einen lauten Knall. Das Schußsichere Glas des Bürofensters platzte aus dem Stahlrahmen. Bronsky hatte gerade noch eine Zehntelsekunde, um sich unter den mit Stahlkern verstärkten, fest angeschraubten Schreibtisch zu flüchten, als auch schon ein Bleisturm aus mindestens zehn Kalaschnikows durch das aufgesprengte Fenster ins Büro fegte. Ein wildes prasseln, Sirren und schwirren dröhnte Bronsky in den Ohren. Dieser kleine, miese Russenbengel hatte ihn offenbar hingehalten, um seine Leute zu postieren. Um Bronsky herum löste sich alles auf, was nicht wie der Schreibtisch gegen Bleikugeln gepanzert war. Auch das Telefon zerfiel unter mindestens zwanzig durchschlagenden Kugeln in wertlose Einzelteile. Bronsky hatte sich so kleingemacht wie er konnte, während die Flut aus Bleikugeln durch das Fenster brach. Offenbar hatte Juri nicht damit gerechnet, daß sein Gegner so gute Reflexe hatte und zu den wenigen Menschen auf der Erde gehörte, deren Schrecksekunde nur ein Viertel so lang war. Denn das war Bronskys Überlebensgeheimnis. Der Hagel von Geschossen ebbte erst nach zehn Sekunden ab. Offenbar hatten seine Gegner ihre Magazine restlos leergeschossen. Bronsky wartete noch, bis auch der letzte Querschläger verpufft war. Er blickte auf den Boden. Keinen Millimeter vor dem Schreibtisch begann die Zone der Verwüstung. Knisternd schlugen Funken aus den zerschossenen Bürogeräten. PC, Fax, Telefon, alles kaputt. Der implodierte Monitor hatte alle auf dem Tisch liegenden Papiere in Brand gesteckt. Nur die Flammschutzimprägnierung des Schreibtisches verhinderte, daß über Bronsky ein Höllenfeuer loderte.

"Hast du dir gedacht, Kerl", knurrte Bronsky. "Tun wir mal so, als wenn du mich erledigt hättest. Übermorgen ist dein Geburtstag. Dann soll dein verpfuschtes Leben auch an dem Tag ausgehen wie eine niedergebrannte Kerze."

Bronsky lauschte und hörte, wie seine Leibwache zurückschoß. Da unten tobte gerade eine Schlacht. Wieder dröhnte eine Explosion. Wieder ratterten Kalaschnikows los. Sein Büro hatten sie nicht mehr zum Ziel. Ruhig unter dem Tisch liegenbleiben. Das war im Moment überlebenswichtig.

"Schweinehunde!" Fluchte Bronsky, als er sich eine halbe Stunde nach dem Angriff aus der Deckung wagte. Sie hatten mit ihren Kugeln nicht nur den Putz von den Wänden, sondern auch ein Bild des Papstes in Fetzen geschossen. Das hatte er vor einem Jahr in Rom vom heiligen Vater selbst signieren lassen, der ihm abgekauft hatte, er sei der prokatholische Doppelagent des KGB gewesen, der einen Großteil der polnischen Geistlichkeit vor den Kommunisten gerettet hatte. Bronsky verwünschte diesen Juri Anatolijewitsch Kamarov in die tiefste aller Höllen. Dabei wußte er nicht, daß gerade seine letzten Sekunden abliefen. Denn beinahe schattengleich schwang sich etwas im dicken Schutzanzug durch das malträtierte Fenster in das unbrauchbare Büro hinein. Bronskys Hand zuckte nach der schweren Armeepistole, die er aus sowjetischen Heeresbeständen herausgekauft hatte.

"Die Knarre kannst du knicken, Karol", klang eine gedämpfte Männerstimme durch die dicke Gesichtsmaske des Eindringlings. Bronsky drückte ab. Die Pistole war schallgedämpft. Nur ein kaum hörbares Tschiumm der herausfliegenden Kugel war zu hören. Der Eindringling zeigte sich davon ganz unbeeindruckt. Bronsky drückte noch dreimal ab. Da fiel der Strom ganz aus. Die angeschossenen Leitungen schlossen kurz. Kleine, blaue Flammen züngelten aus den Löchern in den Wänden und erstarben sofort wieder.

"Da mein Vater nicht mehr auf mich aufpassen muß habe ich beschlossen, daß Leute wie du mir im Weg sind, Karol", hörte Bronsky den Eindringling. Karol feuerte nun auf den Kopf des ungebetenen Besuchers. Doch von dem prallten die Kugeln wimmernd ab und schlugen weitere Löcher in die Wände. Dann besann er sich, daß er um Hilfe rufen könnte.

"Deine Leute sind alle tot oder kampfunfähig", lachte der Eindringling und zog die Maske vom Gesicht. Bronsky erkannte Juri Kamarov. Doch der hatte sich auf eine erschreckende Weise verändert. Das Gesicht war kreidebleich. Die Augen wirkten eingefallen und schinen von innen heraus zu glühen. Doch das irritierendste war das Lächeln des Gegners. Höchst überlegen stand Kamarov vor ihm und lächelte ihn an. Dabei zeigte er sein strahlendweißes Gebiß, aus dem zwei lange spitze Eckzähne höchst unangenehm hervorstachen. Bronsky glaubte an einen weiteren fiesen Trick des Jungen. Hatte der sich als Vampir verkleidet, um ihn, den großen Bronsky, Charlie, Big Boss, den König der Zigarettenschmuggler, zu gruseln? Lächerlich! Doch da sprang Juri Kamarov auch schon vor und warf sich gegen Bronsky, der versuchte, ihm den Kolben der leergeschossenen Pistole über den Kopf zu hauen. Die Hände Juris waren wie Schraubstöcke, als sie Karol bei den Armen packten und ihn so schnell herumrissen, daß Bronsky es in den Gelenken knacken hörte. Er fühlte den dumpfen Schmerz. Doch er hatte keine Zeit mehr, ihn hinauszuschreien. Denn Kamarov warf ihn zu Boden und stürzte sich auf ihn. Eine Sekunde später fühlte Bronsky etwas wie zwei glühende Dolche in seinen hals hineinfahren. Bronsky hörte seinen eigenen Schmerzensschrei in einem Gurgeln verstummen. In den letzten Augenblicken seines bewußten Lebens dachte Bronsky daran, daß er von diesem grünen Jungen erledigt worden war. Das war die größte Schmach seines Lebens. Dann raubte ihm der voranschreitende Blutverlust erst die Besinnung und bald danach das Leben.

Juri Kamarov genoß es. Ja, diese archaische Sitte, etwas aus dem Körper eines besiegten Feindes zu genießen gefiel ihm. Wie gut, daß sein Vater immer noch auf Tauchstation in Finnland war. Jedenfalls gab es Bronsky nicht mehr. Sein Schmuggelnetzwerk würde zerfallen und ein herrliches Vakuum hinterlassen, in das Juri mit seinen Leuten bequem eindringen würde. Die Kräfte eines Nachtkindes halfen ihm, das alles zu schaffen. Die besondere Schutzfolie, die er bei seiner zweiten Geburt erhalten hatte, half ihm, die tödlichen Sonnenstrahlen von sich fernzuhalten. Und die Befreiung vom Joch seiner Blutsmutter Nyx würde ihn mächtiger werden lassen als sein Vater gerade war.

Gestärkt vom Blut des besiegten Feindes setzte sich Juri die sonnenlichtundurchlässige Maske wieder auf. Dann legte er einen Sprengsatz aus, der mit einem Zeitzünder versehen war. Als dieser mit leisem Piepen in Funktion trat und dann ganz geräuschlos die letzten dreihundert Sekunden bis zur Zündung herunterzählte, schwang sich Juri wieder aus dem Fenster. Er ließ sich einfach aus dem zweiten Stockwerk fallen und landete so unversehrt wie eine Katze. Dann eilte er zu einem gepanzerten Bus, in den gerade dreißig seiner besten Leute einstiegen.

"Da hat der Kerl nicht mit gerechnet, daß wir dem gleich mit Mann und Maus auf die Bude rücken", lachte Wolf Kannegießer, neben Juri der einzige, der von Lady Nyx zu einem ihrer Söhne gemacht worden war. Alle trugen Masken, auch weil sie die um das Haus aufgepflanzten Videokameras zu beachten hatten. Sollte die Polizei gleich hier eintrudeln würden die Bänder in der Sicherheitszentrale eine blutige Schlacht zeigen, aber nicht, von wem sie angezettelt worden war. Juri tätschelte sein Mobiltelefon. Die Idee, eine Anrufumleitung von seinem Fest angeschlossenen Telefon in Berlin auf dieses Gerät zu schalten hatte sich mehr als ausgezahlt.

Der gepanzerte Bus fuhr los. Der kraftvolle Elektromotor ließ ihn so geräuscharm davonschleichen, wie er ihn knapp fünfhundert Meter an das Haus herangebracht hatte. Kaum war der Bus einen halben Kilometer weiter, schaltete der Fahrer auf Dieselantrieb um. In dem Moment flog Bronskys Büro mit allem, was darin noch unversehrt gewesen sein mochte in die Luft. Bronskys Leiche würde im Glutball der Detonation bis zur Unkenntlichkeit verbrennen. Kein Arzt mochte dann noch feststellen, daß ihm jemand das ganze Blut aus dem Leib gesogen hatte. Juris erster großer Triumph auf seinem Weg an die Weltspitze der osteuropäischen Verbrecherorganisationen war geschafft. So konnte es weitergehen.

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"Das war dieses vermaledeite Dämonsfeuer, das das Schloß und den Wald darum niedergebrannt hat", sagte Österreichs Zaubereiminister Rosshufler gerade dem deutschen Kollegen Güldenberg, als dieser bei ihm zu Besuch war.

"Wißt ihr schon, wer das gewesen sein könnte, Leo?" Fragte Heinrich Güldenberg seinen österreichischen Kollegen.

"Ging wahrscheinlich um diese Nocturnia-Banditen. Wußte nicht, daß die sich bei Rechnitz ein Schloß unter die bleichen Nägel gerissen haben", grummelte Leopold Rosshufler.

"Ja, aber ihr wart das nicht mit dem Feuer, Leo?" Fragte Heinrich Güldenberg noch einmal nach.

"Na, wir net", verfiel Rosshufler in seinen Dialekt, obwohl er ein akzentfreies Hochdeutsch sprechen konnte, wenn er hohen Besuch aus dem Nachbarland hatte. Dann zog er die Stirn kraus und sagte: "Könnten diese Furien von diesem Sardoniaclub sein, die in den Staaten und anderswo so groß aufgeschnitten haben."

"Klar, und das irritiert dich nicht, daß jemand in deinem Zuständigkeitsbereich mal eben ein altes Jagdschloß mit Dämonsfeuer runterbrennt?" Fragte Güldenberg. Sein Gesprächspartner blickte ihn verärgert an.

"Denkst du, mir macht das Spaß, mir vorzustellen, daß diese Hexenbande auch bei mir ihre Extratouren reitet? Aber ich werd' net so deppert sein, die ganzen Hexen hier deshalb zu verdächtigen, wie der Wishboner Lucas das in Amiland gemacht hat. Dann können wir die WM-Teilnahme bei den Franzleuten gleich absagen, wenn wir Hinterpfortner und Blaukiesel nicht mitnehmen wollen."

"Warum ihr da überhaupt mitspielt frage ich mich eh. Die Quali war doch nur Glück wegen schnell gefangener Schnatze", feixte Güldenberg.

"Wir hauen eich aussi", knurrte Rosshufler darüber. Doch Güldenberg konnte nur verächtlich grinsen. Dann fiel beiden ehemaligen Schulkameraden wieder ein, daß sie nicht wegen Sportpatriotismus zusammengetroffen waren.

"Wenn die Bande um diese selbsternannte Erbin dieser Tyrannin Sardonia einfach so in Österreich und bei uns in Deutschland machen kann, was ihr gerade einfällt, ist unsere Sicherheitsverwaltung ein schlechter Witz, Leopold. Wir müssen rausfinden, wer dazugehört und zusehen, daß wir dieser Bande klarmachen, daß sie sich an unsere Gesetze zu halten hat."

"Gut gebrült, Löwe!" Erwiderte Leopold Rosshufler darauf. "Denkst du, die anderen Bagagen, die von diesem Spinner Voldemort bishin zu den alteingesessenen Schwesternschaften hätten das nicht schon längst rausfinden wollen, wer dazugehört?" Fragte er dann noch sehr mißmutig. Güldenberg wußte, daß Leopold Rosshufler sonst nur bei einer Sache seine Behäbigkeit verlieren konnte, und das war Quidditch. Doch hier schien der gute Bekannte aus Wien ebenfalls sehr stark mit seiner Selbstbeherrschung zu ringen.

"Meine Lichtwachen suchen auch schon danach, wer da alles zugehört, weil wir ernsthaft davon ausgehen müssen, daß auch in Deutschland welche von denen zu finden sind. Aber du hast recht, daß wir deshalb nicht gleich sämtliche Hexen unter Generalverdacht stellen. Dann könnten wir ja gleich dieses Machwerk von diesen Inquisitoren benutzen, den Malleus Maleficarum. Was ich hier und von dir nur wissen will ist, ob du weißt, ob es Anzeichen dafür gab, daß sich diese Nocturnia-Vampire in Österreich eingenistet haben. Denn bei uns lassen wir jeden bekannten Vampir überwachen."

"Den ihr mit dieser Gurke aus Yankeeland orten könnt, Heini, vergiss das nicht", erwiderte Rosshufler, nun wieder akzentfreies Hochdeutsch sprechend. Heinrich Güldenberg verzog das Gesicht. Natürlich ging es nur mit den Vampiren, die geortet werden konnten. Die Anführerin Nyx hatte sich immer in einem Unortbarkeitszauber bewegt. Wußte er, ob sie den nicht auch an wichtige Abkömmlinge weitergeben konnte? Zumindest mußte er es annehmen, um nicht eines Tages eiskalt erwischt zu werden. So sagte er nur: "Jedenfalls müssen wir uns noch mal treffen. Ich habe das mit Grandchapeau und den andren Europäern schon per Vertrauenseule abgestimmt, daß wir uns inoffiziell beraten müssen, wie wir gegen diese Übergriffe vorgehen wollen. Potsdam hat ja nur die Todesser und die Entschädigungspolitik beinhaltet. Das war ein Fehler."

"Ja, wo ich vom Kollegen Shacklebolt gehört habe, daß die Idee von der bezahlten Amnestie nicht so gut in seinem Land ankommt. Gut, daß dieser Spinner bei uns keinen in Lohn und Brot hatte."

"Weißt du das so sicher?" Fragte Heinrich und genoß es, wie seine Retourkutsche für die Sache mit den ortbaren Vampiren sicher bei Rosshufler ankam.

"Ich schlag vor, daß wir uns alle bei der Weltmeisterschaft treffen, die da offiziell hinfahren. Da können wir dann drüber reden, wie es weitergeht." Ein melodiöses Jodeln erklang aus dem Nichts heraus. Güldenberg verzog das Gesicht. Er verabscheute die alpenländische Folklore.

"Irgendwas ist da passiert", grummelte Rosshufler und rief über das Gejodel hinweg: "Wos is'?" Zur Antwort materialisierte sich eine Schriftrolle über seinem Schreibtisch und landete leise und hohl klingend auf der Platte.

"Der Kollege aus Transsylvanien will von einem guten Kontakt bei den Blutsaugern mitbekommen haben, daß der Ofen Nocturnia noch nicht aus ist, obwohl die Yankees behaupten, sie hätten diese Nyx erledigt. Es gehen da gerüchte über einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin, die einen Mond nach dem letzten Lebenszeichen dieser Nyx das Erbe übernehmen soll. Der Kontakt hat Angst, er könnte dann auch in den Bann dieser Diamantenkönigin geraten."

"Das klären wir mit Cartridge", knurrte Güldenberg. "Ich höre mich dann besser bei mir auch noch um, ob da ähnliches in Umlauf ist. Nachher ist das eine Finte, um alle Vampire an eine Art Messias oder sowas glauben zu machen, der ihre gesellschaftliche Stellung verbessern soll."

"Dann treffen wir uns besser bei der Weltmeisterschaft in einem Klangkerker. Klärst du das mit dem Armand Grandchapeau? Mein geschriebenes Französisch ist eine totale Katastrophe."

"Seine Tochter kann etwas Deutsch und Englisch", erwiderte Güldenberg.

"Ja, aber wir sollten das gleich auf dem Dienstweg null komma nix klären, ohne zu viele Zwischenboten damit zu behelligen", erwiderte Rosshufler. Güldenberg nickte verdrossen. Je weniger Leute die geheime Zusammenkunft im Schatten der offiziellen Anreise der Zaubereiminister mitbekamen um so besser. So trennten sich die beiden Minister. Rosshufler wollte die Kollegen aus Osteuropa und Italien anschreiben, Güldenberg die aus Nordeuropa, Großbritannien und Frankreich und bei der Gelegenheit noch eine Eule in die Staaten schicken, damit von da aus auch die Südamerikaner informiert wurden. Zwar ergab das im ganzen nur vierundsechzig Zaubereiminister. Doch das mochte reichen, um diesen internationalen Bedrohungen wie Nocturnia und den Sardonianerinnen entgegenzuarbeiten.

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Juri Kamarov prüfte gerade eine Datei, die er aus dem Netzwerk seines Vaters herausgefischt hatte. Der werte Herr Anatoli wollte am 16. Juni in sein Hauptquartier zurückkehren, bevor ihm noch mehr Mäuse auf den Tischen tanzten und die alteingesessenen Gruppierungen die Gebiete zurückholten, die die Kamarovs dank ihrer guten Beziehungen zu den alten Seilschaften aus Sowjettagen erschlichen und erstritten hatten. Juri wollte seinen Erzeuger und Beschützer mit vollendeten Tatsachen konfrontieren. Die Übernahme des Bronsky-Verteilernetzes war ja nur der erste Schritt gewesen. Drei Wochen hatte es gedauert, bis er so behutsam er konnte alle alten Fäden des zerschlagenen Zigarettenkönigreiches in die eigenen Hände bekommen hatte, ohne die Polizei aus Polen und Deutschland auf ihn aufmerksam zu machen.

"wir könnten morgen ziemlichen Ärger kriegen. Die Ho-Bande wittert fette Beute", warnte Wolfgang Kannegießer seinen Anführer.

"Ach, der Herr aus dem sonnigen Vietnam will auch was vom großen Kuchen haben. Der ist doch schon dick genug. Dem geben wir nix ab", erwiderte Juri. Sein Deutsch war ohne jeden Akzent. Nur die tiefe Tonlage verriet, daß seine Wiege in Rußland gestanden hatte. "Wo will Ho uns denn ärgern?" Fragte Juri noch.

"Der hat das von der Ladung aus Anatolien gehört, wo wir Gewürzzigaretten herkriegen. Die Kurden wollen eh von uns wissen, ob wir die rechtmäßigen Erben sind. Könnte sein, daß Ho mit denen kungelt und uns die Ladung abjagt, bevor die in unserem Revier auftaucht."

"Dann müssen wir denen auf halbem Weg entgegen. Sag Karlov, ich bin morgen früh bei ihm in Sofia. Der darf dann seinen Privatjet vorglühen lassen."

"Wird ein wenig spät sein, Juri. Was machen wir, wenn Ho rumerzählt, er habe die Ladung schon gekauft und würde jeden, der sie ohne Bezahlung abnehmen will als Dieb verfolgen. Der wartet nur drauf, daß wir uns zeigen. Dem seine Killer sind schnell, lautlos und vergießen keinen Tropfen Blut. Angeblich hat der Würger aus dem alten Indien an der Hand."

"Und wir haben noch nicht raus, wo der Kerl sein Hauptquartier hat?" Fragte Juri und blickte erbost auf den flimmernden Computerbildschirm.

"Leipzig, Erfurt, Dresden, Halle. Überall da spukt er herum. Der ist gut. Der läßt sich nie zu lange an einem Ort sehen. Wie die alten deutschen Kaiser, die immer durchs Land reisten, ohne festen Herrschersitz", erwiderte Kannegießer.

"Dann müssen wir den eben wohinkriegen, wo wir ihn aus dem Verkehr ziehen können wie diesen Bronsky", knurrte Juri.

"Also was jetzt?" Fragte Wolfgang.

"Okay, erst Karlov, dann meinen alten Kameraden Rodenski. Vielleicht fällt der Luftwaffe doch noch eine MiG vom Lastwagen. Wenn wir Ho damit vom Himmel putzen können erweisen wir der Menschheit noch einen Dienst."

"Dein Vater hat doch drei von den Feuervögeln im Schuppen", erwiderte Wolfgang.

"Joh, nur, daß ich da nie dran durfte und jetzt auch nicht mehr drandarf. Wenn der hört, wie wir Bronskys Laden übernommen haben fragt der sich sowieso, wann ich dem zu groß werden könnte. Da lasse ich ihm lieber seine Spielsachen und kaufe mir eigene."

Wolfgang nickte und wollte gerade das schalldichte und mit Anti-Abhörgerätschaften gespickte Besprechungszimmer verlassen, als eines der drei Telefone auf Juris Schreibtisch läutete. Es war das rote, dessen Nummer außer seinem Vater nur noch drei, beziehungsweise nur noch zwei weiteren Leuten bekannt war. Er griff nach dem Hörer und bedeutete Wolfgang, nichts zu sagen. Dann nahm er ab und meldete sich auf Russisch. Wolfgang, der wie Juri über ein übermenschliches Gehör verfügte, konnte sehr deutlich die Frauenstimme am anderen Ende erkennen. Sie war ihm unbekannt. Doch das Codewort, daß sie benutzte, kannte er: "Die Nacht des Blutmondes naht." Juri erstarrte ebenso wie Wolfgang. Beiden Vampiren und Gangstern fiel ein, daß Nyx sie auf diesen Codesatz geprägt hatte, falls sie sich länger nicht über Gedankenkontakt bei ihnen gemeldet hatte. Juri gab die Gegenparole durch: "Und Blut wird den Himmel füllen, wenn der Tag erwacht."

"Sehr schön, mein Sohn. Ich bin die neue Regentin unseres erhabenen Reiches", sagte die Frauenstimme mit einer Betonung, die beide an Nyx denken ließ. "Ich verlange ein Treffen mit euch am sechzehnten Juni im erwähnten Schloß."

"Das Schloß gibt es nicht mehr", sagte Juri schnell. "Ich habe Satellitenbilder von der Gegend. Alles niedergebrannt da. von meinen Leuten ist da auch keiner mehr. Alle abberufen."

"Wie bitte?! Schick mir die Bilder über die verschlüsselte Verbindung zu oder gib mir die Zugriffsdaten für die Satelliten!" Schnarrte die Frau am anderen Ende. Juri grinste erst abfällig. Doch dann erkannte er, daß er gerade mit einer vielleicht mächtigen Widersacherin oder Schutzherrin sprach, je nachdem, wie er sich jetzt verhielt. So sicherte er zu, die Daten über die verschlüsselte Verbindung ins Nocturnia-Hauptquartier zu schicken.

"Gut, wenn ich weiß, was mit dem Schloß ist neuer Treffpunkt. Aber die Zeit bleibt. Nehmt euch nichts anderes für den Tag vor!"

"Wir müssen was geschäftliches erledigen. Das könnte drei Tage dauern", widersprach Juri.

"Übermorgen ist der sechzehnte Juni. Du kommst dahin, wo ich dich hinhaben will", erwiderte die Frau am anderen Ende mit einer unüberhörbaren Strenge in der Stimme.

"Ich schicke Wolfgang zu dir, Schwester, wenn der neue Treffpunkt klar ist", sagte Juri.

"Wirst du aufsässig. Prickelt das von unserer gemeinsamen Mutter in deinen Adern aufgekeimte Erbe dir so herrlich in den Adern, daß du dich jetzt allem und jedem überlegen fühlst? Ihr kommt beide zu mir, wenn ich den neuen Treffpunkt bestimme. Falls nicht widerrufe ich den Schutz vor den Jägern, der euch beiden innewohnt. Dann habt ihr gerade noch eine Stunde Zeit, um das Land zu wechseln und werdet immer die Gejagten sein."

"Das bezweifel ich. Außer Nyx konnte keine von uns so gut mit Zauberei hantieren, Schwester."

"Die Anrede ist Mylady oder meine Herrin oder meine Königin oder Gebieterin, Juri. Übermorgen bist du am Treffpunkt. Sonst bist du überübermorgen ein gehetztes Stück Wild, wenn ich mir nicht das Vergnügen gönne, dich eigenhändig in der Luft zu zerreißen."

"Klären wir erst einmal, wo du dich mit uns treffen willst", räumte Juri ein. Die Verachtung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Wolfgang fühlte, daß der junge Russe seine gerade erst so richtig genossene Macht zu verlieren fürchtete. Wenn es wirklich eine Nachfolgerin von Nyx gab, dann hatte die vielleicht von der Sachen gelernt, um freche Burschen wie Juri zu bestrafen.

Als Juri den Hörer auf die Gabel gelegt hatte stieß er einen höchst derben russischen Fluch aus und hieb so heftig auf den Mahagonischreibtisch, daß dieser laut knackend in zwei Teile auseinanderbrach. Zum Glück stand der Tisch nicht nur auf vier, sondern acht stämmigen Beinen, so daß die beiden Hälften nicht aufeinander zukippten.

"Meinst du, Nyx hat eine Tochter, die diesen Stein übernommen hat?" Fragte Wolfgang.

"Nein, dann hätte die gleich Telepathie benutzt, Wolfgang. Das ist eine, die alle Informationen über Nocturnia hat. Damit weiß die auch, wer dazugehört. Sonst hätte die nicht meine Telefonnummer gehabt, die ich nur Lady Nyx gegeben habe."

"Will sagen, die kann uns erpressen und ausliefern, wenn wir nicht spuren", schnaubte Wolfgang Kannegießer. Ihm mißfiel es auch, daß die gerade angefangene Gebietserweiterung so jäh gebremst werden mochte.

"Ja, und wenn die will, kann die uns hinhängen, hüpfen und springen lassen und was man sonst noch mit hohlbirnigen Marionetten macht", knurrte Juri. "Ich schicke der jetzt erst mal die Sachen über das jagdschloß, daß Nyx angeblich uneinnehmbar gemacht hat. Du redest mit Karlov wegen morgen. Ich telefoniere noch mit Rodenski wegen einer MiG, falls wir Ho dazu kriegen, eine bestimmte Flugroute zu nehmen."

"Und wenn die sogenannte Blutmondkönigin klar hat, wo sie dich übermorgen sehen will, Juri?"

"Wenn ich da noch in Anatolien sein sollte gehst du da alleine hin. Wir können diese Teleportationsnummer nicht, die Nyx drauf hatte. Ich sitz doch hier nicht rum und lasse den Vietnamesen meine Gewürzzigaretten kassieren."

"Dann schick mich nach Sofia, damit ich das Ding mit den Kurden durchziehe, Juri", bot Wolfgang an.

"Neh, das Ding bringe ich persönlich über die Bühne. Notfalls muß ich Karlov zu einem von uns machen, damit der spurt."

"Hmm, dann willst du die Fabrikation für die Schutzfolien weiterlaufen lassen?"

"Das glaubst du aber. Es gibt genug Brüder und Schwestern, die die tollen Sonnenschutzhäute haben möchten", erwiderte Juri. "Dann können die auch dafür löhnen."

"Okay, ich rufe Karlov an. Geht das über Blau?"

"Der Zerhacker muß auf Schlüssel zwei zwei sieben eingestellt werden, wenn du Karlov dran hast. Dann können die von den Mithorchern aus Übersee sich dumm und dämlich lauschen." Wolfgang ging an das blaue Telefon. Sein Blick fiel auf den drei Zentimeter breiten Spalt, der den Schreibtisch teilte. "Kriegen wir den Tisch wieder zusammengebaut?"

"Ich lege uns einen zu wie der Bronsky einen hatte. Habe nicht gedacht, daß der unsere Salven unter diesem Ding so locker abwettern konnte", sagte Juri. Dann ging er an den Computer, gab die nötigen Passwörter ein und schickte eine Sammlung von Bilddaten an eine bestimmte E-Mail-Adresse irgendwo auf den Kaimaninseln. Danach rief er über das weiße Telefon mit angeschlossenem Zerhacker seinen alten Militärkameraden Rodenski an und fragte nach einer MiG 25, die er mieten oder kaufen konnte. Er bekam die Antwort, daß in einem zu verkleinernden Stützpunkt noch drei herumstanden und Rodenski den Buchhalter kannte, der die Rüstungslisten führte. "Mußt du aber einen sehr verschwiegenen Piloten und mindestens zwei Tankladungen mit zukaufen, Juri", sagte Rodenski. Juri erwähnte, daß er gerade einiges verfügbar habe und zur Not auf ein Sparkonto in Zürich zugreifen konnte, daß sein Vater ihm für Notfälle eingerichtet hatte. Ein Zehntel von Juris Gewinn floß da hin. Mit dem aktuellen Stand konnte er sich die MiG leisten. Nach dem Telefonat fragte er sich wieder einmal, wie tief seine erhabene Heimat noch sinken konnte, wenn Leute mit Geld die schlagkräftigsten Waffen kaufen konnten oder sich vor die Tür gesetzte Atomwissennschaftler mit ein bißchen Spaltmaterial sichern konnte.

Eine halbe Stunde später bekam er über das weiße Telefon einen Anruf von seinem Kontaktmann im vietnamesischen Syndikat. "Stornier die Ladung aus dem Osten. Ho ist gerade unterwegs, um sie dir abzujagen, Boss", war die kurze Meldung.

"Hast du einen Flugplan?" Fragte Juri aufgeregt.

"Heute Abend von München nach Ankara und dann mit einer einmotorigen Privatmaschine weiter zu Mehmet Aslan."

"Ey, der Kerl hat mir die Sachen schon verkauft. Der Kerl ist lebensmüde", knurrte Juri laut. Doch innerlich grinste er. Ho wagte sich alleine in die Luft. Dann sagte Juri noch: "Okay, ich rufe Aslan an, der soll den Vietnamesen abblitzen lassen, aber erst, wenn der bei ihm vor der Tür steht. Soll der ruhig die Reise umsonst machen."

"Ja, aber Ho hat gute Verbindungen. Aslan wird nicht anders können, als ihm die Ladung verkaufen. Am Besten läßt du dir das Geld wiedergeben."

"Aslan ist ein schwarzes Loch. Was der einmal hat verschwindet für immer", grummelte Juri. "Außerdem will ich dem nicht wie ein eingeschüchterter Schuljunge vorkommen", bekräftigte er noch. Dann beendete er das Gespräch.

"Valentin, ich brauche die MiG in vier stunden über der Türkei. Das Geld kommt in zwanzig Minuten bei dir an", bellte Juri ins Telefon, als er noch einmal Rodenskis Anschluß gewählt hatte. "Natürlich mit voller Bewaffnung. Ich will keinen Spazierflug machen." Juri mußte dann erklären, daß er eine bestimmte Maschine vom Himmel holen lassen mußte. Das kostete eine halbe Million Rubel extra, weil der Pilot ja schweigen mußte.

"Mr. Ho, sie wurden soeben als einziger Passagier von Nimmerwiedersehen Air Flug null null null gebucht", grinste Juri.

"Der ist doch nicht so blöd und läßt durchblicken, wo er langfliegt, wo das die einzige Möglichkeit ist, den abzufangen", wandte Wolfgang ein.

"Doch, der ist so blöd, Wolfgang. Der muß seinen Leuten sagen, wo er hinfliegt. Und er vertraut ihnen zu sehr, als sich vorzustellen, daß jemand ihn dabei erledigen kann." Das Signal für neue E-Mail erklang. Es war eine Nachricht von Lamia:

Neuer Treffpunkt Hohensteinkeller bei Prag, 16. Juni 23:00 Uhr. Du und Wolfgang zusammen. Anwesenheit Pflicht, keine Entschuldigung zugelassen.

Lamia

"Das ist nicht zu machen, falls wir Ho nicht vorher endgültig aus der Welt schaffen", beschwerte sich Juri.

"Und das werden wir nicht, Juri. Der Typ linkt uns", erwiderte Wolfgang. "Der schickt einen los, der sich als er ausgibt und sieht zu, ob der unterwegs verlorengeht. Der linkt uns, Juri."

"Dann müssen wir Ho eben erwischen, bevor der abfliegt, am besten gleich."

"Wenn wir wissen wo der ist", sagte Wolfgang. Aber genau das wußten sie beide nicht.

Juri mußte es darauf ankommen lassen, den richtigen Ho zu erwischen. Jetzt hatte er die Sache angeleiert.

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Die Cessna war nicht mehr die jüngste. Aber sie flog noch sicher und schnell. Der Pilot hatte keine Fragen gestellt, als ein kleiner, asiatischer Mann ihm das vereinbarte Losungswort genannt hatte und hinter ihm auf den Passagiersitz geklettert war. Er trug einen kleinen Handkoffer bei sich. Wenige Minuten später hob die Propellermaschine ab und nahm Kurs auf Ostanatolien, wo sie auf einem unbedeutenden Flugfeld runtergehen sollte. Der Vietnamese auf dem Passagiersitz trug einen geschniegelten Anzug und blickte sehr genau aus den Fenstern. "Könnte sein, daß wir unterwegs Ärger kriegen. Legen Sie schon mal den Fallschirm an", sagte er auf Englisch mit starkem Akzent.

"Will uns da wer abschießen?" Fragte der Pilot. "Ich habe ein paar Anti-Flugabwehrsachen eingebaut."

"Deshalb habe ich Ihren Dienst genommen", sagte der Mann aus Südostasien.

Die erste Stunde verstrich ohne erwähnenswerte Ereignisse. Sie näherten sich dem angemeldeten Landepunkt. Dort würden sie jedoch unter die Radarerfassung abtauchen und sich zwischen den Bergen hindurchschlängeln und den eigentlichen Landepunkt ansteuern. Als sie über dem offiziellen Landepunkt in den Sinkflug übergingen sahen sie sie. Zuerst war es nur ein kleiner Lichtpunkt von unten. Dann entpuppte sich der Punkt als Kampfflugzeug russischer Fertigung. Der Pilot, der vier Jahre für die türkische Luftwaffe geflogen war, erkannte sofort, daß sie es mit einer MiG 25 zu tun hatten und sah auch, daß das Flugzeug mit Luft-Luft-Raketen bewaffnet war. Dagegen hatten sie keine Chance. Der Vietnamese zückte sein Handy und tipte drei Ziffern in die Tastatur. Dann war die MiG auch schon heran.

Der Pilot der Cessna wollte gar nicht erst fragen, ob es ein Angriff oder eine Zufallsbegegnung war. Er riß die Maschine hoch, um schnell wieder in die Radarüberwachung zu kommen. Er wollte gerade zum Funkmikrofon greifen, als sich ein Flammenschweif von der MiG löste. Doch sofort reagierte das eingebaute Abwehrsystem der Cessna und stieß einen Schwarm blendendheller Leuchtgeschosse und mehrerer sich blitzartig aufblähender Ballons auf, die als Radarköder herhielten. Die Leuchtgeschosse sollten eine Rakete mit Wärmesucher anlocken und vom eigentlichen Ziel ablenken. Die abgefeuerte Rakete ging auf einen ihr entgegenschwirrenden Leuchtkörper los und kollidierte mit diesem. In einem grellen Feuerball zerplatzte die Fernlenkwaffe. Damit hatte der Pilot der MiG wohl nicht gerechnet. Auch nicht damit, daß der Cessna-Pilot seine Maschine genau auf einen Berg zustürzen ließ und dann hart backbord drehte, um knapp vor dem Zusammenstoß um den zerklüfteten Gipfel herumzuzirkeln. Die MiG war jedoch schneller und kam wie ein Raubvogel von oben herabgefaucht. Wieder zischte eine Luft-Luft-Rakete unter einer der Tragflächen hervor und nahm kurs auf die Cessna. Wieder spie das eingebaute Abwehrsystem einen Schwarm Hitze- und Radarköder aus. Doch der Pilot wußte, daß er damit nur noch einen Angriff abwehren konnte, wenn der Pilot in der MiG nur eine Rakete zur Zeit abfeuerte. Diesmal war die Rakete auf Radarerfassung eingestellt und flog auf die Cessna zu. Dabei durchflog sie einen der Radarköder und hielt ihren Kurs. Der Pilot der Cessna versuchte, sich durch einen schnellen Sturzflug und eine Rolle nach Steuerbord aus der direkten Radarerfassung des Gegners zu bringen. Doch dieser führte die Nase mit dem Zielradar so schnell nach, daß die Cessna nicht aus der Erfassung geriet. Nur der Vorbeiflug an einem weiteren Gipfel störte die Zielerfassung und die Rakete sprengte den Berg ein paar Zentimeter niedriger. Der MiG-Pilot ließ nun die Raketen weg und nahm die Cessna selbst aufs Korn. Jetzt war es aus. Denn gegen einen Nahkampf mit einer Überschall-Jagdmaschine war die kleine Sportmaschine absolut chancenlos. Da tackerten auch schon die ersten Leuchtspurgeschosse in die Steuerbordtragfläche der Cessna. Eine weitere Salve zerpflückte den Propeller. Das war das Aus für die Sportmaschine. Der Pilot hatte nur noch einen automatischen Notruf mit beigefügter GPS-Datenübermittlung rausschicken können, bevor die Maschine durch Feuer und Antriebsverlust in eine tödliche Abwärtsspirale geriet. Laut heulend stieß die MiG 25 über die bereits dem Untergang geweihte Maschine hinweg und jagte ihr noch eine Salve Sprengmunition in die linke Tragfläche. Dabei verirrten sich drei Kugeln auch durch die Backbordfenster und nahmen den beiden Insassen das Leben. Die Cessna stürzte als lodernde Feuerwolke nach unten und schlug in die Flanke des nächsten Berges ein. Der Treibstoff entzündete sich mit einem Schlag und zerriß den Rest der Maschine. Der MiG-Pilot drehte schnell ab und tauchte unter die Radarerfassungsuntergrenze ab. Sein Job war erledigt. Die beiden Insassen hatten keine Möglichkeit gehabt, auszusteigen. Und falls sie doch den Absprung geschafft hätten, hatte er sogar den gut bezahlten Auftrag gehabt, die Fallschirme zu zerstören.

Keine zehn Minuten später war die Hölle los. Mehrere Flugzeuge der türkischen Luftwaffe jagten heran und suchten nach den beiden Maschinen, von denen die eine ein Sportflugzeug war, daß eigentlich in dieser Gegend hatte landen sollen und die andre die Radarsignatur einer MiG 25 aufgewisen hatte. Was machte eine solche Maschine im türkischen Luftraum, der als Hoheitsgebiet der NATO bekannt war? Die Abfangjäger der türkischen Luftwaffe suchten mit Radar und Infrarotspürgeräten nach dem Eindringling und fanden auch eine Reststrahlung. Sie hetzten den unbekannten Kampfflieger, bis ein Captain der Luftwaffe den Eindringling in der Radarerfassung hatte. Doch da tauchte der auch schon wieder zwischen zwei Bergen unter. Die Jäger folgten ihm. Doch als die Maschine über die türkisch-iranische Grenze hinwegflog, mußten die zu spät losgeflogenen Abfangjäger die Verfolgung beenden. Aber das würde Folgen haben, wenn ein Flugzeug aus dem Iran ein türkisches Zivilflugzeug überfallen hatte. Das die Maschine aus Rußland gekommen war und den Iran nur als Ausweichroute nutzte wußte keiner.

In seinem gepanzerten Doppeldeckerbus, der aus den Beständen der Berliner Stadwerke erworben worden war, piepte ein Benachrichtigungsgerät, daß jemand eine Mitteilung darauf aufgespielt hatte. Ho nahm den Piper und las:

Falle wie vermutet schnappt zu. Versuchen Ausstieg!

"Ruski, das war dein Todesurteil", knurrte Ho. Denn jetzt wußte er, daß er auf Juris Todesliste stand. Er wußte auch, daß der ein Kampfflugzeug oder etwas dergleichen organisiert hatte, um seine Reise in die Türkei zu verhindern. Da angeblich er an Bord der Cessna war, mußte er sich die nächsten Tage totstellen. Die Leute im Bus waren ihm auf Leben und Tod hörig. Aber seine übrigen Mitarbeiter mochten bereits auf einer anderen Lohnliste stehen. Ho wußte, wo Juri seine Schlupfwinkel hatte. Wenn er ihn erwischen wollte, mußte er alle zugleich angreifen.

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"Heute bist du genau einen Monat auf der Welt, Tony", säuselte Tracy Summerhill, während sie ihren Sohn in einen bunten Strampelanzug steckte. "Wie schnell die Zeit verflogen ist", fügte sie hinzu. Anthony quängelte ungehalten, weil seine Mutter an ihm herumzubbelte und ihm dann noch mit einem Kamm mit pieksenden Zähnen durch den blonden Flaum fuhr. Das machte die doch nur, wenn wieder wer von der Presse anrücken wollte. Er nahm Blickkontakt mit ihr auf. Zu mehr war er ja nicht fähig. "Wir kriegen heute Besuch von unseren Verwandten, die dich noch nicht ausgepackt gesehen haben", flötete Tracy Summerhill. Tony dachte nur, daß sie ihn dann nicht in diesen schmetterlingsbunten Strampelanzug hätte zwengen sollen, wenn sein werter Vetter väterlicherseits und dessen schmarotzende Bagage ihn ausgepackt sehen wollten. Er ärgerte sich wieder mal, daß sie ihm dieses blaue Armband umgebunden hatte. Selbst beim Baden ließ sie es an seinem rechten Arm. Es war wasserabweisend. Sie hatte zwischen den auf Babybrabbel gequälten Anreden durchblicken lassen, daß das Ding mit ihm mitwachsen würde, bis er aus Thorntails sein würde. Nur sie könne es abnehmen. Doch damit keine bösen Tanten und Onkel ihm böse Sachen in den Kopf flüsterten blieb es drum. Er hätte sie dafür fast eine Heuchlerin gerufen. Doch mit der Zunge ging es immer noch nicht recht. Hatte er echt mal vorgehabt, sich mit hundertzwanzig Jahren durch Infanticorpore-Fluch körperlich verjüngen zu wollen? Das vergaß er auf jeden Fall schnell wieder. Außerdem dachte er, daß seine ehemalige Tante und Geliebte ja leider recht hatte. Diese Sardonianerin könnte ihm, wenn sie noch lebte, sofort unschöne Gedankenbotschaften zusenden, wenn er aus dem Schutz des Hauses heraus war.

Tracy begrüßte die zwanzig Gäste, die zum Willkommensfest für den kleinen Anthony geladen waren. Darunter waren auch zwei Cousinen der glücklichen, wenn auch alleinerziehenden Mutter. Malory und Caroline. Die ältere von denen war bei den Broomswoodianerinnen in der Schule gewesen. Das hatte ihre Eltern bewogen, die sieben Jahre jüngere Caroline doch lieber nach Thorntails zu schicken. Malorie äußerte sich als Mitglied der Liga rechtschaffender Hexen, die dazu angetreten war, das Bild der verwerflichen Hexe in den Staaten gründlich zu widerlegen. Tracy meinte dann: "Ach, dann findest du es auch falsch, daß ich den kleinen Tony alleine großziehen will und es ihn ja deshalb nicht hätte geben dürfen, weil er rein verwandtschaftlich auch mein Großneffe sein soll?"

"Du kannst nicht komplett abstreiten, werte Tracy, daß dein Lebenswandel neben den Umtrieben der Sardonianerinnen dazu beitrug, daß wir Hexen in der magischen Gesellschaft im Moment nicht so gut angesehen sind", erwiderte Malorie. Ihre Schwester Caroline schlug sich jedoch auf Tracys Seite.

"Das ist doch ein himmelweiter Unterschied, ob ich einer Bande aus Mörderinnen und Monstermacherinnen angehöre oder mit einem geliebten Mann ein Kind habe, und weil der Mann in Erfüllung seiner Pflichten starb, dieses Kind lieber alleine großziehe."

"Ja, aber wir zwei wissen, daß ein Junge einen männlichen Bezugspartner braucht, an dem er sich ausrichten kann", warf Malorie ein. "Jungen, die nur von ihren Müttern erzogen werden lernen daher nicht früh genug, was sie als Männer zu beachten und zu befolgen oder zu erwarten haben."

"Die alte Soße ist immer noch in deinem Kopf, Mal", knurrte Caroline und nahm Tracy damit die Worte aus dem Mund und dem ungehalten zuhörenden Anthony die Gedanken aus dem Kopf. "Hast selbst nur eine Tochter bekommen, und das widerwillig, weil du dazu ja mit einem Mann schlafen mußtest und spielst dich hier auf, daß du eine Ahnung hast, wie Jungen erzogen werden müssen. Ich habe drei Söhne hingekriegt und habe daher eindeutig mehr Ahnung von diesem Thema als du. Ich stimme dir insofern nur zu, daß ein Kind, egal ob Junge oder Mädchen, beide Elternteile kennen und miterleben soll. Aber weil das eben nicht immer geht, kann man es dem erziehenden Elternteil nicht andauernd vorwerfen, irgendwas verkehrt zu machen. Abgesehen davon lebt Tracy glücklicher damit, wenn sie nicht in ständiger Frustration lebt, weil kein Mann eine Mutter mit Kind heiraten will, noch dazu, wenn das Kind eine ungewollte Berühmtheit ist."

"Tony und ich kriegen das schon hin, Mal und Caro. Jetzt hinter einem Typen herzulaufen, in meinem Alter, tue ich mir sicher nicht an. Wen soll ich denn da abkriegen? Soweit dieses Thema. Ich habe euch nicht eingeladen, damit ihr mir Pabblenuts verklumpte Moralsoße auftischt, sondern weil ich euch den jungen Mann vorstellen wollte, der nach meinem Vater und seinem Vater der wichtigste Zauberer in meinem leben ist."

"Woher willst du wissen, daß der ein Zauberer und kein Squib wird?" Fragte Justin, einer ihrer Vettern.

"Der wird sicher kein Squib. Dafür hat der Lukes und mein Blut in den Adern", lachte Tracy. "Außerdem hat die werte Prinzipalin Wright mir schon geschrieben, daß er bereits für das Schuljahr 2010/2011 vorgemerkt ist."

"Vorgemerkt, weil er der Sohn einer Hexe und eines Zauberers ist, Tracy. Ob er aufgenommen wird hängt noch daran, wann er nach außen wirksame Magie entfaltet", wußte Caroline. In ihrer Stimme klang eine gewisse Verärgerung nach. Denn sie sprach über etwas, was früher ihr Beruf gewesen war, wo sie noch in der Abteilung für magische Familienfürsorge gearbeitet hatte, bis Lucas Wishbones Politik sie aus dem Amt gedrängt hatte und sie jede Wiedereinstellung ablehnte, solange Lucas Minister war. Jetzt arbeitete sie im Öffentlichkeitsbüro der Cloudy Canyon Climbers und verdiente da mehr als im Ministerium.

"Ich hab's gesagt und bleib' dabei, daß Tony ein Zauberer wird, weil er Lukes und mein Blut in den Adern hat."

"Vor allem dein Blut, wo es gerade mal einen Monat rum ist, daß der noch in deinem Ranzen herumgekullert ist", feixte Justin. Tracy grinste darüber nur.

"Deine süße legt dir sicher auch mal so was herrliches hin wie Tony. Oder ist sie deiner schon wieder überdrüssig?"

"Da eifere ich dir nach, Tracy. Lieber frei lieben als unfrei leben. Alice wollte mich unbedingt vor den Zeremonienmagier locken. Aber das wird nichts. Auf der Erde blühen so viele schöne Blumen. Da werde ich nicht nur bei einer stehenbleiben." Malorie fauchte ihren Cousin Justin dafür wütend an, daß für den Frauen also nur Spielzeug seien. Er sagte dazu nur, daß die Broomswood-Hexen da ja keine Angst vor ihm haben mußten. Tony quängelte. Er verabscheute diese völlig unsinnige und noch dazu zeitverplempernde Debatte. Zwar trug er eine magische Reisewindel und hatte somit im Moment keine Probleme mit dem, was er unfreiwillig unter sich ließ. Aber er wollte diesem dummen Gezänk nicht weiter zuhören. Da wollte er lieber zurück in seine Wiege und diese für ihn lästige Veranstaltung verschlafen. Das Vorrecht eines Säuglings, dachte er. So quängelte er und machte ein Müdes-Baby-Gesicht, gähnte sogar und grummelte. Tracy entschuldigte Tony bei ihren und seinen Verwandten und erwähnte, daß er um die Zeit eine Stunde Mittagsschlaf hatte. So wünschten sie dem kleinen Anthony "Schlaf schön und träum von rosaroten Feen." Justin berichtigte seine Cousinen, in dem er ihm Träume von himmelblauen Quods wünschte.

Tony Summerhill genoß es, als er in seiner kleinen, schaukelnden Schlafstätte lag und zugedeckt wurde. "Wünschte mir, ich könnte die auch so von mir fernhalten", grinste Tracy und tätschelte Tonys runden Kopf. "Schlaf schön!"

An Schlaf war aber nicht zu denken. Denn Tony hörte die Bagage immer wieder lachen und dann über etwas reden, was ihm einen kalten Schauer durch den kleinen Körper jagte. Es ging um diese Vampirvereinigung Nocturnia.

"Die Blutsauger haben noch nicht aufgegeben. Im Ministerium ist ein Drohbrief aus Vampirblut auf getrockneter Menschenhaut aufgetaucht, daß die Ermordung der erhabenen Königin nach blutiger Rache verlange. Cartridge hat sich daraufhin mit Kollegen in Europa, vor allem Rußland, England und Frankreich zusammengeschlossen. Arcadi jagt immer noch alles, was lange Eckzähne hat. Shacklebolt hat Ärger, weil es einige geflüchtete Todesser gibt, die nun wieder frech werden. Die haben wohl auch aus der Zeitung, daß Harry Potter zu den Auroren will, und in Frankreich sind die Freunde dieser Vampireheleute Sangazzon auf Rache aus, weil die Liga gegen dunkle Kräfte die beiden umgebracht hat. Das schaukelt sich hoch", berichtete Justin.

"Ja, aber ohne diese Nyx sind die nur halb so geordnet", vermutete Malorie. Justin lachte laut und erwiderte: "Klar, wo die diese Blutsammelstellen der Muggelheilkundler überfallen, gezielt nach wichtigen Hexen oder Zauberern suchen, um die in ihrem Reich "einzubürgern" oder selbst bei hellem Tag in verrufene Viertel zu gehen, um da nach irgendwelchen Straßenmädchen und bezahlten Lustknaben zu suchen. Ich habe diesen Schrieb nicht gelesen, weiß aber von einem Kollegen aus dem ZWB, daß diese Nocturnia-Bande darauf ausgeht, Nyxes Weltherrschaftsanspruch zu erfüllen. Die haben sogar eine Parole: "Bürger, Feinde, Futter". Was das heißt ist euch allen wohl klar."

"Entweder werden wir zu Vampiren, wegen unserer Gefährlichkeit umgebracht oder zu deren Blutvieh", schnarrte Malorie. Tracy stimmte ihr da zu.

"Und, wie reagiert das Ministerium Cartridge?" Fragte Caroline.

"Jeder hat Nachsitzen bei den Vampirabwehrleuten aus dem ZWB und dem Inobskuratorenbüro oder kriegt vom LI eine Liste mit anwendbaren Schutzzaubern und Vorgehensweisen. Die vom Li stehen ja auch bei diesen Nocturnia-Leuten auf der schwarzen Liste. Das Ministerium siedelt auf eine Insel mitten im Mississippi um. Fließendes Wasser können die Langzähne nicht vertragen. Wer will und nicht unter der Grundversorgungsgrenze lebt kann sich Eichenholzbolzen mit Sonnenquarzspitzen zulegen, die mit mehreren Sonnensegen-Zaubern belegt sind. Muggelstämmige können die Dinger aus besonderen Hartluftpistolen abfeuern. Andere können die mit Armbrüsten verschießen. Außerdem ist der Knoblauch nun ministeriell subventioniert, und Kochbücher, in denen Rezepte mit Knoblauch drinstehen, gehen supergut weg. Jedenfalls gilt die Koexistenzregel nur noch für Vampire, die sich bereiterklären sich ein Registrierungs- und Fernortungsband umzubinden und sich nur von großen Säugetieren ernähren dürfen. Unregistrierte Vampire werden mal eben erlegt. Deshalb verstecken sich viele und verfallen in Überdauerungsstarre. Da können die vom Ministerium Jahre nach denen suchen."

"Wieso, hieß es nicht, das LI habe ein Aufspürding für Vampire?" Wollte Caroline wissen. Tony grinste über diese einfältige Frage. Das Ding konnte nur wache beziehungsweise nur ruhende Vampire orten. Die in Überdauerungsstarre verringerten alle Lebenszeichen so stark, daß man schon auf einen Meter an die herankommen mußte, um sie klar zu orten. Das konnte noch was werden. Das erwähnte auch Tracy Summerhill, die freimütig erwähnte, daß sie das von Lucas Wishbone erfahhren hatte.

So drehte sich die Debatte nun weiter um Nocturnia. Tony ärgerte sich jetzt, nicht nahe genug bei den Verwandten zu sein. Doch die würden dann wohl wieder nur über ihn und seine Mutter reden, wenn er jetzt losplärrte. Also tat er mal wieder so, als schliefe er. Neu aufzuwachsen war ja auch sehr ermüdend.

Irgendwann fiel er doch in einen tiefen Schlaf. Denn er träumte, daß eine riesenhafte Gestalt auf das Fenster zuflog. Es brummte laut. Dann klirrte es. Der ungeheuerliche Schädel Valery Saunder's brach durch das Fenster herein. Ihre haarigen Fühler pendelten hin und her, bis der linke die Wiege überstrich. "Ah, da habe ich dich doch, du kleiner mieser Feigling. hast gedacht, ihr wäret mich los. Aber ich bin noch da", hörte er ihre tiefe Stimme brummen. Die Brutkönigin der mörderischen Insektenmenschen zwengte sich nun durch das Fenster. Der Rahmen brach aus der Wand. Mauerwerk platzte um die Mutter der fliegenden Monster aus der Wand, bis diese breit genug war. "Ich werf euch zwei gleich ein, damit ihr keine Angst mehr vor dieser Blutsaugerbande haben müßt. Dann wirst du ganz schnell ganz groß, Kleiner", dröhnte ihre Stimme. Tracy stürmte herein und griff das Monstrum mit dem Todesfluch an. Doch dieser verpuffte. Valery Saunders packte Tracy und stopfte sie in ihren breiten Schlund. Tony hörte, wie ihre Stimme immer leiser wurde. Dann sah er noch die rechte Hand der übergroßen Kreatur auf sich zukommen ... und wachte von seinem eigenen Schrei auf. Die Wiege schaukelte wie wild. Die Zimmerdecke schwankte über ihm hin und her. Sein Atem ging laut wie ein Blasebalg. Tracy kam herein und sah den aus dem bösen Traum aufgeschreckten Tony an. "Huch, hast du was böses geträumt, mein kleiner?" Fragte sie und trat an die Wiege heran. Sie nahm ihren Sohn heraus und beruhigte ihn. Sie war da. Er hatte wirklich nur geträumt. "Die bucklige Verwandtschaft ist weg. Wir haben das hinter uns", sagte sie. Dann legte sie ihren Sohn zurück und wiegte ihn sacht, bis er die Augen schloß und weiterschlief.

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Juri freute sich, weil er einen Konkurrenten weniger zu fürchten hatte. Er las sich durch Akten, die sein Vater angelegt hatte und fragte sich, ob er mit dem Campestrano-Clan oder den Bertolonis ins Geschäft kommen sollte. Die Campestranos kontrollierten Chicago, während die Bertolonis sich gerade erst von einer längeren Unstimmigkeit mit den Bertuccis erholt hatten. Er ließ sich die Daten über Renato Campestrano ausdrucken, der gerade in Oxford studierte und wohl in den Semesterferien zu seinem Großvater Fabrizio reisen würde, als das rote Telefon klingelte. Juri nahm ab und meldete sich:

"Bist du noch ganz zu retten, eine MiG zu nehmen um eine kleine Sportmaschine abschießen zu lassen!" Brüllte ihn die Stimme seines Vaters ins sowieso überempfindliche Ohr. "Ich hab's gerade von Timoschenko, daß über der Türkei eines unserer Flugzeuge eine Cessna abgeschossen haben soll. Rodenski hat auf meine Anfrage zugegeben, dir diesen Gefallen getan zu haben, weil du Krach mit einem Vietnamesen hast. Wenn das Ho war, dann hat der dich gründlich verladen. Zähl schon mal deine letzten Stunden zusammen oder komm besser zu mir in die Datscha! Da wird dich keiner behelligen."

"Wenn Ho in der Maschine saß ist der jetzt erledigt, Papa", knurrte Juri. "Denkst du, ich hätte mich nicht abgesichert?"

"Ho hat dich sowas von verarscht, Juri. Der steigt doch nicht in ein angemeldetes Flugzeug ein, wo der weiß, daß man ihn da locker erwischen kann, wo der am Boden immer nur zwei Stunden an einem Ort bleibt. So paranoid der ist, so gerissen ist der auch. Der hat einen entbehrlichen Handlanger unter seinem Namen verreisen lassen. Bravo, den hast du ihm jetzt aus dem Weg geschafft. Der MiG-Pilot konnte nur über den Iran verschwinden. Mach dich drauf gefaßt, daß Rodenski für dich nicht mehr zur Verfügung steht, wenn die Diplomaten nachforschen, woher die Maschine kam!"

"Du glaubst echt, Ho hätte mich verladen, Papa", fragte Juri sehr zornig. "Dann soll der herkommen und das mit mir selbst klären, wer von uns beiden auf der Welt bleiben darf."

"Du bist in einer Stunde unterwegs nach St. Petersburg, Jurischka. Falls nicht, dann bete zu irgendeinem Gott, daß meine Jungen dich schneller finden als Hos Bande. Warst du das auch mit Bronsky?"

"Der wurde zu habgierig, Papa. Der mußte weg", knurrte Juri. Er haßte es, sich wie ein kleiner dummer Junge für das rechtfertigen zu sollen, was er getan hatte.

"Bronsky hatte gute Freunde, Juri. Die werden dich auch beehren, wenn rumgeht, daß Ho deinen Kopf verlangt, und das wird er, deinen Kopf, deinen Schwanz und was ihm sonst noch zum Essen einfällt."

"Wenn der echt wen losgeschickt hat, um sich mir anzubieten, dann muß der erst mal ganz klein und unsichtbar warten, ob jemand davon profitieren will, daß er angeblich tot ist. Kommt für mich auf dasselbe raus, als wenn ich ihn erwischt hätte. Denn ich brauche nur einen Tag, um seinen Laden zu übernehmen."

"Ich dachte, ich hätte dir was beigebracht, Jurischka. Aber offenbar hast du während meiner Abwesenheit alles wieder verlernt. Du sitzt in einer Stunde in der Aeroflot-Maschine nach St. Petersburg. Ansonsten gnade dir jeder Gott auf diesem Planeten."

"Seit wann berufst du dich auf Gott, alter Vater? Vor nicht mal zehn Jahren hast du jeden für geisteskrank erklären lassen, der einen Gott anbetet, ob die Mudschahedin in Afghanistan, ob die Orthodoxen bei uns in Rußland oder die Nachläufer dieses polnischen Vagabunden, der die ärmsten Leute in Afrika dazu anhält, möglichst viele hungernde Kinder in die Welt zu setzen. Seit wann glaubst du an Gott. Da ist ja das Märchen von Dracula echter als sowas."

"Fünfzig Minuten bis zum Abflug", zählte Anatoli seinem Sohn vor. Juri erwiderte darauf nur:

"Wenn du Angst hast, unliebsame Leute auszuknipsen fahr wieder nach Finnland und verbuddel dich da!"

"Könnte dir so passen, nachdem, was ich investiert habe, um dir eine gescheite Existenz zu sichern", blaffte Anatoli.

"Komm mir bloß nicht damit, sonst kriegst du heute noch Besuch von den Alpha-Jungs!" Stieß Juri eine Drohung aus. Das wirkte. Anatoli war absolut nicht darauf gefaßt, daß sein Sohn ihm nicht nur nicht gehorchte, sondern ihn auch noch bedrohte. Gefühlte zwei Minuten lang herrschte Schweigen im Telefonhörer.

"Das war sehr böse, Jurischka. Das kann ich dir nicht durchgehen lassen. Niemand bedroht Anatoli Kamarov und überlebt das."

"Oh, dann willst du mich auch umbringen, dein eigen Fleisch und Blut abmurksen, das Ergebnis einer heißen Liebesnacht einfach so aus der Welt schupsen? Dann zähl du besser deine letzten Stunden, alter Mann! Denn ich habe es sowas von satt, mir von dir oder sonst einem selbsternannten Platzhirschen die Ohren vollröhren zu lassen."

"Was macht dich so sicher, daß du es wagst, mir zu drohen?"

"Das was ich von dir und über dich weiß, alter Mann. Und jetzt mache ich schluß, bevor du meinst, mir 'ne Rakete in das Hinterzimmer schicken zu können."

"Verschwinde ganz weit weg und tauch nie wieder auf. denn sonst bist du tot", knurrte Anatoli.

"Danke gleichfalls!" Erwiderte Juri. Wolfgang hatte den auf Russisch geführten Zwist zwischen Vater und Sohn nicht verstanden. Doch er ahnte, daß Juri gerade eine entscheidende Grenze überschritten hatte oder jemand anderes es bei ihm getan hatte.

"Gut, die Reise nach Sofia ist erst mal auf Eis. Ich muß den alten Sack entsorgen und sehen, ob Ho uns echt verladen hat oder nicht, bevor wir ruhig schlafen können", sagte Juri seinem Mitarbeiter. Dann gebot er ihm, mit ihm zusammen mit der Flotte gepanzerter Wagen Richtung Westen loszufahren, bevor Anatoli noch einfiel, ihn hier und jetzt in die Luft zu sprengen. Da klingelte das weiße Telefon. Juri ging an den Apparat und lauschte. "Okay, sage ich ihm", erwiderte er und legte wieder auf. Wolfgang hatte jedoch mitgehört. Es war Karlov gewesen, der bulgarische Kontaktmann. Der hatte Juri gesagt, er möge Kannegießer bitte mitteilen, daß die Abflugzeit sich um eine Stunde und zwanzig Minuten verspätete. Wolfgang sah Juri an. Dieser sagte: "Hast du nicht erwähnt, daß der Alte mit Karlov was ausgemacht hat, daß wenn du mit ihm redest ein bestimmter Code besagt, mich abzumurksen?" Fragte Juri. Wolfgang wäre noch mehr erbleicht, wenn er unter der Solexfolie nicht schon kreidebleich gewesen wäre. Er nickte. "Dann war das wohl gerade der Codesatz. du weißt, was wir noch vorhaben und daß wir uns nicht mehr gegenseitig umbringen dürfen, sonst wärest du jetzt tot. Also ruf Karlov an und erzähl ihm, daß du den geänderten Flugplan akzeptierst. Mal sehen, was dann passiert!" Wolfgang überlegte, ob er die zwei Millionen Mark, die für eine notwendige Exekution Juris gezahlt würden wirklich ausschlagen sollte. Doch andererseits hatte sich sein Leben durch den Kuß der Lady Nyx so heftig geändert. Außerdem schwebte über ihm und Juri die Drohung dieser Nachfolgerin, die sich Lamia, die Blutmondkönigin nannte.

"Der code sagt auch, daß ich deinen Kopf an eine bestimmte Adresse schicken soll", gestand Wolfgang Kannegießer seinem Anführer.

"Ach ja? Dann tun wir das doch! Ruf Karlov an und erzähl ihm das mit der Flugplanänderung! Wenn er dich fragt, ob du das Paket losgeschickt hast sage ihm, es käme per Kurier an. Wo soll es denn hin?"

"Moskau", sagte Wolfgang und erwähnte die genaue Adresse.

"Joh, da wohnt ein zahmer Buchhalter meines alten Herren. Der wird dann wohl die Sendung entgegennehmen. Machen wir das so." Juri erklärte Wolfgang sein Vorhaben. Dieser nickte und telefonierte mit Karlov in Sofia. Juri hörte, wie er gesagt bekam, das Gepäck für den Weiterflug schon mal an eine Adresse in Moskau zu schicken, allerdings nicht die, die er ursprünglich bekommen hatte. Juri grinste, als er hörte, wo die Sendung hingehen sollte. Dann lachte er.

"Wenn das klappt kriegen wir auch Ho erledigt", freute er sich und bereitete mit einigen handzahmen Mitarbeitern das Paket vor.

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"du bist lebensmüde, Rodrigo. Die Casa del Sol gehört dem schwarzen Engel. Wenn du die auch nur mit einer Sprühdose besudelst bist du tot", schnaubte der dunkelhäutige Mann in nobler Kleidung, der in der Region von Almeria als Zuhälter aus Afrika stammende Prostituierte für sich arbeiten ließ. Rodrigo Perez wußte, daß sein Gesprächspartner Mbutu völlig recht hatte. Mbutu hätte sich wohl selbst als schwarzen Engel bezeichnet, wo er wie ein Schießhund darauf aufpaßte, daß niemand ihm ins Gehege kam. Doch vor der Person, die sich diesen Namen zugelegt hatte verspürte er einen großen Schrecken. Selbst ein von ihm bestellter Voodoomeister hatte das kalte Grausen erlebt, als der versucht hatte, diesen unbekannten Beschützer der Huren von Granada und Sevilla aus der Ferne zu verfluchen. "Seelenfressender Geist", hatte der nur noch von sich geben können, bevor ihn der Schlag getroffen hatte. Mbutu glaubte an die Magie. So war er sich sicher, daß der schwarze Engel mit Hilfe der Magie seine Macht ausübte. Anders war auch nicht zu erklären, wieso Konkurrenten von ihm, kaum daß sie ihm lästig gefallen waren, unauffindbar verschwunden waren oder bei sehr bedauerlichen Unfällen ihr Leben lassen mußten. Doch Rodrigo wollte davon nichts wissen. Doch Mbutu fühlte, daß sein guter Freund sich seit dem letzten Treffen verändert hatte. Er wirkte stärker und entschlossener und strahlte etwas wie einen Hauch von Tod und Vernichtung aus. Mochte es sein, daß Rodrigo selbst eine Quelle der Magie gefunden hatte und sich deshalb überlegen fühlte?

"Sage mir, warum du das überhaupt machen mußt. Du hast genug von diesen Bienen aus Bogota und Caracas in deinen Körben. Du mußt die Casa del Sol nicht kaputtmachen."

"Der Name allein ist schon eine Zumutung", knurrte Rodrigo. Wie sollte er diesem Buschneger da auch klarmachen, daß er einen Auftrag von ihr auszuführen hatte, der Blutmondkönigin, die ihm vor einem Tag klare Anweisungen erteilt hatte, eine gewisse Vorherrschaft in Frage zu stellen, ohne selbst in Erscheinung treten zu müssen.

"Was hast du gegen den Namen? Ist nach diesem Haus aus dem Schlager benannt, das in New Orleans gestanden haben soll."

"Eben, dann darf die Sonne hier in Spanien ruhig untergehen, Mbutu. glaub's mir, der schwarze Engel existiert nicht ewig. Wie auch immer seine Organisation gestrickt ist, irgendwann kriegen wir den am Arsch. Und du kannst die Ameisenkönigin am besten aus dem Versteck locken, wenn du den ganzen Haufen anzündest."

"Woher willst du wissen, daß es eine Königin ist?" Fragte Mbutu argwöhnisch. Rodrigo erkannte, daß er da unüberlegt ein Zitat seiner wahren neuen Herrin ausgesprochen hatte. So sagte er, daß es ja wohl um eine Person ginge, die sich so gut es ging im Hintergrund und gut beschützt halte. Die zu kriegen ginge eben nur, wenn alles um sie herum in Aufruhr wäre.

"Das überlebst du nicht, Rodrigo, alter Freund. Laß das Haus stehen und ernte den Honig deiner fleißigen Bienchen! Einen Ameisenhaufen aufzuscheuchen bringt dir mehr Ärger als Freude."

"Seit wann so ängstlich, Mbutu. Meinst du echt, dieser schwarze Engel habe deinen Hexenmeister totgehext?"

"Ja, das meine ich, Rodrigo. Er war ein Meister der afrikanischen Todesmagie. Und wenn der von eben solcher getötet wurde, dann muß der Gegner wesentlich stärker gewesen sein als er. Er hat von einem seelenfressenden Geist gesprochen. Vielleicht ist der schwarze Engel kein Mensch, sondern ein Dämon."

"Und lebt davon, daß kleine arme Mädchen sich für ihn bespringen lassen", knurrte Rodrigo. Doch die Bemerkung deckte sich mit etwas, daß Lamia ihm als Warnung mitgegeben hatte: "Sei vorsichtig, ihr nicht zu nahe zu kommen! Denn sie ist selbst uns überlegen." Dann konnte das mit dem Dämon tatsächlich stimmen. Doch das durfte er nicht laut zugeben. Denn dann hätte er Mbutu ja gleich stecken können, daß er, Rodrigo Perez, ein echter Vampir geworden war. So schüttelte er nur den Kopf und sagte, daß man übermorgen schon davon sprechen würde, daß die große Zeit des schwarzen Engels vorbei sei.

"Du wirst es dann nur nicht hören können, Rodrigo. Sieh noch einmal zum Himmel. Die Sonne geht unter. Für dich tut sie das das letzte Mal."

"Die Sonne kann mich mal. Der Mond geht gleich auf, und der wird mitbekommen, wie dieses Phantom sein Waterloo erlebt."

Rodrigo verließ das Haus Mbutus. Er war froh, nach den ganzen afrikanischen Leibwächtern und Dienstboten wieder europäische Gesichter zu sehen. Er würde sich nicht unbedingt als Rassisten bezeichnen. Aber irgendwie waren ihm Leute, die hier geboren waren lieber als die, die meinten, sich hier vom langsam schwindenden Wohlstand ernähren zu können. Er fuhr mit seinem Wagen über die Autobahn und dachte daran, daß in diesem Moment gerade die Casa del Sol ihren letzten Kunden empfangen hatte.

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Pancho hatte das schon mal gemacht, ein Konkurrenzhaus abzufackeln. Rodrigo galt als besonders Lichtscheu und feuerverachtend. Daher begnügte er sich nicht mit Aktionen wie Reizgas oder Buttersäure, um konkurrierende Freudenhäuser aus dem Geschäft zu drängen, sondern ließ gleich einen heißen Abriß ausführen. Ob dabei jemand starb war ihm gleich. Hauptsache, man verstand das Zeichen, daß er keinen mehr in dieser Gegend anschaffen lassen wollte. Pancho war im Gegensatz zu Rodrigo ein Feuerverrückter, einer der stundenlang in große Flammenmeere hineinschauen konnte und aus einer niederbrennenden Kerze die interessantesten Verformungen der Flamme herauslesen konnte. Heute würde er die Casa del Sol niederbrennen. Um ein gleichwertig helles Feuer wie das Sonnenlicht zu zaubern würde er eine Mischung mit großem Magnesiumanteil verwenden, die selbst mit Wasser und Löschschaum nicht zu ersticken war. Erschwerend kam für jeden Brandbekämpfer noch hinzu, daß in der Mischung Sauerstoff enthalten war, der bei der Zündung in Reinform freigesetzt und als Brandverstärker verwendet wurde. Damit würde dieses Sündenhaus in einem wahrhaften Höllenfeuer verbrennen. Ob noch alle rauskamen wußte er nicht. Er wollte es auch nicht wissen. Hauptsache es brannte.

Pancho verschaffte sich unter dem Vorwandt, ein gewöhnlicher Kunde zu sein Zutritt zu den Lasterkammern, aus denen ihm die Geräusche der käuflichen Liebe entgegenklangen. Sollte er die Gelegenheit nutzen und für das Geld, daß er zur Tarnung hatte hinlegen müssen, eine echte feurige Stunde erleben, bevor er das Haus der Sonne verglühen ließ? Nein, nachher bekam er noch Angst, er könne die, mit der er gerade heiße Minuten überstanden hatte, bei seiner Arbeit zerbrutzeln. Das durfte er nicht riskieren. So schlich er an den verschlossenen Türen vorbei, sah die Bitte-nicht-stören-Schilder an den Türen, wo gerade das Geld mit schnellem Sex gemacht wurde. Die anderen Türen waren ebenfalls verschlossen. Die Mädchen, die gerade nicht an der Bar zu sein hatten lauerten hier auf ihre bedürftige Kundschaft. Am Ende des Ganges waren Badezimmertüren, Eines zeigte einen nackten Mann und den Schriftzug ADAM und die andre eine langbeinige, vollbusige Frauengestalt mit dem Schriftzug EVA. Er ging durch die ADAM-Tür und suchte nach einer Möglichkeit, das Feuer vorerst unauffindbar losbrechen zu lassen. Doch die Marmorimitateinrichtungen würden gut wegschmelzen, aber nicht das gewünschte Inferno auslösen. Dann blieb wirklich nur der Teppichboden im Flur, eine sichere Feuerfalle. Er hielt sich nicht für einen berufsmäßigen Mörder. Wenn wer bei seinen Aktionen verbrannte, buchte er das als Unfall oder gar Kollateralschaden ab. Doch gezielt jemanden umbringen wollte er dann doch nicht. So suchte er sich einen Punkt am hinteren Ende des Flures. Da hingen Vorhänge. Wunderbar! Er deponierte den Zünder hinter den Vorhängen und platzierte die fünf gut am Körper versteckten Brandsätze so, daß die Vorhänge in der ersten Sekunde schon ein einziges Flammenmeer waren. Dann stellte er den Zeitzünder auf eine Viertelstunde. Jetzt galt es noch, das Haus wieder zu verlassen, ohne aufzufallen. Er suchte ein weiteres Treppenhaus, durch das die bedienten Kunden diskret hinauskonnten, die den nachdrängenden Kunden nicht über den Weg laufen sollten. Immerhin verkehrten hier Persönlichkeiten von Rang und Adel. Er stieg zum Erdgeschoß hinunter und fand die Milchglastür, die auf eine Seitenstraße hinausführte. Leise stahl er sich davon.

Er ging knapp fünfhundert Meter weiter weg in Deckung. Das war sein Verhängnis. Denn er hatte nicht ahnen können, daß einer der Männer, denen er an der Rezeption über den Weg gelaufen war, mit einer bestimmten Person in Verbindung stand und er schon eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte, auch wenn er nie in den Zeitungen abgebildet worden war.

Er zählte in Gedanken die Sekunden herunter, die noch bis zum Ausbruch des Feuers blieben. Als er bei zehn ankam sah er einen Schatten hinter dem Fenster, von wo aus das Feuer ausbrechen sollte. Dann flog etwas weit über die Straße und stürzte in die Tiefe, direkt gefolgt von einer schwarzen Wolke, die es am Boden einhüllte. Dann war die eingestellte Zeit um. Ein roter Blitz zuckte aus der schwarzen Wolke. Ein kurzer orangeroter Gluthauch folgte. Dann erlosch die Glut auch schon wieder. Das Haus selbst zeigte kein Anzeichen, daß Dort gerade ein infernalisches Feuer ausgebrochen sein mußte. Pancho starrte auf das Haus und dann auf die Straße. Die schwarze Wolke verflüchtigte sich. Die Straße wirkte leicht zerkratert. Pancho wechselte mit dem Blick von der Straße zum Haus und zur Straße und wieder zum Haus. Wo blieb das Feuer? Was war das eben auf der Straße? Dann erkannte er mit einer Mischung aus Entsetzen und Enttäuschung, daß irgendwer die Brandsetze aus dem Fenster geworfen und eine alles Feuer erstickende Dampfwolke darüber ausgesprüht hatte. Das Haus brannte jedenfalls nicht. Der Betrieb in den Hurenzimmern ging offenbar ungestört weiter.

"Nettes kleines Häuschen, nicht wahr?" Sprach ihn die Stimme einer Frau von links an. Er wandte sich ihr zu. Da stand eine schlanke Frau mit langen dunklen Haaren. Sie sah ihn sehr genau an. Er merkte, wie er im Blick dieser Augen förmlich versank. Dann hörte er ihre Stimme in seinem Kopf: "Soso, du bist also Pancho, der Feuerbringer, der von jedem zu buchen ist, der gerne anderer Leute Häuser warm abreißen möchte. Du wolltest meinen kleinen, sympathischen Laden der Lüste in einem viel zu wilden Feuer verbrennen und dabei womöglich alle meine Mädchen umbringen? Wer hat dir diesen Auftrag erteilt?"

"Das sage ich nicht", hörte er sich antworten. Doch dann sah er Rodrigos Gesicht vor seinem geistigen Auge, hörte in seinen Gedanken den Namen Rodrigos erklingen und wo er die Bezahlung für das erfolgreiche Feuerwerk abholen sollte. Doch weil das Haus nicht gebrannt hatte, würde Rodrigo sich verstecken. Pancho kannte das Versteck nicht. Aber er kannte Leute, die Rodrigo kannten. Diese sah er vor sich, hörte ihre Namen und dachte dann wieder an seinen verpatzten Auftrag. Er fühlte, wie die Fremde ihm regelrecht die Gedanken aus dem Kopf sog und ihn dabei immer mehr erzittern ließ.

"Dafür, daß du mir geholfen hast, einen nimmersatten und heimtückischen Neider zu finden schenke ich dir noch was, eine unverggessliche Stunde voll Feuer und Glut", hauchte sie ihm zu. Sie winkte ihm. Er trat wie an Fäden gezogen auf sie zu, ließ sich in ihre Arme fallen und nahm es hin, wie sie ihn umklammerte und dann übergangslos mit ihm verschwand.

Als sie mit ihm restlos fertig war und er unter einem lauten, verzückten Schrei seiner Seele in ihrem Sein aufging wußte Itoluhila, daß sie ein Exempel statuieren mußte. Sie hatte schon von Rodrigo gehört. Er galt als skrupellos und besaß einen starken Willen. Eines ihrer Mädchen hatte behauptet, er sei ein Vampir, weil er sie einmal nachts auf der Straße angesprochen hatte. Er sei bleich wie der Mond selbst gewesen. Und sie hatte gemeint, zwischen seinen blutleer wirkenden Lippen die Enden von Vampirzähnen gesehen zu haben. Hier lief ein Vampir herum, der es doch glatt gewagt hatte, ihr dumm zu kommen? Das gehörte eindeutig und für alle anderen abschreckend bestraft.

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"Nett habt ihr das hingekriegt", hörten sie die Stimme der Frau, die sich als ihre neue Herrin ausgegeben hatte. Sie rochen den Dunst einer Schwester der Nacht und ein nobles Parfüm. Ihre neue Herrin stand vor ihnen. Sie trug einen blutroten Umhang mit silbernen Schließen. Sie lächelte Juri und Wolfgang an.

"Wir hatten keine Wahl. Aber was sollen wir jetzt hier?" Knurte Juri.

"Erst einmal Respekt lernen, Kleiner", grummelte lamia und blickte Juri genau an. Dieser wehrte sich mit seiner eigenen Geisteskraft. Doch nach nur fünf Sekunden unterlag der junge Vampir der neuen Königin von Nocturnia. Sie ließ ihn seine wildesten Alpträume durchleiden, ihn Bilder von über ihm tosenden Flammen und den Sturz in einen reißenden Wildbach erleben und sprach dabei immer wieder zu ihm: "Ich bin deine Herrin und Meisterin, deine Mutter und dein Tod. Ich rufe, und du kommst. Ich rufe "Spring! " und du fragst "Wie hoch, Gebiterin?" Ich habe euch zwei Galgenvögel nicht in unsere erhabene Gemeinschaft eingebürgert, damit ihr mir auf der Nase herumtanzen könnt wie ihr wollt. Ihr sollt mir helfen, Halunken wie euch besser zu verstehen und auch ohne sie einzubürgern führen zu können. Das ist euer Daseinszweck. Das war es unter der erhabenen Nyx und ist es unter meiner Führung. Denn ich bin sie, und ihr seid meine Kinder, mein Blut und meine Untertanen. Nocturnia wird nur durch euren Gehorsam erstarken." Die geistige Folter dauerte fünf Minuten. Dann war Juri derartig erschöpft und niedergeschlagen, daß er nur noch weinend in einer Ecke des Raumes hockte. Wolfgang fügte sich der ihn durchdringenden Gedankenkraft bereitwilliger als Juri. Er erhielt den Auftrag, die Aufzeichnungen über die anderen Banden zu beschaffen und ihr zuzusenden, damit sie jemanden erwählen könne, den sie selbst einbürgern würde, um noch einen Helfer in der Unterwelt der magielosen Rotblütler zu haben.

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Renato Campestrano liebte drei Dinge: Schnelle Autos, Blonde Frauen und das Internet mit seinen vielen Möglichkeiten. Rudern mochte er nicht sonderlich. Das hatte ihn in der altehrwürdigen Universitätsstadt Oxford zwar einige Minuspunkte eingebracht. Doch weil er statt dessen leidenschaftlicher Fuß- und Basketballspieler war hatte er sich zumindest auf der Sportebene wieder einige Sympathien gesichert. In einigen Tagen waren wieder Semesterferien. Er würde einen Teil davon bei seinem gestrengen Großvater in Chicago verbringen. Das einzig gute an diesem Urlaub war, daß er das Essen von Nonna Carolina genießen durfte. Doch spätestens nach zwei Wochen würde es ihn wieder in die Welt hinausziehen. Er dachte an seinen Vater Alberto. Der war vor einem Jahr bei einem Fallschirmsprung umgekommen. Ob es nur an einem Materialfehler gelegen hatte oder nicht war nie geklärt worden. Jedenfalls war der alte Don Fabrizio seitdem regelrecht paranoid. Auch dieses "Bedauerliche Mißverständnis" zwischen den beiden Clans der Bertolonis und Bertuccis hatte diese Belagerungsstimmung erzeugt. Genau deshalb wuselten um Renatos Appartmenthaus im Studentenviertel von Oxford mehrere auffällig unauffällige Figuren herum, die darauf abgerichtet waren, böse Jungen und gierige Mädchen von ihm fernzuhalten. Immer, wenn er mit seinem schwarzen Yaguar auf Tour ging hing ihm ein rechter Rattenschwanz von Motorrädern, Kleinwagen und sogar einer Mercedes-Panzerlimousine am Auspuff. Wenn er wieder in Chicago war würde er darauf bestehen, daß sein Vetter Luigi aus Catanzaro die Last der Kronprinzenwürde aufgeladen bekam, obwohl er seinem Onkel Carlo damit keinen größeren Gefallen tun konnte, der als zweitgeborener eigentlich Großvater Fabrizios Nachfolge hätte antreten können, aber beim alten Herren in Ungnade war. Renato wußte, daß auch das für ihn bereitgehaltene Maß sicher schon sehr voll war. Doch das störte ihn nicht. Heute abend wollte er jedenfalls in den Süden Englands und sich da in einem der diskreten Vergnügungsclubs so richtig schön erschöpfen.

Nur Leute, die mit denen bekannt waren, die in diesem Club Mitglied waren fanden das alte Landhaus, das Club Celestial hieß. Zu dem Gebäude gehörte eine Tiefgarage, die nur über eine versenkbare Steinplatte erreichbar war. Campestrano fuhr auf die Schranke vor dem Hof zu und schob eine für viel Geld erworbene Chipkarte in den Schlitz des Lesegerätes. Es surrte einige Sekunden. Dann erhielt er seine Karte zurück. Die Schranke tat sich auf. Er fuhr auf die runde Steinplattform. Zehn Sekunden später ruckelte diese und sank mit einem Viertelmeter in der Sekunde in den Boden, bis sie das erste von drei Untergeschossen erreichte. Von dort fuhr der Enkel Fabrizios seinen schwarzen Sportwagen durch die nur notdürftig erleuchteten Wege zu einer abgelegenen Parkbucht, wo er sein kraftvolles Gefährt zum stehen brachte.

Voller fleischlicher Vorfreude fuhr Renato mit einem Aufzug ins glitzernde Voyer des Landhauses hinauf, wo er dem Portier noch mal seine Clubkarte gab und dann in eine Tastatur eintippte, wie lange er zu bleiben gedachte. Dann durfte er aus fünfzig Dias verschiedener Frauen aller Alters-, Haarton und Gewichtsklassen wählen und suchte sich eine grazile Blondine über dreißig aus, die hier als Mademoiselle Amélie geführt wurde. Der Portier gab ihm eine Schlüsselkarte, auf der die Zimmernummer aufgeprägt war. Renato fühlte, wie seine Gier nach geschlechtlichem Verkehr ihn langsam um den Verstand brachte. Jeder mochte ihm ansehen, wie erregt er schon war. So eilte er zu einem der Ein-Personen-Aufzüge hin, die der Portiersloge gegenüber warteten. Für die Hausbar hatte Renato nie so recht was übrig. Da mit anderen "Bedürftigen" zu sitzen und sich Mut oder Hemmungslosigkeit anzutrinken war nie seine Sache gewesen. Entweder er konnte und wollte dann auch oder er hatte keine Lust. Dann konnte ihm auch kein Alkohol helfen.

Er erreichte den dritten Stock des insgesamt vierstöckigen Baus. Er lauschte. Er fand es sehr sympathisch, daß die Zimmer alle Schalldicht waren und somit niemand mithören mußte, wie es dem Zimmernachbarn erging. Daran zu denken, daß diese vorkehrung ihm zum Verhängnis werden mochte, fiel ihm nicht ein.

Er erreichte das angegebene Zimmer und las auf einem kleinen elektronischen Türschild: "Tritt ein und finde dein Glück!" Renato zog die Schlüsselkarte durch den Schlitz des elektronischen Türschlosses und stellte sich vor, daß es nun keine fünf Minuten mehr dauern würde, bis er etwas vergleichbares mit einem ganz bestimmten Körperteil tun würde. Die Verrieglung klickte auf. Er öffnete die Tür und blickte in totale Dunkelheit hinein. Er nahm den Geruch schweren Parfüms war und fühlte eine angenehme Wärme aus dem Raum dahinter strömen. "Komm rein, du bist hier richtig!" Hörte er eine verlockende, wunderbar tief klingende Frauenstimme. Er überwand die Scheu vor dem dunklen Raum und überschritt die Türschwelle. Nun stand er auf einem weichen Teppichboden. Darunter waren die Schallisoliermatten verbaut. Die schwere Tür fiel hinter Renato zu. Er hörte es leise klicken, als die Verrieglung sich wieder schloß. In dem Moment glommen kleine, rote Lampen an der Decke auf und tauchten den Raum in blutroten Dämmerschein. Was wurde denn hier geboten?

Auf dem breiten, das rote Licht vollständig zurückwerfendem Bett saß eine spärlich bekleidete Frau mit blonden Haaren. Doch es war nicht die, die er im Voyer ausgewählt hatte. Zwar paßte sie vom Alter her, war aber nicht so attraktiv wie die Frau auf dem Dia. Er verzog das Gesicht. Doch dann fiel ihm auf, wie gekonnt sich dieses Wesen auf dem Bett gerade zurechtsetzte und ihm die Attribute ihrer Weiblichkeit präsentierte. Sie lächelte ein wenig, nicht offen und natürlich, sondern professionell. Dann hörte er sie sagen: "Ich bin Amélie, Tino." Das Renato mit seinem hier gebrauchten Decknamen angesprochen wurde war ihm nicht Fremd. Der Portier pflegte die Namen der Kunden zu melden, bevor diese das ausgewählte Freudenmädchen trafen.

"Irgendwas haben die beim Foto verändert", sagte Renato verdrossen. Doch dieses Geschöpf da vor ihm erkannte, wie nötig er es hatte und posierte genauso, daß sein Verstand keine Chance mehr hatte, Einspruch wegen des falschen Bildes einzulegen.

"Ich habe meine Cousine fotografieren lassen, weil es ja doch gerne nach Verpackung geht. Die ist aber zu katholisch, um meinen Job zu machen, Süßer. Nicht die Verpackung zählt, sondern der Inhalt." Mit diesen Worten löste sie das Top mit den Spaghettiträgern. Darunter trug sie nur ihre faltenfreie Haut. Renato fühlte, wie dieses Frauenzimmer da auf ihn wirkte. Ein Stück seines Lebens, das erst in seiner Pubertät erwacht war, schrie unhörbar danach, endlich zum Zug zu kommen. So sagte er nur noch: "Okay, wo kann ich ablegen?"

"Dich oder deinen schönen Anzug, Tino?" Fragte die Frau auf dem Bett. Renato stutzte und deutete dann auf seinen italienischen Maßanzug. Sie deutete auf einen hochlehnigen Stuhl. Er nickte.

Auch wenn diese Frau da nicht die war, die er auf dem Bild gesehen hatte erfüllte sie doch seine Erwartungen. Er nahm sie und fühlte, wie sie ganz sacht die Führung übernahm. Sie war stark und gelenkig. Er liebkoste sie mit Händen und Mund. Dann fühlte er, wie er ans Ziel seiner Wünsche gelangte. Sie hielt ihn fest mit sich verbunden und säuselte: "Ja, Tino, gut so!" Dann fühlte er im Rausch der Wonne, wie sie sich mit ihm herumwarf und über ihm zu liegen kam. In dem Moment erlosch das Licht. Ihre Umarmung verstärkte sich. Er fühlte, wie er immer noch mit ihr zusammen war. Sie wollte ihn bei sich behalten. Doch warum war das Licht erloschen? Da fühlte er, wie ihm zwei dolchartige Dornen schmerzhaft in den Hals gebohrt wurden. Er schrie laut auf, während ein gieriges Saugen an seinem Hals ihm verriet, daß dieses fortgeschrittene Freudenmädchen ihm gerade Blut aus einer Halswunde saugte wie ein Vampir aus dem Horrorfilm. "Ey, auf Horrorsex war ich nicht aus!" Rief er. Doch die Fremde, der er sich so unbekümmert ausgeliefert hatte, beachtete es nicht. Er fühlte, wie er langsam schwächer wurde. Schon tanzten die ersten roten Funken vor seinen Augen. Da ließ sie von ihm ab.

"Das ist kein reiner Sex mehr, das ist Zeugung, Kleiner!" Hörte er die Fremde frohlocken und fühlte, wie von ihrem Gesicht große, warme, klebrige Tropfen auf seinen Mund und seine Nase fielen. Er roch und schmeckte sein eigenes Blut. Da drückte ihm dieses Vampirweib etwas fleischiges, warmes in den Mund, stieß ihm mit der linken Hand den Unterkiefer nach oben und gab einen verzückten Laut von sich. Dann fühlte er, wie etwas flüssiges in seinen Mund drang. "Trink! Saug es ein, dein neues Leben!" Schrie die Horrorhure in großer Verzückung. "Na mach schon! Oder willst du nicht mehr leben?" Renato konnte nicht anders. Er schluckte das, was er in den Mund bekam hinunter und fühlte einen urwüchsigen Drang, noch mehr davon haben zu wollen. So sog er mehr als zwei Minuten lang, während aus seinem angebissenen Hals das Blut pulsierte. Dann hörte er nur noch das Rauschen in seinen Ohren und verlor die Besinnung.

Lamia zog vorsichtig ihre rechte Brustwarze aus dem Mund des gerade bewußtlosen Opfers. Sie fühlte, daß er genug von ihr getrunken hatte, um in den Verwandlungsschlaf überzugehen. Der Blutfluß aus seinem Hals ebbte ab, während das Herz des gebissenen immer langsamer und schwächer schlug. Lamia verband die Halswunde und säuberte ihr Gesicht und ihren Oberkörper. Ihr eigenes Blut gerann. Die absichtlich herbeigeführte Verletzung würde innerhalb einer Minute restlos verheilen. Denn sie hatte genug von Renatos Blut für eine rasche Regeneration getrunken. Sie nahm den Hörer eines im Nachtisch eingelassenen Telefons ab und drückte die Ziffer für den Portier:

"Buch von Tino noch mal fünfhundert ab. Der ist bei mir eingeschlafen. Bin die restliche Nacht besetzt", sagte sie dem Portier, den sie mit ihrem bannenden Blick schon am Nachmittag zu einem handzahmen Erfüllungsgehilfen gemacht hatte. Zwar hatte es den Anteil, der vor der Verschmelzung mit Nyxes Geist ein biederes Leben geführt hatte angewidert, die Hure spielen zu müssen. Doch mit Nyxes Erfahrungsschatz wußte sie, daß es auch sehr erquickend sein konte, willigen Männern Blut auszusaugen und Nyx damit Jahrzehnte lang wunderbar zurechtgekommen war. Jetzt mußte sie nur noch warten, bis ihr neuer Sohn erwachte. Eigentlich hätte sie die Zeugung mit ihrem Anvertrauten ausführen können. Doch das wollte sie dann mit einer ganz bestimmten Person tun, die noch was gut bei ihnen allen hatte, vor allem bei Nyx und ihr, die ihre Erbin geworden war.

Die Jalousien waren bis zum Anschlag unten. Zusätzlich zog sie kurz vor dem Morgengrauen noch die Vorhänge zu. Dann trug sie den immer noch im Umwandlungsschlaf liegenden in das fensterlose Badezimmer hinüber und legte ihn in die mit duftendem Wasser gefüllte Wanne, wo sie ihn vorsichtig wusch und dann auf mehrere aufeinandergelegte Badetücher bettete. Der Portier würde sie vor neun nicht behelligen, bevor die diskreten Reinigungskräfte die Zimmer säubern würden, bis dahin würde sie mit dem schlafenden durch den diskreten Ausgang zu den Tiefgaragen verschwinden. Sie wartete noch einige Minuten. Ja, da wachte er auf. Es dauerte also doch nicht wie vor dem Mitternachtsdiamanten einen vollen Sonnentag, sondern nur fünf Stunden wie bei einem normalen Schlaf. Als Renato unter leisem Quängeln die Vollendung der Verwandlung überstanden hatte, wachte er auf. "Merda che incubo!" Stöhnte er. Lamia grinste und erwiderte in akzentfreiem Italienisch, daß er keinen Alptraum erlebt habe, sondern seine Wiedergeburt. Da wurde ihm klar, was passiert war. Sie hörte seine Gedanken. Er gehörte nun zu ihrer Art. So sprach sie nun in Gedanken zu ihm, wobei sie ihn mit ihrem magischen Blick fixierte: "Ich habe dich erwählt und dir die Ehre erwiesen, dich als einen meiner Söhne, als wichtigen Bürger Nocturnias, in die Welt zurückkehren zu lassen. Wir haben viel zu besprechen, bevor wir dieses gastliche Haus verlassen müssen." Dann verriet sie ihm ihren Plan, wobei sie immer wieder in eingeübter Weise befahl, daß er sich ihr zu fügen habe, daß er ihr unterworfen sei und er nur das tun dürfe, was sie ihm erlaube. Dann war es auch schon acht Uhr. Lamia unterwies Renato im Gebrauch einer Solexfolie, die sie anhand seiner Körpermaße ausgewählt hatte und gebot ihm, auch die Kontaktlinsen einzusetzen, um die Sonnenstrahlung von seinen Augen abzuhalten. Für gewöhnliche Menschen waren diese völlig Lichtundurchlässig. Nur ein Promill Sonnenlicht durchdrang sie. Dabei wurden jedoch alle für ihre Art schädlichen Ultraviolettanteile ausgefiltert. Derartig gegen das feindliche Tagesgestirn gewappnet verließen Lamia und ihr frischblütiger Zögling das Zimmer des Nobelbordells und verschwanden durch das Treppenhaus in die Tiefgarage. Die Zimmerschlüsselkarte hatte die Vampirkönigin in eine Art Briefschlitz geworfen, damit sie unten beim Portier wieder herauskam. Dieser würde nur denken, daß Tino Valentino, wie sich Renato hier nannte, eine erfüllte, lange und anstrengende Nacht verbracht hatte.

Im Schutze der Folien und sonnenschutzkontaktlinsen fuhren die beiden Vampire mit Renatos Yagura davon. Renato rief über sein Mobiltelefon bei seinem Großvater an und sagte, daß er seine Prüfungen bestanden habe und nun nach Hause kommen würde. Er wäre am Abend Chicagoer Zeitbei ihm. Es könnte aber sehr spät werden, daher möge man ihm kein Abendessen anbieten. Er bekam von seinem Großvater die Antwort, daß Enrico ihn am Flughafen abholen würde.

"Sieh zu, daß du mit ihm alleine in diesem unabhörbaren Zimmer bist, von dem du mir erzählt hast!" Dachte ihm Lamia zu. "Dann ruf mich!" Sie ließ sich noch bis zur Autobahnabfahrt mitnehmen. Dann verschwand sie ohne die Tür zu benutzen aus dem Auto. Für Renato war es schon erstaunlich, daß sie das konnte. Doch sie war die Königin, Vampirin und Hexe in einer Person. Er fuhr nach Oxford, wo er seinen Wagen in die hauseigene Garage fuhr und sicher verschloß.

Er schaffte es, die Leibwächter im Glauben zu halten, daß er sein bisheriges Leben weiterführte, als sei nichts passiert. Dann kam der Tag der Abreise. Mit einem Taxi ließ er sich zum nächsten Internationalen Flughafen bringen, von wo aus er einen Flug über New York nach Chicago antrat. Lamias erster Schritt in die Reihen der ehrenwerten Gesellschaft war getan.

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Rodrigo hatte nichts von einem Brand in der Casa del Sol gelesen. Das ließ bei ihm sofort höchste Alarmbereitschaft aufkommen. Entweder hatte Pancho versagt, oder man hatte ihn erwischt, bevor er das Hurenhaus des schwarzen Engels im Höllenfeuer verbrennen konnte. Der Bürger Nocturnias wußte, daß Pancho ihn identifizieren konnte. So half ihm nur das schnelle Untertauchen. Doch als er im Schutz einer Solexfolie sein Quartier verlassen wollte, stellte sich ihm eine schwarzhaarige Frau von überragender Schönheit in den Weg.

"Nicht schnell genug, Blutschlürfer. Oh, netten Überzug hast du an", schnarrte sie und griff zu. Rodrigo fühlte die Aura der Gnadenlosigkeit und Überlegenheit, der Gier und der Entschlossenheit auf sich einwirken. Er versuchte, die Fremde mit einem Handkantenschlag zu treffen. Ein Mensch wäre bei diesem Schlag sicher tot umgefallen, so heftig hieb er zu. Doch die fremde fing seinen Schlag ab und drehte ihm den Arm um. Sie war mindestens so stark wie er.

"Ich werde dich lehren, in meinem Revier zu wüten wie ein tollwütiger Wolf, Blutegel! Langsam habe ich von eurem Rattenpack die Nase voll."

"Du wirst mich nicht töten. Nocturnia wird dich vernichten, schwarzhaarige Schlampe! Oder soll jeder wissen, wer der schwarze Engel ist?" Versuchte es Rodrigo mit Frechheit.

"Die die es ahnen hüten sich, mir dumm zu kommen. Und die die es erfahren haben sind tot. Das du noch lebst, nachdem du mir diesen kleinen Brandstifter geschickt hast liegt nur an zwei sachen: Ich will wissen, ob du im eigenen Auftrag gehandelt hast und wenn nicht, wo der oder die sitzt, für den du deinen angebissenen Hals riskierst."

"Sie werden dich vernichten. Ihr seid nicht unbesiegbar!" Rief Rodrigo. Da griff die Widersacherin ihm ans linke ohr, nahm etwas zwischen ihre Fingerspitzen und zog daran. Es ratschte. Unvermittelt fühlte er es glutheiß und wie immer stärkere elektrische Schläge am Ohr brennen. Er schrie und verlor vor Schmerzen jede Kontrolle über seine Kräfte. Die Abgrundstochter rammte ihm einen Knebel in den Mund und legte ihm die Hand auf den Kopf. Da meinte Rodrigo, etwas eiskaltes würde in seinen Kopf hineinstürzen. Der Schmerz der Verbrennung verging wieder. Doch dafür fühlte er sich so, als stecke er von Kopf bis Fuß in einem dicken Eisblock. Er erstarrte. Doch er bekam durch einen dunklen Schleier vor den Augen mit, wie seine Widersacherin ihn auf ihre Schultern lud und in das abgedunkelte Haus zurücktrug. Sie ließ ihn mitten im Raum stehen. Er fühlte, wie ihre Aura erlosch. Sie war verschwunden. Doch er stand da, steif und unbeweglich. Wer ihn jetzt hätte sehen können hätte eine Skulptur aus pechschwarzem Eis gesehen, auf der sich nun langsam glitzernder Reif bildete. Er blieb jedoch nicht lange an diesem Ort. Seine Gegnerin kam zurück und legte ihn in eine lichtdichte Metallkiste. Diese zog sie auf einem kleinen Wagen in die Garage, wo der Vampir einen Mercedes geparkt hatte. Sie lud den in einen Eisblock verwandelten in den Kofferraum um und fuhr mit dem Wagen davon. Denn mit einem fremdmagisch aufgeladenen Wesen konnte sie nicht den schnellen Weg gehen. Doch das brauchte sie auch nicht. Sie schaffte ihn in eine Höhle bei Sevilla, wo sie die Vereisung auftauen ließ. "Ich hätte dich auch restlos zerschmelzen können, Kleiner. Aber das kommt vielleicht noch", erwiderte Itoluhila, die Tochter des schwarzen Wassers und Beschützerin der freischaffenden Dirnen von Sevilla und Granada. "Ich will wissen, wer dich erzeugt hat und ob es wahr ist, daß Nyx nicht mehr existiert." Rodrigo versuchte, sich dagegen zu wehren. Doch die Magie der Abgrundstochter überwand jeden Widerstand. Sie horchte ihn mit ihren Geisteskräften aus und erfuhr, daß es eine neue Königin gab, die sich als Erbin von Nyx verstand und offenbar auch als Vampirin zaubern konnte. In ihrem Auftrag hatte Rodrigo ihr, dem Schwarzen Engel, einen empfindlichen Schlag versetzen sollen.

"Pech für euch, daß der Portier in der Casa del Sol mein sehr hingebungsvoller Gesellschafter ist", säuselte sie. "Der kannte deinen Feuerteufel und hat mich in Gedanken gerufen, um den zu überwachen. Er hat mir sehr gerne verraten, für wen er gearbeitet hat und wie deine Menschenweltorganisation aussieht. Sie wird dich keine zwei Tage überleben. Dein schäbiger Blutegelkörper wird mir helfen, mein Revier gegen diese Lamia und Deinesgleichen zu sichern. Nocturnia ist eine Frechheit, die meine Schwester und ich nicht dulden werden. Das werdet ihr erleben."

Als sie Rodrigo alles Wissen entrissen hatte, versetzte sie ihn wieder in diese vereisende Starre. Dann ergriff sie ein Beil mit rasiermesserscharfem Blatt und begann, von den Händen, Füßen, Armen und Beinen gleichgroße Stücke abzutrennen. Rodrigo fühlte jeden Schlag durch seinen Körper gehen. Doch er konnte nicht schreien. Er empfand es so, als hätte er alle seine Körperteile noch. Auch als die Hiebe des Beils kreuz und quer durch den erstarrten Körper geführt wurden, meinte er noch, er sei nur von schmerzhaften Durchdringungen betroffen worden aber ansonsten noch zusammen. Dann trennte ihm das Beil den Kopf vom Rumpf. Er fühlte, wie ihn etwas in die Länge zu ziehen schien. Doch in Wirklichkeit trug Itoluhila den abgetrennten Kopf zu einer lichtdichten Kiste hin und legte ihn hinein. Den zerstückelten Körper des zu Eis erstarrten Vampirs legte sie in eine andere, größere Kiste und verschloß diese. Dann verschwand sie.

Rodrigo sah nur die Dunkelheit um sich herum. Dunkelheit, die er nicht durchblicken konnte. Erst am Abend hörte er die Fremde wiederkehren und fühlte die von ihr ausgehende Aura. Sie lud die beiden Kisten in einen dunklen Lieferwagen und fuhr mit diesem los. Ihre Strecke führte in die Nähe des Hurenviertels von Sevilla. Dort holte sie die abgehackten Hände des Vampirs aus der Kiste und legte sie so aus, daß die Finger aus dem Viertel hinauswiesen. "Sein Fleisch und Blut sei unerbeten,
und sollt' Jenes diesen Ort betreten,
so strafe es der Todesbann,
so wie dieses Fleisch und Blut zerrann!" Deklamierte Itoluhila einen Zauberspruch, den sie sich am Nachmittag ausgedacht hatte. Dann hielt sie die Hände über die abgetrennten Körperteile, die sofort auftauten. Rötlich floß eine Flüssigkeit aus den Stücken Kunststofffolie, die wie Handschuhe aussahen und versickerte dampfend im Erdboden. Vom Lieferwagen her hörte sie Rodrigos mentalen Schmerzensschrei. Er fühlte, wie seine Hände zersetzt wurden. Doch sie kannte keine Gnade. Sie fuhr zu einem anderen Zugang in das Viertel, scheuchte einen dort lauernden Polizisten mit ihrem magischen Blick fort und wiederholte das Bann- und Zersetzungsritual mit den nach außen weisenden Füßen des Blutsaugers. So vollführte sie das Ritual an allen ihr bekannten Zugängen zum Rotlichtviertel. Es kostete sie die Kraft von vier aufgenommenen Menschenleben. Doch sie war entschlossen, ihren Bann gegen Rodrigos Verwandtschaft zu verstärken. So fuhr sie alle Orte ab, die unter ihrem Schutz standen. Am Ende gelangte sie nach Granada, wo sie die dortigen Freudenhäuser mit Körperteilen Rodrigos beehrte, die nach dem Ritual restlos verflüssigt im Boden versickerten und damit einen Teil seiner Lebenskraft und ihrer Magie auf den Boden übertrugen. Am Ende blieb nur der abgetrennte Kopf, aus dem ein gedankliches Wimmern erklang.

""Ich werde jetzt über deinen Geist mit deiner Königin Kontakt aufnehmen. Der Rest deines Leibes wird mir dabei helfen", sagte sie und nahm den eiskalten Kopf in ihre Hände. Rodrigo fühlte, wie etwas ihn durchpulste und hörte sich selbst in Gedanken nach Königin Lamia rufen. Doch die mentalen Rufe blieben ungehört. Itoluhila wurde wütend. Sie wußte, daß es ein Hauptquartier dieser Nocturnia-Brut gab. Doch Rodrigo hatte keine Ahnung wo es lag. Sollte sie nun nach einem anderen Vampir suchen? Nein, sie würde den vereisten Kopf solange behalten, bis sie Kontakt mit dieser Königin Lamia bekam, um ihr über den Geist des gebannten Vampirs ihre eigene vereisungsmagie auf den Hals zu jagen. Sie wußte, daß Vampire in einen totenähnlichen Überdauerungsschlaf verfallen konnten, ähnlich wie sie selbst. Nur wurden sie dabei nicht halbstofflich, sondern lagen da wie echte Leichen. In diesem Zustand waren sie angreifbar. Nur die Nähe frischen Blutes vermochte sie zu wecken, wenn es nicht gerade heller Tag war. So blieb ihr nur übrig, den Kopf des Vampirs in die kleine Kiste zurückzulegen. Das dunkle Eis war ohne Magie untaubar. Einen Moment hatte sie daran gedacht, den Kopf in einem großen Trinkbehälter zerfließen zu lassen und die so entstehende Flüssigkeit mit der daran haftenden Seele des Blutsaugers in sich aufzunehmen. Doch bei dieser Vorstellung wurde ihr speiübel. Nein, sie würde dieses Geschöpf nicht zu ihrer Lebenskraft werden lassen. Das hatte er gar nicht verdient. Allerdings mußte sie nun in ihr eigentliches Versteck zurück und neue Lebensessenz in sich aufnehmen. Zumindest würde Lamias Vampirbrut sich nicht mehr in ihr Revier verirren.

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"Das ist kein Grund uns zu freuen", fauchte Lunera. Wenn dieser Rodrigo verschwunden ist kann der jederzeit wieder auftauchen."

"Der kommt nicht mehr wieder, Lunera", frohlockte ein dünner Mann mit schwarzer Igelfrisur und dito Ziegenbart. "Wenn ich die Zeugen richtig verstanden habe wollte der ganz schnell aus seinem Haus raus. Da ist dem so'n supertoll aussehendes Weib in den Weg gelaufen, hat mit ihm erst gequatscht, dann gekämpft. Dabei hat sie ihm, so mein Informant vor Ort, ein halbes Ohrläppchen abgerissen. Da hat der geschrien. Dann hat die was gemacht, daß er sich in eine schwarze Statue verwandelt hat. Die hat ihn dann aufgeladen und ist mit ihm in sein abgedunkeltes Haus zurückgekehrt. Ich habe hier die Beschreibung der Frau." Damit holte der dünne Mann mehrere Papierblätter aus seiner Jeansjacke und entfaltete diese. Lunera stand mit bleichem Gesicht da. Ihr schwante, wem der Vampir begegnet war. "Wie weit war dein Informant von der Sache weg?" Fragte sie schnell.

"Der hat das ganze mit seinem Fernrohr aus einem Kilometer aus seinem Haus heraus beobachtet, weil du gesagt hast, daß die Blutschlürfer vielleicht merken, wer in der Nähe ist", erwiderte der Dünne. Lunera hörte es jedoch nur schwach. Denn ihre Gedanken waren von der Zeichnung in Anspruch genommen. Da sah sie die schwarzhaarige Frau mit wasserblauen Augen und einer braunen Hauttönung, nicht ganz genau so, wie sie sie in Espinados Burg getroffen hatte. Doch sie mußte es sein. Nur sie konnte sowas tun.

"Sage deinem IVO, der soll zusehen, fortzukommen, bevor die Frau ihn auch noch in Eis verwandelt!" Befahl Lunera.

"Was meinst du, wie schnell der verschwunden ist, als er sah, wie dieses Weib den Blutschlürfer erledigt hat. Jedenfalls sind wir den jetzt los. Ähm, der konte über Richtmikro noch was von einem schwarzen Engel hören, den Rodrigo erwähnt hat. Das ist der Name eines berüchtigten Zuhälters oder Hurenpaten oder wie immer, der viele Mädchen in Sevilla betreut und vor anderen Kerlen beschützt. Den hat noch keiner gesehen oder besser, keiner der noch lebt hat ihn bisher gesehen."

"Klar, weil dieser schwarze Engel eine Frau ist, besser, eine ganz gefährliche Kreatur, eine Dämonin, die verdammt starke Zauberkräfte hat. Espinado sollte sie für diesen Spinner Voldemort versklaven. Ist aber nicht gegangen, weil die zu stark ist. Er hat erzählt, die ernährt sich von Lebensenergie, wenn sie Sex hat."

"Oh, ein Succubus? O großer Mond hüte uns! Dann hätten wir ja noch eine Feindin im Nacken", seufzte der dünne Mann.

"Sie hat mich damals laufen lassen, weil ich ihr offenbar zu wertlos war. Sie wollte Espinado und Hirudazo", zähneknirschte Lunera. "Besser ist es, wenn wir ihr auch weiterhin das Gefühl geben, wir seien ihr nicht gefährlich genug. Wenn die Rodrigo abgefertigt hat dann wohl, weil er ihr dumm kam. Den Fehler sollten wir nicht machen."

"Diese Biester tauchen in alten Legenden auf. Die machen Männer durch Liebemachen alle oder führen die wie niedere Hunde an einer magischen Leine herum", seufzte der dünne Mann. "Okay, ich schick dem Informanten eine SMS, er soll in der Gegend nicht mehr auftauchen. Besser wir halten uns von den Dirnen fern. Könnte sein, daß die da selbst gerne zwischensteht, um so an ihr Futter zu kommen."

"Ja, aber über Rodrigo wissen wir nicht mehr, wenn wir sein Haus in Ruhe lassen", sagte Lunera. "Aber womöglich suchen die Zauberstabträger da schon nach Hinweisen, wenn dieses Höllenbiest wirklich mit ihrer ganzen Zauberei da rumgemacht hat."

"Jedenfalls haben wir einen Blutschlürfer weniger", sagte der dünne Mann.

"Ich denke, die haben in Spanien was ausgeheckt. Ich habe vor zwei Tagen einen Anruf aus Orléans bekommen, wo François Garout wohnt, seitdem seine Verwandtschaft umgebracht wurde. Die in Frankreich haben Probleme mit einem kleinen Nest in den Pyrenäen gehabt, in dem Vampire aufgetaucht sind. Das ganze Dorf wurde zu Blutschlürfern. Das können die in Spanien auch anstellen."

"Hast du noch Kontakt zu den Greybackianern?" Fragte der Dünne.

"Ich habe nach der Wiederentdeckung des LNT Kontakt mit der Bruderschaft der wahren Stärke aufgenommen, die Greyback gegründet hat. Die müssen sich verstecken, weil die Engländer mit Fangkommandos hinter Leuten wie denen herjagen. Die fragen nicht mehr groß. Die haben eine Liste. Dieser verdammte Mondverräter Lupin hat denen eine Liste gegeben, bevor er und Greyback beim letzten Kampf von Voldemort umgebracht wurden. Ich treffe mich in einer Woche mit denen, wenn die im Ministerium da weniger aufgescheucht sind."

"Okay, dann texte ich mein Auge und Ohr in Sevilla an und geb dem durch, daß wir dieser Höllenschickse aus dem Weg bleiben sollen."

"Es sei denn, er möchte nicht mehr leben", bekräftigte Lunera. Dann bedankte sie sich bei ihrem Verbindungsbruder nach Südspanien und fuhr mit dem von Gato "Geerbten" Mercedes davon.

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Basis Winternacht war die größte Errungenschaft, die Nyx aus beiden Menschenwelten zusammengefügt hatte. Die kleine Station war über Computertricksereien ihrer wissenschaftlich kundigen Nachtkinder als legitime, große Forschungsbasis eines multinationalen Institutes für Erdgeschichte und Wetterkunde entstanden. Offiziell lief die Station, die zehn Kilometer nördlich des Südpols in einen einhundert Meter hohen Bergrücken gebaut war unter Camp Brody. Nyx hatte bereits vor der Errichtung des Nocturnia-Netzwerkes erkannt, daß es sehr sinnvoll war, eine feste Einsatzbasis zu unterhalten, über die auch auf das Internet zugegriffen werden konnte. Fünf von ihr eingebürgerte Wissenschaftler betrieben nach außen hin reguläre Beobachtungen und Messungen und gaben diese gegen Bezahlung an interessierte Forschungseinrichtungen oder Wetterbehörden weltweit heraus. Daß innerhalb des Hügels ganz andere Aktivitäten stattfanden bekam nur mit, wer das Glück oder Pech hatte, Bürger Nocturnias zu werden oder eindeutig das Pech hatte, als für den Rest der Welt unauffälliges Blutvieh in den unterirdischen Kerkern gefangengesetzt zu werden. In einen dieser ganz geheimen "Ställe" ging Lamia gerade. Blutrotes Licht erleuchtete die fünf Reihen dreistöckiger Betten. In jedem dieser Kojen lag ein Mensch. Meistens handelte es sich um einen Obdachlosen, der von Nyxes Leuten irgendwo in den ärmeren Ländern der Welt von der Straße weggefangen wurde. So fanden sich allein in dieser Unterbringungshöhle auch mehrere Dutzend Straßenkinder aus den Elendsviertel südamerikanischer Riesenstädte. Sie alle waren über angeschlossene Schläuche mit einem Blutumwälzsystem verbunden, das für die Erzeugung des Neubürgerpulvers verwendet wurde. Nyx hatte damals auf der Grundlage Elvira Vierbeins Vorrichtungen installieren lassen, an die sie selbst sich anschließen konnte, um von außen Blut zu erhalten und ihr dadurch aufgefrischtes Vampirblut abzugeben, aus dem das Neubürgerpulver hergestellt wurde. Jetzt, wo Lamia nicht mehr auf den Mitternachtsdiamanten als Potentialverstärker setzen konnte, hatte sie mit der Vereinigung von Biochemie und magischer Alchemie ergründet, wie sie noch vorrätiges Pulver als Ausgangs- und Einleitungsmaterial für eine energiearme Vervielfältigung des bewährten Pulvers heranziehen konnte. Es war ihr gelungen, das Pulver in einer katalytischen Reaktion zu erhalten. Dadurch konnte sie ohne Verbrauch des Originalpulvers weitere Mengen herstellen und hatte bei der Gelegenheit noch erkannt, daß in Verbindung mit einem Blutauffrischungstrank, in den ein Tropfen Einhornblut eingefügt wurde, eine geringere Menge des Pulvers nötig war, um Menschen in Nachtkinder umzuwandeln.

Lamia beäugte die hier zum Zweck der Nahrungs- und Grundmaterialspende gefangenen Menschen. Sie wurden gerade mit soviel Blut im Körper am Leben gehalten, daß sie in einem dauernden Dämmerzustand dahinvegetierten. Doch sie hatte deswegen kein schlechtes Gewissen. In ihrer Heimat wurden diese Leute verachtet, ja sogar von Sondertruppen der Polizei gezielt gejagt oder in Bandenkriegen verheizt. Da erfüllten sie in der Basis Winternacht, dem Hauptquartier Nocturnias, einen wesentlich nützlicheren Zweck.

"Ihr werdet mithelfen, unser großes, erhabenes Reich unbezwingbar zu machen. Diese Narren aus der Zaubererwelt werden schmerzhaft lernen, daß mich niemand aufhalten kann", wisperte sie. Einige der an die Schläuche für künstliche Ernährung und BlutGewinnung angeschlossenen wandten träge ihre Köpfe und blickten mit trüben Augen auf die Vampirin, die zwischen den Lagerstätten durchging. Eine der Vampirinnen, die nicht zur wissenschaftlich-technischen Garde gehörten versah hier einen Dienst als Pflegerin. Sie entsorgte die in Windeln gemachten Ausscheidungen, die zu Biobrennstoff umgewandelt und verheizt wurden. Sie sah Lamia, die sie noch von ihrer früheren Identität her kannte und verbeugte sich.

"Zwei von den alten Männern können wir nicht länger als bis zum zwanzigsten Juli am Leben halten, Mylady. Wir brauchen jüngere Spender."

"Dafür wird schon gesorgt. Als meine Vorgängerin nach neuen Anhängern in Südamerika suchte, hat sie gleich entsprechende Lieferwege eingerichtet, Mondenweiß", sagte Lamia. Die Pflegerin, die in Anlehnung an eine Vieh versorgende Hilfskraft auch als Magd bezeichnet werden konnte, nickte und ging ihrer schmutzigen, doch notwendigen Tätigkeit nach.

"Mylady, wir kriegen vielleicht Ärger. Morgen will ein Inspektor der UN unsere Forschungseinrichtung besuchen, um zu befinden, ob wir hier ethisch und umweltverträglich einwandfreie Forschung betreiben", hörte Lamia Arnold Vierbeins Stimme in ihrem Kopf. Er hatte am Meisten mit der Neuordnung in der Führung zu kämpfen gehabt und würde bei der ersten Gelegenheit versuchen, die alten Verhältnisse wieder herzustellen. Er arbeitete hier unter dem Namen Albert Propst als Mikrobiologe, der im Permafrost erstarrte Bakterien erforschte. Wenn er öffentlich auftrat mußte er eine aus Solexfolie gefertigte Maske tragen. Denn sein Gesicht war bestimmt noch beim FBI und damit allen Polizeiorganisationen gespeichert.

"Wer ist dieser Inspektor?" Fragte Lamia auf rein gedanklichem Weg zurück.

"Ein Professor Hinrichs aus Kiel, der hauptberuflich für GEOMAR arbeitet."

"Ruf mir die Daten über diesen Mann ab und gib mir vor allem Bilder von den Orten, an denen er zu finden ist!" Schickte Lamia zurück. Wo sollte das Problem sein, wenn dieser Inspektor kam?

Wenige Minuten später hatte sie die ersten Informationen. Sie ließ die für die Menschenwelt nicht bestimmten Bereiche der Anlage sicher verschließen und bewachen. Doch wenn sie diesen Professor Hinrichs in die Reihen ihrer Mitbürger holte ... Nein, das ging ganz einfach. Der Kerl kam her, bekam einen Gedächtniszauber verpaßt, die Anlage gründlich erforscht zu haben und fertig. Wenn er Bilder machen wollte konnte man ihm genug Fotos der Meßstation, der Computerzentrale, den vier Windrädern und den ausgebrachten Erderschütterungssensoren überlassen. Zumindest war die Vorlaufzeit lange genug.

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Die Inspektion durch Hinrichs war glücklich überstanden. Lamia lag seit zwei Tagen in der Blutumwälzungsvorrichtung. Arnold Vierbein und die anderen wissenschaftlich ausgebildeten Vampire reisten bei Tag mit Solexfolien und Ortungsschutzarmbändern ausgerüstet durch Europa und suchten die kleinen Ortschaften aus, die mit dem Neueinbürgerungspulver beehrt werden sollten.

Früher hieß er Peter Lloyd und war Ingenieur in einem Kohlekraftwerk gewesen. Jetzt hieß er Schattenfuß und diente Nocturnia mit seinen Kenntnissen. Die Solexfolie und ein Armband, daß seine eigene Ausstrahlung absorbierte und damit unortbar machte, schützten ihn, als er am 24. Juni in die Nähe des Dorfes gelangte. Er war auf der Hut vor argwöhnischen Dörflern und neugierigen Kindern, als er prüfte, wo genau er seine fünf Kilo Neueinbürgerungspulver unterbringen sollte. Jeder größere Hof besaß einen eigenen Brunnen. Es gab keinen Anschluß an das Trinkwassernetz. So müßte er jeden einzelnen Hof beehren. Doch dann fiel ihm auf, daß viele der Dorfbewohner abends in Pub zum blökenden Hammel einkehrten, um sich gegenseitig die neusten Sachen von den heimatlichen Höfen zu erzählen. Bauern und Knechte zechten hier, während die Bäuerinnen und Mägde ihren Tratsch auf dem Marktplatz austauschten. Als es nacht wurde schlich Schattenfuß gemäß seinem Namen lautlos wie ein Schatten zum Marktbrunnen, wo er bereits ein Drittel seines Mitbringsels versenkte. Dann suchte er die Schenke auf. Durch die Vordertür ging es nicht ohne Gewalt. Aber er konnte durch den Kamin einsteigen, wie es dem Weihnachtsmann nachgesagt wurde. So gelangte er in den Gastraum und machte sich immer noch so leise, daß kein gewöhnliches Menschenohr ihn hören konnte an den großen Stahlbehältern zu schaffen, in denen die Fruchtsäfte gelagert wurden. Außerdem drehte er vorsichtig die Sodawasserflaschen auf und füllte in jede einiges der Substanz ein. Dies führte jedoch dazu, daß die im Wasser enthaltene Kohlensäure zischend und prickelnd austrat und dabei das Wasser zu verspritzen drohte. So war es nicht verwunderlich, daß Schattenfuß gehört wurde. Doch der Vampir hörte den Besitzer des Pubs schon so früh, daß er sich in Ruhe in einer dunklen Ecke verstecken konnte. Als Paul Walker, der Besitzer des blökenden Hammels, in die Schankstube kam und gerade licht machen wollte, fiel ihn Schattenfuß an. Sein Auftrag war klar: Keine Einbürgerung. Wenn er Blut brauchte mußte er sein Opfer töten und verschwinden lassen. Doch er brauchte diesen Mann lebend. So blickte er Walker an, der von der plötzlichen Attacke überrascht war und keinen Hilferuf ausstoßen konnte. Unter der Macht des magischen Blickes zwang Schattenfuß Walker die Vorstellung ins Hirn, er habe nur geträumt und solle nun weiterschlafen. Wie in Trance ging Walker in sein Schlafzimmer zurück und legte sich hin. Schattenfuß präparierte die Flaschen weiter mit dem Pulver, bis er den Vorrat verbraucht hatte. Dann räumte er alles so auf, daß niemand einen unbefugten Eindringling vermuten mochte und zwengte sich durch den Kamin zurück nach draußen. Dabei verlor er jedoch das Unortbarkeitsarmband. Er merkte es erst, als er schon zweihundert Meter vom Pub entfernt war. Ihm fiel ein, daß Lamia ihn eindringlich gewarnt hatte, dieses Band nicht zu verlieren, weil er dann von bestimmten Aufspürgeräten erfaßt werden konnte. Er mußte es sich wiederholen. So lief er so leise er konnte zurück zum Pub.

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Tessa Highdale gehörte zur Abteilung für die Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe. Sie war zweiunddreißig Jahre alt und war froh, daß sie trotz des schlimmen Unfalls vor fünf Jahren immer noch im Ministerium arbeiten durfte, sogar im dunklen Jahr der Todesser. Das hatte sie nur hinbekommen, weil der Unfall, ein Zusammenstoß mit dem in seiner Wergestalt herumlaufenden Fenrir Greyback, ihr eine Möglichkeit geboten hatte, sich als Greybacks Sympathisantin und Ohren im Ministerium anzubiedern. Das hatte sie auch nur überstanden, weil sie nicht Greybacks Typ Frau war und weil sie außer für das Ministerium noch für jemanden andren tätig war, für eine ältere Dame namens Sophia Whitesand. Diese hatte ihr trotz der zu spät bekanntgewordenen Erkrankung mit Lykanthropie angeboten, ihr zu helfen, in der magischen Welt weiterarbeiten zu können. Die dunkelblonde Hexe mit den scheinbar kindlich naiv blickenden blaßblauen Augen war im Ministerium beliebt und trotz der allen bekannten Erkrankung, die sie einmal im Monat aussetzen ließ, eine gerne gesehene Kollegin. Allerdings hatte ihre Lykanthropie den unangenehmen Nachteil, daß kein mann was mit ihr zu tun haben wollte, was außerhalb der Arbeit möglich war. Viele fürchteten, von ihr ganz unbeabsichtigt zerfleischt oder auch nur gebissen zu werden. Andere dachten wohl, daß eine Werwölfin ihren eingepflanzten Fluch an ihre Kinder weitervererbte. So ganz abstreiten konnte sie das leider nicht. Mittlerweile wußte sie, daß männliche Lykanthropen gesunde Kinder zeugen konnten, wenngleich der Sohn des heldenhaft gefallenen Remus Lupin ein Sonderfall war. Das lag aber an seiner ebenfalls bei der Schlacht von Hogwarts gefallenen Mutter, einer Metamorphmaga.

"Tessa, übernehmen Sie die Vampirzentrale heute nacht?" Fragte ihr Chef Amos Diggory sie am Abend des 24. Juni.

"Heute geht noch, Chef. Morgen habe ich wieder meinen freien Abend."

"Haben Sie dafür noch genug zu Trinken zu Hause?" Fragte Diggory.

"Ich habe vor zwei Wochen von Madam Bitterling schon eine Frischhaltekanne voll von meinem Mondnachttee bekommen. Kein Problem."

"Ich würde sie ungerne verlieren, wenn Sie uns verdursten", sagte Amos Diggory. Tessa lachte.

"Was den Tee angeht kenne ich einige Leute, die wissen, wie man da drankommt", sagte sie beruhigend. Amos Diggory nickte. Dann verfiel er in eine gewisse Trübseligkeit.

"Ich möchte gerne heute zwei Stunden früher heim. Minister Shacklebolt hat das schon genehmigt. Meine Frau und ich möchten den Abend würdigen."

"Natürlich, Sir", sagte Tessa. Sie wußte, daß der 24. Juni der wohl schmerzhafteste Tag in Diggorys Leben war. Heute vor vier Jahren war Amos' Sohn Cedric von einem Handlanger des Unnennbaren getötet worden, als dieser und Harry Potter mit dem zum Portschlüssel verzauberten Pokal zu ihm, der nicht mit Namen genannt werden durfte, entführt wurden. Viele hatten Harry Potter unterstellt, Cedric getötet zu haben, um sich den Gewinn des trimagischen Turniers zu erschleichen. Doch weil Harry Cedrics Leiche zurückgebracht hatte waren diese Stimmen rasch verstummt. Allerdings hatten nur wenige geglaubt, das Cedric von Leuten des Unnennbaren umgebracht worden war. Die Folgen dieses Unglaubens waren schrecklich gewesen. Um so schrecklicher mußte sich Mr. Diggory fühlen, wenn er bedachte, daß sein Sohn das erste Opfer des wiedergekehrten dunklen Lords geworden war, und das nur, weil er diesem über den Weg gelaufen war.

"Seitdem uns die Yankees erzählt haben, diese Nyx sei erledigt haben wir hier in England keine Probleme mehr mit Vampiren gehabt", sagte Tessa noch, um durch ein Arbeitsthema von der dunklen Erinnerung abzulenken.

"Ich traue dem Braten nicht, Tessa. Seitdem das mit Cedric passiert ist bin ich was endgültige Siege angeht etwas zurückhaltender. Die Yankees haben uns keine Leiche gezeigt und auch nicht den Stein vorgelegt, mit dem sie ihre Leute kontrolliert hat. Außerdem haben die damals auch dichtgehalten, als die bei uns aufgeweckte Abgrundstochter sich bei denen eingenistet und diesen bedauerlichen Muggel zum Hurenmörder gemacht hat", grummelte Diggory. Dann nickte er seiner Mitarbeiterin zu und bedankte sich für die spontane Einsatzbereitschaft.

Tessa bezog Posten in der Vampirüberwachungszentrale. Diese lag neben dem Werwolfregistrierungsbüro, in dem sie ja hinlänglich gut bekannt war. Außer ihr war da noch Randolph Murray, ein halbmuggelstämmiger Zauberer, mit dem sie sich oft über diesen besenlosen Einballsport Fußball unterhielt.

"Der Mond ist noch nicht ganz voll und doch schon so hell", sagte Murray. Der Zauberer mit dem dunkelbraunen Haar und den veilchenblauen Augen gefiel Tessa. Doch weil sie ihm keine Angst machen wollte behielt sie es für sich. So sagte sie ganz kühl:

"Ich merk's, daß mich das schon wachhält. Aber so richtig voll ist der Mond eben doch noch nicht."

"Sanguinis großer Gönner hat uns eine Anfrage geschickt, warum wir keine Hellmondler einstellen, um Dunkelmondler und versprengte Nocturnianer zu finden."

"Ich hab's in einem Memo gelesen, das Worple ein Vampirkoexistenzbüro im Zaubereiministerium fordert. Was Werwölfen und Geistern recht sei sollte Vampiren billig sein. Als wenn da kein himmelweiter Unterschied bestehe."

"Das sind die Idealisten", grummelte Randolph Murray. "Der gute Mr. Worple vergißt bei seiner ganzen Vampyrophilie nähmlich, daß die meisten Vampire vom Mitternachtsdiamanten unterworfen werden konnten und daß sie Menschen eher als bessere Futterquellen als als achtendswerte Wesen ansehen, egal ob Hel- oder Dunkelmondler. Da seid ihr ... ähm, da sind die Lykanthropen schon besser kultiviert, und die sehen ihr Leben auch nicht als große Erfüllung."

"Von Greyback und ein paar Spinnern in Frankreich und Spanien ganz abgesehen", sagte Tessa Highdale. Dabei verschwieg sie, daß sie immer noch Kontakt mit den Greybackianern hielt, um deren Aktionen zu überwachen.

"Das ist zwar nicht mein Büro, wo das besprochen werden muß, aber stimmt es, daß diese Gruppe um Espinado sich wieder gemeldet hat? Ich meine, die hätten ja auch guten Grund, Nocturnia zu bekämpfen."

"Mit meinem Spanisch kann ich gerade mal zwischen einer Paella und einem Nachttopf unterscheiden", lachte Tessa. Murray wußte aber, daß sie die Sprache gut konnte und lachte. Dann deutete er auf den Einsatzplan der VOPs, der Vampirobservationspatrouillen.

"Die unddie und der da alle da, wo sie keinem was tun können", sagte Murray und deutete auf Markierungen, die Standorte georteter Vampire zeigten. Allerdings war die mit nur zehn Vampirspürgurken aus Amerika nicht so ganz exakt zu bestimmen.

"Hoffentlich ist morgen nicht wieder ein neues Kontrollband fällig", sagte Tessa.

"Komm, hör auf, wenn du diesen Muggeljungen nicht gefunden hättest hätte der wohl vor einem Monat seine Eltern zerfleddert oder die Familie komplett gemacht", sagte Randolph. Tessa fühlte die Angst, die ihn überkam, daß doch irgendwann ein Muggel von einem Werwolf gebissen wurde und dann seine Großeltern und Verwandten väterlicherseits anfiel.

"Reden wir doch besser über was anderes. Wie steht es in der ersten Liga?" Mit Fußball konnte Tessa ihren Kollegen immer auf fröhliche Gedanken bringen. Als fan Von Manchester United hatte er dieses Jahr ein höchst glückseliges Erlebnis gehabt. Seine Mannschaft hatte den Pokal der Liga der Champions gewonnen, und das gegen den mit Superstars besetzten Verein aus München. So ging es um die erste Fußballliga, Vorbereitungen auf die Europameisterschaft im nächsten Jahr und das Randolph in der nächsten Saison beim Heimspiel von Manchester gegen Liverpool im Stadion sein würde.

Gegen halb eins blinkten drei rote Punkte auf. Drei Patrouillenzauberer hatten einen nicht registrierten Vampir geortet. Murray griff zu einer silbernen Glocke und läutete diese. Alle nicht zur Bewachung von Dunkelmondlern abgestellten VOPs hörten dieses Läuten in ihren kleinen Ohrringen. Es dauerte keine Minute, da stürmten sie durch die Tür in das Vampirüberwachungsbüro.

"Wo?" Rief Woodnail, einer der Patrouillenleute nur und blickte auf die Wandkarte. "Das ist in Devonshire. Haben wir schon den exakten Standort?"

"Der ist aus dem Nichts aufgetaucht", sagte Murray und deutete auf die Karte. "Das heißt, der kann apparieren."

"Oder ist unortbar gewesen", grummelte Woodnail. Dann stürmte einer der Patrouillenleute herein, der den fremden Blutsauger gemeldet hatte.

"Maple Grove, ein Dorf. Könnte ein BC-Ereignis werden, Randy. Oh, was macht'n die hier?" Fragte er auf Tessa deutend. Diese blieb ganz ruhig. Vampirjäger neigten dazu, auch Werwölfen gegenüber feindselig aufzutreten.

"Amos hat sie zu mir hingeschickt, weil Billings für ihn das Chefzimmer übernommen hat. Ihr wißt genau warum. Also fragt nicht so bescheuert! Woodnail, Lonestake und Beavers an den erfaßten Ort und aufklären! Falls Eindringling festnahme. Bei Widerstand finale Kampfunfähigkeit herstellen!" Kommandierte Murray. Dann sah er Tessa an. "Sie koordinieren die Verbindung zwischen der Gruppe und mir!" Sagte er und gab Tessa einen kleinen Würfel, der dazu diente, die Karte zu beeinflussen. Die Farben auf dem Würfel zeigten, wie das ging. Grün hieß registrierter Vampir, Weiß war kein Vampir in Ortung. Rot war unbekannter Vampir gerade geortet.

Tessa konnte die Feindseligkeit förmlich riechen, mit der die drei Vampirjäger sie betrachteten. Doch sie blieb gelassen und reiste mit ihnen an den Standort, wo der fremde Vampir geortet wurde, mit zwei silbernen Gerätschaften, die wie Salatgurken mit Anzeigern aussahen umkreisten die Jäger den Ort und stellten fest, daß der Vampir in der Nähe des Pubs war. Mit einer Kurzstreckenapparition tauchten sie vor dem Haus auf. Da kam wirklich einer schnell und leise angelaufen. Sein Gesicht war weiß wie eine Kalkwand. Er sah die vier Ministerialzauberer und machte auf dem Absatz kehrt. Woodnail warf dem flüchtenden einen Anti-Disapparierfluch über und feuerte dann einen Sonnensegenzauber an ihm vorbei. Der Vampir geriet für einen winzigen Moment in grelles Licht und schrie auf.

"So, Bursche, öhm, schön stehenbleiben und die Hände hinter den Rücken! Wir wollen wissen, wer du bist."

"Das geht euch einen feuchten Schmutz an", brüllte der gestellte Vampir und sprang los. "Aufhalten!" Rief Lonestake und zielte auf die Beine des davonrennenden. "Heliotelum!" Rief er. Ein Speer aus sonnengelbem Licht zischte durch die Luft und sauste genau zwischen den Beinen des Fliehenden hindurch. "Drachenmist!" Stieß Lonestake aus. Dann jagte er dem Vampir den Sonnensegenzauber auf den Leib. Laut schreiend erglühte der Vampir im grellen Licht. Das raubte ihm einen großen Teil seiner Kraft. Er fiel zu boden. Mit einer schnellen Apparition waren die Vampirjäger bei ihm und fesselten ihn mit heraufbeschworenen Stahlketten. Dann wollten sie ihn fragen, wer er war. Da schlugen plötzlich blaue Flammen aus dem Körper des Vampirs und verbrannten ihn wie Wachs im offenen Feuer. "Schmelzfeuer, ich glaub's bald!!" Schimpfte Woodnail. "Wer den geschickt hat hat dafür gesorgt, daß der keinen verrät."

"Das Feuer ist an allen Körperstellen zugleich ausgebrochen", knurrte Lonestake.

"Was wollte der hier? Sie hatten was von einem WC- oder BC-Fall gesagt?" Fragte Tessa.

"BC, Buffalo Creek. Das war in den Staaten, wo diese Nyx eine Kleinstadt zu ihresgleichen gemacht hat, ohne da selbst hinzumüssen", sagte Woodnail. Da gingen bei den nahebei stehenden Häusern die Türen auf. Tessa tippte den Würfel an der orangen Fläche an. Das war das Signal, daß Verstärkung aus der Vergissmichzentrale nötig war.

Eine halbe Stunde dauerte es, bis die Zauberer und Hexen aus dem Ministerium jedem Bewohner per Gedächtniszauber eingepflanzt hatten, daß ein flüchtender Verbrecher vor der Polizei in Deckung gehen wollte aber in der Nähe des Pubs gefaßt werden konnte. Dann kam die eigentliche Arbeit. Es mußten Wasserproben entnommen werden, um mögliche magische Wirkstoffe nachzuweisen. Tessa Highdale zweigte eine volle Wasserflasche aus dem Pub ab. Dort war im Kamin ein blutrotes Armband gefunden worden, in das magische Runen eingearbeitet waren. Tessa, die Runen lesen konnte erkannte, daß hier wohl ein Vampirausstrahlungsüberdeckungsartefakt vor ihr lag. Das erwähnte sie auch, als sie mit Murray die Nachbesprechung hatte.

"Super, dann hat uns Großzauberer Zufall wohl geholfen, diesen Vampir zu erwischen. Sollte der wirklich was in diesem Nest angestellt haben ... Dann könnten das auch andere. Ich schreibe Eldred Worple an, der möchte mit seinem sogenannten Blutsbruder mal herkommen. Wenn das Ding wirklich Schutz gegen die Vampirspürgeräte ist gnade uns jeder Gott der Erde."

"Dann haben wir es doch noch nicht hinter uns", seufzte Tessa.

"Ich werde das mit dem obersten Chef mal besprechen. Doch wenn ich meinem Bauchgefühl trauen darf, dann fängt diese Sache gerade erst an."

Als Tessa am nächsten Abend eine Stunde vor Mondaufgang in ihrem Haus ankam, erbat sie mentiloquistisch einen Gesprächstermin mit Sophia Whitesand. Ihre Bitte wurde erhört. So konnte sie in einer Höhle tief in einem Berg der Cousine Dumbledores einen schriftlichen Bericht und die abgezweigte Flasche Mineralwasser aushändigen.

"Dein Kollege hat sicher recht, wenn er argwöhnt, daß das Kapitel Nocturnia noch nicht beendet ist, Schwester Tessa", sagte Sophia. "Ich gebe etwas davon an Schwester Ceridwen weiter. Hoffentlich irren wir uns alle."

"Ceridwen ist noch im Lande?" Fragte Tessa.

"Ja, sie ist noch da. Wieso, geht dir der Trank aus?" Fragte Sophia besorgt.

"Nein, den kriege ich offiziell und reichlich", sagte Tessa Highdale. "Ich meinte nur, daß die doch nach Frankreich zur Weltmeisterschaft wollte."

"Will sie immer noch. Ich hoffe nur, sie findet vorher noch heraus, ob es jenes Gift ist, daß in Buffalo Creek verwendet wurde oder gar eine stärkere Nebenform davon. Falls ja, dann haben wir es amtlich, daß die Akte Nocturnia noch nicht geschlossen werden darf."

"Wie soll ich mich verhalten?" Fragte Tessa, die merkte, daß es langsam Zeit wurde.

"So wie bisher, unauffällig und die Ohren in alle Richtungen offenhalten, Schwester. Am Besten gehst du jetzt nach Hause!"

"Ich habe den Trank vor meiner Abreise getrunken, Lady Sophia. Aber Ihr habt recht. Ich appariere besser nach Hause, bevor der Mond richtig aufgeht", erwiderte Tessa und verschwand.

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"Ach, und diese Wasserflasche hat verraten, daß da echt etwas drin ist, was nicht hineingehört?" Fragte Anthelia, als sie am Morgen des 27. Juni Nachricht von ihrer britischen Bundesschwester Lucy Broadleaf bekam, daß eine der zögerlichen in der englischen Schwesternschaft eine Wasserprobe aus Maple Grove gezogen hatte.

"Ja, und es ist ein Armband gefunden worden, daß Vampirauren überlagert. Dir ist sicher klar, was das heißt", erwiderte die Verbindungshexe.

"Das die Nachfolgerin sich wahrhaftig gerührt hat. Nur einer vom Wissen Nyxes traue ich es zu, ein Anti-Vampiraufspürband zu erfinden. Damit ist auch klar, daß das Vampyrogen jederzeit an jedem Ort der Welt seine Opfer finden kann. Das will wohl bedacht sein. Danke dir für die schnelle Mitteilung, Schwester!" Die Botin verbeugte sich und disapparierte.

"Soso, die Ruhezeit ist um", knurrte Anthelia. Sie hatte mitbekommen, daß Lavinia Thornbrook mit ehemaligen Broomswood-Lehrerinnen eine sogenannte Liga rechtschaffender Hexen gegründet hatte. Sollten die doch! Sie konnte darüber nur lächeln. Doch im Moment kam sie nicht an Lavinia heran. Diese hatte ihr Haus mit einer Vielzahl schwarzmagischer Abwehrzauber und Fallen gespickt. Anthelia hatte es aus sicherer Entfernung überprüft, daß sie alleine mehr als eine Stunde bräuchte, um alle Sperren und Fallen zu neutralisieren. In die Versammlungshöhle der entschlossenen Schwestern kamen nur ordentlich eingeschworene Schwestern oder ihre Gäste. Sollte sie versuchen, sich über Leda Greensporn ... Aber die war keine von Lavinias Gefolgshexen mehr. Außerdem wäre Anthelia die letzte, der sie helfen würde. Blieb Patricia. Doch ihr Körper vertrug die Nähe des Sonnenmedaillons nicht, geschweige denn eine Berührung. Zumindest aber gab sie die Entwicklung in England an Patricia Straton weiter.

"Ich werde mich wohl zu einem großen Schritt entschließen müssen, wenn herauskommt, daß Nocturnia stärker als vorher agiert", beschloß Anthelia ihre Gedankenbotschaft.

"Welchen?" Fragte Patricia.

"Burgfrieden mit Cartridge, Sevenrock und Thornbrook", mentiloquierte Anthelia.

"Mit Pabblenut dann auch? Die ereifert sich gerade über diese angebliche Tochter von Lady Daianira."

"Ich weiß. Ist ja auch ein sehr merkwürdiger Zufall, daß diese nach solanger Zeit aufgetaucht sein soll und ausgerechnet dann, als sie ein Kind erwartet", schickte Anthelia zurück.

"Eifersüchtig, daß du eine große Schwester hast, höchste Schwester?" Erfolgte eine höchst impertinente Frage.

"Willst du meinen Zorn erwecken, Schwester Patricia? Ich verbitte mir diese Art Anzüglichkeiten, sofern du deines Lebens nicht überdrüssig bist", schickte Anthelia zurück. "Im übrigen bin ich froh, daß ich nicht Daianiras Tochter bin. Aber jemand anderes wird es sein, und die hat es sich genauso leichtfertig eingebrockt wie ich selbst. Und das stimmt mich eher heiter als wütend. Gehabe dich derweilen wohl, Schwester Patricia!"

"Ja, wachse und gedeihe, du achso anstandsliebende, moralisch gefestigte Hexe. Entschlüpfe ihr und genieße ihre Fürsorge!" Dachte Anthelia für sich. Wen sie meinte, wußten nur zwei Personen, sie und jene, die Daianiras wahre Tochter sein würde.

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Rani Wellingford hatte ein Geheimnis. Das durfte sie keinem verraten. Sie war in ihrem Viertel das stärkste, schnellste und gewandteste Mädchen überhaupt. Aber das war nicht das Geheimnis. Das Geheimnis war, warum sie so schnell, stark und gewandt war. Sie war ein Tigermädchen. Ihre Mum und ihr Dad waren Tigermenschen. Dann gab's da noch Sonnenglanz, eine Tigerfrau mit goldenen Haaren und Feuerkrieger, einen ziemlich rauflustigen Typen. Alle wohnten zusammen in dem großen Haus ihres Dads. Nur zweimal hatte Rani was anderes zu sehen gekriegt. Da war sie mit ihrem Dad in seinem Düsenflugzeug in die Nähe von einem Wald geflogen, wo ganz hohe Bäume standen. Dschungel hieß der Wald. Dort hatten ihr Dad und sie ein großes Steinhaus gesehen und da noch mehr Tigerleute getroffen. Sie dachte an die große, dicke Frau mit den schwarzen Haaren. Sie hatte ihr gesagt, daß sie Nachtwind heiße und die Königin der Tigermenschen sei. Jerimy und Randolph, ihre Brüder, fanden das cool, Tigermenschen geworden zu sein. Aber hier in ihrer Stadt durfte das keiner wissen.

"Rani, nicht trödeln!" Rief die Frau, zu der Rani Sonnenglanz sagen sollte. Das war die Tochter von Nachtwind, hatte Nachtwind ihr gesagt. "Bin gleich da!" Rief Rani und sprang behände ihr Seilchen schwingend immer weiter die Straße entlang. Sie mußte sehr gut aufpassen. Denn sie durfte nicht so wild springen wie sie konnte. Denn dann würden alle anderen sie fragen, warum sie das konnte.

"Guten tag", grüßte Sonnenglanz einen vorbeilaufenden Jogger im teuersten Sportzeug.

"Na, wieder Seilspringen angesagt, junge Ms. Rani?" Fragte der Läufer kurz. Rani bejahte es. Da lief der Jogger weiter. Sonnenglanz hielt das Mädchen an, ihr weiterzufolgen. Doch nach zwanzig Seilsprüngen machte Sonnenglanz eine Geste, daß Rani anhalten sollte. "Jemand ist hinter uns her. Das ist wohl einer, der meint, dich packen und wegbringen zu dürfen, um deinem Dad Angst zu machen", hörte Rani die Stimme Sonnenglanzes im Kopf. Tigermenschen konnten ohne Stimme miteinander reden. Telopathik oder sowas wie ihr Bruder Jerimy das nannte. "Ich tu mal so, als ob ich dich auf dem Platz ganz in Ruhe spielen lasse. mach einfach weiter Seilchenspringen! Dir kann nix passieren."

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"Wenn wir die Wellingfords haben haben wir einen Brückenkopf von England nach Indien", so hatte ihm die erhabene Blutmondkönigin gesagt. Er, Abendbote, sollte eines der Kinder einbürgern und darüber die ganze Familie nach Nocturnia einladen. Das war eine große Ehre. Vier tage hatte er mit seinen Mitbürgern Vesperamicus und Charon das Anwesen der Wellingfords beobachtet und mit seinen feinen Vampirohren auch belauscht. Dann hatte er heraus, daß er sich das Mädchen schnappen sollte. Im Abstand von siebenhundert Schritten folgte er im Schutz der Solexfolie dem indischen Kindermädchen, das wohl meinte, als Blondine herumlaufen zu müssen und Rani, die leidenschaftlich gerne Seil sprang. Er mußte sich schnell in die Büsche verziehen, um einem vorbeijachernden Jogger auszuweichen. Der mußte ja echt nicht mitbekommen, daß Rani Wellingford verfolgt wurde. Aber wie konnte er das Kind schnappen, ohne dem Kindermädchen aufzufallen. Sicher konnte er sie mit seinem magischen Blick ... Aber nicht bei hellem Tag, wo er zum Schutz seiner Augen dunkle Linsen darüber trug. Blieb ihm dann nur nackte Gewalt, wenn sie ihm dumm kam. Doch er hatte munkeln hören, daß das Kindermädchen auch als Leibwächterin ausgebildet war und sicher Karate oder Kung Fu konnte, wenn die nicht sogar eine Waffe mithatte. Aber gegen seine Vampirkräfte kam sie dann wohl nicht an. Doch es war noch nicht Nacht. Das hieß, daß er eigentlich so schwach wie jeder normale Mensch war. Vielleicht sollte er erst einmal zusehen, daß er die üblichen Routen der Kinder herausfand. So folgte er den beiden weiter, bis sie auf einen kleinen Platz kamen. Da schlug sich das Kindermädchen die Beine zusammen und verkrampfte sich. Sie sah Rani an und sagte dann: "Muß mal gerade wohin. Du bleibst hier! Spring ruhig weiter! Aber laß dich von keinem ansprechen! Wenn dich wer anfassen will schreist du laut und läufst in die Richtung, in die ich jetzt gehe", hörte er mit seinen Ohren, was sie sagte. Dann verschwand sie in einem Seitenweg. "Geh pinkeln, dumme Pute", dachte der Vampir und wartete zwanzig Sekunden. Dann schlich er lautlos auf Rani zu, die singend Seil sprang. Dabei wirkte die völlig locker und frisch. Er schlich auf sie zu. Irgendwie verströmte das Wellingford-Mädchen einen merkwürdigen Geruch. Irgendwas stimmte nicht mit ihrem Blut. Es regte ihn nicht an, sondern widerte ihn eher an. Das hatte er in seinen zwei Jahren als Nyxes Nachtsohn nicht erlebt. Menschen rochen immer appetitanregend. Aber er hörte einen gesunden Herzschlag. Das Mädchen verhielt, als er nur noch fünf Schritte von ihr fort war. Sie drehte sich um. Hatte sie ihn gehört? Sie sah ihn mit ihren großen Kinderaugen an, die denen ihres Vaters ähnelten. Er entspannte sich. Wenn er nahe genug auf sie zuging und sie mit einem Griff zu fassen bekam und ihr den Mund zuhielt war nichts mit Schreien und Weglaufen. Er ging leise weiter auf das auserwählte Ziel zu. Die ihn seltsam anwidernde Duftnote von ihrem Blut irritierte ihn. Sicher, die Wellingfords aßen Knoblauch. Das mochte es sein. Dieses widerliche Gewürz blieb einen Tag lang im Blut und führte zu starker Übelkeit. Jetzt war er nur noch einen Schritt entfernt. Dann sprang er vor. Seine Hand umschloß den Mund des Mädchens. Sein anderer Arm schloß sich um ihren Körper. Doch die kleine wehrte sich. Unvermittelt wirbelte sie mit ihm herum und schaffte es, ihn wegzuschleudern. Jetzt konnte sie schreien oder wegrennen. Doch sie tat es nicht. Sie starrte ihn an, als er auf seinem Hosenboden landete. Dabei klappte sein Mund auf. Er meinte, brennendes Benzin hineingeschüttet zu bekommen, weil er seinen Mund der Sonnenstrahlung aussetzte. Schnell raffte er sich wieder auf und stürzte sich mit aller Geschwindigkeit auf das Mädchen. Dieses jagte ihm jedoch sein linkes Knie mit Wucht in den Unterleib. Doch er fühlte keinen Schmerz, wenn es nicht von Sonne, Feuer oder Wasser herstammte. So lachte er und riß Rani hoch. Da fühlte er plötzlich, wie ihm schwindelig wurde. Etwas saugte ihm Kraft ab, als tränke jemand sein Blut. Dann sah er sein Verhängnis. Wie ein riesiger, gold-braun gestreifter Schemen flog es auf ihn zu. Er erkannte einen risigen Tigerkopf. Er riß das Mädchen herum. Doch dieses stieß ihm ihre beiden Ellenbogen in den Bauch und hebelte sich so aus der Umklammerung. Mit einer diesem Kind nie zugetrauten Geschwindigkeit huschte es zur seite und gab den Weg frei. Da kam sie, die Tigerin. Er roch es und sah es, daß es kein normales Raubtier war. Hier in der Stadt war das wohl auch nicht zu erwarten. Er sprang zurück. Doch die gestreifte Gegnerin setzte nach und hieb mit ihrer rechten Pranke zu. Er versuchte zu flüchten. Doch ihm fehlte die besondere Kraft. Er schickte noch eine Gedankenbotschaft an seinen Bruder des Blutes: "Hilfe, ein Riesentiger greift mich an. Die Wellingfords sind eine Falle!" Dann erwischte ihn die rechte Pranke des Tigers und riß ihm die Kleidung vom Leib. Selbst die für Metallklingen schwer zu durchtrennende Solexfolie riß auf. Nun meinte Abendbote, im Feuerstrahl eines Flammenwerfers zu stehen. Die indische Sonne brannte gnadenlos mit ihren Strahlen auf ihn ein. Die Tigerin packte ihn mit ihrem Maul und trug ihn in den Schatten der Bäume. Doch es war zu spät. Die starke Sonnenstrahlung hatte dem Blutsauger die restliche Lebenskraft geraubt. Er starb an totaler Erschöpfung. Die Tigerin riß ein Stück seines Fleisches aus dem Leib und probierte es. Wütend spie sie es von sich und stieß den Gegner ins Gebüsch. Dann wurde sie wieder zu Sonnenglanz.

"Das war kein gewöhnlicher Mann", knurrte Sonnenglanz zu Rani, die den Kampf mit für Mädchen untypischer Begeisterung beobachtet hatte.

"Der ist hinten am Rücken richtig verbrannt, als du dem das Zeug runtergerissen hast", sagte Rani. "Außerdem hat der Vampirzähne gehabt. Dann war das wohl einer."

"Du hast seine Zähne gesehen?" Fragte Sonnenglanz und ging noch einmal zu dem Toten. Sie zerrte ihn ins licht und öffnete ihm den Mund. Da sah sie die langen Eckzähne. Doch sofort quoll Dampf aus der Mundhöhle. Diese färbte sich im Licht der Sonne schwarz. Sie grinste. "Kann keine Sonne vertragen", schnarrte Sonnenglanz. Dann erkannte sie, daß er unter seiner Kleidung eine künstliche Haut getragen hatte. Sie wurde wieder zur Tigerin und riß an der haut, bis diese ganz ab war. Rani dachte ihr zu: "Polizei kommt. Die haben den schreien gehört." Sonnenglanz hörte das Geheul der Sirene auch. menschen würden es wohl erst in zwanzig Sekunden hören können. So wechselte sie erneut die Gestalt und winkte Rani, ihr hinterherzulaufen, und diesmal so schnell beide konnten. Der von aller Schutzfolie befreite Leichnam dampfte und qualmte, während er immer mehr zu Asche verbrannte.

Die zwei Minuten später eintreffende Polizeistreife stand vor einem Rätsel. Sie sah merkwürdige Spuren wie von den Pranken eines Raubtieres. Dann fanden sie noch eine Art Plastikfolie, die so gefärbt war, wie die Haut eines Inders. Dann sahen sie einen kleinen, noch rauchenden Haufen schwarzer Asche und die zerfetzte Kleidung eines Mannes. Sergeant Akni Sing zückte das Mobiltelefon und rief die Kriminalpolizei an. Diese schickte eine Spurensicherungsmannschaft, den Polizeiarzt und zwei Kommissare, die die Zeugen vernahmen, wer den Schmerzens- oder Todesschrei gehört hatte. Die Asche, Folie und Kleidung, sowie zwei gefundene Kontaktlinsen wurden eingesammelt, um später untersucht zu werden. Die merkwürdigen Tierspuren wurden vermessen und in Form von Fotos und Gipsabdrücken gesichert.

Der indische Premierminister hatte gerade zu Mittag gegessen und wollte sich gleich per Videokonferenz mit den Provinzgouverneuren im Norden unterhalten, als das Windspiel, das in seinem Büro hing zu klimpern begann. Er erstarrte. Die Fenster waren zu. Die Klimaanlage lief. Wenn dieses Ding klimperte mußte er in ein Geheimfach in der Wand greifen und einen kleinen Spiegel hervorholen, sonst würde ihn das geklimper nicht in Ruhe lassen. Er ging zur besagten Nische und holte einen Spiegel von der Größe einer CD-Hülle hervor. Er blickte hinein und sah das Gesicht eines bärtigen Mannes. Er kannte diesen Herren. Schon seine Vorgänger hatten mit ihm zu tun bekommen, wenn etwas übernatürliches passiert war, Totsprecher und -sprecherinnen aufgetaucht waren oder dunkle Gestalten, die Menschen die Furcht vor der Göttin Kali ins Gedächtnis zurückbringen wollten, Statuen dieser Gottheit zum Leben erweckt hatten. Vor zwei Jahren hatte ihn dieser Herr auch zu sprechen gewünscht.

"mein Freund, es gab bei euch wohl wieder einen Vorfall mit einem Wertiger", hörte er aus dem Spiegel die Stimme des Bärtigen.

"Ich weiß davon nichts", sagte der indische Premierminister.

"Ich erscheine gleich bei dir und erzähle dir, was ich erfahren mußte", sagte das Gesicht des Bärtigen im Spiegel. Der höchste Beamte Indiens bestätigte es und legte den Spiegel in die geheime Nische zurück. Da ploppte es, und der Bärtige stand leibhaftig im Raum. Er gebot Schweigen und volführte mit seinem Sandelholzstab mysteriöse Bewegungen. "Die Macht der Unbeobachtkeit wirkt nun. Setz dich und höre, was geschehen ist!"

Als der Premierminister Indiens erfahren hatte, daß es wohl einen Zusammenstoß zwischen einem Wertiger und einem Vampir gegeben hatte wunderte sich der Politiker. Sein geheimnisvoller Bekannter, der sich Höchster Zauberrat Indiens nannte, erklärte ihm dann noch, daß er von seinem britischen Kollegen gehört hatte, daß es den nach Menschenblut gierenden Geschöpfen gelungen sei, sich gegen Sonnenstrahlen zu sichern, erstarrte der Premier. Doch er war sofort bereit, der Polizeibehörde in Mumbai den Befehl zu erteilen, alle ermittelten Fakten und gesicherten Spuren zur Geheimsache zu erklären. "Es wird wohl Krieg zwischen den Tigermenschen und den Bluttrinkern geben, mein Freund. Lasse eine Sondergruppe einrichten, an der auch meine Mitarbeiter, die bei dir gegen böse Zauber ankämpfen, teilnehmen!" Der Premier hatte zwar keine rechte Lust, sich Befehle geben zu lassen. Aber auch er kannte die Berichte von Wertigern und hielt diese Wesen nicht mehr für reinen Aberglauben. Wenn es dann auch Vampire gab wie es Zauberer gab, so konnte sein Land sich auf etwas gefaßt machen.

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"Ich darf dich hier kriegen, hat Oma Thyia gerade mitgeteilt", hörte Selene Theias Stimme in ihrem Kopf. Warum war sie wieder wach, obwohl sie doch noch gar nicht zurück auf der Welt war? So fragte sie rasch:

"Wieso bin ich wieder wach?"

"Weil Oma Thyia findet, daß du die letzten vier Wochen so gut erinnern sollst wie es geht. Pränatale Geistesentwicklung sei wichtig für die Zeit nach der Geburt."

"Deine werte Hebamme soll mein Gedächtnis ganz ausräumen, damit du was von deiner kleinen Tochter hast, außer ständiger Verachtung", schickte Selene zurück.

"Das klären wir wie gesagt, wenn wir uns ansehen können", bekam sie zur Antwort.

"Ich werde mich tothungern", drohte Selene.

"Das wird dein Körper nicht zulassen", bekam sie die Antwort. Dann hörte und empfand Selene nur ihre unmittelbare Umgebung.

"du brauchst keine Angst zu haben. Theia wird dir nichts geben oder anhexen, was dich klein und willenlos macht. Und was du weißt bleibt in deinem Kopf. Wir brauchen dich", hörte sie Eileithyias Stimme erst im Kopf und dann von außerhalb des Uterus:"Sie hat Angst, du verfluchst deine Milch, meine werte Theia. Kann ich ihr nicht verdenken, wo du Anthelia derartig kleinhalten wolltest."

"Interessante Idee. Aber würde weder ihr noch mir was bringen, weil sie dadurch vielleicht wirklich alles vergißt, was sie vorher erlebt hat", hörte Selene Theia antworten. "Ich werde dir keine Wünsche oder Befehle sagen, wenn du bei mir trinkst. Dann mußt du keine Angst haben", klang dann noch Theias Stimme in Selenes Kopf.

"wozu braucht ihr mein Gedächtnis?" Fragte Selene.

"Weil Nyxes Erbe weiterlebt und wir eine gute Vampirkundige mehr auf der Welt gut gebrauchen", sagte Theia mit körperlicher Stimme. Selene verstand. Doch denen ging es sicher auch um die Zauber, die sie auf der Insel angewendet hatte. Doch an die kamen sie nicht heran. Sie würde sie nicht verraten können, weil nur der, von dem sie sie gelernt hatte, diese Zauber verraten konnte. Aber das wollte sie theia nicht auftischen.

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"Wie, Maple Grove ist geplatzt?" Fragte Lamia, als sie am 28. Juni der Blutumwälzanlage in der Basis Winternacht entstieg. "Aber Three Bridges ist vollzogen worden?"

"In derselben Nacht wie Maple Grove. Weil die Leute vom Ministerium nicht wußten, wo das Neubürgerpulver eingetragen wurde wurde behauptet, im Brunnenwasser sei ein tödlicher Bazillus nachgewiesen worden. Leider ist das nicht ganz abwegig. Dafür müssen die Leute aus England aber jetzt hinter echten Wissenschaftlern stehen und denen ins Gehirn beamen, daß sie wirklich ein bitterböses Bakterium gefunden haben. Bis dahin geht Eure Saat in Three Bridges auf, Mylady."

"Zweit Tage habe ich grob für Maple Grove in dieser Melkmaschine gelegen. Das sollen die mir büßen. Immerhin konnte Schattenfuß uns nicht verraten."

"Der nicht, aber wir haben hier eine beunruhigende Meldung von Nachtauge, daß das Ministerium in den Staaten meint, es gebe einen legitimen Nachfolger, der die Geheimnisse von Lady Nyx übernommen hat."

"Was ist mit Rodrigo?" Fragte Lamia.

"hat sich nicht mehr gemeldet, seit er dieses Freudenhaus hat abfackeln lassen sollen. Das hat übrigens nicht geklappt."

"Verdammt. Ich steige unverzüglich wieder in die Umwälzung. Ich muß nur den dafür nötigen Zauber potenzieren, damit das Pulver die erwünschte Kraft entfalten kann", knurrte Lamia.

"Fürchtet Ihr eine Vergeltung?" Fragte Arnold Vierbein.

"Ja, fürchte ich. Diese Abgrundstöchter sind grausam, aber auch geduldig, wenn es um die Bekämpfung ihrer Feinde geht. Ihr kann ich nur durch geistige Unerreichbarkeit und ausreichende Produktion an Neubürgerpulver begegnen."

"Ich habe drei E-Mails erhalten und mit der Antwort "Sie wird erfreut sein" und "sie wird sich melden, wenn sie Zeit zum Lesen hat" beantwortet", sagte Arnold Vierbein und überreichte Lamia drei Computerausdrucke. Sie las die drei E-Mails: "Tino Marino", grinste sie. "Eine leichte Abwandlung von Toni Maroni, einer Filmfigur", sagte sie. Arnold grinste. Auch er kannte den von John Travolta verkörperten Supertänzer.

"Bevor Ihr wieder in den Blutumwälzer steigt noch eine etwas unangenehme Nachricht, Mylady", setzte Vierbein an. "Unser Kurier in Mumbai ist von einem Tiger getötet worden, als er versuchte, die Tochter dieses Ian Wellingford zu kidnappen, der in der Computerbranche gut aufgestellt ist."

"Von einem Tiger? Mitten in der Stadt? Wie kam das?" Fragte Lamia, die ihre Erregung verbergen mußte.

"Er hat das Mädchen beobachtet und ist ihr nachgeschlichen. Als sie dann ohne ihr blondes Kindermädchen herumlief wollte er sie Euren Anweisungen gemäß aufgreifen und nachts einbürgern. Da ist ihm dann aus einer Seitengasse ein riesiger Tiger entgegengesprungen. Er hat mit Mondauge telepathiert, daß ein Riesentiger ihn jagt. Dann hat sie nur noch seinen mentalen Todesschrei gehört."

"Das war kein normaler Tiger. Die können einem von unserer Art nichts anhaben, weil unser Blick sie bändigen kann", knurrte Lamia. "Sie erkennen unsere übernatürliche Macht, flüchten oder unterwerfen sich."

"Dann war es vielleicht ein Wertiger", erschauerte Arnold. Lamia lächelte kalt.

"meines Wissens nach haben diese in der Zeit der Schlangenmenscheninvasion, wo meine ehrenwerte Vorgängerin von diesem Volakin gefangengehalten wurde, versucht, nach Europa vorzustoßen. Darauf hätte ich kommen müssen, daß die wen kennen, der über Flugzeuge verfügt. Also Wellingford", knurrte die Vampirkönigin.

"Gut, dann setz in Umlauf, Wellingford arbeitet für die indische Mafia! Gleichzeitig baut ihr Geräte, um Bolzen aus purem Eis kühlzulagern und bei Bedarf bereitzustellen, um sie mit Armbrüsten zu verschießen! Es ginge auch ein Flammenwerfer. Aber der würde uns selbst zu gefährlich", sagte Lamia.

"Wieso kein Silber?" Fragte Arnold.

"Weil nur unbezaubertes Eis und dito Feuer was gegen einen in seiner Tiergestalt wütenden Wertiger ausrichten können, Arnold. Das mit dem Silber gilt nur für Wer-Wölfe."

"Aber einen Eisbolzenköcher bauen, der ganz ohne Zauberkraft läuft ist nicht einfach."

"Das haben wir doch schon häufig ausprobiert, mobile Tiefkühlaggregate zu bauen, Arnold", sagte Lamia mit einer ihm nun wesentlich besser vertrauten Betonung. Er nickte. "Okay, Mylady, Eisbolzen im Kühlköcher! Auftrag geht an unsere Technikabteilung. Vielleicht geht was mit Flüssigstickstoff."

"Du hast die nötige Rundumausbildung, Arnold. Ich verlasse mich da auf dich", sagte Lamia. Da fühlte sie, wie etwas nach ihrem Geist tastete. Sofort verschloß sie ihre Gedanken. Doch die fremde Macht kam über die ihr bekannten Geistessströme Rodrigos zu ihr. "Sie hat mich!" Hörte sie einen Klagelaut. "Sie hat mich erwischt und was ganz brutales mit mir .... Aaaaaaarg!!"

"Über seinen Kopf spreche ich in deinen Schutz hinein, Nachfolgerin von Nyx. Ich sehe nicht, wo du bist. Aber ich warne dich. Meine wache Schwester und ich werden deinem Vorhaben mit größtmöglicher Entschlossenheit entgegenwirken. Offenbare dich ruhig. Denn auch wenn du dich mir zu verschließen trachtest werde ich deine Anhängerschaft bekämpfen, sobald sie in mein Revier eindringt. Wir wollen euch künstlichen Blutsauger nicht in unseren Revieren haben. Bleibt weg von Spanien, dem Orient und Südamerika! Tut ihr das nicht, rotten wir euch alle aus, so schnell ihr auch meint, euch mit eurem Gift vermehren zu können." Lamia fühlte die Kraft, die auf ihren Geist wirkte. Einen winzigen Moment lang konnte sie nicht widerstehen. Das reichte, um vor sich das Gesicht einer schwarzhaarigen Frau mit wasserblauen Augen zu sehen. Sie wußte im selben Moment, daß auch sie sie sah und stieß die Fremde mit aller Kraft aus ihrem Bewußtsein hinaus. Doch sie hörte noch das überlegene Lachen und den langgezogenen Schmerzensschrei ihres ehemaligen Mitbürgers.

"Vermaledeites Höllenflittchen. Auch wenn du und das Geschmeiß aus Lahilliotas Schoß älter als die Dinosaurier wäret werde ich euch eines Tages in das Vergessen schicken", kreischte Lamia. Sie wankte. Arnold mußte sie stützen. Sie gab sich seiner Fürsorge hin und kuschelte sich an ihn.

"Wir müssen aufpassen. Die denken, die hätten Spanien und Südamerika sicher. Aber die können da nicht überall sein. Und die hat auch Feinde. Die werden wir uns zu Verbündeten machen."

"Nichts für ungut, Mylady, aber wir haben wohl nur Feinde auf der Welt. Ohne den Mitternachtsdiamanten sind wir nicht so stark."

"Von denen gab es nur neun. Eine ist tot, weil ein paar dutzend Hexen und ein halbwüchsiger Zauberschüler die erledigt haben. Die sind nicht unbesiegbar. Und wenn wir tausende von uns haben, können wir sie hundertfach übertreffen. Also zurück in die Umwälzanlage", knurrte Lamia.

"Was sollen wir wegen Tino Marino unternehmen?"

"Achso, der hat die Telefonnummer seines Großvaters als Buchstabencode mitgeliefert. Ich werde ihn in zwei Wochen anrufen, wenn ich die nächste Produktionseinheit ausgeblutet habe."

Arnold Vierbein betrachtete die Vampirin, die nun in die Umwälzanlage stieg. Was von ihr war noch das, was er in diesem Körper hoffte? Worauf hatte er sich eingelassen?

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Anthelia grinste immer, wenn sie Bilder von Anthony Summerhill in der Zeitung sah. Einmal hatte man seine Mutter mit einer Schürze aufgenommen, unter der er wohl steckte. "Ob sie das bessere Los für dich ist, Kleiner. Sicher wirst du denken, mich fertigmachen zu können, wenn du auf eigenen Beinen stehen kannst. Aber die wird dir das nicht erlauben, wo sie dich endlich da hatte, wo sie dich immer schon haben wollte", dachte sie.

"Höchste Schwester, eine Kleinstadt namens Daisytown könnte ein Vampirnest sein", meldete Romina Hamton Anthelia am 29. Juni.

"Wo genau, Schwester Romina?" Fragte Anthelia. Ihre Mitschwester übergab ihr einen Zettel. Anthelia las und nickte.

"Gut, ich kümmere mich darum. Sollte es wirklich ein zweites Buffalo Creek sein, dann werde ich wohl andere Maßnahmen ergreifen müssen."

Anthelia apparierte in drei Sprüngen in die Nähe der Kleinstadt in Colorado. Cecil Wellington, der Kundschafter in der magielosen Welt, hatte auf Patricias Betreiben hin ein Programm geschrieben, daß nach Vorkommnissen suchte, die sich in kleineren Städten mit merkwürdigen Erkrankungen oder gar Vampirsichtungen zutrugen. Wieder einmal hatte ein Tourist von bleichhäutigen, blutgierigen Menschen gesprochen. Anders als Freddy Kessler konnte der Mann jedoch nicht wirklich entkommen, sondern seine Beobachtungen nur über Mobiltelefon durchgeben. Anthelia wußte nicht, ob das Zaubereiministerium bereits informiert war. Sicherheitshalber hatte sie Yanxothars Schwert mit.

Der Ort lag ohne Licht da. Doch Anthelias Gedankenspürsinn reichte aus, um zu erkennen, daß sie hier tatsächlich einen zweiten Ort voller Vampire vor sich hatte. Sie zog das Schwert mit der Flammenklinge blank und lauerte. Ja, da kamen die ersten Vampire heran. Sie flogen auf sie zu. Anthelia konzentrierte sich und rief dann das Wort, mit dem die Feuerklinge entzündet werden konnte: "Faianshaitargesh!"

Die als Fledermäuse auf sie zustoßenden Blutsauger erschraken, als ihnen die lodernde Schwertklinge entgegenstieß. Doch sie konnten ihren Sturzflug nicht mehr bremsen und verglühten, sobald sie mit den Flammen der Klinge in Berührung kamen. Die das Feuer aus Erde und Sonne fokussierende Magie des Schwertes war eine vernichtende Waffe gegen Vampire. Anthelia wirbelte herum und erwischte drei weitere fliegende Vampire. Deren mentale Todesschreie erreichten die anderen. Diese rotteten sich zusammen. Anthelia erkannte, daß sie eingekreist werden sollte. Also war die ganze Stadt bereits verpestet. Sicher, wenn nur zehn Vampire durch vergiftetes Wasser entstanden, reichte es aus, um den Rest zu verändern. Anthelia dachte kurz daran, daß sie gegen mehr als hundert Vampire nur wenige Minuten durchhalten würde. Da kamen sie auch schon. Die Führerin des Spinnenordens ließ die ersten zehn von der Flamenklinge verbrennen. Dann sprang sie zurück. Mit ihrer telekinetischen Begabung löste sie die Handbremse eines geparkten Autos und stieß dieses in das Pulk auf sie zurückender Blutsauger. Dann löschte sie die Flammen der Klinge und griff nach ihrem Zauberstab. "Bollidius!" Rief sie und schleuderte damit eine blaugrüne Feuerkugel auf die nun durcheinanderpurzelnden Blutsauger. Die beim Auftreffen auf einen Vampir zerplatzende Feuerkugel hüllte alles im Umkreis von zwölf Metern in Flammen ein. Dann vernahm sie die gedanklichen Ausstrahlungen unvermittelt aufgetauchter Menschen. Das waren Ministeriumszauberer. Sie suchte nach ihnen. Diese gingen offenbar mit ähnlichen Feuerzaubern gegen die Vampire vor. Anthelia erkannte, daß ihr die anderen gerade von hinten auf den Leib rückten. Da disapparierte sie. Sie bekam deshalb nicht mit, wie die meisten Vampire die Flucht ergriffen, weil der Anführer, der die ganze Zeit in der Stadt gelauert hatte, ihnen den Befehl erteilte, davonzufliegen. Hunderten von Vampiren nachzufliegen war unmöglich. Doch man würde sie jagen, wo immer sie hinwollten.

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Einen ganzen Monat und zwei Tage war Anthony nun auf der Welt. Nachts träumte er zwar immer noch von seinem früheren Leben als Lucas Wishbone, wobei er manchmal träumte, in einem wilden Liebesakt in der immer größer werdenden Tracy Summerhill zu verschwinden oder von Anthelia selbst als ihr Sohn wiedergeboren zu werden. Doch meistens träumte er von der so gemütlichen Zeit im Mutterschoß. Normale Kinder konnten sich nicht ohne magische Hilfe daran erinnern, wie diese Zeit gewesen war. Er hatte alles im Gedächtnis behalten, was er vor dem ersten neuen Atemzug erlebt hatte.

Das Ansinnen Pabblenuts und ihrer Moralverfechterinnen war vom Ministerium komplett verworfen worden. Tracy hatte Knowles und Sweetwater ein ausführliches Interview gegeben, während dem er unter einer luftigen, aber von außen undurchsichtigen Schürze geborgen sein Mittagessen genossen hatte. Dabei hatte seine Mutter etwas gesagt, was ihm sehr tief ins Bewußtsein gedrungen war:

"Ich kann verstehen, daß diese Damen der Meinung sind, ich würde mit meinem öffentlichen Bekenntnis zur Liebe mit meinem eigenen Neffen alle gültigen Anstandsregeln verletzen und dürfte deshalb auch nicht glücklich sein, einen Sohn von meinem viel zu früh von uns gegangenen Geliebten bekommen zu haben. Aber wer sich nicht auf einen Besen setzen will, hat kein Recht, an den Quodpotregeln herumzumeckern. Es gibt auch andere, die womöglich verärgert sind, daß Lucas Wishbone etwas von sich in der Welt zurückgelassen hat. Ich denke, die Sardonianerin würde mir den kleinen Anthony liebendgerne wegnehmen, um ihn entweder in ihrem Sinne zu erziehen oder umzubringen, weil er das lebende Fleisch und Blut ihres Erzfeindes ist. Ich fürchte auch, daß wenn Tony alt genug ist, daß ich ihm erklären muß, warum sein Daddy nicht mehr lebt, er finden könnte, sich an dieser Schwesternschaft zu rächen, falls es die dann noch geben sollte. Aber ich werde ihm helfen, sich nicht unnötig mit dieser Bande anzulegen. Hörst du Tony: Ich möchte nicht, daß du gegen diese Sardonianerin und ihre Bande kämpfst, weil ich nicht möchte, daß du von denen umgebracht wirst. Es ist schon schlimm genug, daß Lucas gestorben ist, weil er sich zu unbesonnen gegen diese Schwesternschaft gestellt hat. Aber Tony soll nicht diesen Fehler machen." Tony schluckte während dieser Worte einen großen Schluck Milch hinunter, den Mund noch fest und hungrig an Tracys rechter Brustwarze. Als sie ihm sagte, daß sie nicht wünsche, daß er gegen die Sardonianerinnen kämpfe, weil sie nicht wünsche, daß er von denen umgebracht würde, fühlte er einen starken Widerwillen gegen sich selbst. Wieso wollte er sich an diesen Weibern rächen? Andere sollten dieses Pack jagen. Seine Tante und neue Mutter hatte sich nicht die ganze Last mit der Schwangerschaft und Geburt aufgehalst, damit er weit vor ihr aus der Welt verschwand. Ihre Worte hallten leise aber unüberhörbar in seinem Geist weiter, während er rein mechanisch den nächsten lebensspendenden Schluck Milch aufsog und in seinen kleinen Magen gluckern ließ. Er fühlte Scham, daß er seine Geliebte derartig mißbrauchen wollte, für ihn das Vehikel seiner späten Rache zu sein. Er hörte nur schwach, was Willow Sweetwater noch fragte:

"Moment, dann verurteilen Sie das Vorgehen von Lucas Wishbone?"

"Ich habe ihm geholfen, damit zu leben, daß er als Sicherheitsbeauftragter im Ministerium sowie als Zaubereiminister alle kriminellen Elemente bekämpfte, die die Zauberer- und Muggelwelt bedrohten und es bis heute tun. Allerdings gebe ich gerne zu, daß es auch mich in meiner Hexenehre gekränkt hat, wie er alle Hexen generalverdächtigt hat, anstatt behutsam gegen die eindeutig straffälligen Vertreterinnen der Hexenheit vorzugehen. Er hat sich damit nicht nur die echten Widersacherinnen zu Feinden gemacht, sondern jeden Rückhalt und Anerkennung bei allen anderen Hexen verloren und - das habe ich ihm damals auch gesagt, dieser Schwesternschaft ein vorzügliches Feld bereitet, von dem sie neue Mitglieder ernten konnte."

"Es gibt genug Hexen und Zauberer, die mittlerweile bezweifeln, daß die Sardonianerin Ihren Neffen und Geliebten ermordet hat", hörte Anthony Linda Knowles, während er langsam fühlte, daß er genug getrunken hatte. Doch noch trieb ihn sein Drang nach dieser belebenden Flüssigkeit an, die ihm so bereitwillig geboten wurde.

"Sie meinen natürlich, daß nach der Sache mit dem Totentänzer und dieser Hexe, die sich in eine schwarze Spinne verwandeln konnte alle Stimmen, die vorher klar behauptet haben, dieses Weib habe Lucas Wishbone ermordet, indirekt zustimmen, daß es so nicht abgelaufen sein kann, weil die sicher nicht so dumm sein könne, einen Zaubereiminister zu töten, der offen gegen alle Hexen Front gemacht habe? Das Problem ist nur, daß da Aussage gegen Aussage steht und ich nur weiß, daß mein Neffe tot und begraben ist und ich nun die angenehme Pflicht habe, seinen Erben großzuziehen. Was ich tun kann, um ihn vor dieser verbrecherischen Gemeinschaft zu schützen werde ich tun. Das dürfen Sie so schreiben, die Damen! Ich will weder haben, daß die Sardonianerinnen einen Grund haben, meinen Sohn seines Vaters wegen zu töten, noch will ich haben, daß er den Kampf mit ihnen sucht, um ihn zu rächen." Tony hörte in diesen Worten wieder die direkt an ihn gesprochene Äußerung, daß sie sich wünsche, er möge nicht auf die Idee kommen, Anthelia oder ihre Nachfolgerinnen anzugreifen, weil sie nicht wolle, daß er vor ihr starb.

"Gut, dieses Haus ist gesichert. Aber irgendwann wird Ihr Sohn in eine Grundschule und dann nach Thorntails gehen. Dort können Sie nicht so gut auf ihn aufpassen wie während Ihrer Schwangerschaft und jetzt, wo er in Ihrem Haus heranwächst", wandte Willow Sweetwater ein.

"ER wäre wesentlich gefährdeter, wenn niemand wüßte, wer sein Vater ist, Ms. Sweetwater", sagte Tracy und atmete tief durch, weil es sie doch gut anstrengte, gleichzeitig ein Interview zu geben und zu stillen. "Denn wenn er jetzt von irgendwem attackiert oder gar ermordet würde, dann wüßte jeder, daß es nur deshalb passiert ist, weil sein Vater gegen diese Hexenbande gekämpft und verloren hat und jetzt verhindern muß, daß er sich zu einer Blutracheaktion hinreißen läßt."

"Nun, Leda Greensporn mußte mit ihrer Tochter flüchten, weil ihr jemand nachgestellt hat", wandte Linda Knowles ein.

"Wohl deshalb, weil sie ihr Geheimnis für sich behalten wollte oder mußte und denen, die nicht wollten, daß sie es sich anders überlegte sie und ihre Tochter töten könnten. Ich habe gleich mit offenen Karten gespielt. Als Sie beide erfuhren, daß Lucas' Sohn unter meinem Herzen heranwächst, habe ich allen erzählt, daß der kleine Tony der Sohn meines Neffen ist. Und wie vor einigen Wochen schon erwähnt haben Sie, Ms. Knowles Urgroßeltern, die Onkel und Nichte sind. Da darf ein Junge ruhig der Cousin seines eigenen Vaters sein. So, und jetzt denke ich, daß wir alle genug haben, nicht wahr, Tony?" Sie streichelte über die blickdichte Schürze hinweg über den Rücken ihres Sohnes. Sie klopfte vorsichtig darauf, bis er lautstark aufstieß. War das eine Befreiung, wenn der Luftdruck nachließ, dachte Anthony Summerhill. Er war froh, diese Hexe da als seine Mutter zu haben. Er durfte sie nicht traurig machen.

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Anthelia las kein Wort von der neuen Vampirpest in den Staaten. Sie erfuhr jedoch, daß die Abteilungen für magische Wesen und die Katastrophenumkehrzauberer zu Großeinsetzen gerufen wurden. Auch Anthelias Schwestern beteiligten sich heimlich und ungefragt an der Jagd auf die Vampire. Anthelia war sich sicher, daß das Ministerium alleine gegen diese Pest nichts ausrichten konnte. So schrieb sie am 30. Juni einen Brief an Minister Cartridge:

Geehrter Herr Zaubereiminister Cartridge,

Seit mehreren Monaten sehe ich mich und meine treuen Gefährtinnen den Nachstellungen Ihrer Behörde und Unterabteilungen ausgesetzt, weil es immer noch Leute bei Ihnen gibt, die behaupten, wir seien für den Mord an Lucas Wishbone verantwortlich. Auch wenn es genug Zeitungsschreiber gibt, die diese Frage schon gestellt und beantwortet haben, so stelle ich Ihnen persönlich die Frage: Was hätten wir davon gehabt, jemanden zum Märtyrer für eine Sache zu machen, die schon längst keine Sympathie mehr genoß? Überhaupt nichts! Unterstellen sie uns auch wirklich die Einfalt und Unbeherrschtheit, einen Zaubereiminister zu töten, wo klar ist, daß dann die ganze Welt hinter uns her ist?

Nun, ich werde mich weder schuldig bekennen noch tauben Ohren weiterpredigen, daß meine Schwestern und ich nichts mit dem Tod von Lucas Wishbone zu schaffen haben. Mir geht es um etwas anderes: Es ist eine Macht erwacht, die jeden, der das Menschsein ehrt und die Erhabenheit der Menschen zu schützen gewillt ist dazu zwingt, alle anderen Feindseligkeiten, gerechtfertigt oder nicht, solange beizulegen, wie diese Macht eine unbestreitbare Gefahr für uns alle darstellt. Mir liegen seit April verläßliche Dokumente vor, denen nach das Vampirreich Nocturnia nicht mit dem Verschwinden seiner Anführerin zu Grunde geht. Denn diese hat für diesen Fall verfügt, daß eine von ihr instruierte Nachfolgerin die Geschicke dieser Organisation übernehmen und Nocturnia zu neuer und kräftigerer Blüte treiben soll. Ich hielt diese Verfügung, die ich unter Einsatz meines Lebens erwarb, für eine Durchhalteparole, um jenen, die an den Aufstieg der Vampire zur herrschenden Elite glaubten, für einen möglichen Neuanfang zu kultivieren. Die Vorfälle in Daisytown und der vereitelte Versuch, die Pest des Vampirismus auch im englischen Dorf Mapel Grove ausbrechen zu lassen, sowie einige Vorkommnisse mehr, die auf gezielte Verseuchungen hindeuten lassen mich bedauern und erkennen, daß die angekündigte Nachfolgerin existieren muß. Womöglich hat Nyx einen Großteil ihrer Erinnerungen in einem Denkarium ausgelagert, und ihre Nachfolgerin schöpft jetzt aus diesem Quell der Macht. Jedenfalls ist das Agens der Vampirpest nicht mit Nyxes Verschwinden aus der Welt verschwunden. Es existiert weiter. Wenn Ihr Ministerium und meine Schwesternschaft weiterhin gegeneinander arbeiten, was ja nicht immer in blutigen Kämpfen ausarten muß, so wird Nocturnia uns über den Kopf wachsen. Dann wird die Saat der Lady Nyx aufgehen, und ihre Kinder der Nacht werden reiche Ernte halten.

Ich biete Ihnen die erwähnten Dokumente nebst aller von meiner Schwesternschaft und mir zusammengetragenen Informationen an und biete ebenso an, nichts zu unternehmen, was Ihre Leute von wichtigeren Dingen abhält, da ich nicht so naiv bin zu hoffen, daß Sie die Ziele unserer Schwesternschaft gutheißen werden. Ebenso biete ich an, daß meine Schwestern Ihren Leuten helfen, sobald es nötig ist, ein paar geübte Zauberstäbe mehr zur Verfügung zu haben.

Ich hoffe, in Ihnen keinen Einfaltspinsel anzutreffen, der denkt, ich wolle mich und meine Schwestern ausliefern, nur damit er freie Hand hat. Dem ist absolut nicht so. Ich biete Ihnen und Ihren Mitarbeitern nur einen Burgfrieden und ein Zweckbündnis, um Nocturnia zu verhindern. Denn wenn es erst einmal errichtet ist, sind wir alle gleich, seine Bürger, seine Feinde oder dem Milchvieh vergleichbare Nahrungsspender. Das eint uns trotz aller eindeutigen Differenzen im Kampf um unser Menschsein. Denn, so sehr Sie die Ziele meiner Schwesternschaft mißachten mögen, obwohl Sie nicht einmal einen Hauch davon kennen, so sehr widerstrebt es Ihnen sicherlich, Futter für die Geschöpfe der Nacht zu werden.

Ich schlage vor, daß wir uns vor Ihrer Abreise zur Quidditch-Weltmeisterschaft an einem neutralen Ort treffen. Ich stelle es Ihnen frei, bis zu zehn Leibwächtern mitzubringen. Ich selbst werde alleine kommen, da ich mir der Lage bewußt bin, daß zu viele gegnerische Hexen und Zauberer zu einer unerwünschten Konfrontation führen können. Ich wähne mich ebenso sicher, daß ich mich Ihnen damit nicht auf Gedeih und Verderb ausliefere, da ich genug Mittel zur Hand habe, meine Unversehrtheit und meine Freiheit zu schützen. Sollten Sie also versuchen, mich festnehmen zu lassen muß ich das als Ablehnung meines Angebotes erachten und werde entsprechend der mir und meinen Schwestern gebotenen Möglichkeiten die Nocturnia-Bedrohung bekämpfen, Ohne Ihnen die dabei gewonnenen Erkenntnisse zukommen zu lassen. Bedenken Sie, daß der Ruf Ihres Amtes, Ihrer Behörde und auch der Ihrer Familie zerstört werden kann, während meiner laut den Presseorganen keinen Knut wert ist. Sie können sich auch keine fortgesetzte Geheimhaltung leisten, wenn ein Überhang an Vampiren ruchbar wird. Bedenken Sie dabei bitte, welche Gefahr Ihr Vorvorvorgänger Pole heraufbeschwor, als er niemanden in der Zaubererwelt darüber informieren wollte, daß eine Tochter des Abgrunds auf dem Boden Ihres Landes wütete. Begehen Sie nicht denselben Fehler! Ergreifen sie die Hand, die sich ihnen entgegenstreckt und akzeptieren Sie die Unterstützung aus allen Teilen der magischen Bevölkerung! Ich weiß, ich kann Ihnen nichts befehlen. Deshalb möchten Sie diese Appelle als Bitte sehen.

"Ich werde diesen Brief nun zu Ihnen schicken, ohne eingewirkte Verhüllungszauber und ohne eingewirkten Fluch. Das heißt, Sie werden die Gelegenheit haben, mich zu sehen und/oder zu hören. Schicken Sie mir mit der Eule, die diese Nachricht zu Ihnen bringt bis einen Tag vor Ihrer Abreise nach Frankreich Ihre Antwort. Erhalte ich keine, so werte ich dies als Ablehnung. In diesem Fall hoffe ich, daß Sie es mit Ihrem Gewissen vereinbaren können, daß Ihre Behörde die Kontrolle in den Staaten verliert. Falls Sie meine Offerte annehmen garantiere ich Ihnen, daß ich keinerlei Maßnahmen Gegen Ihre Behörde, Ihre Mitarbeiter oder die unter Ihren Schutz gestellten Menschen ausführen werde. Ach ja: Vergessen Sie es, der Eule einen Verfolgungszauber aufzuerlegen, um mich aufzuspüren. Ich halte mich an einem mit Fidelius-Zauber geschützten Ort auf, der jede Ortung nichtig macht.

Bis zur hoffentlich von Ihnen an mich ergehenden Antwort verbleibe ich

Hochachtungsvoll

die Schwarze Spinne

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Anthelia brauchte nur einen Tag zu warten. Dann traf ihre Eule wieder ein. Zu ihrem Erstaunen war sie nicht mit einem Verfolgungszauber behaftet, der im Bereich der Fidelius-Zone zerstreut wurde. Also nahm der Minister ihre Aussage diesbezüglich ernst und hatte auf einen derartigen Versuch verzichtet. Anthelia unterzog den zugestellten Briefumschlag einer mehrfachen Prüfung auf Flüche, Verwandlungen und Portschlüsselzauber, bevor sie ihn berührte. Er stammte von Minister Cartridge persönlich, war aber nicht mit dem Briefkopf des Zaubereiministeriums versehen und trug auch kein amtliches Siegel. Anthelia grinste wieder. Sie nahm den Umschlag des Ministers, öffnete diesen und zog ein Pergamentblatt heraus.

Verzeihen Sie mir, daß ich Sie nicht als geehrte Person oder Madam anschreiben möchte.

Da Sie mir Ihren wahren Namen nicht mitteilen wollten, weiß ich leider nicht, ob Sie eine Ms., eine Mrs. oder Madam sind oder was ich sonst von Ihrer Identität zu halten habe. Ich muß jedoch einräumen, daß ich Sie schlecht ignorieren kann, egal, als was Sie sich mir und meinen Vorgängern bisher dargestellt haben oder noch darstellen werden. Sie mögen es vielleicht als Einwickeltaktik auffassen, aber ich gehöre ebenfalls zu den Leuten, die daran zweifeln, daß mein Vorgänger von der von Ihnen vertretenen Schwesternschaft ermordet wurde. Mittlerweile bin ich sogar der Meinung, daß er überhaupt nicht ermordet wurde, sondern der Leichnam eine Fälschung ist, um seine Flucht vor den seiner harrenden Verfahren zu decken. Denn Sie haben recht, daß man Ihrer Schwesternschaft wohl einiges vorwerfen kann, doch Dummheit und Unbesonnenheit gehören wohl nicht zu diesen Dingen.

Sie unterbreiteten mir ein Angebot, Ihre zum Teil gegen die Interessen eines friedlichen magischen Miteinanders gerichteten Aktivitäten ruhen zu lassen, damit meine Behörde nicht in personelle Engpässe gerät, wenn sie gegen die nicht mehr zu leugnende Bedrohung seitens dieser Vereinigung Nocturnia vorgeht und gleichzeitig die teils gesetzeswidrigen Auswirkungen Ihrer Tätigkeiten verfolgen und bekämpfen muß. sicher haben Sie sich mir damit ausgeliefert, daß Sie einräumen, daß Sie es sich nicht leisten können, gegen die von meiner Behörde zu wahrende Ordnung der Zaubererwelt der Vereinigten Staaten von Amerika anzukämpfen, wo Sie wissen, daß Nocturnia auch Freiheit und Gesundheit Ihrer Schwestern und deren Familien bedroht. Das werde ich mal als Zugeständnis Ihrerseits werten, daß Sie sich nicht allmächtig wähnen und nicht darauf bauen, alleine gegen den Rest der Welt ankämpfen zu können. Diese Erkenntnis und ein Gespräch, daß ich mit dem engsten Führungsstab des von mir geführten Zaubereiministeriums geführt habe bringen mich dazu, den von Ihnen angebotenen Burgfrieden mit Ihnen zumindest im direkten Gespräch auf neutralem Boden zu erörtern. Da Sie mir weder Ihren Namen noch die Namen der Ihnen verbundenen Hexen mitteilen werden kann und will ich nicht garantieren, daß dieses Treffen in Ihrem Sinne endet. Denn ich pflege nicht, mit maskierten oder anonymisierten Personen Abkommen zu treffen. Dessen hätten Sie sich beim Verfassen Ihres Schreibens bewußt sein sollen. Gut, ich muß Ihnen wie bei der Angelegenheit mit Wishbone unterstellen, daß Sie sich dessen bewußt sind und daher dieses Treffen nur deshalb vorschlagen, weil Sie nicht wollen, daß ihretwegen unschuldige Hexen, Zauberer und Muggel von dieser wuchernden Pest namens Nocturnia heimgesucht und dahingerafft werden sollen. Was immer Ihre Ziele waren und sein mögen: Eine Weltherrschaft über ein Volk von Vampiren gehört wohl nicht zu Ihrer - nennen wir es mal Politik. Daher bin ich durchaus bereit, mit Ihnen die Bedingungen für einen zwischen unseren Parteien wirkenden Burgfrieden zu verhandeln. Ein Zweckbündnis im Sinne eines gemeinsamen Vorgehens möchte ich zum jetzigen Zeitpunkt ausschließen, da ich wie erwähnt keine bindenden Abkommen mit sich verheimlichenden Leuten treffe. Ich biete als Treffpunkt das Zimmer 502 im Ihnen sicher bekannten Gasthaus zum sonnigen Gemüt in Viento del Sol an. Es gehört dort zur obersten Luxusklasse und verfügt über umfangreiche Ausstattung zur Wahrung von Vertraulichkeit oder geheimnissen. Als Zeitpunkt schlage ich die Mitternachtsstunde kalifornischer Ortszeit am 2. Juli 1999 vor. Unabhängig vom Ausgang der Zusammenkunft garantiere ich Ihnen freies Geleit und hoffe darauf, daß sie die Besonnenheit Ihrer Vorgängerin haben, mich nicht heimtückisch zu ermorden. Daß dies Ihrer Sache nicht dienlich ist sehen Sie ja sicher ein. Des weiteren dürften Sie über Ihre sicher existierenden heimlichen Kundschafterinnen im Umfeld meiner Behörde erfahren haben, daß ich dem Imperius-Fluch zu widerstehen vermag und ich auch eine ausreichend hohe PTR errungen habe, um gegen Verwandlungszauber bestehen zu können. So kann ich ebenso wie Sie auf Ihre magische Robustheit vertrauen darauf bauen, daß mir von Ihrer Seite nichts zustoßen wird. Daher kann ich es mir genauso wie sie erlauben, unbegleitet zu dieser Unterredung zu erscheinen. Denn es liegt sicher sowohl in Ihrem wie in meinem Interesse, daß über diese Zusammenkunft keine öffentliche Verlautbarung erfolgt, im Zweifelsfall wird sie nie stattgefunden haben. Wenn sie in der Nacht zum ersten Juli nach Viento del Sol reisen möchten, begeben Sie sich durch den Küchenzugang in das Haus. Ich werde Anweisung geben, daß dieser für mich und meine Mitarbeiter passierbar bleiben soll. Damit eröffnet sich Ihnen auch der Weg des ungesehenen Zugangs. Wenn sie erwähntes Zimmer erreichen klopfen sie zweimal und nach drei Sekunden dreimal!

In der Hoffnung, es bei Ihnen mit einer eigensinnigen, aber nicht wahnsinnigen Hexe zu tun zu haben verbleibe ich

mit freundlichen Grüßen

Milton Cartridge

Anthelia nickte und ließ den Text noch einmal mit der Stimme des Ministers vorlesen, seinen durch die eigene Handschrift mit eingeflossenen Abdruck seines äußeren Erscheinungsbildes sehen und nickte erneut.

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Die Nacht war kühl und sternenklar. Anthelia verließ sich nicht darauf, daß ihr keiner zusah, während sie zu dem Minister ging. Sie hüllte sich in eine körperliche Unsichtbarkeit ein, die einem Tarnumhang zur Ehre gereicht hätte. Sie prüfte ungesagt die Tür zur Küche und horchte in die Nacht. Sie vernahm die sanft dahinfließenden Gedanken gerade einschlafender und die dahinjagenden Fetzen erster Träume. Womöglich hatte sich Cartridge okklumentisch abgeschirmt oder saß gar in einem Schutzzauber gegen Gedankenspürer. Jedenfalls lauerte niemand direkt auf sie. Dennoch öffnete sie die Küchenzugangstür mit ihrer telekinetischen Kraft und schlüpfte geschickt durch die Öffnung, ohne Tür und Rahmen zu berühren. Dann ließ sie die Tür so leise sie konnte wieder zufallen. Sie erlauschte die Gedanken von Charlie Beam, dem Wirt, der noch im schalldichten Saloon saß. Anthelia erinnerte sich verschwommen, wie sie seine Stimme durch Daianiras Bauchdecke und das sie umgebende Fruchtwasser gehört hatte, als sie um die Ostertage des Vorjahres ihre Verwandten in VDS besucht hatte. Ja, jetzt lebte Daianira entweder als Kleinkind oder durfte demnächst erneut darauf hoffen, Mutter zu werden. Doch was jetzt anstand war zu wichtig, um abschweifende Gedanken zu hegen. Sie riß sich zusammen und stieg die Treppen hinauf bis zum fünften Stock. Der Zugang zu den Zimmer war durch eine separate Tür gesichert. Vielleicht durfte hier nur hinein, wer einen passenden Schlüssel mitführte. Anthelia vertraute darauf, daß sie unangefochten auf den Gang treten konnte. Sie hob ihre Unsichtbarkeit auf. Ein Heimlichkeitenauffindezauber mochte sie doch noch unangenehm verraten. Sie betrat den mit dicken Teppichen ausgelegten Gang. Sie konnte sogar eine blütenweiße Brücke aus Einhornfell sehen. Das gereichte schon zur Dekadenz, dachte Anthelia. Sie ging auf die Zimmertür 502 zu und prüfte auf verborgene Fang- oder Meldezauber. Sie fand keinen. Sie trat an die Tür und klopfte zweimal. Dann ließ sie die erbetenen fünf Sekunden verstreichen und klopfte dreimal. An der Tür erschien ein Schild BITTE EINTRETEN! Anthelia drehte den Türknauf telekinetisch und stieß die Tür ebenso mit ihrer Willenskraft auf. Kein Angriff. Sie trat im Schutz von Sardonias Mantel und der Tränen der Ewigkeit in den Raum hinter der Tür.

Eigentlich war es kein einzelnes Zimmer, sondern eine Suite. Sie stand in einem Flur, der in einem tanzsaalartigen Wohnraum mündete. Links und rechts gingen je zwei Türen ab, wohl zu mindestens einem Bad und mindestens zwei Schlafzimmern. Im Wohnzimmer saß ein Zauberer in Tagesgarderobe. Er trug einen wertvoll aussehenden blauen Umhang mit goldenen Sternchen und wirkte angespannt. Jetzt empfing Anthelia auch seine Gedanken. Es war Cartridge, der echte Milton Cartridge, keine Bokanowski-Kopie und kein Vielsaft-Trank-Nutzer.

"Guten Abend oder vielleicht doch schon guten Morgen, Herr Minister. Im Osten ist es ja schon drei Uhr und auf Hawaii ja noch der 1. Juli", grüßte Anthelia und streckte dem Minister ihre Hand entgegen. Dieser schüttelte sie nur kurz. Sicher wußte der, welche Natur dieser Besucherin innewohnte. Ja, er wußte es. Sie hörte es aus seinen Gedanken, die er jedoch in dem Moment verhüllte, als sie ihm ins Gesicht sah.

"Dieses Zimmer ist ein dauerhafter Klangkerker. Zuzüglich schirmt es jeden mentalen Aufspürzauber von außen ab", sagte der Minister. "Vielleicht möchten Sie mir jetzt, wo Sie mir Auge in Auge gegenüberstehen, Ihren wahren Namen verraten."

"Es besteht nun, wo wir uns tatsächlich gegenüberstehen kein Grund, dies nicht zu tun, Sir. Mein Name ist Anthelia. Ich weiß, ich sah vor etwas mehr als einem Jahr noch anders aus. Aber ich habe mich daran gewöhnt, daß mein Erscheinungsbild sich verändert und kann mit dem gegenwärtigen sehr gut leben."

"Sie haben jemandes Körper gestohlen?" Fragte der Minister.

"Damit Ihr Gewissen Sie nicht zu sehr plagt, Sir, ich habe diesen Körper, ddem ich jetzt innewohne nicht gestohlen, sondern durch eine Art Jahrtausendzufall übergestreift bekommen. Den Körper, in dem Sie und Ihre Leute mich früher bewundern durften, habe ich von einem durch Dementorenkuß entseelten Verbrecher übernommen, den ich nach meinen Bedürfnissen umformte. Verbleiben wir in dieser Sache dabei, daß ich Anthelia vom Bitterwald bin, die legitime Nichte Sardonias. Ich weiß, daß meine Tante bis heute nicht gut gelitten ist. Ich habe auch erkennen müssen, daß längst nicht jedes ihrer Mittel heute noch angebracht ist. Aber falls Sie nicht mit mir unterhandeln möchten werde ich sehr gerne wieder gehen. Dann bliebe mir nur, Ihnen eine erfolgreiche Zeit in Frankreich zu wünschen."

"Nein, ich möchte mit Ihnen reden, auch wenn mir klar ist, daß ich mich da auf ein haardünnes Drahtseil über einem klaffenden Vulkanspalt begebe", sagte der Minister und deutete auf einen freien Ohrensessel. Anthelia raffte ihren Umhang weit genug, daß sie ohne sich draufzusetzen im Sessel platznahm. Sie legte ihre Hände auf die Armlehnen um zu zeigen, daß sie den Minister nicht angreifen wollte.

"Die Sicherheit meiner Familie, meiner Freunde, Verwandten und aller derer, die ihr Vertrauen darin setzen, daß ich Ihnen ein sicheres und friedliches Leben ermögliche, zwingt mich, jede Chance zu ergreifen, unnötige Konflikte zu vermeiden oder bestehende auszuräumen, sofern ich dafür nicht die bestehende Ordnung in der magischen Welt verraten und preisgeben muß. Sie geben sich als Sardonias wiedergeborene Nichte aus. Gut, wiedergeboren im Sinne wie meine Frau mir einen gesunden Sohn schenkte und jetzt das zweite Kind in hoffnungsvoller Erwartung trägt wurden Sie wohl nicht. Ich weiß nämlich, wessen Körper Sie, wenn Sie wirklich Anthelia sind, zu Ihrem eigenen gemacht haben. Ich pflege gute Kontakte zu informierten Kreisen." Anthelia hätte fast erwähnt, daß sie tatsächlich beinahe eine echte Wiedergeburt erlebt hätte. Aber das war vergangen und heute nicht mehr wichtig. So sagte sie:

"Ich denke, diese gutinformierten Kreise werden Ihnen schon frühzeitig geraten haben, sich nicht mit mir einzulassen, worauf auch immer. Aber die Zukunft ist trotz aller Wahrsagekunst immer noch ein undurchschaubares Gefüge. Kommen wir also zur Gegenwart. Ich biete Ihnen wie erwähnt an, jede Aktivität hintanzustellen, die gegen die von Ihnen zu bewahren beteuerte Ordnung zielen mag. Im Gegenzug erhoffe ich mir, daß wir miteinander gegen die aufgekommene Bedrohung ankämpfen können, die Nocturnia darstellt. Ich setze voraus, daß Sie mit Ihren Kollegen in anderen Ländern schon darüber sinnieren, wie Sie gemeinsam dieser Gefahr begegnen. Daher erweitere ich meine Zusage gerne auch auf die Hoheitsgebiete anderer Zaubereiministerien, sofern diese mich und meine Schwestern nicht bedrohen. In diesem Falle wäre mein Stillhalten nicht mehr gültig. Ich habe genug damit zu tun, wahrhaft dunkle Bedrohungen zu erkennen, die einer friedlichen Weltordnung entgegenwirken."

"Sie haben die Entomanthropen ins Leben zurückgerufen und damit eine Menge Toleranz verspielt, die sie bei anderen Hexen genossen", sagte Cartridge. Anthelia nickte. Dann erwiderte sie, daß sie diese zugegeben drastische Maßnahme und damit den Verlust der eigenständigkeit junger Mädchen aus der Muggelwelt in Kauf genommen habe, um die Invasion der Schlangenkrieger Voldemorts zu bekämpfen. "Es gibt Brände, die können nicht mehr mit Wasser gelöscht werden. Diese können nur durch kontrollierte Gegenfeuer ausgehungert werden, Herr Minister. Und wenn ich mich daran erinnere, welche Maßnahmen Ihr Ministerium ergreift, wenn Zauberei bei den Magielosen ruchbar wird, sollten Sie keinen Stein nach mir werfen, solange Sie im Glashaus sitzen. Was einem guten Zweck dient mag grausam oder entwürdigend erscheinen. Doch wenn das Ziel allen frommt fragt keiner mehr nach dem Weg dorthin. Die Magielosen Ihres Landes rechtfertigen Kriege, Attentate und wirtschaftliche Gängeleien damit, dem Land und seinen Verbündeten zu dienen. Somit wird Sie niemand dafür verurteilen, wenn Sie und ich Seite an Seite gegen Nocturnia obsiegen. Ich biete Ihnen auch an, daß wir gerne getrennt marschieren, solange wir uns dabei nicht selbst bekämpfen."

"Ich habe Sie richtig eingeschätzt. Sie sind nicht wahnsinnig, nicht von Ihren Gelüsten getrieben wie Sardonia oder Voldemort. Aber Grindelwald rechtfertigte sein Tun auch damit, daß wir Zauberer auf Grund unserer Überlegenheit das Recht und die Pflicht hätten, die Welt der magielosen Menschen zu unterwerfen und zu beherrschen. Soweit ich weiß hegte Sardonia diesen Wunsch im Bezug auf eine Hexengynäkokratie auch."

"Das tue ich im Grunde genommen auch. Doch ich habe lernen müssen, daß die Gewalt nur abschreckt, nicht vereint und ich sie daher nur dann als Mittel nutze, wenn es mit Überzeugung nicht gelingt und es lebensnotwendig ist, einen Konflikt endgültig zu entscheiden. Sie hätten Stillwell alias Ruben Coal sicher auch nicht am Leben gelassen, wenn Sie seiner habhaft geworden wären. Und was uns Hexen angeht, so liegt es in unserem Erbgut, die Welt für unsere Nachfahren zu bewahren, weil wir diejenigen sind, die unsere Nachfahren in diese Welt gebären können. In Ihrem Erbgut liegt es, gerade mal die eigene Familie oder die eigene Gruppe zu stärken und nicht an den Rest der Welt zu denken. Doch wie unterschiedlich unsere Überzeugungen sind, unsere gemeinsame Welt wird gerade wieder massiv bedroht, nachdem wir diesen armseligen, seinem Selbsthaß verfallenen Waisenknaben Tom Riddle überstanden haben. Ich war durchaus bereit, dem britischen Zaubereiministerium zu helfen, ihn zu entmachten. Aber er hat es vorhergesehen und sich gut abgesichert. Wieder zurück zur Gegenwart: Möchten Sie ein Bürger Nocturnias werden?"

"Sie haben recht, unsere Überzeugungen von Gleichwertigkeit sind unterschiedlich. Doch die gegenwärtige Zwangslage verbietet es, mich mit Ihnen in endlosen Debatten zu verlieren. Nein, ich möchte kein Bürger Nocturnias werden. Ich möchte zwar meine Kinder und Enkel aufwachsen sehen und vielleicht noch die Geburt eines Urenkels mitbekommen. Aber ich möchte, daß meine Nachkommen keine Angst vor mir haben müssen. Außerdem verehre ich Sonne und Meer zu sehr, als mich davon fernhalten zu müssen. Ich habe den Auftrag erteilt, Nyx zu töten. Das wird mich Nocturnia gegenüber als unbedingt zu tötenden ausweisen."

"Was heißt, daß Sie ihre Familie in Sicherheit wissen", sagte Anthelia. Der Minister nickte. Dann sagte er:

"Wenn Sie etwas haben oder wissen, daß mir helfen kann, Nocturnia zu entmachten, ja zu zerschlagen, dann helfen Sie sich damit selbst. Denn Sie haben niemals so viele Mitschwestern, wo ich und alle Zaubereiminister der Welt über zweitausend Zauberer und loyale Hexen aufbieten können."

"Nicht die größe der Armee entscheidet den Krieg, sondern die Strategie und Taktik. Aber ich gebe zu, daß es mir hilft, wenn das von mir erworbene Wissen von Ihnen verwendet wird, die Bedrohung zu beseitigen." Sie zog einen Stapel Papier aus ihrem Umhang und übergab ihn dem Minister. "Ich habe eine Kopie davon. Das ist das Original, daß ich aus einem Jagdschloß bei Rechnitz holen konnte, in dem fünfhundert Vampire wohnten."

"Dann waren Sie das mit dem Dämonsfeuer", grummelte der Minister. Anthelia nickte. Sie verschwieg dem Minister, daß sie einen altaxarroischen Zauber hatte aufheben müssen, den seine Leute sicher nicht gebrochen hätten. Dann sprach der Minister den entscheidenden Satz:

"Wenn Sie mir bei Ihrem Leben schwören, jede gegen die Zaubereiministerien der Welt gerichteten Handlungen zu unterlassen, solange wir die gemeinsame Bedrohung Nocturnia fürchten, stelle ich jede Nachforschung über Ihre Mitglieder und Ihr Hauptquartier zurück."

"Es sollte Ihnen mittlerweile von mehreren Seiten zugetragen worden sein, daß ich meine Mitschwestern durch einen Verratsverhinderungszauber davon abgehalten habe, freiwillig oder unfreiwillig unsere Schwesternschaft zu verraten. Insofern würden Sie nur das Leben Ihrer Leute gefährden, wenn Sie weiter Jagd auf uns machen. Ich kann jedoch bei der Unversehrtheit meiner Seele schwören, daß ich Ihrer Behörde von mir aus keine Schwierigkeiten bereiten werde, solange Sie mir keine bereiten. Betrachten Sie uns als politische Partei mit gegensätzlicher Überzeugung. Da Sie in diesem Land die Staatsform der Demokratie mit unterschiedlichen Meinungen pflegen können Sie mit dieser Überzeugung sicher ruhig schlafen."

"Eine politische Partei offenbart nicht nur ihre Ziele, sondern scheut sich auch nicht, ihre Mitglieder bekanntzugeben."

"Selbst in den USA ist das nicht immer von Vorteil, seine Parteizugehörigkeit preiszugeben. Und in anderen Ländern werden Oppositionelle grausam verfolgt. Ich bin bereit, mit Ihnen Frieden zu halten, solange Sie mit mir frieden halten. Ich habe sehr sehr lange gewartet, um die von meiner Tante vererbte Verpflichtung wahrzunehmen. Ich mußte von Hallitti lernen, daß brutale Hast nicht zum Ziel führt und durch Umstände, auf die ich hier nicht eingehen werde erkennen, daß zu schnelles Vorpreschen oft auf einen unnötigen Umweg führen kann, wenn man an den kleinen, kaum sichtbaren Abzweigungen vorbeirennt." Anthelia erhob sich langsam und streckte dem Minister ihre rechte Hand hin. "Am liebsten würde ich Ihnen den unbrechbaren Eid abnehmen. Doch ich habe befunden, mit Ihnen alleine zu sprechen. Die Gegenwart zwingt uns zur ungewollten Einigkeit. Allerdings dürfen Sie nicht darauf bauen, daß nach der Bedrohung ein dauerhafter Friede gilt, solange Sie meinen, eine andere Weltordnung zu errichten als die, die wir gerade haben."

"Sie haben mich jetzt kennengelernt, Herr Minister und ich Sie. Wir wissen beide voneinander, daß keiner den anderen für einfältig halten muß. Wir wissen beide, daß es etwas gibt, für das wir eintreten müssen. Ich komme mit den Gruppierungen, die mich nicht wertschätzen zurecht, solange sie keine physische Bedrohung für mich oder die meinen darstellen. Ich schwöre Ihnen also bei der Unversehrtheit meiner Seele, daß ich weder gegen Ihre Behörden, noch gegen die von Ihnen zu schützenden Menschen vorgehen werde, solange Nocturnia uns alle bedroht und solange niemand darauf ausgeht, mich oder die mir treuen Schwestern gefangenzunehmen oder zu töten", sagte Anthelia. Der Minister öffnete kurz seinen Geist, weil er sich nicht mehr auf die Okklumentik konzentrieren konnte. Sie erfuhr, daß er ihr zumindest in dieser einen Sache vertraute. So fügte sie noch an: "Sollten Sie hilfe brauchen, dann schicken Sie mir eine Eule oder bestellen mich anderswie wieder in diesen Raum."

"Möge ich diese Entscheidung niemals bereuen", dachte Cartridge. Dann öffnete Anthelia die Zimmertür wider telekinetisch und verließ die Suite. Der Minister fragte sich, welches Wesen in diesem Körper wohnte. Sie hatte ihn einmal so angesehen, als suche sie einen Liebhaber und dann erkannt, daß sie wichtigeres zu tun hatte. In den Muggelgeschichten über das Böse an der Magie hieß es immer, daß jemand einen Pakt mit dem Teufel oder einem anderen Erzdämonen eingehen und seine Seele verkaufen mußte, um Macht zu erlangen. Hatte er gerade mit dem Teufel einen Pakt geschlossen?

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Es war kurz vor der in der Zeitung angekündigten Abreise des Zaubereiministers zur Quidditch-Weltmeisterschaft. Draußen war Sommer. Anthony genoß es, sich von seiner mutter im Besentragekorb über dem eigenen Grundstück herumfliegen zu lassen. Er konnte schon die Farben der Bäume unterscheiden und war heilfroh, daß er nicht mehr groß neulernen mußte, was Grün und was Braun war. Er freute sich wirklich wie ein kleines Kind, daß seine Mutter mit ihm herumflog. Als sie dann landete und mit ihm zusammen lachend ins Haus zurückkehrte klackerte es am Briefkasten. Das war seit mehreren Tagen nicht mehr zu hören gewesen. Tracy Summerhill trug ihren Sohn erst in sein Kinderzimmer. Tony war froh, daß sie ihm eine Reisewindel angelegt hatte. Die hielt noch zwei Tage durch. Er setzte seine Wiege in Gang, die noch groß genug für ihn war. Womöglich würde er erst mit einem oder anderthalb neuen Lebensjahren ein richtiges kleines Bett bekommen. Er genoß die sanften Bewegungen und träumte sich zurück in die Zeit vor nun bald zwei Monaten. sicher, jetzt konnte er die Sonne genießen und die in ihrem Licht leuchtenden Farben unterscheiden. Auch hatte er in Tracy Summerhills innigster Geborgenheit keine Vogelstimmen hören können. Doch sich vorzustellen, mit ihr den Rest des Lebens so eng und untrennbar verbunden zu bleiben gefiel ihm. Es war keine geschlechtliche Regung. Dazu war sein Körper noch lange nicht fähig. Doch der Wunsch nach tiefer Geborgenheit beherrschte ihn, stimmte ihn ruhiger und friedlicher. Wenn eine Mutter jemals einen pflegeleichten Sohn hatte, dann war es Tracy Summerhill.

"Ach neh", noch ein Interview", knurrte Tracy Summerhill und eilte in das Kinderzimmer. "Die Tante vom Westwind möchte mich wieder sprechen. Offenbar haben der Onkel Zaubereiminister und die böse Tante Anthelia was angestellt, worüber die neugierige Tante Lino mit mir sprechen möchte. Da ich nicht noch mal als "spendable, pralle Mutterhexe" in der Zeitung stehen will darfst du jetzt schon mal Mittagessen. Dann kannst du nachher auch besser Heia machen."

Das war ihm das einzige Grausen, daß Tracy mit ihm in dieser lächerlichen Babysprache redete, als wisse sie nicht, daß er jedes Wort und jede Bedeutung klar verstand. Zumindest durfte er jetzt schon sein Mittagessen haben. Sie setzte sich neben die Wiege, hob ihn heraus und legte ihn sich zurecht.

"Du bist ein richtiger kleiner Nimmersatt", scherzte sie, weil er mit großer Inbrunst an ihr nuckelte. "ich wünsche mir so, daß du niemals in die Nähe von dieser Sardonianerin gerätst. Die ist so gefährlich, daß die dich glatt totmacht. Ich möchte haben, daß du schön weit von der wegbleibst und nichts machst, weshalb die zu dir kommen will um dir was zu tun, Tony. Ich werde sehr froh sein, wenn du mit mir zusammen ganz viele Jahre lebst. Deshalb möchte ich haben, daß du dich nicht mit dieser Sardonianerin Anthelia und ihren bösen Schwestern herumstreitest. Ich freue mich, daß du bei mir bist und freue mich, wenn du ganz friedlich groß wirst, ohne dich mit dieser bösen Tante zu prügeln." Ihre Worte versanken tief in seinem Geist, wie ihre Milch in seinem Bauch versank. jede seiner Saugbewegungen trieb ihn dazu zu denken, daß er dieser Frau, dieser Hexe, seiner Mutter, keinen Kummer machen durfte, nur weil er böse auf Anthelia gewesen war. Wenn sie es gewollt hätte, wäre er jetzt nicht Tracys süßes Baby und dürfte nicht mit seiner früheren Geliebten die schönste Zeit des Lebens verbringen. Er war froh, daß sie ihn wollte. Er durfte ihr deshalb keine Angst oder Sorgen machen. Er wollte Anthelia in Ruhe lassen, oder deren Erbin. Dann wollte er aber kein Zaubereiminister werden. Denn wer das wurde, mußte gegen die kämpfen. Wenn er das nicht wollte, weil seine Mutter sonst traurig und verängstigt wurde, dann durfte er nicht ins Zaubereiministerium. Sie wiederholte ihre Bitte, ihren Wunsch, ihre Besorgnis. Ihre Worte hallten in seinem Verstand nach, sanken in sein Unterbewußtsein, durchdrangen seine Seele und vertrieben den Rachedurst, sowie sein Durst nach frischer Muttermilch Schluck um Schluck erlosch. "

Mehr als gut gesättigt räkelte er sich in seiner Wiege und gab sich dem einlullenden Schaukeln hin. Doch als die Türglocke ging, wachte er wieder auf. Der Drang, seinen Unmut über das Gewecktwerden hinauszuschreien, wurde von der Neugier niedergehalten. Was wollte Linda Knowles. Denn nur die konnte da vor der Tür stehen.

Er dachte selbst, Lindas magische Ohren zu haben, weil er trotz der geschlossenen Kinderzimmertür verstand, was nebenan im Salon gesagt wurde. Linda fragte Tracy Summerhill, was sie von der Zeitungsmeldung hielt, die am Morgen im Herold und im Westwind stand.

"Sie meinen, daß dieses Vampirreich Nocturnia tatsächlich noch aktiv ist und das Gerücht, diese Hexenschwesternschaft der schwarzen Spinne könne sich mit dem Zaubereiministerium verbünden? Das wäre nicht das erste Mal, daß eine gezielte Falschmeldung in der Zeitung stünde. Ich erinnere Sie gerne an die Sache mit dieser Brutkönigin Valery Saunders."

"Ausgerechnet mich", grummelte Linda Knowles. "Ich verstehe, wie sie das meinen. Aber mein Informant im Ministerium hat behauptet, daß Cartridge zumindest prüft, ob es einen Status Quo geben könnte, also das keine Seite mehr etwas gegen die andere unternehmen dürfe. Ich vermute, es geht dabei um die Berichte aus Europa und Asien, demnach die Vampirorganisation von Nyx noch tätig sei und Minister Cartridge befürchtet, daß auch wir in den Staaten mit Vergeltungsanschlägen rechnen müßten. Wieso und wie genau wollte mein Informant nicht verraten. Ich versuche demnächst noch wen im LI zu interviewen. Aber die knöpfen sich ja noch mehr zu als das Ministerium. Ein Knebel ist dagegen wie ein Sprachrohr."

"Und Sie wollen jetzt von mir, der Mutter von Lucas Wishbones Sohn, wissen, wie ich zu einem möglichen Burgfrieden stehe, Ms. Knowles?" Offenbar mußte Linda Knowles nicken. Denn nach nur einer Sekunde Pause fuhr Anthonys Mutter fort: "Es wäre naiv zu fordern, daß diese Sardonianerin sich und ihre Mitstreiterinnen ausliefert und allem abschwört, was sie getan hat und vor dem Gamot auf ein mildes Urteil hofft. Das wird sie sicher nicht tun. So kann ich nur sagen, daß diese Dame gerne ein friedliches Leben führen kann, wenn sie auf Nimmer Wiedersehen aus den vereinigten Staaten verschwindet. Dann hätten wir Frieden mit der."

"Wir wissen nicht, ob sie hier wohnt", sagte Linda Knowles. "Wir vermuten nur, daß sie eine Niederlassung in den Staaten hat. Wenn Minister Cartridge das hinbekäme, sie zu veranlassen, diese Niederlassung aufzugeben und wie Sie sagen, auf Nimmerwiedersehen aus dem Land verschwindet, würde sie ja immer noch meinen, das Erbe Sardonias aufrechtzuhalten."

"Dann soll sie sich gut verstecken und in den nächsten hundert Jahren nicht mehr blicken lassen oder irgendwas anstellen, was mit ihr zusammenhängt. Wie kommt die denn jetzt darauf, abgesehen davon, daß das auch eine Finte sein kann."

"Das Ministerium hält sich damit wohl noch bedeckt. Aber ich habe Gerüchte gehört, daß Nyx von Leuten des Ministeriums getötet wurde, aber ihre Vampirorganisation weiterarbeitet. Kann sein, daß diese Sardonia-Erbin meint, das Ministerium sollte sich lieber auf diese Gefahr konzentrieren statt sie weiterhin wegen des Mordvorwurfs zu jagen."

"Wie gesagt, es wäre sehr naiv zu fordern, daß diese Hexe sich einem Gerichtsverfahren stellt und darauf hofft, daß ihre Reue milde Richter findet. Dazu müßte sie ja erst einmal Reue empfinden."

"Natürlich verstehe ich Ihre Verachtung, weil Sie davon ausgehen müssen, daß diese Hexe Ihren Neffen und Geliebten ermorden ließ. Doch mittlerweile sagen viele Zauberer, daß diese Hexe nicht so dumm gewesen sein kann, Lucas Wishbone umzubringen. Mrs. Cartridge hat einem meiner Kollegen gesagt, daß sie nach allem, was sie über diese Hexe weiß, davon ausgehen muß, es mit einer sehr berechnenden, ihre Konsequenzen genau abwägenden Strategin zu tun zu haben, die sich nicht von wilden Gefühlen verleiten läßt. Allein schon daß Ihr Neffe erst kurz nach dem Ende dieser Valery Saunders starb und nicht lange vorher zeigt doch, daß sie wohl nicht für diesen Anschlag verantwortlich sei. Denn, das wissen Sie ja leider genauso wie ich, der selige Minister Wishbone hat sich durch seine Politik immer mehr in Ungnade manövriert. Ihn umzubringen und zum Märtyrer zu machen, wo er kurz vor dem endgültigen Scheitern seiner Amtsführung stand, wäre taktisch wie strategisch totaler Unfug. Sicher haben viele Leute erst gerufen, daß es die Sardonianerin war. Doch es könnte auch jemand gewesen sein, der ihr diese Tat in die Schuhe schieben wollte, weil sie sich großartig dafür anbot. Der oder diejenige dürfte dann aber sehr sehr gefährlich leben."

"Es ist jetzt bald ein Jahr her, Ms. Knowles. Ich habe es genossen, Lucas' Kind zu tragen und genieße es jetzt, es aufzuziehen. Das habe ich Ihnen und Ms. Sweetwater schon gesagt. Mir jetzt die Frage zu stellen, wer meinen Neffen und Geliebten umgebracht hat macht ihn nicht mehr lebendig. Ich weiß, daß diese Sardonianerin dieses Monster Valery Saunders erschaffen hat und wohl noch ein paar andere armselige Geschöpfe dieser Art. Das reicht vollkommen aus, sie lebenslänglich einzukerkern, ob in Doomcastle oder Askaban oder sonstwo. Aber soweit ich mitbekommen durfte hat sie ja ein qualvoller Strahlentod ereilt, weil ihr der Zugang zu magischen Heilstätten verwehrt wurde. Dann sprechen wir von einer Nachfolgerin. Wenn sie sich als legitime Erbin bezeichnet, hat sie auch alle Schulden und Erblasten übernommen. Wenn sie die jetzt loswerden will, muß sie auf dieses Erbe verzichten und nie wieder danach trachten."

"Darf ich dann zitieren, daß Sie einem möglichen Burgfrieden zwischen ihr und dem Ministerium nicht zustimmen, Ms. Summerhill?"

"Als wenn es auf die Meinung einer ledigen Mutter ankäme, der eine sogenannte Liga rechtschaffender Hexen nachstellt wie einer Verbrecherin", schnarrte Tracy Summerhill. "Aber ich habe natürlich eine Meinung: Wenn das mit diesen Vampiren wirklich bedrohlicher wird als abzusehen war, dann hat das Ministerium die Pflicht, diese Bedrohung zu beseitigen. Sollte diese Erbin Sardonias dabei aus dem Weg bleiben und dem Ministerium nicht in den Rücken fallen, so kann sie einen Burgfrieden, ein Waffenstillstandsabkommen oder was auch immer erbitten. An den Untaten der Gründerin dieser Hexenschwesternschaft ändert das nichts."

"Gut, das darf ich dann so zitieren? - Danke!"

Wie gerne würde er jetzt mentiloquieren, um sich mit Tracy Summerhill darüber zu unterhalten, was Cartridge machen sollte oder nicht. Doch das himmelblaue Stoffarmband an seinem rechten Handgelenk vereitelte jeden Versuch. Es schützte ihn jedoch auch vor einfallenden Gedankenrufen, die ihn peinigen konnten. Er schloß die Augen und tat so, als wenn er nicht von der Türklingel geweckt worden wäre. Seine Mutter kam ins Zimmer. Er fühlte ihre Wärmeausstrahlung, als sie sich über ihn beugte. Dann entfernte sie sich leise wieder und schloß die Tür hinter sich. Er war wieder allein und hing seinen Gedanken nach. Doch der kleine, im Wachstum befindliche Körper und die anstrengende Verdauung der Mittagsmilch forderten ihr Recht. Anthony Summerhill versank in tiefen, friedlichen Schlaf.

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Mittlerweile war Juli. Die Wellingfords hatten den Vorfall im Park an Nachtwind und Neubeginner weitergemeldet. Nachtwind hatte erwähnt, daß sie das Erste Kind von Neubeginner erwartete. Sonnenglanz war ein wenig eifersüchtig, daß ihre Mutter ihr zuvorkam, wo sie mit Feuerkrieger auch schon längst auf ein Kind hinarbeitete. Doch im Moment wurden sie hier gebraucht.

Die Wellingfords wollten an diesem Abend auf ihrer Dachterrasse feiern. Ian Wellingford alias Himmelsreiter hatte einen großen Geschäftsabschluß gemacht und konnte nun darauf hoffen, auch den Chinesen seine Computerprodukte zu verkaufen. Das mochte den Platzhirschen aus Amerika und Japan zwar mißfallen. Doch ihn scherte es längst nicht mehr, was gewöhnliche Menschen wollten oder vorhatten. Sonnenglanz und Feuerkrieger halfen dem mittlerweile vollständig in das erhabene Volk der Tigermenschen eingegliedertem Personal dabei, Tische und Stühle auf das Dach zu bringen. Das war für die Wertiger ein Klacks. Die Lichter wurden angezündet. Denn gerade ging die Sonne unter. Die zwanzig geladenen Gäste und die Hausbewohner nahmen Platz. Das vier Mann starke Küchenpersonal, das heute um einen exzellenten Partyservice ergänzt wurde, ging daran, die Vorspeisen aufzutragen, als die Sonne völlig unter dem Horizont versackte. Hier im Süden passierte das so schnell, daß zwischen Rotfärbung und Dunkelheit nur wenige Minuten verstrichen. Das hätte die Festgäste nicht sonderlich gestört. doch als der Alarm losging erstarrten alle.

"Unbekannte Eindringlinge klettern über die Mauern!" Rief der diensthabende Überwacher. Feurkrieger bellte eine Anweisung an fünf Mitbrüder, die als Leibwache auf dem Dach angetreten waren. Der ehemals in Berlin lebende Zimmermannsgeselle grinste erst, weil er sich fragte, wer ihnen da auf die Bude zu rücken wagte. Dann fiel ihm ein, was seiner Frau und Rani passiert war. Er sah sich um und blickte auch nach oben. Da sah er sie, Wie kreisende Aasgeier hingen sie am Himmel und belauerten sie, Fledermäuse. Nur die guten Augen eines Wertigers konnten die hoch über ihnen kreisenden Geschöpfe sehen, die nun die lederartigen Flügel zusammenfalteten und sich herabstürzten. Im gleichen Moment gingen auch schon die Schnellfeuergewehre der fünf Leibwächter los. Die weiblichen Partygäste schrien. Feuerkrieger jagte zum Dachrand und sah zwanzig schattenhafte Gestalten heranlaufen, schneller als der beste Olympiasprinter. Das war ein regelrechter Überfall.

"Mist, die stehen wieder auf, wenn ich die beharkt habe", knurrte einer der bulligen Leibwächter.

"Das sind echte Vampire. Los Verwandeln und dann drauf!" Befahl Feuerkrieger. Dann holte er sich noch einen Leibwächter. "Von Oben kommen sie auch. hol Benzin her. Wir fakclen die ab!"

"Und uns gleich mit", knurrte der Leibwächter. Die Frauen schrien noch lauter, weil zwei für sie grauenvolle Dinge zugleich passierten.

Zuerst kamen die niederstürzenden Fledermäuse, die so groß wie Menschen waren. Dann sahen sie, wie sich die Leibwächter in monströse Tiger verwandelten. Diese brüllten los und gingen zum Angriff auf die nun am Haus heraufkletternden Angreifer über. Feuerkrieger verfiel ebenfalls in die Verwandlung, während die Partygäste fluchtartig zur Tür in das Haus hasteten. Dort hockte jedoch einer der Tiger und brüllte sie so laut an, daß sie wieder zurückwuselten. Das reichte den gerade aufschlagenden Vampiren aus, um sich ihre ersten Opfer zu suchen. Sie griffen die normalen Menschen an, um sie zu beißen. Dann passierte was, womit Feuerkrieger nicht gerechnet hatte. Er hörte ein ganz leises Schwirren. Da huschte etwas an seinem linken Ohr vorbei und bohrte sich in die Brust des Wertigers an der Tür. Dieser röhrte laut los und heulte, bevor er kraftlos zur Seite kippte. Wieder schwirrte etwas. Feuerkrieger warf sich in Deckung. Gerade noch rechtzeitig. Da zischte es über ihn hinweg und krachte laut klirrend gegen die Wand. Feuerkrieger sah die davonspritzenden Splitter und sah auch, wie sie im Flug zu Wasser zerliefen. Eis! Die Vampire oder ihre Hinterleute schossen mit echten Eispfeilen! Eis konnte sie genauso töten wie unmagisches Feuer. Feuerkrieger fühlte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder sowas wie Angst. Er stieß einen telepathischen Warnruf aus. Im Gegensatz zu den magischen Menschen konnten Wertiger mit ihren Gedankenrufen auch mehrere Artgenossen zugleich erreichen. Sonnenglanz war mit den Kindern, die sich aus Wut und Angst heraus auch verwandelt hatten, unter die Massiven Tische in Deckung gegangen. Wieder zischte ein Geschoß auf Feuerkrieger zu. Der warf sich zur Seite und sah einen der Angreifer, der eine Armbrust in Händen hielt. Gerade zupfte er etwas aus einer bauchigen Trommel, die an einem Dreipunktgurt über seinem Rücken hing. jetzt konnte Feuerkrieger das leise Zischen und Säuseln im inneren der Trommel hören und sah den knapp zwanzig Zentimeter langen Eisbolzen, den der Angreifer auflegte. Feuerkrieger täuschte an, loszurennen und verleitete den Angreifer dazu, seinen Bolzen abzuschießen. Feuerkrieger tanzte das ihm geltende Geschoß aus und preschte los, nachdem er schnell gesichert hatte, daß nicht schon wer anderes auf ihn anlegte. Mit einem Gewaltsprung erwischte er den Mann und roch sofort, daß es kein Normalsterblicher War. Er schnappte mit seinem Maul nach dem Hals des Fremden und zerriß diesen. Weißes, sehr übel stinkendes Blut spritzte umher. Da hörte er den nächsten Eispfeil. Er reagierte zwar schnell. Doch er konnte nur erreichen, daß er den Pfeil nicht in die Brust, sondern in die linke Schulter bekam. Er fühlte den bohrenden Schmerz und gleichzeitig eine kraftraubende Kälte. Er packte den Bolzen mit den Schneidezähnen und zog ihn heraus. Aus der Wunde quoll Blut. Der Eistreffer hatte eine nicht einfach wieder zugehende Wunde geschlagen. Doch jetzt war er erst richtig wütend.

Partygäste, die flüchten wollten, jagten in Panik am getöteten Wertiger vorbei ins Haus. Keine schlechte Idee, wie Feuerkrieger fand. Doch zuerst mußte er diesen Eisschützen kaltmachen, der ihm in die Schulter geschossen hatte. Er fühlte den Schmerz der Verwundung. Zwar war der Eispfeil längst herausgezogen. Doch die dieser Zustandsform des Wasser eigene Naturmagie wirkte gegen den Wertigerorganismus an. Wie lange würde Feuerkrieger mit dieser Verwundung herumlaufen. Schwirr! Schwirr! Zwei dicht an ihm vorbeizischende Eisbolzen verhießen ihm, daß er wohl nicht lange genug würde leben können, um das zu erfahren. Dann sah er die beiden Eisbolzenschützen. Gleichzeitig sprang ihn eine Fledermaus an und versuchte, ihn mit Krallen und Zähnen zu erwischen. Er biß dem Vampir kurzerhand den Kopf ab, so wütend war Feuerkrieger. Er wollte gerade den ihm nächsten Eisbolzenschützen angreifen, als Himmelsreiter, der noch in Menschengestalt verblieben war, eine brennende Kerze und eine Flasche Flambieralkohol hochriß. Er schleuderte dem Eisschützen den brennbaren Alkohol mitten ins gesicht und warf ihm die brennende Kerze nach. Die Flamme schrumpfte im Flugwind zusammen. Doch ihr Rest zündete den Alkohol und verwandelte den Eisbolzenschützen in eine lebende Fackel. Feuerkrieger war jedoch klar, daß dieser damit zu einer neuen Bedrohung werden würde. Tatsächlich rannte der nun laut schreiende Angreifer lodernd auf Himmelsreiter zu. Feuerkrieger packte mit dem Maul eine geschlossene Wasserflasche und schleuderte sie aus dem Genick heraus gegen den brennenden Vampir. Die Flasche zerplatzte an ihm und erstickte etwas von dem Feuer. Feuerkrieger sah noch einen Eisschützen, der auf Himmelsreiter anlegte, der gerade selbst zum Tiger wurde. Er rannte mit gesenktem Kopf los und prallte auf den Schützen. Der verriß die Armbrust und schoß einen eisigen Gruß in den indischen Himmel, der wegen der starken Beleuchtung und den Abgasen leider nicht so sternenklar war wie im Hinterland.

"Nocturnia!" Riefen alle auf das Dach aufmarschierten Angreifer. Die Fledermäuse versuchten, die Menschen zu beißen. Die Tiger hieben mit ihren Pranken nach den Flughäuten und zerrissen sie. Weitere Eisbolzen schwirrten durch die Luft. Dabei erwischte es Ians Butler, der gerade mit einem Stapel Schußwaffen aufs Dach rannte. Der Dienstbote stürzte und blieb liegen.

"Alle ins Haus rein. Rückzug sichern. Die Familie zuerst!" Schickte Feuerkrieger los und warf sich so, daß er mögliche Angriffe auf die Wellingfords abwehren konnte. Sonnenglanz wollte sich neben ihn stellen. Doch er warf sie brutal um. Da kam eine dieser riesigen Fledermäuse über sie. Sie warf sich mit dem Vampir zu Boden. Vier Eisschützen feuerten gleichzeitig. Feuerkrieger warf sich zu Boden. Die vier Pfeile zischten durch die Luft und krachten gegen die Wände. Einer fuhr jedoch Jerimy Wellingford, der noch keinen Clannamen hatte zwischen die Augen. Das war für den Tigerjungen der Tod. Alle Wertiger spürten den Impuls des Todes. Ian brüllte vor Wut auf, als er den langsam zerschmelzenden Eiszapfen sah, der aus der Stirn seines erstgeborenen Sohnes ragte. Dann stürmten er, Randolph und Feuerkrieger auf drei der vier Vampire zu. Sonnenglanz erledigte gerade die sie bedrängende Fledermaus und zerfetzte mit der rechten Vorderpranke die Flughaut einer zweiten Fledermaus. Dann stürmte auch sie los, den vierten Eisschützen als Ziel. Dieser spannte bereits die Armbrust und legte den nächsten Bolzen auf. Da flog ihm Sonnenglanz entgegen. Der Vampir mit der Eispfeilarmbrust schaffte es nicht mehr, korrekt zu zielen. Der Bolzen schwirrte an Sonnenglanzes linkem Ohr vorbei. Dann gruben sich ihre Vorderkrallen und Zähne in das Fleisch des Schützen.

Himmelsreiter war in Rage. Er hieb und biß um sich. Beinahe hätte ein Eisbolzen ihn seinem Sohn hinterhergeschickt. Doch da war Randolph schon an dem Schützen und zerfleischte ihn so brutal, wie nur ein angeschlagenes oder wütendes Raubtier dies tun konnte.

Aus dem Haus klangen panische Rufe, weil die Tür zum Wohnbereich versperrt war. Da zischte es laut von unten. Der Sicherheitschef hatte das für Menschen wirksame Narkosegas freigesetzt. Diese Maßnahme hatte sich Himmelsreiter ausgedacht, falls sie es in seinem Haus mit einer Übermacht von Feinden zu tun haben würden. Gifte aller Art konnten Wertigern nichts anhaben. Selbst die Bisse der Nagas, die der Schlangenkopf mit den roten Augen erweckt hatte, waren gegen die Wertiger wirkungslos geblieben. So verfielen die Partygäste innerhalb von Sekunden dem Gas und störten nicht mehr.

Der Kampf ging weiter. Randolph und sein Vater waren in einem regelrechten Vampirblutrausch. Allerdings versuchten die Vampire weiterhin, sie mit Eispfeilen zu beharken, bis Feuerkrieger die Bolzentrommeln der getöteten einfach über den Dachrand schleuderte. Diese schlugen auf der Mauerkrone auf und zerplatzten laut. Doch noch waren zehn Gegner auf dem Dach. Dann erwischte Sonnenglanz eine Vampirin, die noch eine Armbrust führte. Allerdings mußte sie dabei einen Eistreffer in ihr linkes Hinterbein hinnehmen. Einige der Vampire flogen als Fledermäuse auf. Feuerkrieger pflückte einen mit einem mächtigen Sprung herunter. Zwar tat ihm die getroffene Schulter immer noch weh, und das aus der Wunde rinnende Blut verkrustete ihm das Fell. Doch er war in seinem Element. Er durfte kämpfen.

"Wir brauchen einen von denen lebend", hörten die Wertiger Sonnenglanzes Gedankenstimme. Die Gequältheit in der Stimme heizte Feuerkriegers Wut noch mehr an. Deshalb hätte ihn der letzte noch stehende Eisbolzenschütze beinahe einen Bolzen in den Kopf gesetzt. Feuerkrieger entging dem kalten Tod nur, weil er in dem Moment hochsprang, um einer fliehnden Fledermaus in die Hinterbeine zu beißen. Randolph stürzte sich auf den Eisschützen und massakrierte ihn bis zur Unkenntlichkeit. Seine Schwester wurde gerade von zwei Vampiren bedrängt, die ihr mit brennenden Kerzen das Fell verbrennen wollten. Doch sie hieb den beiden die Kerzen selbst gegen die Kleidung. Die Vampire schrien auf. Dann waren Randolph und Jaruni Wellingford bei den beiden und gaben ihnen mit ihren Pranken den Rest.

Vier Vampiren gelang die Flucht. Einen erwischte Sonnenglanz und umklammerte ihn mit ihren Vordertatzen wie die Katze eine Ratte.

"Los, runter in den Schutzraum, bevor diese Flattermänner Verstärkung holen!" Befahl Ian Wellingford. Seine Wut auf diese Gegner loderte noch. Doch Sonnenglanz sah ihn nur streng an, als er auf ihren Gefangenen zulief.

Die Wellingfords hatten im Keller, nur über einen für zehn Personen ausgelegten Aufzug erreichbar, einen tresorartigen Stahlbetonraum, der schon ein kleiner Luftschutzbunker war. man konnte als wohlhabender Bürger in diesem Land nie sicher sein, nicht von Terroristen behelligt zu werden. Jetzt erwies sich dieser Raum als wertvolle Investition. Hier war eine eigene Stromerzeugung, ein Trinkwassertank, der zehn Personen für zwei Wochen versorgte, drei Chemische Toiletten und ein Satellitentelefon. Außerdem verfügte der kleine Bunker über eine eigene Sauerstoffversorgung und CO2-Entsorgung.

"Die haben Jerimy umgebracht", schnarrte Jaruni. "Diese Fledermäuse haben meinen Sohn umgebracht."

"Der Typ, der das war ist tot", knurrte Randolph. Feuerkrieger hörte die Genugtuung aus der Stimme des Jungen, der über und über mit weißem Blut besudelt war. Sonnenglanz hatte inzwischen Verbandsmaterial besorgt und ihre und Feuerkriegers Eiswunde verbunden. Selbst in der menschlichen Gestalt schmerzten diese Wunden.

"Irgendwer hat uns auf die Liste der zu killenden Typen gesetzt", bemerkte Feuerkrieger und sah den von seiner Frau gefangenen und mit schweren Handschellen gefesselten Vampir an. Dieser kämpfte bereits damit, die Handfesseln loszuwerden. Da kam Sonnenglanz auf eine Idee. Sie wurde wieder zur Tigerin. Auch Jaruni, Rani und Himmelsreiter wurden zu Tigern. Doch Feuerkrieger und Randolph blieben in ihrer menschlichen Erscheinungsform. Da erschlaffte der Vampir und stöhnte. "Verdammte Pest!" Fluchte er auf Englisch. Feuerkrieger und Randolph grinsten, während die anderen leise knurrend um den Gefangenen kauerten. "Guter Trick, Sonnenglanz. Die Biester können offenbar nur durch äußere Magie stark sein", schickte Feuerkrieger an seine Frau.

"Mir fiel ein, daß Vampire ihre Kraft aus der Nacht und dem getrunkenen Blut bekommen."

"Randy, wie gut kennst du dich mit Vampiren aus?" Fragte Feuerkrieger den Jungen, der den Gefangenen wie einen Todfeind anstarrte, aber noch nicht wütend genug war, um auch zum Tiger zu werden. Randy sprudelte heraus, was er aus Büchern wie "Dracula" oder dem Film "Interview mit einem Vampir" hatte. Feuerkrieger grinste.

"Da können wir doch gleich mal testen, was davon alles stimmt. Kreuze haben wir keine. Feuer lassen wir bei den Sauerstofftanks in der Nähe besser auch sein. Aber der Tank dahinten, wie viel Wasser geht da pro Sekunde raus?"

"Feuerwehrschlauchdruck, achtzehn ATÜ", sagte Randolph und grinste breit. Der Vampir, der mittlerweile auf einer Holzbank lag, erstarrte. "Dann probieren wir das mal aus", sagte Feuerkrieger und trug die Bank und den Gefangenen so, daß er mit dem Kopf unter dem fest zugedrehten Haupthan des Tanks lag. Mit ein bißchen Werkzeug und der Wertigern eigenen Stärke wurde der kleinere Wasserhahn abgeschraubt, unter den eine Waschschüssel oder Kochtöpfe gehalten werden konten. Dann kippte Feuerkrieger die Bank an und lehnte sie so, daß sie schräg stand. Dann drehte er den Hahn auf. Mit lautem Brausen schoß das Wasser heraus und wurde zu einem breiten Rinnsal, das über das Gesicht des Vampirs floß. Dieser schrie laut auf und krümmte sich. "Okay, geht. Was wollen wir wissen?" Bemerkte Feuerkrieger. Randolph fragte: "Warum wollt ihr uns umbringen?"

"Ich sage nichts und ..." Der Vampir schrie wieder auf, als ihm das klare Wasser mit großer Geschwindigkeit über den Kopf strömte. Er warf den Kopf hin und her. Doch die Kraft ging ihm aus. Nach nur fünf Sekunden schrie er den Namen Nocturnia.

"Was ist Nocturnia?" Fragte Feuerkrieger. Diesmal brauchten sie nur zwei Sekunden Wasserfolter, um den Vampir zum Reden zu bringen. Er erzählte, was Nocturnia war und daß er im Auftrag einer mächtigen Königin handelte. Er wurde gefragt, wer die Königin sei. Er bibberte vor Angst. Doch als er vier Sekunden lang nichts anderes erlebte als gespanntes Schweigen, gab er den Namen Preis. "Lamia. Es ist die Blutmondkönigin Lamia. Sie ist die Erbin von Lady Nyx."

"Wo ist diese Schlampe?" Fragte Randolph.

"Basis Winternacht. Aber da kommt ihr nie hin."

"Warum nicht?" Wollte Feuerkrieger wissen. Doch der Vampir wollte es nicht sagen. Nach zehn Sekunden Wasserfolter stand fest, daß er es nicht sagen konnte. Er war nur ein mittlerer Vollstrecker, kein Anführer.

"Okay, du Blutsauger, wir lassen dich abziehen, damit du deiner Schnalle stecken kannst, daß der Tigerclan die unausgesprochene Kriegserklärung annimmt", sagte Feuerkrieger. Sonnenglanz hatte bereits Kontakt mit ihrer Mutter und ihr jede Antwort weitergemeldet.

"Alle gleich, Werwölfe, Wertiger, Leopardenmenschen. Ihr seid uns im Weg!" Rief der Vampir.

"Stimmt. Denn wir räumen euch aus dem Weg!" Brüllte nun Himmelsreiter, der sich wieder in einen Mann zurückverwandelt hatte. Dann drosch er dem Vampir die rechte Faust voll auf die Nase. Es knirschte. "Schafft dieses Stück Mist aus meinem Haus!" Schnarrte er noch.

Vier Tiger trugen den von der Wasserfolter und dem Schlag betäubten Vampir aus dem Haus und zum Tor hinaus.

"Okay, Haus sichern und gut verriegeln", sagte Himmelsreiter. "Wir ziehen uns in das Ausweichlager zurück. Die kommen sicher wieder."

Er hatte recht. Kaum daß sämtliche Bewohner, das Personal und die immer noch narkotisierten Partygäste aus dem Haus geschafft und in den Wagen der Gäste abtransportiert waren, fielen fünfzig Fledermäuse wie Kamikazeflieger auf das Dach. Sie hatten Brandbomben dabei, die sie auf dem Haus und um das Haus verteilten.

"Sind Werwölfe Hexen und Zauberer?" Fragte Feuerkrieger Sonnenglanz.

"Die wohnen nicht hier, eher in deinem Geburtsland", sagte Sonnenglanz. Himmelsreiter blickte zurück auf das gerade in Flammen aufgehende Haus. "Das sollen die mir büßen. Ich hätte meinen Sohn nächstes Jahr nach Eton geschickt. Der sollte die Firma übernehmen, zusammen mit Randy und Rani. Das wird mir diese Vampirschlampe büßen. Ich fresse der ihre stinkenden Eingeweide aus dem Leib, ohne die vorher umzubringen."

"Winternacht klingt mir nach Nord- oder Südpol", vermutete Jaruni. "Die werden sich da verstecken, wo sie so schnell keiner findet und wo es schöne lange Nächte gibt."

"Das Eis ist unser Feind", brachte Sonnenglanz etwas an, was hier ja nun wirklich jeder mitbekommen hatte. "Wir können nicht auf die Himmelsberge hinauf, die ihr Himalaya nennt. Wenn es stimmt, daß es ganze Reiche aus Eis gibt, so können wir dort nicht hin."

"Als hätte diese stinkende, schleimige ...", setzte Randolph an, wurde aber von seiner Mutter harsch abgewürgt. "Als hätte die das geahnt, daß die mit uns tierischen Terz kriegt", vollendete er den Satz dann doch noch für Kindermünder und Kinderohren hinnehmbar.

"Wenn die diese Werwölfe auch auf der Abschußliste hat machen wir's wie die Yankees. Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Ich frage mich nur, wo wir echte Werwölfe finden, nicht diese Spinner, die meinen, bei Vollmond ausrasten zu müssen, weil sie von einem Schäferhund gebissen wurden."

"Im Internet sind die wohl nicht", sagte Feuerkrieger."

"Vielleicht kann Mondlicht uns das erzählen", warf Sonnenglanz ein. Dieser Vorschlag wurde von allen begeistert aufgenommen.

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Selene dachte schon, es wäre so weit, als es um sie herum enger wurde. Doch dann entspannte sich ihre lebende Behausung wieder. "Ui, so fühlt sich das also an. Wenn das nur Vorwehen waren wird das bestimmt kein Spaß", hörte sie Theias körperliche Stimme. Ihre erwählte Hebamme meinte dazu:

"Für die Kleine auch nicht. Aber das kennst du ja aus eigener Erfahrung."

"Manchmal wache ich immer noch mit Kopfschmerzen auf, wenn ich davon träume. Aber sie deshalb aus mir rausschneiden lassen werde ich nicht."

"Würde ich auch nur tun, wenn deine Geschlechtsorgane nicht stark genug wären oder dein Becken zu eng wäre. Beides ist nicht der Fall", sagte Eileithyia. Selene verstand sie gerade soeben noch, wohl auch, weil sie extra laut sprach, um im Warteraum der Ungeborenen noch gehört zu werden.

"Habe ich das richtig mitbekommen, daß der Minister mit der Sardonianerin ein Stillhalteabkommen getroffen hat?" Fragte Theia.

"Der Minister hat es vor seiner Abreise erzählt. Die nach ihr suchenden Inobskuratoren sind nur noch für die Suche nach Vampiren eingeteilt. Außerdem hat er verschiedene Namen und den Hinweis auf eine Nachfolgerin von ihr bekommen. Was eine übergroße Bedrohung doch anschieben kann."

"Vor allem, wenn wieder ein ganzes Dorf mit verseuchtem Wasser bedacht wurde", hörte Selene Theia knurren.

Wie ging das an?" Gedankenfragte Selene ihre werdende Mutter."

"Ah, du bist wieder wach, Kleines", gedankensäuselte Theia. Selene fühlte, wie etwas großes, warmes über ihren Kopf hinwegstrich. "Vampirblut in Pulverform mit Bestandteilen unbekannter Stoffe führt ohne bekannte Vampirhochzeit zur umwandlung. Offenbar noch genug entsprechende Substanz in Händen Nocturnias."

"Sie darf sich nicht überanstrengen. Wenn das Gehirn jetzt schon mehr leisten muß könnte es den Kopf überschwellen lassen und die Geburt erschweren", tadelte Eileithyia Theia und Selene laut genug. Dann vergingen einige Minuten. Selene fühlte wieder diese wiegenden Bewegungen, die ihr nun so vertraut waren und ihr zeigten, daß Theia irgendwo hinging. Dann fühlte Sie, wie etwas von außen gegen ihre Behausung stieß. Dann war ihr, als höre sie die sie umgebenden Geräusche anders. Es klang nicht mehr so dumpf. Und sie hörte was wie sie umgebenden Hall, als sei sie in einem großen Raum. Dann fühlte sie, wie etwas sie einschnürte und hörte ein Quäken: "Was geschieht denn jetzt?"

"Verstehst du mich gut?" Fragte Eileithyias Stimme nun ganz ungedämpft. Es tat Selene etwas in den Ohren weh. die quäkige Stimme sagte: "Oh, meine Ohren. Ja, ich höre dich."

"Können Leda und ich für die Schattenbibliothek festhalten, daß das Ding tatsächlich schon bei Iterapartio-Kindern vor der Wiedergeburt anwendbar ist", hörte Selene Eileithyia so sprechen, als säße sie ihr direkt gegenüber. Dann erfuhr sie eine kurze Erläuterung des Buffalo-Creek-Vorfalls und daß es in mittlerweile fünfzig Dörfern oder Kleinstädten weltweit zu einem Massiven Ausbruch von Vampirismus gekommen sei.

"Das macht der Mitternachtsstein. Er potenziert die Vampirkräfte", quäkte das, was Selenes Gedanken in hörbare Worte übersetzte, ein Cogison.

"Ja, Selene, aber die haben jetzt auch Vampirblut, das ohne diesen Stein verstärkt wurde. Ich will nicht wissen, was dieser dunkle Stein seiner Meisterin alles verraten hat, bevor er von ihr getrennt wurde."

"Dann müssen wir ein Gegengift finden, bevor das Gift uns alle erwischt", hörte Selene ihre eigenen Gedanken aus dem Cogison.

"Sie wird nicht alle vergiften. Denn sie brauchen ja unverdorbenes Blut", räumte Eileithyia ein. "Cartridges Zweckverbündete hat ihm offenbar ihre eigenen Analysen und Ergebnisse überlassen, die sich mit denen des LIs und uns Heilern decken. Sie ist wahrlich eine versierte Alchemistin. Das macht sie gerade so gefährlich."

"Sie hat Anthelia beerbt?" Fragte Selene über das Cogison.

"Der Minister hat gesagt, Anthelia habe etwas getan, was ihr einen neuen Körper und neue Erkenntnisse eingebracht hätte. Vermutlich war es eine wie auch immer vollzogene Fusion, bei der Geist und Körper vereint wurden. Dadurch ist sie nun noch unberechenbarer, weil in ihrem Geist und Gedächtnis Gedanken und Erinnerungen einer anderen mitschwingen." Dann erwähnte Eileithyia den Fall mit dem Totentänzer und das diser fast die Muggelwelt ins Unheil gestürzt hätte.

"Dann verstehe ich, warum ihr darauf hofft, daß ich mein Gedächtnis nicht in Theias Geburtskanal zurücklasse", erkannte Selene. "Gut, wenn dieses Sardonia-Weib mit einer uns unbekannten Magierin verbunden ist und dadurch selbst zur unbekannten wurde und der Minister trotzdem mit ihr einen Burgfrieden eingeht, so nehme ich dafür die Schuld auf mich und sehe meine Wiederkehr als die erträglichere Sühne an, als eine Vampirtochter zu sein", cogisonierte Selene mit unverkennbarer Resignation.

"Es war auch eine sehr schöne Zeit, ein Baby zu sein", sagte Theia. "Ich konnte mich daran gewöhnen. Aber ich finde, das ist nur richtig, daß ich von dir bekomme, was die achso gutmeinende Professeur Tourrecandide mir wegzunehmen versucht hat."

"So, was denn?"

"Einer Tochter den Weg in ein anständiges Hexenleben zu ebnen", erwiderte Theia mit körperlicher Stimme. Diese klang zwar dumpf im Hintergrund, aber irgendwie auch so, als säße sie irgendwo über Selene.

"Sollte wohl so kommen", quäkte das Cogison.

"So, und damit du die letzten Wochen vor dem großen Tag noch die nötige Erholung findest überlassen wir dich jetzt wieder der Lebensmusik deiner Mom", sagte Eileithyia. Selene fühlte wieder was an ihren Kopf stoßen. Dann klangen die gewohnten Geräusche des Mutterleibes wieder um sie herum, und sie hörte Eileithyia so stark gedämpft wie sonst sagen:

"auch ein interessantes Ergebnis, daß der Transauscultus-Zauber die Körpergeräusche eines Menschen nicht nur für außenstehende Hörbar macht, sondern Außengeräusche für Ungeborene hörbar macht. Muß ich noch irgendwie formulieren, daß ich das in den Heilerherold schreiben kann."

"Ne nette Tante Heilerin bist du, deine Ururenkelin als Versuchstier zu benutzen", dröhnte Theias Stimme um Selene herum.

"jedenfalls wird sie dir jetzt nicht mehr die Eingeweide aus dem Leib treten, meine werte Urenkeltochter." Selene stimmte in Gedanken zu. Doch diesmal plapperte kein Cogison es nach draußen.

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Ian Wellingford mußte sich totstellen. Daher konnte er unmöglich mit seinem Privatjet nach England. Mondlicht hatte ihm geraten, bloß nicht öffentlich aufzutreten, da die Zaubererwelt nun sicher sein konnte, daß er zu den Wertigern gehörte, nachdem sie zu viele Zeugen hinterlassen hatten. Nachtwind hatte Randolph in den Stand erwachsener Männer erhoben und ihm den Namen Eistöter gegeben, weil er die gefährlichen Eisschützen bekämpft und besiegt hatte. Das brachte dem Jungen zwar seinen Bruder nicht zurück. Doch er war sehr stolz.

Um seinem Namen und seiner Rolle gerecht zu bleiben schaffte es Himmelsreiter zusammen mit Sonnenglanz, den Besitzer eines Privatjets in den Tigerclan zu holen. Dennoch war es ihm ein wenig Mulmig, als er zusammen mit Feuerkrieger und der Wertigerin Mondlicht am sechzehnten Juli von Kalkutta aus nach London flog. Mondlicht hatte ihm verraten, daß es im Zaubereiministerium eine Werwolfregistratur gab und wie man in das Zaubereiministerium gelangte. Allerdings riet Mondlicht davon ab, dort einzudringen. Selbst wenn die verwandelten Wertiger jede Magie neutralisierten wußten dort sicher genug Leute, wie Wertiger mit offenem Feuer bekämpft wurden. Somit wäre ein Vorstoß ins Ministerium eine reine Selbstmordmission. Allerdings kannte Mondlicht einen Beamten aus dem Registrierungsbüro.

So passierte es am Abend des 18. Juli, daß Mr. Gordon Saulton nach seinem Dienst im Ministerium vor seiner Haustür apparierte und dort auf eine grauhaarige, ältliche Frau traf, die er kannte. Sofort schrillten bei ihm sämtliche inneren Alarmglocken. Das war doch Lakshmi Patil. War die von den Indern nicht auf die Wertigerliste gesetzt worden?

"Mir ist klar, daß Sie jetzt sehr entsetzt sein müssen, nachdem Sie mich erkennen, Gordon. Ich habe auch nur ein Anliegen an Sie. Beschaffen Sie mir die Liste aller in England registrierten Werwölfe!"

"Sie bleiben da stehen", knurrte Saulton und hielt den Zauberstab in der Hand. "Bei der ersten absonderlichen Aktion töte ich Sie", drohte er noch.

"Nur sie oder auch uns zwei?" Fragte ein noch jung wirkender Mann, der gerade aus dem Schatten des Nachbarhauses trat. "Neh, runternehmen!" Sagte der noch, als Saulton den Zauberstab hochreißen wollte. "Mein Begleiter wartet nur drauf, Ihnen die Birne abzubeißen. Es geht uns nur um die Werwolfliste, damit wir mit denen reden können, wie dieses Nocturnia abgefackelt werden kann. Wir bieten dafür auch was an."

"Was außer meinem nackten Leben sollte das sein", erwiderte Saulton nun ruhig. Er hatte schon mit Werwölfen wie Greyback zu tun gehabt und immer mit der Gefahr gelebt, einmal selbst gebissen zu werden.

"Wir haben einen von diesen Nocturnia-Vampiren verhört und dabei herausbekommen, wer den Laden leitet und wie die Basis von denen heißt und daß die wohl an einem der Pole ist."

"Das ist Bluff. Vampire, die wir fangen konnten, verbrannten im Schmelzfeuer", stieß Saulton aus. "Die können nichts verraten."

"Schmelzfeuer entzündet sich durch externe Magie", sagte Mondlicht. Das traf. "Daher war es meinen Gefährten möglich, einen Vampir mit fließendem Wasser zu foltern, um die gewünschten Informationen zu erhalten."

"Unter der Folter antwortet jeder all das, was der Folterknecht fragt", erwiderte Saulton. "Mein Onkel ist von den Todessern auf diese Weise zum Muggelstämmigenfluchthelfer erklärt und nach Askaban geschickt worden", schnarrte er noch.

"Ich habe den nicht vorgegeben, was der antworten soll, sondern nach Namen und Orten gefragt, Sie Pfeife", ereiferte sich Feuerkrieger.

"Schlagen Sie bloß einen anständigeren Ton an, junger Mann", schnarrte Saulton. Feuerkrieger lachte und feixte:

"Oder sonst?"

"Werden sie den ersten August wohl nicht mehr erleben", sagte Saulton. "Bringen Sie mich um wird man Sie jagen und mit gewöhnlichem Feuer oder flüssigem Stickstoff bekämpfen. Na, immer noch so arrogant, Mr. Wertiger?"

"Soll ich dich mal anknabbern, du Nachtmütze?" knurrte Feuerkrieger.

"Das haben mir schon andere angedroht. Vier von denen sind tot. Also passen Sie auf, mit wem Sie Streit suchen! Denn wenn Sie mich beißen und in ein bedauerliches Geschöpf wie Sie es sind verwandeln, kann ich nicht mehr ins Zaubereiministerium. Oder denken Sie, man wäre nach dem ersten Auftauchen von Wertigern hier nicht darauf gekommen, Magieschwundaufspürzauber zu installieren, die dadurch Alarm auslösen, daß sie neutralisiert werden? Dann kriegen Sie auch keine Informationen über Werwölfe in England."

"mein junger Gefährte ist hitzig und in der rechten Art, um etwas zu bitten noch unerfahren", erwähnte Mondlicht. "Es geht nur darum, daß wir mit den gemäßigteren Werwölfen ein Beistandsabkommen schließen, damit Nocturnia keine Möglichkeit hat, die radikalen Werwölfe zu stärken, um gegen Sie genauso aufzubegehren wie gegen Nocturnia."

"Sie müssen so argumentieren, Madam, weil Sie ja nirgendwo sonst leben können als bei diesen Monstern. Ich werde nicht für sie ins Ministerium gehen und Ihnen die Liste registrierter Werwölfe herausgeben. Das wäre ein Verstoß gegen mehrere Zaubereigesetze. Die Liste darf nur von eingeschworenen Beamten eingesehen werden, da viele der von Lykanthropie beschwerten ein gedeihliches Leben in der Zaubererwelt führen möchten. Die Diskussion ist beendet."

"Das finde ich nicht", sprach ihn die Stimme eines zweiten Mannes von hinten an. "Diese Nocturnia-Brut hat meinen Sohn getötet. Ich will, daß die Person, die das verantwortet dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Sie haben die Liste, und wir haben Sie. Also haben wir die Liste, auch wenn es Ihnen nicht paßt."

"Ach ja?!" Rief Saulton und wirbelte herum. Mit lautem Knall war er verschwunden. Darüber geriet Himmelsreiter so in Wut, daß er sich verwandelte. Damit riß er ohne es zu wollen eine Lücke in das um dieses Haus gezogene Netz von Spürsteinströmungen.

"Oh, Mist aber auch!" schimpfte Feuerkrieger. "Wieso konnte der weg?"

"Weil die Magieabsorbtion erst greift, wenn mindestens ein Wertiger in Tigergestalt da ist", sagte Mondlicht. "Aber jetzt bloß weg hier. Der holt sofort Verstärkung auf Besen, die uns von oben mit brennemdem Zeug bewerfen können", sagte Mondlicht und verfiel ebenfalls in die Verwandlung. Da ploppte es hundert Meter weiter weg, und mindestens zwanzig Zauberer eilten auf sie zu. Die Wertiger sahen die Flammenwerfer, die die Zauberer mitführten. Einer trug sogar einen großen Kanister. Feuerkrieger entsann sich, von Flüssigem Stickstoff gehört zu haben. So verfiel auch er in die Verwandlung und jagte seinen Gefährten nach. Da fauchten auch schon die Flammenwerfer los. Die Wertiger preschten durch enge Gassen und hängten die Zauberer dadurch gerade noch einmal ab. Sie gelangten zu dem offenen Kanalschacht, durch den sie in diese Gegend gekommen waren. Sie sprangen hinein und landeten im stinkenden Abwasser der Millionenstadt London. Sie schwammen einige hundert Meter in der Fäkalienbrühe. Dann robbten sie auf einen Steg und blieben dort erst einmal.

"Zum Teufel, diese Drecksäcke haben sich auf uns eingestellt", knurrte Feuerkrieger.

"Ich hätte alleine hingehen sollen. Mit einem rauflustigen Hitzkopf und einem rachsüchtigen Familienvater hatte diese Mission nicht den Hauch einer Erfolgschance", schimpfte Mondlicht in Gedanken. "Ich hätte Sonnenglanz mitnehmen sollen. Aber ihre Mutter wollte sie nicht mitschicken."

"Weil der Herr Feuerkrieger den ungünstigsten Zeitpunkt getroffen hat, seiner Angetrauten ein Kind zu machen", knurrte Himmelsreiter. Feuerkrieger schnaubte, daß Himmelsreiter ja daran denken sollte, wer ihn in den Tigerclan geholt hatte.

"Ja, und genau deshalb ist mein Sohn jetzt tot, mein Haus in Mumbai abgebrannt und ich kann an nichts mehr ran, was mir gehört, ohne gleich tausend Spitzhüte und Besenreiterinnen auf dem Hals zu haben, von der Polizei und dem Geheimdienst ganz abgesehen", knurrte Himmelsreiter.

"Du bist mir unterworfen", knurrte Feuerkrieger wütend.

"Ach ja, jemandem, der sich selbst am wenigsten beherrschen kann!" Gedankenschnaubte Himmelsreiter zurück. "Ich bin euch doch jetzt total wertlos geworden. Mein ganzes Leben ist versaut worden, durch so einen grünen, ungehobelten Bengel, der nix gescheites gelernt hat außer die Schnauze groß aufzureißen."

"Das war ein Wort zu viel", schickte Feuerkrieger zurück. Ihm war unwohl, weil Himmelsreiter sich ihm nicht mehr unterordnete. Er war wütend, weil Himmelsreiter ihm die Gefolgschaft verweigerte. Ja, und er war auch wütend, weil er wußte, daß Himmelsreiter in den meisten Punkten recht hatte. Feuerkrieger war vor seiner ersten Verwandlung zum Tiger nur einer von vielen einfachen Handwerkern gewesen, der von den Abiturienten und Studenten von oben herab angeglotzt wurde. Hätte er sich nicht in einen Tiger verwandelt, hätte ihn seine erste heiße Liebesaffäre locker kalt abgeduscht und im Regen stehen lassen. Immerhin hatte er diesen Voldemort von seinem Teppich heruntergeschossen, einige der Schlangenkrieger erledigt und mehrere dieser Todesser umgebracht, weil er diesen komischen Namen gerufen hatte. Das sollte der Typ da nicht vergessen. Er ging auf Himmelsreiter los. Dieser war jedoch darauf gefaßt und ebenfalls wütend genug. So entspann sich ein wilder Kampf, der sich nach nur wenigen Sekunden in den Abwasserstrom verlagerte. Die beiden hieben aufeinander ein. Feuerkrieger war der geborene Wertiger. Doch Himmelsreiter hatte durch die nachgeburtliche Infektion mit dem Keim mehr Aggression und Ausdauer. Mondlicht sah und hörte, wie die beiden sich immer mehr in Rage kämpften. Sie rief telepathisch um Hilfe. Doch wer sollte ihr vom Tigerclan helfen? Sie war so konzentriert, daß sie nicht bemerkte, wie eine blonde Frau durch den Kanal fuhr. Sie saß in einem Elektroboot und näherte sich der weißen Tigerin, die immer noch um Rat und Hilfe bat.

"Sie sehen sehr schön aus, Madam", hörte sie plötzlich die Stimme einer Fremden. Mondlicht fuhr herum und sah sie, die Frau im Elektroboot, die gerade auf sie zusteuerte und rasch anlegte, weil die im Abwasser kämpfenden Wertiger offenbar noch immer nicht klarhatten, wer der ranghöhere war.

Mondlicht verwandelte sich zurück und sah die Blonde genauer an. Diese winkte ihr, ins Boot zu steigen.

"Meine Gefährten bringen sich noch um", jammerte sie.

"Haben Sie den Streit provoziert?" Fragte die Fremde verschmitzt grinsend. Mondlicht schüttelte den Kopf. Da hörten die beiden auf. Mit tiefen Wunden und besudeltem Fell trieben sie keuchend an den Rand und blieben dort erst einmal liegen. "Klären wir das unter uns Frauenzimmern, was wichtig ist", sagte die Blonde. "Ich bin Tessa Highdale. Sie haben sicher von mir gehört. Ich hatte eine ziemlich nachhaltige Begegnung mit einem gewissen Fenrir Greyback."

"Greyback ist tot. Aber Ihren Namen kenne ich. Es war schwirig, Sie trotz der Lykanthropie im Ministerium weiterzubeschäftigen", sagte Mondlicht. Sie blickte sich um. Die beiden männlichen Tiger lagen schnaubend auf dem Steg.

"Worum geht es genau?" Fragte Tessa. "Gordon kam ins Ministerium gestürmt und rief was von Wertigern, die ihn gefangennehmen wollten. Dann fiel ein Teil des Spürsteinnetzes aus, und die Wertigerfangeinheit ist sofort raus. Da ich nach meiner Mondscheinparty gestern wieder einsatzfähig bin bin ich ihnen in den Kanal gefolgt und habe dieses kleine E-Boot ausgeborgt. Gut, daß mir wer erklärt hat, wie sowas fährt."

"Wir suchen Verbündete gegen Nocturnia. Wenn Sie immer noch in der Abteilung für magische Geschöpfe arbeiten interessiert es Sie sicher, daß wir von dieser Vampirpest angegriffen wurden. Erst wollten sie wohl nur ein Kind reicher Eltern kidnappen. Dann kamen sie wohl drauf, daß wir dem Tigerclan angehören und griffen uns mit nichtmagischen Waffen an. Wir wissen, daß Nocturnia eine Königin hat und offenbar darauf ausgeht, alle Wergestaltigen zu töten. Daher liegt auf der Hand, daß wir einen gemeinsamen Feind haben, Ms. Highdale."

"Und Sie möchten Kontakt mit Werwölfen aufnehmen. Mit welchen, denen von Greybacks Schlag oder den gemäßigten?"

"Im Grunde mit beiden. Aber die gemäßigten dürften uns verachten, wie die Zaubererwelt es tut", seufzte Mondlicht. Tessa nickte. "Ich kann für sie in die Liste sehen und Ihnen die auffälligsten Vertreter benennen. Können Sie noch Eulenpost?"

"Gerade soeben noch", sagte Mondlicht.

"Gut, dann suchen Sie sich ein angenehmeres Versteck als das hier. Ich schicke die Eule dann von meinem Privatgrund aus. Lakshmi Patil war Ihr Name doch, richtig?"

"Ja, früher mal. Jetzt heiße ich Mondlicht", sagte die grauhaarige Frau, die früher mal eine Hexe war.

"Den Namen hat Ihnen sicher eine Wertigerin verliehen. Männer kommen nicht auf so romantische Namen", streute Tessa ein Kompliment aus. Mondlicht lächelte warmherzig.

"Ich fahre mit dem Boot aus Ihrer Reichweite und schicke es dann zu Ihnen zurück. Sehen Sie zu, daß Sie ihre beiden Raufbolde wieder beruhigen! Angenehme Nacht noch!"

"Bis dann", sagte Mondlicht und verließ das Boot. Tessa fuhr damit einige hundert Meter weit, stieg aus und machte mit ihrem Zauberstab einen Schlenker. Das Boot fuhr danach alleine los, allerdings ohne Antrieb. Es kam genau auf die Wertigerin zu. Tessa disapparierte. zwei Minuten später glitt das Boot an den beiden auf dem Steg liegenden Wertigern vorbei und verlor dadurch den magischen Vortrieb.

"Habt ihr zwei euch jetzt beruhigt? Oder muß ich heute Nacht zwischen euch im Bett liegen?!" Schnarrte Mondlicht.

Die beiden Wertiger kehrten in ihre Menschliche Gestalt zurück. beide sahen zum fürchten aus mit den ganzen Biß- und Kratzwunden. "Meine halbe Familie hat mir im Kopf gehangen, ich sollte diesen Kerl da leben lassen, weil der den Tempel verteidigen muß", knurrte Himmelsreiter.

"Und mir haben Sonnenglanz und Nachtwind in den Gehirnwindungen gelegen, daß Himmelsreiter die nötigen Kontakte hat und ich meinen Sohn nie zu sehen kriege, wenn ich mich mit einem Mitbruder anlege. Dabei habe ich den zu unserem Bruder gemacht", schnaubte Feuerkrieger.

"Während ihr kleinen jungs euch wegen eurer Mannesehre im Dreck gewälzt habt habe ich die Mission aus demselben gezogen", erwiderte Mondlicht und berichtete noch einmal, was sie ausgehandelt hatte. Dann fuhren sie mit dem Boot weit genug fort, um unbehelligt den Kanal verlassen zu können.

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Er hatte Quidditch nie so recht was abgewonnen. Das nutzte seine Mutter aus, um ihn nach den Stillzeiten in Schlaf zu lesen. Doch dann fing sie davon an, daß der Schwiegersohn der Veranstaltungsleiterin Latierre einem französischen Kollegen namens Gilbert Latierre ein Interview gegeben hatte, indem er zur Lage der internationalen Zaubererwelt im Bezug auf die Ereignisse mit den Schlangenmenschen und der Erbin Sardonias befragt wurde. Dabei erfuhr er auch, daß die geachtete Lehrerin professeur Tourrecandide auf der Jagd nach Vampiren spurlos verschwunden sei. Es ging auch darum, daß es wohl noch Ärger mit dieser Vampirin Nyx geben würde oder zumindest mit deren Gehilfen. "Ich bin im Moment nur Schüler, Monsieur Latierre. Ich kann und darf nicht in die Ereignisse der Zaubererwelt eingreifen und sehe es bei den ganzen Sachen auch nicht als meinen Berufswunsch, das zu tun", wurde Julius zitiert. Natürlich wurde der Junge dann befragt, was er denn beruflich machen wolle. Doch er erwähnte nur, daß er zusehen wolle, was zu tun, was ihn nicht jeden Tag in Lebensgefahr brachte. Er habe durch die Erlebnisse mit Hallitti, Bokanowski und den Schlangenmenschen genug Abenteuer für ein ganzes Leben erlebt. Und solange ihm keiner etwas erzähle, er sei von einem wie auch immer gearteten Schicksal dazu bestimmt, irgendwas wichtiges in der Welt zu schaffen außer ein, zwei oder drei gesunde Kinder und ein ehrbares Einkommen, würde er nicht danach drängen, weitere lebensgefährliche Sachen zu erleben. Auf die Frage, ob er glaube, daß die Erbin Sardonias tot sei kam die Antwort, daß jemand tot sei, wenn man seine Leiche hätte. Das war alles, was Julius für andere Zeitungen freigegeben hatte. Bei der Gelegenheit erfuhr Anthony, daß Julius Latierre wohl vor einem Jahr volljährig gesprochen worden sei. Auf die Frage an Linda Knowles, was an diesem Interview für sie so wichtig sei bekamen die Leserinnen und Leser die Antwort, daß Julius wie mehrere Mitbewohner Millemerveilles bei der Besucherbetreuung halfen und weil der Junge wegen der überragenden Zauberfertigkeiten sicher einmal einen höchst verantwortungsvollen Beruf ergreifen würde. Anthony, der diese Passage mit gewissem Unmut hörte hätte jetzt gerne gesagt, daß es Lino nur darum ging, den Jungen als ihr persönliches Lebenswerk weiterzuverfolgen, weil er diese Abgrundstochter überstanden hatte und weil die Sardonianerinnen ihn als ihren unfreiwilligen Gehilfen verwendet hatten.

"Nicht so böse gucken, Tony! Der Junge kann doch nichts dafür, daß dieses Biest weiter in der Welt herumläuft", tadelte Tracy ihren Sohn. Er quängelte verdrossen und versuchte wieder, was zu sagen. Doch ohne Zähne ging das nicht so gut. Außerdem überkam ihn das schlechte Gewissen, weil er nicht wollte, daß seine Mutter ihn wegen seiner immer noch verbliebenen Fähigkeiten traurig oder böse wurde. So ließ er sich gefallen, daß sie ihn aus der Wiege nahm, ein wenig mit ihm in den Armen durch das Zimmer tanzte und ihn dann mit "Hui" zurück in sein kleines Bett fallen ließ. Dabei achtete sie schon darauf, daß er sich weder Arm noch Bein anknackste.

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Sie glotzten sich alle an, die drei Wertiger und die sieben Werwölfe. Lunera und Nina, die extra aus Spanien gekommen waren, als sie von dem einzigen noch lebenden Garout hörten, daß in Frankreich eine Zusammenkunft geplant sei, sowie die Greybackianischen Werwölfe Ross Barkley, Myron Tallfoot und Orson Wagtail und die Werwölfin Tessa Highdale und der Franzose François Garout. Sie sprachen miteinander. Lunera erwähnte, daß sie Espinados Trank brauen könne. Tallfoot hatte davon gehört und war hellauf begeistert. Somit standen die Werwölfe nicht mehr länger als pure triebhafte Wesen da.

"Die Zaubereiminister werden unsere Zusammenkunft und ein mögliches Abkommen nicht hinnehmen, auch wenn wir hundertmal erklären, daß wir nur gegen Nocturnia kämpfen", sagte Mondlicht. Lunera nickte. "Außerdem möchte unsere Clanmutter Nachtwind mit denen, die von euch als Anführer erwählt sind, direkt verhandeln. Habt ihr in den nächsten Tagen Sachen zu erledigen, daß ihr unbedingt in euren Ländern verbleiben müßt?"

"Ich bin der Anführer meiner Gruppe", knurrte Tallfoot, ein muskulöser Hüne mit struppiger, rostroter Mähne und ebenso ungepflegtem Vollbart. Seine weißgelben Augen hatten sich wohl seiner immer mehr ausgelebten Raubtiernatur angepaßt. Seine Kameraden Barkley und Wagtail nickten. "Aber wennwa handeln dann nur, damit diese Bagage uns endlich für voll nimmt und uns alle Posten gibt, diewa haben wollen und diese ganzen Anti-Werwolfgesetze ins Feuer geschmissen werden", knurrte er. "Wenn eure Urwaldkönigin da mitgeht, kein Thema. Ansonsten war's das mit Bündnis. Dann mischen wir die Blutsauger alleine auf."

"Und du kannst in den nächsten Tagen fortbleiben?" Fragte Mondlicht.

"Ey, Sie soll'n Sie für mich sagen", schnaubte Tallfoot. Mondlicht verzog das Gesicht. Wenn dieser Rohling nicht als wichtiger Verbündeter in Frage käme würde sie ihm zeigen, wie weit er unter ihrer Art rangierte. Ohne diesen Trank, von dem sie bis dahin nichts gehört hatte, wäre der doch nur ein kläffender Straßenköter.

"Ich kann mit Ihnen in den Urwald und die Bananen g'rade biegen, die Ihnen zu krumm sind, Ma'am", blaffte der Werwolf noch. "Aber nur, wenn mir zugesichert wird, daß mir keiner von Ihrem Tigerclub den Kopf abreißt und wennwa das auf die Liste ganz oben draufsetzen, daßwa eine Aufwertung von uns Werleuten durchdrücken, wenn die Nocturnia-Kiste zu und verbuddelt ist ..."

"Ich kann auch mit", sagte Ross Barkley. "Aber nur, damit das was Tallfoot sagt auch durchgezogen wird. Wir lassen uns nicht von so'n paar Miezekatzen verheizen, ohne was dafür zu kriegen."

"Ich muß, um das Ministerium nicht argwöhnisch werden zu lassen, im Land bleiben, auch und vor allem, weil ich nach dem Auftritt der Herren Feuerkrieger und Himmelsreiter vernommen wurde, wo ich so lange abgeblieben sei und man mich wohl genau überwachen wird", sagte Tessa.

"Stimmt, die könnten der dumm kommen", knurrte Tallfoot, der genau auf Tessas attraktiven Körper geglotzt hatte, als sie sprach. "Aber Mädchen, wenn du uns verlädst und uns ans Fangkommando verpfeifst brate ich mir deine Dutteln auf dem Grill", knurrte Tallfoot noch. Tessa grinste verächtlich. Lunera führte dann die Wirkung des Trankes vor, die immer einen Mondzyklus anhielt. Sie verwandelte sich in eine weiße Wölfin. Nina wurde ebenfalls zu einer weißen Wölfin, allerdings einen Hauch dunkler als Lunera. Das überzeugte die Greybackianer, daß dieser Trank existierte. Lunera verwandelte sich zurück und bot an, jedem Bündnisbruder genug Dosen davon zu brauen, um bis zum gesteckten Ziel die Verwandlungen zu kontrollieren, ob vom Mond oder aus einem selbst heraus ausgelöst. Nina und sie konnten auch mit, wenngleich Nina erschauerte, wenn dieser Tallfoot sie und Lunera anglubschte. Der hatte es offenbar sehr nötig, mit einer Frau zusammenzukommen. Dabei stank der nach Schweiß und ungewaschenem Hinterteil. So waren sich alle einig, daß die drei Wertiger mit ihrem neuen Verbindungsbruder, sowie den Werwölfinnen Lunera und Nina und dem untergetauchten Werwolf François Garout und dem Greybackianer Tallfoot nach Indien zum Tempel der Tiger reisen würden.

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"Schön schön, wir haben die Drachenpocken und kriegen die Griselkrätze und die Grünsporenseuche oben drauf", schnarrte Sophia Whitesand. Zwanzig Hexen saßen in der Versammlungshöhle der ehrenwerten Schwesternschaft. Eigentlich hätte Ceridwen Barley noch dabei sein müssen. Doch die war mit ihrer Familie in Millemerveilles. Tessa Highdale hatte sich daran gehalten, was dieser stinkende Abschaum Tallfoot von ihr verlangt hatte. Sie hatte dem Ministerium nichts von der Konferenz der Werwesen erzählt. Auch nicht, daß drei afrikanische Leopardenclans von Himmelsreiter kontaktiert worden waren und ebenfalls einen Fürsprecher nach Indien schickten.

"Ich muß sagen, das hat mich ernst an die Grenzen meiner Schauspielfähigkeiten geführt, Lady Sophia", sagte Tessa Highdale. "Als ich hörte, daß es einen Trank gibt, die Werwut kontrolliert auszuleben, im Guten wie im Bösen, bin ich ja fast im Boden versunken. Wenn die Greyback-Nachheuler den in ihre schmutzigen Pfoten kriegen haben wir wirklich alles am Hals, was niemand seinem schlimmsten Feind wünscht. Ich habe auch nur wenig Zeit. Daher bitte ich darum, meine Erinnerung an dieses Treffen in das große Denkarium auslagern zu dürfen, Lady Sophia."

"Es ist dir genehmigt, Schwester Tessa", sagte die weißblonde Sprecherin der britischen Sektion. So ergoß Tessa Highdale alle Erinnerungen an das Treffen mit Mondlicht und die Vermittlung der Konferenz in das große Denkarium, in das Mitschwestern die für alle und die Nachwelt wichtigsten Erlebnisse auslagern konnten. Silberne Fäden glitten aus ihrem Kopf und rutschten von ihrem Zauberstab in das magische Gefäß. Dann bat sie darum, wieder gehen zu dürfen. Sophia Whitesand erlaubte es. Tessa disapparierte.

"Die Lage ist ernst und zwingt zu ungewollten Maßnahmen, Schwestern. Aber es wäre nicht unpraktisch, wenn diese Konferenz der Werwesen noch anderen bekannt wird", sagte Sophia Whitesand.

"Ihr meint, Ihr glaubt an dieses Bündnis zwischen Cartridge und ihr?" Fragte Ursina Underwood, die sich von ihren engsten Getreuen selbst Lady nennen ließ.

"Sie steht auf weiter Flur alleine und sieht ihre Ziele entschwinden, wenn Nocturnia gewinnt. Außerdem hat unsere amerikanische Schwester Roberta Sevenrock es über ihre Verbindungen herausbekommen, daß der Minister wohl eine stille Übereinkunft mit ihr getroffen hat. Damit hat sich leider auch bestätigt, was wir schon seit dem letzten Oktober nur befürchtet haben. Es kam zu einer Fusion zwischen der Spinnenfrau und der todkranken Anthelia. Ob in gegenseitigem Einvernehmen oder erzwungenermaßen ist jetzt irrelevant, da beide als ein Geist und ein Körper agieren und einander mehr ergänzen als hemmen. Deshalb sagte ich ja, wir haben alle magischen Seuchen auf einmal am Hals, Vampire, aufbegehrende Werwesen und eine Schwesternschaft, die von einer schier unbesiegbaren Magierin geführt wird, die uraltes Wissen und neue Zauberkenntnisse vereint." Ursina nickte. Ihr mißfiel diese Sache auch. Aber sie wußte auch, daß es im Moment nicht ging, gegen drei Übel zugleich zu kämpfen. So nahm sie es wie alle anderen hin, daß zumindest die Sardonianerinnen keine Schwierigkeiten machen wollten. Ob man dafür Nocturnia ein langes und gedeihliches Wirken wünschen sollte? Nein, das ganz bestimmt nicht!

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"Ach, und dieser Garout will wirklich mit den Wertigern gemeinsame Sache machen", grinste Anthelia. "Was sich doch so alles ergibt, wenn ein großer Feind seine langen Schatten wirft. Ihre Bundesschwester Louisette Richelieu hatte ihr soeben berichtet, daß François Garout sich wohl aus seinem Versteck getraut hatte. Sie erfuhr auch, daß die britischen Schwestern wohl von einem Trank gehört hatten, der die Werwut steuerbar machte.

"In den richtigen Händen ein probates Mittel, um die davon befallenen zu nützlichen und ungefährlichen Bürgern der magischen Welt zu machen", sagte Anthelia. "Aber es ist wol in den falschen Händen, bei Leuten, die meinen, ihr Dasein nun wie eine Waffe und ein Vorrecht einzusetzen. Wo steht dieses Flugzeug genau, Schwester Louisette?"

"In London soll es sein. Garout wird von Frankreich aus mit einer Privatmaschine dort hinfliegen." Anthelia nickte. Sie hatte also keine Zeit zu verlieren. Sie bedankte sich für die Namen der Beteiligten und disapparierte aus dem Haus in Montecarlo

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Welcher Tag jetzt war kümmerte sie nicht. Anstrengend genug war, daß es jetzt passierte. Es wurde um sie immer enger. In sehr starken Kontraktionen wurde sie mit dem Kopf voran in jenen Engen Durchgang zwischen Hoffnung und Erfüllung gezwengt. Sie hörte die Schmerzenslaute ihrer Mutter. Doch sie hörte auch Erheiterung. "Das paßt wirklich vom Tag her", hörte sie Theia keuchen, bevor die nächste Kontraktion über Mutter und Kind hereinbrach. Selene fühlte, wie sie gegen ein Hindernis stieß und wand sich ohne nachzudenken, bis sie keinen festen Widerstand fühlte. Doch die beängstigende Enge setzte ihr weiter zu.

"Wenn ich das überlebe und nicht vergesse schreibe ich das mir auf, daß ich niemals freiwillig diesen Zauber mit wem anwende", dachte Selene und wünschte sich, sie möge ohnmächtig werden, um das nicht mehr ertragen zu müssen. Jetzt war auch noch das sie umfließende Wasser so gut wie weg. Dann fühlte sie Kälte an ihrem Kopf. Schließlich wurde sie von hellem Licht fast geblendet. Sie fühlte einen immer größer werdenden Drang, Luft zu holen. Doch Ihr Brustkorb war noch eingezwengt. Sie fühlte Panik in sich aufsteigen. Dieses Gefühl wurde von einem merkwürdigen Rausch begleitet, als schwebe sie immer weiter fort. Die Schmerzen gerieten dabei in den Hintergrund. Sie fühlte eine starke Kraft an ihrem Kopf zerren. Sie glaubte, in einen eisigen Wind zu geraten. Endlich kam ihr Oberkörper frei. Große warme Hände hielten sie sicher fest. Licht und Kälte. Ihre Beine steckten noch im warmen Schoß Theias. Doch mit einer letzten Wehe trieb die aus dem Nichts aufgetauchte Tochter Daianiras ihre erste Tochter vollends ans Licht der Welt. Selene fühlte, wie sie Luft holte. Alles lief für sie wie ein Traum ab. Dann hörte sie sich selbst laut schreien. Sie hörte wie aus der Ferne eine fröhliche Stimme: "Sie konnte es nicht erwarten, Theia. Ich mußte ihr nichts hinten draufgeben." Die soeben geborene Selene Hemlock fühlte, wie sie von den riesigen Händen zu einem wackeligen Etwas getragen wurde. Kälte und Licht umgaben sie. Sie schrie weiter. Nun war sie wieder auf der Welt. Sie würde von nun an atmen müssen, um nicht zu ersticken. Sie würde um Nahrung und Säuberung quängeln oder schreien müssen. Denn ihr wurde klar, daß sie bis auf weiteres keine Mentiloquismus-Botschaften verschicken konnte.

"Hui, viertausendfünfhundertundzwanzig Gramm, Theia. Du hast sie wirklich sehr gut mitversorgt", hörte Sie Eileithyias Stimme überlaut und mit viel Hall. Ihre Ohren waren jetzt frei von Wasser. "Größe stolze zweiundfünfzig Zentimeter. Durchmesser des Kopfes zwölf komma zwanzig Zentimeter." Selene konnte vor lauter Kopfschmerzen und blendendem Licht nicht klar denken. Sie schrie einfach so, ohne gezielt was zu wollen. Da fühlte sie, wie sie in große, weiche Arme gelegt wurde. "Joh, bist du aber schön groß geraten", säuselte Theia. "War nicht so leicht, wie wir zwei das wollten. Aber wir haben das geschafft. Dann schaffen wir auch alles andere." Selene erschrak, als sie merkte, wie ihr kleiner Mund bereits an einer ihr dargebotenen Brust saugte und fühlte Theias Milch in ihre Kehle rinnnen. Doch dann gab sie sich einen Ruck. Sie würde sie nicht damit manipulieren, wenn sie ihr den Gefallen tat, den harmlosen Säugling zu geben. So fühlte sie den Rhythmus und die Bewegungen ihres Mundes und trank weiter. Sie hörte Theia erheitert lachen. Doch sie sagte nichts verständliches. Selene unterbrach ihre allererste Nahrungsaufnahme und dachte daran, daß sie ihrem Schicksal nicht entronnen war. Sie war die Tochter einer anderen geworden und sie mußte um zu leben saugen. Doch dann lieber als richtiger Säugling als als langzähniges Ungeheuer.

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"Und Tschüs, Amerika!" Begann Tracy am Morgen des zwanzigsten Juli die üblichen Frühstücksvorlesung. Anthony durfte wie üblich seine nur für ihn bereitgehaltene Mahlzeit einnehmen. "Nachdem die Auswahl der vereinigten Staaten von Amerika das Auftaktspiel gegen Kenia weit überragend mit 820 zu 60 Punkten eindeutig für sich entscheiden konnte wurden die Freizeitsportler von der Profi-Auswahl Belgiens regelrecht vorgeführt. Das durch gezielte Durchwürfe durch einen von drei Torringen erzielte Punktekonto brachte den sieben WM-Touristen gerade einmal 50 Punkte ein. Belgien hielt jedoch mit sehr gekonnten gegenstößen und flinken Kombinationsspielen mehr als dagegen und erzielte 300 Punkte, bis die Mannschaft aus unseren Staaten durch den Schnatzfang erlöst wurde. Belgiens Sucher Jeroen Laiden verschaffte seiner Mannschaft durch den Fang des kleinen Goldballs mit Flügeln insgesamt 450 Punkte und den Einzug in die nächste Runde des Turniers. Für die nach dem ersten Spiel zu selbstsicheren Vertreter der vereinigten Staaten bedeutet Belgiens Sieg die vorzeitige Heimreise. "Dann kann Bob endlich wieder nach Hause", war der spontane Kommentar der erfolgreichen Vorgeberin der Viento-del-Sol-Windriders, Brittany Brocklehurst unmittelbar nach Ende des Spiels. Die Unterstützung durch den tanzenden Sasquatch Bob Bigfoot brachte den vier Jungen und drei Mädchen aus Nordamerika kein Glück. Damit sind nach Kanada und Mexiko mit den USA alle nordamerikanischen Mannschaften ausgeschieden. Von den südamerikanischen Profis sind noch Brasilien, Peru und Bolivien dabei. Gastgeber Frankreich, Irland, Bulgarien, Rußland und Australien werden jedoch als Anwärter auf den Titel gehandelt. Die irische Mannschaft möchte den Titel verteidigen, Frankreich den Pokal ins eigene Land holen, und Australien den ersten Titel in seiner Geschichte überhaupt gewinnen. Bulgarien und Rußland könnten ihre Anzahl gewonnener Meistertitel steigern. Doch von diesen beiden wird nur eine Mannschaft weiterkommen. Denn es kommt zu einem Duell der osteuropäischen Giganten. Rußland und Bulgarien werden am 22. Juli im großen Hauptstadion aufeinandertreffen. Einen Tag davor wird Irland beweisen müssen, ob es einer Titelverteidigung überhaupt würdig ist. - Nich' so doll, Tony! Das nimmt dir kein anderer weg. - Hmm - Mit der Rückkehr der amerikanischen Delegation wird im Verlauf des zwanzigsten Juli gerechnet. "Es ist bedauerlich, ein so interessantes Turnier zu früh verlassen zu müssen. Aber bei einem Turnier mit so vielen Teilnehmern geht es eben nicht anders, als daß jedes Spiel ein Finale ist. Wir haben jetzt genug zeit, uns zu überlegen, ob wir in vier Jahren teilnehmen oder dieses Turnier gar bei uns ausrichten möchten", sagte Zaubereiminister Cartridge bei einer spontanen Pressekonferenz mit Vertretern internationaler Zaubererweltmedien. "Ich gratuliere unserer Mannschaft zu ihrer Leistung und werde mir gerne anhören, wie wir diesen vielversprechenden Ansatz zu einem zukünftigen Erfolg ausbauen können." Nicht alle mitgereisten Unterstützer der US-amerikanischen Quidditch-Mannschaft sehen das Ausscheiden unserer Mannschaft so sportlich und optimistisch. Mrs. Phoebe Gildfork, die sich sehr stark für die Teilnahme der nordamerikanischen Quidditchsportler eingesetzt hat protestierte gegen die bereits im Vorfeld geäußerten Demütigungen und Beleidigungen seitens der dem Quodpot zugetanenen Journalisten. "Wer hundertmal behauptet, eine Mannschaft verliert, bringt sie dazu, daß sie verliert. Auch verwahre ich mich entschieden gegen die arroganten Bemerkungen seitens europäischer Quidditchfunktionäre, daß wir ja nur mitspielen, um unsere Fahne schwenken zu dürfen und nicht, weil uns der Sport interessiert oder wir gar einen Titel zu holen beabsichtigten. Diese Unverschämtheiten haben dazu geführt, daß aus einer hochmotivierten Mannschaft ein trübseliger Haufen von unwilligen Besenfliegern wurde. Auch die postpubertären Bemerkungen der offenbar vor Erreichen ihrer geistigen Reife verheirateten Brittany Brocklehurst muß und werde ich als zu tiefst Leistungsschädigend ansehen. Diese behauptete, daß Quidditch in den Staaten nur von Haushexen gespielt würde, die wegen der vielfältigen Haushaltszauber nicht wüßten, wohin mit ihrer freien Zeit. Der Sport an sich sei zwar gut für Formationsübungen, aber im Vergleich zu Quodpot eben langweilig. Ich werde prüfen, ob diese und ähnliche Aussagen zu einer konkreten Schadensersatzklage berechtigen. Denn die großspurigen Damen und Herren aus unserer erhabenen Heimat vergessen dabei, daß es viel Zeit und Geld gekostet hat, diese Mannschaft zu trainieren, sie zu transportieren, unterzubringen und zu verpflegen. Da nur zu behaupten, wir wären nur hingereist, um unsere Fahnen zu schwenken ist nicht nur unpatriotisch, sondern auch rufschädigend. Alle die solche Äußerungen verbreitet haben dürfen schon mal ihre Verliese in New York inspizieren, wie viel dort gelagert ist. Es könnte demnächst weniger sein." Soweit die höchst ungehaltene Mrs. Phoebe Gildfork zum vorzeitigen Ausscheiden der US-amerikanischen Mannschaft." Anthony hatte das alles über sich ergehen lassen. Hauptsache er wurde satt. Was kümmerte ihn da Gildforks geschwätz oder die Gehässigkeiten der alten Europäer, die keine Ahnung von Quodpot hatten? Dann las ihm Tracy Summerhill noch etwas vor, was seinen Saugrhythmus ins Stocken brachte.

"Späte einbürgerung, Heimkehr der verschwiegenen Tochter! - Während der Zaubereiminister Milton Cartridge als Zuschauer bei der in Millemerveilles stattfindenden Quidditch-Weltmeisterschaft verweilt erhielt er eine wichtige Blitzeule aus dem Ministerium. Über den Inhalt des Anschreibens wollte er jedoch erst etwas verlautbaren, wenn sicher sei, daß die Prüfungen die Angaben bestätigten. Jetzt dürfen wir verkünden, daß die im heldenhaften Kampf gegen Sardonias Monstrum Valery Saunders im April des letzten Jahres ums Leben gekommene ehemalige Thorntails-Lehrerin für Zaubertränke und Kräuterkunde, Daianira Hemlock, vor 21 Jahren, als sie auf den Malediven an der Studie tropischer Zauberpflanzen arbeitete nicht nur die Früchte magischer Pflanzen, sondern auch die Früchte der Liebe genossen hat. Von der Heimat völlig unbemerkt schenkte sie dort einer Tochter das Leben. Die am 12. Oktober 1978 unter den Strahlen der Tropensonne geborene theia konnte jedoch nicht mit ihrer Mutter zurück in die Staaten, da ihr Vater Mutter und Kind mit einem Fluch belegt hatte, weil er sie unbedingt bei sich im Land halten wollte. Auch durfte Daianira niemandem etwas davon schreiben. So blieb ihr nur übrig, ihr unverhofftes Kind einer Pflegemutter anzuvertrauen, die sie großziehen und in den Zauberfertigkeiten ausbilden sollte, da es auf den Inseln keine Zauberschule gibt und von dort auch keine Verbindungen zu anderen Zauberschulen gepflegt werden. So wuchs Theia zwanzig Jahre lang unerwähnt und unter dem Schutz ihrer Amme und Ziehmutter auf, lernte ihre Zauber aus Büchern und Übungen. Ihr Vater, der sie unbedingt auf der Insel behalten wollte, um sie mit dem einundzwanzigsten Lebensjahr mit einem mächtigen Zauberer zu verheiraten, starb jedoch am Gift einer Qualle, als Theia gerade zehn Jahre alt war. Der Fluch hielt sie jedoch auf der Insel. Er sollte erst von ihr weichen, wenn sie neues Leben trüge. Eigentlich sollte dies nur dann stattfinden, wenn sie ordentlich verheiratet war. Doch Theia fand die Formulierung des Fluches und auch, wer ihre wahre Mutter war, als sie neunzehn Jahre alt war und die Sperrzauber brechen konnte, die ihre Ziehmutter über den Schrank mit den geheimen Unterlagen gelegt hatte. Sie beschloß, ihre Mutter zu suchen. Doch um von der Insel zu entkommen mußte sie sich einem wißbegierigen Jungen anvertrauen, der ihr half, die Bedingung zu erfüllen, unter der sie ihr Geburtsland verlassen konnte. Als sie sicher war, daß sie ein Kind trug, wartete sie noch mehrere Monate. Dann verabschiedete sie sich von ihrer Ziehmutter, dankte ihr für alles, was sie für sie getan hatte und fuhr auf Frachtschiffen der Muggel über das Meer. Die Reise war gefährlich genug. Doch mit einem Kind unter dem Herzen war sie noch belastender. Sie tauchte am siebzehnten Mai 1999 in Daianira Hemlocks alter Heimat auf und erfuhr, daß ihre Mutter bereits seit fast einem Jahr tot war. Sie vertraute sich ihren Verwandten Eileithyia Greensporn und ihrer Enkelin Leda an. Um in aller Ruhe zu prüfen, ob die Geschichte und die Abkunft der heimlich eingereisten Hexe zutrafen wurde eine gründliche Überprüfung ohne öffentliche Bekanntmachung verfügt. Denn gemäß den Heilerstatuten durfte man ihr während der Schwangerschaft und vor Ende der Stillzeit keine anstrengenden Reisen oder gar eine Unterbringung in einem Gefängnis antun. Leda Greensporn, die zu dem Zeitpunkt selbst in einem gesicherten Unterschlupf lebte, bürgte für die Hexe, die ihrer verstorbenen Cousine zum verwechseln ähnlich sieht. - Hallo, du bist noch nicht satt." Anthony fragte sich mal wieder, woher seine Mutter das wissen wollte. Dann wurde ihm klar, daß sie einen Druckunterschied fühlte und daran abschätzte, wie viel er getrunken hatte und ob das sein übliches Frühstück war. So fuhr er mit seiner lebenswichtigen Betätigung fort, während seine Mutter weiterlas. "... ihrer verstorbenen Cousine zum verwechseln ähnlich sieht. Eileithyia und Leda Greensporn, sowie Chloe Palmer aus Viento del Sol stellten eine genuine Schwangerschaft fest, was den fortgesetzten Gebrauch von Vielsafttrank oder Verwandlungszaubern ausschloß. Nach dem Tod Daianiras erschienene Aufzeichnungen, in denen davon die Rede war, daß nur ihr reines Blut alles lesbar machen würde, offenbarten nach der Gabe von einigen frischen Blutstropfen Theias, daß sie Daianiras heimliche Tochter sei. Das Ministerium holte nun Erkundigungen ein und prüfte die Echtheit der Aussagen. Dies zog einen langwierigen Eulenpostverkehr nach sich. Am zehnten Juli stand es laut Minister Cartridge fest, daß die Angaben der Fremden stimmten. Somit dürfen wir Daianira Hemlocks Tochter, Ms. Theia Hemlock herzlich willkommen heißen. Sie hatte bei ihrem Antrag auf Einbürgerung darum gebeten, den Nachnamen ihrer verstorbenen Mutter tragen und unter diesem ihr Kind als durch Bodenrecht eingebürgerten amerikanischen Staatsbürger zur Welt bringen zu dürfen. "Dieser bürokratische und paranoide Aufwand war lästig. Aber jetzt freue ich mich auf meine Urenkeltochter", verkündete die amtierende Sprecherin der nordamerikanischen Zunft magischer Heilkundiger und amtierende Leiterin der Geburtshilfeabteilung des Honestus-Powell-Krankenhauses voller Stolz und sichtbarer Euphorie. Sie erwähnte auch, daß Theia ihre Tochter im Privathaus der Heilkundlerin gebären würde, da sie keinen Rummel um etwas so persönliches wie eine Geburt haben wolle. Womöglich sei es zwischen dem neunzehnten und zweiundzwanzigsten Juli soweit, soviel die altgediente Geburtshelferin." Tracy Summerhill legte die Zeitung weg und verharrte ruhig, bis ihr Sohn sein Frühstück beendet hatte. Dann tat sie etwas, mit dem Thony Summerhill schon gar nicht mehr gerechnet hatte. Sie nahm ihm mit zwei Zauberstabstupsern das Antimelo-Armband ab. Dann gedankensprach sie: "Guck mal, da kriegst du noch eine berühmte Klassenkameradin, wenn du in elf Jahren nach Thorntails kommst. Was hat dich da gerade so verstört?"

"Warum machst du das?" gedankenfragte Thony nach zehn Sekunden. Er konnte es noch!

"Weil ich das jetzt von dir wissen will, was dich an dieser Meldung so irritiert, mein Sohn. Außerdem kann aus dem Haus nur ein Verwandter von uns anmentiloquiert werden. Und die einzige mit dir verwandte bin ich", bekam er unter seine Schädeldecke zurück. Die Verbindung war wesentlich klarer und leichter zu verstehen als vorher. Offenbar wirkte das nun mit ihr geteilte Blut oder ihre Milch als Verstärker.

"Zwölfter Oktober, da ist doch Tourrecandide verschwunden", schickte Thony zurück. "Da soll dieses Mädchen geboren worden sein?"

"Vor zwanzig Jahren, Thony. Das ist ein Zufall. Oder meinst du, die werte Tourrecandide habe sich in diese junge Frau verwandelt und dann schwängern lassen?"

"Du hast dir gerade vom besten Beispiel, wie das geht die Brust bis fast runter zu den Rippen plattsaugen lassen", versetzte Thony. Dafür kniff ihm Tracy kräftig in die Nase und zog daran.

"Ich glaube, ich stell dich wieder auf gewöhnliche Windeln um, weil du mir sonst zu frech wirst, kleiner", schickte sie ihm unter die Schädeldecke. "Abgesehen davon wüßte ich nicht, was das für einen Sinn hätte, wenn Tourrecandide sich als Daianiras Tochter ausgibt."

"Ist doch schon komisch, daß die ausgerechnet dieses Datum als Geburtstag angibt", gedankengrummelte Thony Summerhill.

"Ich verstehe, was du meinst. Erst diese ominöse Geburt von Lysithea Greensporn, dann deren Verstecken und jetzt eine aus einem uneinsehbaren Winkel gekrabbelte Tochter Daianiras, die noch dazu gerade selbst Mutter wird. Kannst dir das Bild von der mal ansehen. Die sieht echt aus wie Daianira in jungen Jahren." Thony blickte auf das Schwarz-weiß-Foto von Theia Hemlock. Sie strahlte glücklich, und das in ihr ruhende Leben warf sanfte Wellen auf ihrem hellen Kleid.

"Es ist eben so, daß mir das komisch vorkommt", gedankengrummelte Thony Summerhill.

"Das ist es Cartridge sicher auch. Aber wenn der das überprüft hat wird wohl alles passen", erwiderte Tracy mentiloquistisch. "Freu dich. Dann bist du nicht ganz im Fokus des Interesses, wenn du nach Thorntails kommst!" Danach band sie ihm das Armband wieder um und sagte: "So, kleiner, satt bist du ja jetzt, wie ich fühlen kann. Ui, gluckert das in deinem kleinen Bauch. Ich leg dich mal wieder in deine Heia. Wenn was ist nur schreien!"

"Da geht dir wohl einer ab", versuchte Thony zu mentiloquieren. Doch ein sehr unangenehmer Druck auf dem kopf, wie der Schmerz bei seiner Geburt, verriet ihm, daß er seine Mutter nicht mehr so erreichen konnte. So ließ er sich gefallen, wie sie ihn in seine Wiege zurücklegte. Wenigstens machte sie es nicht wahr, im wieder gewöhnliche Windeln umzulegen. So hatte er zumindest noch einige Tage Ruhe im Schritt. Während er in seiner schaukelnden Schlafstatt klein und hilflos dalag dachte er daran, ob seine Vermutung wegen des Datums nicht wirklich reine Paranoia war. Warum sollte sich Tourrecandide in ein zwanzigjähriges Abbild Daianiras verwandeln und dann noch ein echtes Kind austragen, nur um in den Staaten wohnen zu dürfen? Sie war ohne Kleidung und Ausrüstung verschwunden, hatte Tracy ihm einige Wochen nach der Geburt erzählt. Aber wie genau hatte niemand gesehen oder gehört. Womöglich war es so, wie die Presse schilderte, und es war ein sehr abgehobener Zufall, daß Tourrecandides Verschwinden am selben Tag passierte, an dem diese Theia Hemlock ihren zwanzigsten Geburtstag feiern durfte. Er wünschte sich, sein zwanzigster Geburtstag käme schon bald. Doch es würde noch knapp ein Jahr bis zur ersten Wiederkehr dieses großen Tages dauern. Wenn Tracy ihn so stark in der Rolle des Säuglings hielt, wie mochte es ihm ergehen, wenn er ein Jahr, zwei Jahre oder sechs Jahre alt war. Dann mußte er ja sprechen können. Aber was er dann alles sprechen durfte war sicher noch ein Thema. Vielleicht sollte er es doch darauf anlegen und sich knapp zwei Monate nach der Wiedergeburt einer gnädigen Gedächtnislöschung unterwerfen. Denn so oder so würde ihn Tracy Summerhill als ihr Kind behandeln. Und wo er jeden Wunsch auf Rache an Anthelia oder ihre Nachfolgerin verloren hatte, was sollte er dann noch mit seinem Gedächtnis von früher? Konnte er nicht unbeschwerter wiederaufwachsen, wenn er davon nichts mehr wußte? Doch die Antwort fiel ihm schlagartig ein: "Wenn mit Daianiras Tochter was faul ist, dann muß ich das rauskriegen. Dazu brauche ich mein Gedächtnis. Also das süße Baby spielen und schön kleinkindmäßig naiv auftreten. Bloß nichts anstellen, weshalb die mir das Hirn leerblasen müssen!" Somit hatte der kleine Anthony Summerhill den Sinn seines Lebens gefunden. Geduld war das Zauberwort. Geduld und Beharrlichkeit!

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Am Morgen des 21. Juli fand Anthelia ein Bild von Theia Hemlock kurz vor der Niederkunft. Darunter stand: "Der Mond am Licht der Welt". Sie las die für die Zeitungen freigegebenen Daten und die Danksagung Theia Hemlocks an das Zaubereiministerium.

"So hättest du also damals ausgesehen, wenn dieses Dumme Weib uns zwei nicht schmerzlos entbunden hätte", dachte die Führerin des Spinnenordens. Sie lächelte. "Ob sie das mitbekommen hat?" Fragte sie sich noch und dachte an Tourrecandide. Denn für Anthelia stand fest, daß die kleine Selene niemand anderes sein mußte als die im Oktober des letzten Jahres spurlos verschwundene Austère Tourrecandide. Dann besann sich die schwarze Spinne wieder darauf, was sie heute noch vorhatte. Hoffentlich konnte sie ihn bis zum Schluß kontrollieren!

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Selene konnte nach zwei Tagen den Schlag der Uhr genau hören und zählte mit, wie alt sie nun schon war. Nacht und Tag hatte sie nie so intensiv wahrgenommen wie in diesen beiden ersten Tagen ihres Lebens. Allerdings störte sie dieser graue Nebelschleier vor ihren Augen. Nur wenn Theia oder deren Hebamme und Verwandte sich mit ihren für sie riesenhaften Gesichtern näherten, konnte sie sie erkennen.

Die Zeitungsleute vom Herold waren gekommen. Auch der Westwind hatte Leute geschickt. Selene war insgeheim doch froh, dieses dünne, hautenge Armband unter ihrem Schlafröckchen zu tragen. Sonst hätte sie einige der dummen Fragen, ob ihr Vater nicht doch informiert werden solle und ob Selene Eileithyia Hemlock stolz auf ihre Großmutter sein würde einige Antworten gegeben. Doch verglichen mit ihrer Geburt war diese Befragung zu ertragen.

"Thorntails hat die Kleine jetzt schon vorgemerkt. Aber die Liga der rechtschaffenden Hexen schimpft, daß Sie um Ihre Ledige Mutterschaft genauso einen großen Freudentanz veranstalten wie Tracy Summerhill."

"Ich kenne die Damen nicht, die meinen, zu wissen, was rechtschaffend ist", erwiderte Theia Hemlock. "Ich habe Jahre lang in einem Inselpalast gelebt und daher noch einiges nachzulernen. Aber eins weiß ich mit Sicherheit, daß ich meiner Urgroßmutter und meiner Mutter Base Leda dankbar bin, daß sie mir geholfen haben, hier leben zu dürfen und daß meine Tochter ein besseres Leben verdient hat als ich. Das können Sie so schreiben. Da kann ich das nur als überdrehtes Gerede von Hexen ansehen, die selbst keine Kinder bekommen haben. Die brauchen mir also nicht zu erzählen, wie ich damit umgehen muß."

"Nun, Das Haus der Broomswood-Akademie steht auch noch. Könnte sein, daß Selene auch dort registriert wurde", vermutete eine Reporterin vom Kristallherold. Eileithyia sagte dazu:

"Das Haus steht nur noch, weil niemand die hohen Grundstückspreise bezahlen und es dann noch abreißen will. Meine Ururenkelin wird im Sinne der Achtung beider Geschlechter erzogen, ohne sich klein und Unterwürfig fühlen zu müssen. Selenes Patin Leda Greensporn stimmt uns auch zu, daß sie, wenn sie in das entsprechende Alter kommt, nach Thorntails geht, egal ob diese sogenanten Anstandshexen um Madam Pabblenut, Thelma Archer und Lavinia Thornbrook Broomswood wieder aufmachen. Wenn sie meint, eine Schule nur für Hexen besuchen zu müssen, kann sie nach Thorntails immer noch ins Hexeninstitut von Salem gehen, um dort von Zauberern unbehelligt höhere Zauberkünste zu studieren. Mir hat es da sehr gut gefallen, genauso wie meiner Tochter. Meine selige Enkeltochter Daianira wollte ja sofort in die Welt hinaus, um überall wo sie durfte was neues zu lernen."

"Sie haben sich für den Namen Selene entschieden, weil dies der Name der altgriechischen Mondgöttin war, Ms. Hemlock", fragte die Kristallheroldshexe. "Taten Sie das erst nach der Geburt oder schon vorher?"

"Wenn Sie darauf anspielen, daß ich den Namen in Anlehnung an die von Muggeln vollführte Erstbetretung unseres wichtigen Begleiters gewählt habe trifft dies zu", sagte Theia. "Ich habe, wo ich gewohnt habe, eine Menge Bücher aus der magielosen Welt zu lesen bekommen, weil man wollte, daß ich meine Würde als Hexe besonders schätzen lerne, wenn ich über die Unzulänglichkeiten und Kriege der Muggel lesen muß. Der Mond gehört nicht nur Amerika oder den Muggeln. Er scheint für uns alle und hilft uns allen, weil seine Schwerkraft die Erde in einem für das Leben wichtigem Gleichgewicht hält. Wenn meine Tochter schon an einem Tag Geburtstag hat, der Menschen und Mond direkt verbindet, bin ich stolz, daß ich ihr diesen Namen geben konnte."

"Nett, diese Kriegswaffenerfinder noch zu hofieren", dachte Selene Hemlock. Sie kannte die Geschichte der bemannten Raumfahrt und aus welch dunklem Schaffen heraus sie erblüht war. Außerdem war der Wettlauf zum Mond nur deshalb geschehen, weil auf der Erde zwei einander bekämpfende Weltanschauungen existierten. Doch sie fand den neuen Namen sehr schön. Und wenn sie dann irgendwann den Mond ansah konnte sie sich mit ihm verbunden fühlen.

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"Das Armband und das Gerät heben sich nicht gegenseitig auf", mentiloquierte Eileithyia an ihre jetzt offizielle Urenkelin. Diese war gerade dabei, sich durch Gymnastik in Übung zu halten. Sie hatte sehr viel zugenommen und mußte nun sehen, den Speck wieder loszuwerden. Da sie keinen Abspecktrank während der Stillzeit einnehmen durfte, konnte sie nur durch Gymnastik und Fettarmes Essen und sehr viel Trinken zu sehen, wie die kleine Selene ihr beim Abnehmen half.

"Und du möchtest mir nicht erzählen, wie du es angestellt hast, ein Cogison zu kriegen?" Gedankenfragte Theia Hemlock.

"Doch, kann ich dir erzählen. Wir haben in unserer Mutter-Kind-Abteilung ein Projekt laufen, um die Sprachentwicklung bei Kindern zu erforschen. Wenn das Cogison die ersten ganzen Wörter wiedergibt wissen wir, wann das Hörverständnis und das assoziative Denken beginnt", sagte die Heilerin, die Gleichzeitig auch Sprecherin der nordamerikanischen Heilzunft war. "Sam und Ruby waren sogar bei uns und haben die Cogisons an mehreren Babys getestet, deren Eltern die Einwilligung gaben, den frühkindlichen Spracherwerb zu erforschen. Das Cogison ist eines von zehn. Wir machen aber mit neun genauso gute Forschungen. wie erwähnt heben sich das Anti-Melo-Band und das Cogison nicht gegenseitig auf, weil das Cogison wohl durch den Körperkontakt worthafte Gedanken aufnimmt. Aber du kennst die Iterapartio-Regeln, Theia. Sie darf durch nichts verraten, daß sie eine Erwachsene im Körper eines Säuglings ist."

"Sie könnte wohl damit leben, ihre Erinnerungen zu verlieren", schickte Theia zurück.

"Ja, aber wir können nicht damit leben", gedankenantwortete Eileithyia. Dann verließ sie so leise wie sie gekommen war das gesicherte Haus Leda Greensporns.

Mit schwerfälligen Schritten schwankte Theia in das Kinderzimmer. Selene lag in einer weißen Wiege und trug ein rosarotes Schlafröckchen. Sie wirkte nicht mehr so zerknautscht wie vor einer Woche noch. Ihr flaumweiches Kopfhaar war dunkelbraun. Theia hatte schon befürchtet, daß Selene tiefschwarzes Haar bekommen hätte. Das äußerlich gerade sechs Tage alte Mädchen schlug seine Augen auf und räkelte sich. Theia trat an die Wiege heran und sprach leise auf sie ein. "Ich habe hier was schönes für dich, meine kleine. Sie näherte sich mit dem erhaltenen Cogison dem Hals des Babys, das erst erschrocken auf das fremde Ding blickte. Doch als Theia es ihr um den Hals geschnallt hatte grinste Selene über ihre Pausbacken. Dann knirschte es ein wenig, schrabbte und blubberte. Dann quäkte der rosarote Balg am Halsband des Cogisons:

"Ich dachte, du willst mich als süßen Säugling kultivieren, Mom. Wozu das?"

"Weil Oma Eileithyia und ich möchten, daß du jetzt schon mit uns sprechen kannst, wenn außer ihr und mir keiner im Raum ist. Zwar verbieten die IP-Regeln die Verwendung von Sprache, Schrift oder Zeichnungen, aber von Cogisons steht da nichts drin. Doch wir wollen sicherstellen, daß du im Vollbesitz deiner Erinnerungen mit uns beraten kannst, wie wir gegen Nocturnia vorgehen."

"Im Moment fällt mir nichts ein, außer alle Vampire einzusperren oder zu töten", quäkte das Cogison. "Aber ich habe ja genug Zeit, um darüber nachzudenken. Danke für das Cogison. Das gibt mir doch eine gewisse Würde zurück."

"Das kann ich dir nicht immer drum lassen. Denn damit du in Übung bleibst mußt du nach Nahrung und frischen Windeln schreien. Aber für die nächsten Stunden darfst du es umbehalten. Wir sind allein."

"Hast du keine Angst, Die Wiederkehrerin könnte dir was wegen mir tun?"

"So wie ich dieses Weib einschätze amüsiert sie sich köstlich, falls sie darauf kommt, ich sei die wiedergealterte Daianira und du seist die durch den Zauber in meinen Leib geschlüpfte Tourrecandide."

"Das stimmt wohl", klang es aus dem Cogison. "Müde!" kam noch ein Gedanke durch. Theia nickte und strich ihrer Tochter über das Haar. "Dann schlaf schön weiter, Kleines!" Säuselte sie zärtlich und verließ das Kinderzimmer.

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Man schrieb den 22. Juli. Der Dschungel war wie immer, heiß, feucht und dämmergrün. Anthelia hielt das Schwert Yanxothars gut sichtbar in ihren Händen. Immer wider wisperte sie: "Du folgst und gehorchst mir, Vientofrio!" Sie sprach Parsel, die Schlangennsprache. Neben ihr kauerte wie ein Häuflein Elend der kleine, grauhaarige Diego Vientofrio. Der Mann, der mit einem Viperzahn verschmolzen war konnte es nicht fassen, daß diese Frau das Feuerschwert aus dem Vulkan geholt hatte. Er wußte nicht mehr, daß er es ihr hatte holen müssen. Jetzt hatte sie ihn damit ihrem Willen unterworfen und ihn per Portschlüssel in diese verlassene Urwaldlandschaft versetzt. Er vermißte seine Berge, seine Familie. Sie waren alle von Drachenjägern getötet worden. Er selbst hatte entkommen können. Zumindest glaubte er das. Denn daß Anthelia seine Familie getötet und ihn mit einem verfluchten Stein unterworfen hatte, wußte er nicht mehr.

"Da voorne ist der Tempel", sagte die Verschmelzung zwischen Anthelia und Naaneavargia.

"Wenn das echte Wertiger sind versagt selbst dein Schwert", dachte der Drachenmann Vientofrio. Anthelia hörte es wohl und schloß daraus, daß er sich für einzig der Sache gewachsen ansah. Dann mochte er sich aus dem magischen Klammergriff des Schwertes lösen. Besser war es, sie steckte es gut fort, wenn sie nahe am Tempel waren. Sie hatte auch so noch genug Einfluß auf den Drachenmann.

Die beiden ungeladenen Besucher näherten sich dem Tigertempel. Da fühlten beide, wie sie von drei Seiten bestürmt wurden. Anthelia steckte das Schwert fort und zog statt dessen mehrere Signalpistolen mit Leuchtspurmunition. Da kamen sie auch schon, die sieben Wächter. Anthelia riß eine der Waffen hoch und feuerte eine Warnung mitten hinein in die Meute. Die Tiger wichen einen Moment zurück. Dann rief Anthelia: "Diego, wandle dich!" Der Drachenmann fühlte sofort, wie der Befehl seine Zweitgestalt heraufbeschwor. Er wuchs an. Sein Haar zog sich in seinen Kopf zurück. Sein Gesicht bekam immer mehr echsenhafte Züge. Er wuchs weiter, bekam einen langen Echsenschwanz und bildete Flügel aus. Dann war er schon so groß wie ein Peruanischer Viperzahn. Die Tiger starrten auf ihn. Dann gab es einen Ruck, und der kleine Zauberer war zu einem großen Drachen geworden. Laut brüllte er und spie den Tigern sein Feuer entgegen. Das bestand nicht aus einer von außen zu wirkenden, sondern von innen heraus wirksamen Besonderheit der Drachen selbst. Die Tiger gingen sofort in hellen Flammen auf. Ihr Todesgebrüll scholl weit in den Dschungel. Anthelia schwang sich über den Drachenschwanz auf den roten Schuppenrücken Vientofrios.

"Steige auf und fliege zum Tempel!" Rief sie auf Parsel. Noch wirkte der Bann, den sie über das Schwert auf ihn ausgeübt hatte. Doch sie fühlte, daß er ihr entgleiten konnte, wenn er zu lange der magiezerstreuenden Wirkung von mehreren Wertigern ausgesetzt war. Anthelia indes fühlte keine anderen Wirkungen. Sie atmete auf. Was wäre gewesen, wenn ihre Fusion zerstört worden wäre oder wenn sie keine körperlich-geistige Kraft mehr besessen hätte? Ihr Gedankenspürsinn schwächte ab. Aber die Präsenz dunkler Magie wirkte noch.

Über den Baumkronen zog anthelia noch einmal das Schwert, entzündete es und instruierte den Drachen, nur das zu tun, was sie ihm auftrug. Als sie sicher war, die nächste Stunde keine Schwierigkeiten mehr zu haben, ließ sie den Drachen genau über der Tempelstätte herabstoßen. Dort warteten mehrere Dutzend Wertiger und starrten verängstigt auf das Ungetüm, auf dem wie eine Königin der Drachen diese blaßgoldene Frau in ihrem rosaroten Umhang hockte wie auf einem niederen Esel. Mit einem dumpfen, den Boden erschütternden Geräusch setzte Vientofrio auf.

Die Tempelstätte war eher eine Sammlung geordneter Steine, dachte Anthelia. Das war ja auch der neue Tempel. Hier versagte jede andere Magie außer der der Wergestaltigen. Sie lauschte und fühlte, daß ihr Gedankenspürsinn sehr abgeschwächt war. Sie probierte aus, ein Blatt telekinetisch zu beeinflussen. Sie meinte, einen tonnenschweren Felsbrocken anheben zu wollen. Sie hatte sich ausgeliefert. jetzt würde ihr wohl nur noch ihre neue Zweitgestalt helfen und die beiden Pistolen in den Händen. Doch noch gehorchte ihr ein Drache, die ultimative Waffe gegen Wertiger.

"Wer spricht für euch?" Fragte Anthelia, die immer noch auf dem Drachenrücken saß. Da sah sie einen noch jung wirkenden Mann europäischer Herkunft und eine füllige Inderin mit nachtschwarzem Haar. Beide waren völlig nackt. Anthelia erkannte sofort, daß die ehrwürdig wirkende Inderin im zweiten Trimenon schwanger war. die auch? Fragte sich Anthelia. In den letzten Tagen und Wochen waren ja interessante Geburten bekannt gegeben worden.

"Wer bist du, Fremde? Was wagst du dich an diesen heiligen Ort?" Fragte die Inderin, wohl auch eine Wertigerin. Dann sah Anthelia den Werwolf Garout und zwei blonde Frauen aus Europa, sowie einen ungepflegt wirkenden Hünen mit rostrotem Haar.

"Ich bin die schwarze Spinne, Führerin einer mächtigen Gruppe von Hexen, die wie ihr gegen das Reich Nocturnia kämpfen muß. Es ist uns allen ein Gräuel. Daher sollten wir uns die Hände reichen, ehrwürdige Mutter des Tigerclans."

Und das Ungetüm, auf dem du thronst wie eine Königin auf einem Elefanten?" Fragte die Tigerclanmutter.

"Er ist wie ich jemand, der eure Natur hat, wenngleich unsere Erscheinungsformen einmalig sind, was die Herkunft und das Aussehen angeht", sagte Anthelia und glitt von dem noch immer brav daliegenden Drachen herunter. "Nimm deine menschliche Erscheinungsform an!" parselte sie dreimal hintereinander. Da reagierte der Drache. Er schrumpfte ein. Innerhalb einer halben Minute stand Diego Vientofrio da. Einige lachten über die kleine Gestalt. Doch die meisten erschauderten. Ein Mann, der ein Drache werden konnte? Anthelia indes brauchte für eine Demonstration ihrer Verwandlungskunst nur zwei Sekunden. Sie wurde zur schwarzen Spinne und zischte der Tigermatriarchin zu: "Du ssiehssst, dasssss ichchch rechchcht habe." Dann kehrte sie in ihre menschliche Daseinsform zurück. Die weizenblonde Europäerin, deren Gedanken nur als Hauch zu Anthelia hinüberwehten, erschauderte sichtlich. Offenbar hatte sie nicht damit gerechnet, daß es noch mehr Wesen gab, die willentlich ihre Gestalt wechseln konnten, und daß die dann noch zu wahrhaften Ungeheuern wurden.

"Ich erkenne an, daß ihr zwei unserer Natur ähnelt und wohl mächtig genug seid, um gehört zu werden", sagte die Tigermatriarchin. "Ich bin Nachtwind, die ehrwürdige und in jeder hinsicht hoffnungsvolle Mutter des Clans der Tiger. Woher habt ihr es, daß hier und heute eine Zusammenkunft von großer Tragweite stattfindet?"

"Von ihm", sagte Anthelia und deutete auf Garout. "Meine Schwestern beobachten seit dem Wiedererwachen Nocturnias auch solche wie ihn, da es ihn wohl kaum unberührt lassen kann, daß die Erzfeinde der Wolfsmenschen neue Kraft und Führung gewinnen. Daher wurde er gesondert beobachtet. Ich habe gute Schwestern in Frankreich."

"Du froschressender Idiot", blaffte der Hüne mit dem rostroten Struwelhaar seinen französischen Daseinsgenossen an. Dieser rang die Hände und stieß aus, niemandem verraten zu haben, daß er heute herkommen würde.

"Auf den französischen Flughäfen liegt ein Namensspürzauber. Das ist seit dem unrühmlichen Ende deiner vier Verwandten geschehen, um dich im Land zu halten, Werwolf", knurrte Anthelia. "Und du hast es wahrhaftig gewagt, dein Land zu verlassen. Und euch Wachtigern empfehle ich sehr, euch von uns beiden fernzuhalten", schrillte Anthelia. "Diego, wandle dich!" zischte sie in der Schlangensprache. Diego, der die auf ihn zutapsenden Wertiger schon längst gesehen hatte, wurde diesmal schneller zum Drachen. Nachtwind machte eine Geste, und die Wachen zogen sich schneller zurück, als sie erschienen waren.

"Das hättest du mal rauskriegen können", knurrte der rothaarige Werwolf.

"Wieso ich?" Knurrte Garout. "Vielleicht hat die da auch von dieser Lunera oder dieser Tessa gesteckt bekommen, was hier heute los ist", verteidigte sich Garout. Sein Englisch war schon beachtlich, fand Anthelia. Auch wußte sie nun, wer Lunera war. Denn Garout war so einfältig, bei der Namensnennung auf sie zu deuten. Insofern schon einige wichtige Missionsziele erreicht, dachte Anthelia. Aber das letzte, nämlich heil wieder hier herauszukommen, stand noch aus.

"Und, jetzt seid ihr hier", sagte nun der Mann neben Nachtwind. Anthelia hörte deutlich den US-amerikanischen Akzent heraus. Dann war dies womöglich jener Wertiger, der in Denver zu seinem wahren Dasein erwacht war. Sie sah ihn an und sagte:

"Es stimmt, wir sind hier, Mr. Taller. Es freut mich, meinen amerikanischen Mitschwestern ausrichten zu dürfen, daß Sie nicht mehr in großen Städten wüten müssen. Da Sie wohl nicht von ungefähr die oberste männliche Rangstellung erlangt haben hat sie dies wohl auch berechtigt, Vater des ungeborenen Kindes zu werden, das die ehrwürdige Nachtwind gerade unter dem Herzen trägt." Der Wertiger neben Nachtwind verzog kurz das Gesicht. Dieses Weib wußte wahrlich zu viel und hatte keine Probleme, das zu zeigen. Eigentlich durfte die hier nicht mehr lebend weg. Doch Nachtwind ergriff nun das Wort:

"Du bist gut über unsere Gebräuche unterrichtet, schwarze Spinne. Doch wollen wir alle jetzt wissen, weshalb du hier bist und warum du diesen Feuerspeier dort mitgebracht hast."

"Wie Ihr sagtet, ehrwürdige Nachtwind, möchten wir gehört werden und müssen daher die dazu berechtigende Macht vorweisen. Was wir hier wollen? Es geht uns darum, daß alle Werwesen, zu denen wir ja auch gehören, einig darin sind, gegen Nocturnia zu kämpfen und dieses Übel zu zerstören. Daher bieten wir euch unser Wissen und Können an, wenn wir dafür die Gewähr erhalten, daß ihr ausschließlich gegen die Bedrohung Nocturnia kämpft und danach in den bisherigen Grenzen eurer Länder und Tätigkeiten weiterlebt. Ich weiß noch zu gut, wie der da versucht hat, einer meiner Fürsprecherinnen zu drohen und lernen mußte, daß ein großes Maul nicht auf ein großes Gehirn schließen läßt." Sie deutete auf Feuerkrieger. Einmal hatte sie ihn durch Daianiras Augen sehen dürfen, um zu wissen, mit wem sie beide es damals zu tun hatten. Der Wertiger erbleichte.

"Du hast dieses schwangere Flittchen vorgeschickt und uns mit diesen Monsterbienen beharkt?" Fragte Feuerkrieger. Anthelia lächelte ganz ehrlich. Denn sie hatte Daianira schließlich geholfen, die Entomanthropen zu steuern und war ja bei allen mit ihnen befaßten Aktionen wohl oder übel dabei gewesen.

"Diese Monsterbienen stehen mir immer noch zu Gebote, Jungchen. Du hast seit damals offenbar nichts gelernt, was Selbstbeherrschung angeht", sagte Anthelia.

"Ach ja? Wie geht's dieser blöden Kuh denn. Muß ja mittlerweile ihr Kalb geworfen haben, oder?"

"Ja, hat sie", grinste Anthelia. Sollte sie diesem Kerl da jetzt sagen, daß sie "das Kalb" war? Dann sagte sie rasch: "Wie erwähnt, es geht gegen Nocturnia. Danach besteht die Möglichkeit auf eine friedliche Koexistenz zwischen Menschen und Wergestaltigen, wenn leztere keine aggressiven Handlungen mehr ausführen und auch keine Drohungen und Forderungen erheben."

"Ihr zwei süßen seid wohl wegen eurer tollen Wandelnummer so drauf, daß euch egal ist, wie die eingestaltigen Leute euch sehen. Aber wir möchten endlich Gleichberechtigung haben", knurrte Tallfoot und glubschte Anthelia an, als suche er was schönes für die nächste Nacht.

"Das wollen die nicht in Nocturnia wohnenden Vampire auch, Gleichberechtigung. Aber ihre Natur ist zu übermächtig auf die Jagd auf Menschenblut ausgerichtet, daß sie sich leicht von der neuen Königin haben anwerben lassen. Somit denke ich, daß ihr vom ehrwürdigen Tigerclan darauf baut, daß euch die Werwölfe ewig dankbar und ergeben sein werden, wenn Nocturnia erledigt ist. Vielleicht trifft dies zu. Es ist jedoch eher wahrscheinlich, daß jede Forderung nach Anhebung gesellschaftlicher Stellung, die mit Gewaltandrohungen vorgetragen wird, nur das Gegenteil bewirkt. Daher ist es günstiger, die Werwölfe als Menschen mit einer Erkrankung zu achten, aber nicht als etwas besonderes und überlegenes zu sehen. Der Tigerclan ist in Indien eine machtvolle Gruppe. Doch er hat sich über mehr als ein Jahrhundert ruhig verhalten müssen und nur dadurch neue Kräfte schöpfen können. Wenn Nocturnia besiegt werden kann, so könnt ihr mehr Anerkennung nur über den Dank der Menschen erreichen und nicht über nachgereichte Forderungen. Sonst seid ihr nicht besser als die Vampire", streute Anthelia aus. Das wirkte genau so, wie sie es erhofft hatte. Lunera und Tallfoot sahen einander an, während die Wertiger verhalten grummelten.

"Womit drohst du uns, wenn wir nicht auf deine Gesuche eingehen, schwarze Spinne?" Fragte Nachtwind. Anthelia blickte den Drachen an und deutete auf einen Busch genau neben dem ersten Gemäuer des Tempels. "Brenn ihn weg!" Parselte sie zweimal. Der Drache riß das Maul auf. Die Wertiger, die in seiner Nähe standen sprangen zurück. Im nächsten Moment fauchte eine glühende Flammengarbe aus dem Drachenmaul und hüllte den Busch ein. Dieser dampfte, qualmte und barst dann in einer Flammenwolke auseinander. "Es gibt nichts zerstörerisches im magischen Tierreich als das Feuer eines Drachen. Und wie ihr erkennen müßt kann mein Begleiter es ungehemmt ausstoßen. Ich könnte ihm auch befehlen, euren Tempel einzuäschern. Ich weiß jedoch, daß es euer wichtigstes Heiligtum ist und möchte erst auf den Frieden mit euch vertrauen. Doch wenn mein Vertrauen auf einen Hügel Sand gebaut ist, so werde ich ihm hier freies Feuer gewähren, um euch alle zu töten und den Tempel restlos dem Erdboden gleichzumachen. Also, ihr verbündet euch meinetwegen gegen Nocturnia und helft uns allen, die wir dagegen ankämpfen. Dann wird euch die Dankbarkeit der menschlichen Welt hold sein, und ihr dürft in Frieden an euren jeweiligen Geburtsorten weiterleben. Wenn ihr jedoch meint, nach Nocturnia zur neuen Bedrohung für alle werden zu wollen, werden meine Schwestern und ich, sowie alle Zaubereiministerien das als nicht des Dankes wert erkennen und jede Aggression von euch dreifach zurückzahlen. Ich habe viele Jahre warten müssen, um eine geordnete Welt erhoffen zu dürfen und werde nicht tatenlos zusehen, wie eine Gruppe sich benachteiligt fühlender Geschöpfe diese Welt zerstört. Dies sei euch als Warnung verkündet. Der Clan der Tiger möge sich besser daran halten, was meine Fürsprecherin nach der Niederschlagung der Schlangenkriegerinvasion erstritten hat! Mehr wollte ich euch nicht sagen. Ach ja, noch was: Erhebt niemals Hand, Klaue, Zahn oder Waffe gegen eine Hexe. Denn sie könnte eine von meinen Schwestern sein. Tut ihr es doch, weiß ich jetzt, wer ihr seid und wo der ehrwürdige Tempel liegt. Dann wird Feuer und/oder Eis vom Himmel regnen, und niemand von euch wird dem was entgegensetzen können. Das war es jetzt wirklich."

"Ich mach dich dumme Pute fertig", brüllte Feuerkrieger und fiel auf seine Hände. Auch andere aus dem Tigerclan wurden zu ihren übergroßen Zweitgestalten. Doch Anthelia hatte mit etwas ähnlichem Gerechnet und wurde zur schwarzen Spinne. Da kam Feuerkrieger schon auf sie zugesprungen. Sie zog ihre Beine an und ließ ihn kommen. Er prallte mit seinen Zähnen gegen ihren harten Panzer. Sie schnappte mit den Beißwerkzeugen nach seinem linken Ohr. Er schrie auf, als es wie Papier mit einer Schere abgetrennt zu Boden fiel. Dann würgte sie ihm noch ihren überaus ätzenden Verdauungssaft entgegen. Er sprang laut heulend zurück, als die gelbgrüne Flüssigkeit ihn fast erreichte. Da kamen weitere Wertiger und versuchten, Anthelia/Naaneavargia in die Beine zu beißen. Doch sie hieb mit ihren Beißscheren weiter um sich. Vielleicht mochte ihr Gift bei den Tigern keine Wirkung erzielen. Doch die mechanische Kraft der Beißwerkzeuge flößte den Wertigern auch schon genug Furcht ein. Einem erging es wie Feuerkrieger. Er verlor ein Ohr. Der Andere nahm zwei tief klaffende Wunden hin. Der Dritte geriet in einen Schwall Verdauungssaft und schrie laut auf, während sein Pelz langsam zersetzt wurde. Dann hatte Anthelia genug und lief auf Vientofrio zu, der seinerseits mit Schweif und Klauen angreifende Wertiger abwehrte. Zwei der Tiger flogen von einem wuchtigen Hieb des Drachenschweifs getroffen durch die Luft und krachten mehr als zehn Meter über dem Boden gegen die Stämme von Bäumen. Der Drache blies ihnen seinen Flammenatem entgegen, als sie wieder zur Erde zurückfielen. Das machte den Tigern ein jähes Ende. Anthelia tauchte unter dem nächsten Schlag von Vientofrios Schwanz hindurch und turnte auf den Rücken des Drachens hinauf. Ein Wertiger schnellte aus vollem Lauf nach oben und wollte sie packen. Doch sie krallte sich bereits am Schuppenpanzer fest und erwischte den Tiger mit einem kleinen aber wirksamen Säureschwall. Der Tiger rutschte mit seinen Krallen von Schuppen und Chitinpanzer ab und landete heulend auf dem nach Moder riechenden Dschungelboden. Anthelia wehrte noch drei Tigersprünge ab. Als der Drache einen Flammenstoß knapp am Tempel vorbeischickte befahl Nachtwind den Rückzug. Beinahe hätte der Feuerdrache den wertvollen Tempel in Brand gesetzt. Anthelia wollte sich zurückverwandeln, als der Werwolf Garout in Wolfsgestalt auf sie zujagte. Sie sammelte genug von ihren Verdauungssäften und schleuderte dem Werwolf eine so große Ladung entgegen, daß er laut heulend seinen Pelz verlor. Er schluckte die ausgewürgte Säure und bekam sie in die Nase. Das war sein Ende. Er wurde von außen und von innen aufgelöst. Innerhalb einer Minute gab es nur noch ein bleiches Skelett, daß zur Abrundung des entsetzlichen Geschehens leise knirschend zum Knochengerüst eines Menschen wurde. Damit war die Garoutsippe endgültig von der Erdoberfläche getilgt. Die anderen Werwölfe und -tiger hielten nun abstand. Anthelia wechselte ihre Gestalt und rief noch einmal: "Das war nicht nötig, so viele von euch zu töten. Das sind nun weniger gegen Nocturnia, als wir alle hoffen durften. Aber nun seid ihr gewarnt. Gehabt euch wohl!" Sie rief dem Drachen, der noch einen der Wertiger im Sprung verkohlte zu, er solle aufsteigen. Er erhob sich erst, als sie es ihm das fünfte Mal zurief. Sie fühlte, wie er drauf und dran war, sie abzuwerfen. Doch sie klammerte sich fest und fühlte, wie er nach oben schoß und im Hui zwischen den ausladenden Ästen der Urwaldriesen hindurchstieß. Anthelia war sich sicher, daß er sie dadurch von sich abschütteln wollte. Doch als sie außer Reichweite der Tiger waren gewann sie ihre volle telekinetische Kraft zurück und prellte die ihr entgegenpeitschenden Äste zur Seite. Dann war nur noch der indische Himmel über ihnen. Der Drache versuchte, sich durch eine rasche Rolle seiner Reiterin zu entledigen. Doch sie bekam ihn bei seiner Flughaut zu fassen und störte das Manöver, daß er fast in Rückenlage in das Blattwerk des Dschungels zurückfiel. Sie dachte ihre Flugformel. Wenn dieser ungebärdige Kerl sie wirklich abwerfen würde, dann wollte sie ihm eben so davonfliegen, bevor er sah, wo sie war. Doch er geriet wieder in Normallage und nahm nun Fahrt auf. Anthelia griff an das Schwert und zog es hervor. "Sei mir unterworfen!" Rief sie auf Parsel und entzündete das Schwert mit "Faianshaitargesh!" Dann befahl sie dem Drachen erneut, ihr zu gehorchen. Sie fühlte, wie sein aufgeflammter Widerstand schmerzhaft zerbröckelte, bis er fügsam ihren Befehlen folgte. "Denkst du ehrlich, Diego Vientofrio, daß ich mich von dir austricksen lasse? Dafür bist du viel zu jung", schnarrte sie und kommandierte, daß der Drache zur großen Lichtung fliegen sollte, von wo aus sie mit ihrem Portschlüssel in die Berge Perus zurückkehren konnten.

Eine Viertelstunde später erreichten sie die Lichtung und landeten. Vientofrio mußte wieder seine menschliche Gestalt annehmen. Sie fühlte, daß dadurch wieder etwas mehr Widerstandsgeist in ihn einströmte. Doch gleich brauchte sie ihn für's erste nicht mehr. Denn da lag der zerbeulte Kessel. Anthelia gebot Vientofrio, den Kessel anzufassen. Da erspürte sie, wie eine magische Flut auf sie zukam. Es war ein angriff der Wertiger. Doch diese kamen zu spät. Der Portschlüssel löste aus. Anthelia und Vientofrio flogen durch das Farbenmeer zwischen Raum und Zeit hindurch und purzelten am Ziel übereinander. Anthelia stieß den Werdrachen von sich und sprang auf. Sie zog ihren Zauberstab und richtete ihn auf den Drachenmann, der noch unter dem Bann des Schwertes stand. "Obleviate!" Murmelte sie und wischte mit diesem Zauber alle Erinnerungen an die letzten Stunden aus. Dann disapparierte sie, bevor der Drache wieder zu sich kam. Sie hatte ihre Mission beendet. Ob sie einen nachhaltigen Erfolg hatte wußte sie nicht. Aber sie hoffte es sehr.

ENDE

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