DIE SONNENKINDER

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Eigentlich dachten alle, mit der Beseitigung des Mitternachtsdiamanten und der damit einhergehenden Vernichtung von Griselda Hollingsworth alias Lady Nyx sei die Gefahr eines weltweiten Vampirreiches gebannt. Doch der uralte Zauberstein und Nyx waren so sehr miteinander verwachsen, daß ihr Geist die Vernichtung ihres Körpers überlebte und neuen Halt in einer ihrer direkten Vampirtöchter findet und nun als Blutmondkönigin Lamia die Errichtung des Vampirreiches Nocturnia fortführt. Es gelingt ihr zusammen mit Arnold Vierbein, auch ohne die magische Verstärkung durch den Mitternachtsdiamanten wirksames Vampirwerdungsgift zu erzeugen und damit kleinere Ortschaften zu verseuchen. Ihre Handlanger tragen Arm- oder Fußbänder, die die eigene Ausstrahlung schwächen und somit unortbar machen. Dennoch bekommen die Zaubereiüberwacher in Großbritannien mit, was passiert. Anthelia weiß, daß Nyx eine Nachfolgerin hat. Da sie nicht an zwei Fronten zugleich kämpfen möchte und auch kein Interesse an einem geschwächten Zaubereiministerium hat schlägt sie US-Zaubereiminister Cartridge einen Burgfrieden vor. Dieser springt über seinen Schatten und willigt ein. Währenddessen legt sich Nocturnia mit dem Clan der Wertiger an. Deren Matriarchin Nachtwind regt ein Bündnis zwischen Wertigern und Werwölfen an. Erst die gemäßigten Schweigsamen Schwestern und dann auch Anthelias Spinnenorden erfahren von dieser Zusammenkunft. Anthelia reist mit dem unter dem Unterwerfungszauber des Feuerschwertes Yanxotahrs stehenden Werdrachen Vientofrio nach Indien, wo sie den versammelten Wertigern und Werwölfen eine Zusammenarbeit anbietet, jedoch verlangt, daß die Wergestaltigen keine weiterführenden Pläne nach dem Fall Nocturnias ins Werk setzen. Es kommt zum kurzen Kampf zwischen Vientofrio, Anthelia-Naaneavargia und den Wertigern, bei dem der Drachenmann und die Spinnenfrau ihre Fähigkeiten unter beweis stellen und triumphierend davonziehen. In den Staaten selbst kommen zwei Kinder zur Welt, die bereits vor der Geburt einen entwickelten Geist besitzen. Zum einen ist da Anthony Summerhill, der die Wiedergeburt von Lucas Wishbone ist und von der Öffentlichkeit als eigener Sohn und Vetter zur Kenntnis genommen wird. Zum anderen erwacht die durch eine Verkettung verschiedener magischer Umstände imLeib der zur Zwanzigjährigen wiedergealterten Daianira heranwachsende Austère Tourrecandide aus dem Dämmerzustand des halbfertig entwickelten Gehirns und will zunächst ihr neues Los abwenden, erfährt jedoch von Daianira, die sich durch ausgeklügelte Tricksereien als ihre eigene Tochter Theia ausgibt, was in der Zeit zwischen Tourrecandides Verschwinden und ihrem Wiedererwachen als ungeborene Tochter Daianiras geschah. Sie willigt wohl oder übel ein, ihrer neuen Mutter und deren Großmutter Eileithyia zu helfen und übersteht ihre Wiedergeburt.

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In der Welt der Vampire waren sie genauso gefürchtet und gehaßt wie der Teufel und die Hölle in der Welt der Menschen, die Kinder der Sonne, dazu bestimmt, gegen die Kinder der Nacht zu kämpfen. Doch weil kein Vampir, der mehr als tausend Jahre existierte, einem solchen Gegner über den Weg lief, und die Vampire ihr Wissen über die Jahrtausende weitergaben, in dem auch keine echte Begegnung erwähnt wurde, sahen die Vampire die Erzählung von den Sonnenkindern als Legende an. Ähnlich wie der Teufel und sein Reich bei den Menschen verloren die Sonnenkinder ihren Schrecken bei den Vampiren. Doch die Sonnenkinder existierten. Sie überdauerten den Untergang ihrer alten Heimat im zeitlosen Schlaf. Sie warteten darauf, daß der Tag kommen mochte, an dem sie gebraucht wurden.

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"Ich bringe keine kleinen Kinder um", zischte der Mann, der sich gerade John Brooks nannte. Der andere sah ihn sehr überlegen an und raunte: "Für eine Million würden Sie wohl sicher auch Clintons Hund ersäufen, Mister Brooks. Hat mir zumindest unser gemeinsamer Freund Parker erzählt."

"Parker quatscht gerne viel, wenn er zwei Whisky intus hat", grummelte Brooks. "Ich lege kein Baby um, Mister, auch wenn das Balg Ihr eigener Braten ist, Herr Senator."

"Das Angebot steht, Mr. Brooks. Eine runde Million und noch dazu ein Reisepaß mit dem Namen und Herkunftsland Ihrer Wahl und ein Erster-Klasse-Flugschein in den sonnigen Süden. Parker hatte drei Whisky, als der mir sagte, daß Sie gerade ziemlich heiß begehrt sind. Offenbar haben sie sich mit einer ehrenwerten Familie aus Palermo angelegt, die gerne wissen würde, wo Sie gerade wohnen."

"Klar, wenn das Zuckerbrot nicht geht, dann die Peitsche, Mister", schnarrte Brooks. "Wer sagt Ihnen, daß ich Sie nicht vorher hochgehen lasse, bevor mich einer von der Cosa Nostra erwischen kann, ey?"

"Ich sage das, Mister. Denn wenn Sie hier ohne meinen Auftrag rausgehen sind Sie in nur fünf Minuten tot. Abgesehen davon daß ich mich abgesichert habe, daß die wackeren Ordnungshüter mich nicht mit Ihnen in Beziehung bringen können. Das gilt übrigens auch, wenn Sie meinen Auftrag ausführen möchten. Geld, Paß und Flugschein kriegen Sie nämlich nur, wenn ich sicher weiß, daß mein Auftrag erledigt ist."

"Sind die Seidenwindeln des von Ihnen gemachten Hosenscheißers langsam zu teuer, Herr Senator?" Erwiderte Brooks unbeeindruckt von der drohung seines Gegenübers.

"Seine Momma wird mir zu teuer, wenn Sie das wirklich wissen wollen. Aber wenn Sie mir nicht helfen möchten und bereits genug erlebt haben braucht Sie das nicht weiter zu kümmern."

"Was würde mich dran hindern, Sie hier und jetzt abzuknallen, Mister?" Fragte Brooks und hielt scheinbar aus dem Nichts eine Beretta mit Schalldämpfer in der Hand.

"Der Umstand, daß unser gemeinsamer Freund Parker weiß, wo wir beide gerade sind. Kriegt er in einer Stunde nicht einen Anruf von mir, bei dem ich ein paar mit ihm vereinbarte Codewörter benutze, regelt er das mit der erwähnten Familie aus dem sonnigen Sizilien. Denken Sie, ich wäre so naiv, mich ohne Leibwächter herzutrauen, wenn ich nicht genau wüßte, daß es Ihnen schlechter bekäme als mir, wenn Sie mich hier und jetzt erschössen, Brooks?"

"Sie waren immer schon gerissen, Wellington, zumindest solange ihr Dödel Sie gelassen hat", knurrte Brooks verächtlich und zielte mit der Pistole auf den Intimbereich seines Gesprächspartners. "Ich könnte Sie auch dazu kriegen, mir die erwähnten Codewörter zu verraten. Aber ich kenne Parker. Der hat Ihnen sicher genug Kennwörter mitgegeben, jede Möglichkeit zu erwähnen, von "Alles in Ordnung" bis "Legt wen um!" Außerdem hat der einen Stimmenvergleicher, der zwischen Bandaufnahme und selbstgesprochenen Sachen unterscheiden kann, weiß ich. Abgesehen davon sind zwei Millionen mehr auf meinem Konto ein Argument, die überteuerte Momma zu erschießen. Den kleinen bringe ich nicht um. Den klemme ich mir unter den Arm und bringe den irgendwo hin, wo den keiner sucht und keiner kennt. Dann ist der auch aus der Welt."

"Ich habe eine Million gesagt, Brooks. Versuchen Sie, den Preis hochzutreiben, haben Sie außer fünf Minuten Restleben nichts von mir zu kriegen."

"Anderthalb Millionen und einen argentinischen Pass, Herr Ex-Senator. Und ich knall nur die Lady ab, der sie den Braten ins Rohr geschoben haben."

"Zwei Millionen und die erwähnten Dokumente, wenn Sie beide erlegen", schnarrte Wellington. "Ansonsten Ciao Bello!"

"Wenn ich ein Baby umnieten soll kostet das den fünffachen Preis, Mister. Wären also dann mehr als vier Millionen. Für anderthalb Millionen räume ich die Schlampe aus dem Weg und lasse den Bengel bei guten Freunden im Ausland unterkommen, die schon lange auf ein Kind warten. Wenn Sie wollen, daß ich beide erledige kostet das extra."

"Okay, da ist die Tür", knurrte Wellington. "Grüßen Sie mir den mit den Hörnern, wenn er Sie abholt!"

"Den werden Sie schneller zu sehen kriegen als ich, Wellington", knurrte Brooks. Dann verharrte er und sagte: "Okay, ich mach das. Allerdings möchte ich die anderthalb Millionen haben. Fünfhundert Riesen als Anzahlung und den Rest bei Liferung!"

"Lieferung heißt, daß Sie mir die Leichen von beiden an einen zu benennenden Ort schicken, damit ich sicher sein kann, daß mir in achtzehn Jahren nicht ein junger Bastard wegen irgendwelcher Gerüchte einen DNA-Test abverlangen kann", sagte Wellington mit innerem Triumph. Dann meinte er mit einem von ihm selten zu hörenden Tonfall: "Es reicht mir auch schon aus, mir die Herzen von den beiden zu schicken und den Rest zu verbrennen. Ich brauche nur die genetische Absicherung, daß beide mir nicht mehr dummkommen werden."

"Was haben Sie überhaupt davon, wo jeder Spatz von Malibu bis Martha's Vineyard es von den Dächern pfeift, daß Sie einer Ex-Nutte ein Kind angedreht haben? Jeder könnte drauf kommen, daß deren Verschwinden was mit Ihnen zu tun hat."

"Das soll dann nicht Ihr Ding sein. Ich zahle die fünfhunderttausend im Voraus auf die von Ihnen verfügbaren Konten auf den Kaiman-Inseln. Kriege ich die Post, die ich bestellt habe, lege ich die runde Million noch drauf, wenn ich die Sendung auf Echtheit geprüft habe. Also los, Zeit ist Geld!"

"In zwei Wochen wird geliefert. Noch früh genug, um vor der nächsten Unterhaltsrate die Party feiern zu können. Am Besten lassen Sie sich dann auch gleich unsichtbar zaubern. Ich kenne einen guten Gesichtschirurgen."

"Sehen Sie zu, daß Sie den nicht nötig haben! Also raus hier!" Befahl Wellington. Brooks nickte und verließ die Strandhütte auf Puerto Rico. Der gerade angeheuerte Auftragsmörder winkte den ewig an- und abrollenden Brandungswellen zu. Sie mochten das Gespräch für Leute mit Richtmikrofonen unabhörbar gemacht haben. Doch Brooks streichelte kurz den obersten Kragenknopf seines blütenweißen Hemdes. Das darin eingebaute Hochleistungsmikrofon, das die von ihm erheischten Gespräche auf einem hauchdünnen Chip im Kragen selbst abspeicherte, hatte Wellingtons Auftrag aufgezeichnet. Brooks versicherte sich immer gegenüber möglichen Auftraggebern, falls die vergaßen, den ausgemachten Lohn zu zahlen. Der Killer war nicht dumm und auch schon lange im Geschäft um zu wissen, daß sein Leben gerade noch lange genug dauern mochte, bis er den gerade erhaltenen Auftrag ausgeführt hatte. Dieser ehemalige Politiker hatte zu deutlich erwähnt, daß er wen kannte, der Brooks suchte. Sicher würde der sich einen lästigen Mitwisser um seinen Mordplan nicht länger als nötig gefallen lassen. Brooks mußte also erst zusehen, daß Wellington jeden gegen ihn geführten Schritt doppelt und dreifach bereuen würde.

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Sie war sichtlich verärgert und enttäuscht. Das spürte ihre Besucherin genau. Albertine Steinbeißer, eine gerade vierzig Jahre zählende Hexe mit flachsblondem Haar und einer kleinen, eher knochigen Statur, hatte mitbekommen, daß die deutsche Quidditchmannschaft aus dem Weltpokalturnier ausgeschieden war, noch dazu gegen England. Doch deswegen hatte sie die höchste Schwester nicht zu sich bestellt, die da in einem hautengen, scharlachroten Kostüm vor ihr saß. Die neue Anthelia sah wirklich sehr anziehend aus, erkannte Albertine, die was Liebschaften anging doch eher ihren Geschlechtsgenossinnen zugetan war. Doch die Höchste Schwester hatte ihr klargemacht, daß sie ihr da nicht entgegenkommen würde, es sei denn, Albertine würde sich für ein gemeinsames Liebesspiel in einen Mann verwandeln, was Albertine total anwiderte.

"Höchste Schwester, du suchst doch nach Fabriken der Muggel, wo diese Sonnenschutzfolie für Vampire hergestellt wird, richtig?" Fragte Albertine überflüssigerweise. Denn ihre attraktive Gesprächspartnerin hatte das ja schon längst erfaßt, worum es ging.

"Ich hörte sowas, daß ihr von der Muggelkontaktgruppe für Güldenberg nach diesen Fabriken sucht. Du hast eine gefunden?" Fragte Anthelia in bestem Deutsch. Albertine nickte und deutete auf die an der Wand hängende Landkarte, die das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland darstellte. Sie wieß auf das Umland der norddeutschen Stadt Goslar. "Da im Industriegebiet steht eine kleine Fabrik für die Kunststoffteile für Ultraleichtflugzeuge. Das sind motorgetriebene Flugmaschinen für Freizeitflieger." Anthelia machte eine Geste, die bedeutete, daß Albertine sich nicht zu lange mit unnötigen Erklärungen aufhalten sollte. "Gut, der Betreiber dieser Fabrik heißt Boris Hummelskirchen. Seine eltern haben ihm diese Fabrik vererbt. Da kann er aber neben festen Bauteilen auch Folien für die Verkleidung von Sitzen oder Wetterschutz herstellen. Da wir, also das Mukobü, nach der Sache mit Buffalo Creek gesondert nach solchen Fabriken suchen, die ohne große Umstellung diese Solexfolien herstellen können, wurden wir aufmerksam, weil in der besagten Fabrik eine Abteilung für Schutzplanen zugemacht wurde, obwohl es dafür keinen geschäftlichen Grund gab. Bevor unser werter Herr Minister nach Millemerveilles abgereist ist hat er uns allen gesagt, auffällige Fabriken zu beobachten, ohne direkt einzugreifen. Ich hatte eine Nachtschicht. Da konnte ich mit dem Nachtfernrohr mit Wärmesichtbezauberung beobachten, wie zwanzig große Lastwagen auf das Gelände fuhren und genau aus der Abteilung, die angeblich nichts mehr herstellte, Paletten mit zusammengepackten Folien herauskarrten. Da du mir gesagt hast, keine Meldung ohne konkreten Beweis zu machen habe ich meinen Posten für einige Minuten aufgegeben und habe einen der LKWs verfolgt. Er fuhr in Richtung Süden. Ich begleitete ihn unbeobachtet bis zu einer Treibstofftankstelle. Dort gelang es mir, während der Fahrer den aufgenommenen Treibstoff bezahlte, eine Probe der Ladung zu entwenden. Hier bitte!" Sie zog mit der linken Hand eine Schublade ihres Schreibtisches auf und zog ein Paket hervor, das wie ein sehr dünnes, zusammengefaltetes Wäschestück beschaffen war und im Licht der sechs brennenden Kerzen fleischfarben glänzte. Anthelia nahm das Paket entgegen und entfaltete es. Tatsächlich war es eine elastische, einteilige Bekleidung, die scheinbar nahtlos Kopfstück, Rumpfteil mit in Fingerhandschuhen endenden Ärmeln und einem Unterkörperstück mit in alle Zehen einzeln umschließenden Füßlingen bildete. Anthelia konnte feststellen, daß eine winzige Pumpvorrichtung die Ganzkörperfolie beim Schließen an der vorderen Halspartie luftleer pumpen und sie so am Körper des Trägers anschmigen konnte wie eine zweite Haut. Ebenso konnte mit dieser Pumpe Luft zwischen natürlicher und künstlicher Haut gepumpt werden, um die Folie wieder abzustreifen. Die Führerin der Spinnenschwestern blickte auf das Ding, daß wie die abgeworfene Haut eines menschenförmigen Reptils wirkte. Sie stand auf und streifte mit ihren Händen ihre Kleidung vom Körper. Albertine starrte mit immer begehrlicherem Blick auf den makellosen Leib der höchsten Schwester. Wer immer die alte Spinnenmagierin war, mit der Anthelia eins geworden war, ihr mußten alle für ihre Reize empfänglichen hoffnungslos verfallen sein. Anthelia merkte wohl, daß Albertine sich an ihrem Anblick ergötzte, ja sich bereits ausmalte, mit ihr doch die körperliche Liebe zu erleben. Doch ihre Entblößung hatte einen nüchternen, eher taktischen Grund. Sie probierte die erbeutete Sonnenfolie an. Erst nach zwei Minuten schaffte es die mit Kleidung sonst keine Probleme habende Hexenlady es, in die dehnbare, reißfeste Haut mit der besonderen Schutzbeschichtung zu schlüpfen und sie so anzulegen, wie es vorgesehen war. Nur die langen, dunkelblonden Haare störten dabei, das haarlose Kopfstück, das wie eine Kombination aus Kapuze und Maske aussah anzulegen. Als sie es geschafft hatte, in die künstliche Haut hineinzuschlüpfen stellten beide Hexen fest, daß diese Folie wohl eher für einen Mann gemacht worden war. Anthelia lachte, als sie es endlich hinbekommen hatte, die Folie mit der Vakuumpumpe an ihrem Körper anzusaugen.

"Fühlt sich komisch an, da was leeres hängen zu haben", sagte sie und deutete auf ihren Unterleib. "Aber ansonsten sitzt das Ding gut genug. Ich denke zwar, daß die für Frauen hergestellten Folien noch becken- und brustfreundlicher anliegen. Aber für den Versuch reicht es aus. Du hattest recht, in dieser Fabrik werden also Solexfolien hergestellt." Sie drückte den Kolben der kleinen Pumpe, die erst das Kopfteil, dann die Halspartie und dann vom Oberkörper über die Ärmel bis hinunter zu den Füßen ein Luftpolster aufbaute, daß Anthelia half, sich der zweiten Haut zu entledigen. Wieder stand sie für mehrere Sekunden total unverhüllt vor Albertine, deren haselnußbraune Augen ihr fast aus dem Kopf fielen. Ihre Zungenspitze glitt wollüstig über ihre Lippen, und ihre Schenkel zuckten, als wollten sie sich gleich für dieses göttliche Wesen da öffnen, um ihm Einlaß ins Reich der Wonne zu gewähren. Doch Anthelia blieb so kühl wie vorher auf. Sie schlüpfte mit dem Schnellankleidezauber in ihre übliche, schon aufreizend enge Kostümierung zurück und zog ihre Strümpfe und Schuhe wieder an. Dann faltete sie die Folie zusammen und legte sie kommentarlos auf den Tisch. "Ich werde mir diesen Hummelskirchen ansehen, Schwester Albertine. Wann ist deine nächste Wache?"

"Ü-über-m-morgen", stammelte die deutsche Hexenschwester, die immer noch im Strudel der Gefühle trieb, die ihr Anthelias Körper bereitet hatte.

"Solange will und werde ich nicht warten, Schwester. Gib mir die genaue Ortsbeschreibung kund!" Albertine wollte gerade einräumen, daß sie dafür etwas zurückhaben wollte. Doch Anthelia erfaßte das wohl und fügte schnell hinzu: "Mein Leib steht dir nur dann zur Verfügung, wenn du dich richtig mit mir vereinigen kannst, ohne Hilfen und das wir uns dabei in die Augen sehen können. Aber ich kenne eine Mitschwester aus den Niederlanden, die sich den Männern aus Prinzip versagt. Vielleicht kann ich euch einander annähern." Doch für Albertine war das ein sehr sehr schwacher Trost. Doch weil sie wußte, daß Anthelia auch eine andere, weit weniger anziehende Erscheinungsform besaß, konnte sie sich für's erste damit abfinden, sie nicht für eine Liebesnacht gewinnen zu können. So erklärte sie ihrer Anführerin die örtlichen Gegebenheiten, die diese zum Anfliegen oder Apparieren benötigte. Dann wollte Anthelia nur noch wissen, wer von Güldenbergs Leuten Wachdienst hatte. "Zwei Kollegen, Gregor Eichfäller und Florian Eifelstein. Ich bin eben übermorgen wieder dran, zusammen mit der Kollegin Kieselweiß, die auch meint, nur echte Männer ranlassen zu müssen, warum auch immer."

"Ich werde nicht warten, bis du deinen Dienst antrittst, auch und vor allem, weil ich dich nicht bei deinem offiziellen Arbeitgeber in Verdacht bringen möchte. Ich werde mir diesen Hummelskirchen gleich in dieser Nacht ansehen, wenn die normalen Menschen dort nicht mehr arbeiten. Ich darf schließlich davon ausgehen, daß die heimlich hergestellten Folien eben nur nachts abgeholt werden. Er wird dann wohl zugegen sein, um sicherzustellen, daß seine Lieferung ohne Schwierigkeiten auf die Reise geht." Albertine Steinbeißer nickte verschämt. Anthelia bedankte sich noch einmal bei der Mitschwester und verließ ihr Haus auf einem Harvey-Besen durch das Dachfenster.

Albertine blickte noch Minutenlang durch das geöffnete Fenster hinauf in den Sommernachmittagshimmel. Dann fiel ihr ein, daß die Solexfolie noch auf ihrem Schreibtisch lag. Ein aus der unerfüllten Begierde geborener Gedanke trieb sie dazu, die von Anthelia ausprobierte Folie zu nehmen, und sie selbst an ihrem bloßen Körper anzulegen. Einige Momente sonnte sie sich in dem Gefühl, nun eine Verbindung zu Anthelias blaßgoldener Haut zu haben, bevor sie daran ging, diese Folie von ihren für Männer bestimmten Anhängseln zu trennen. Wenn sie nicht Anthelias Leib liebkosen durfte, dann wollte sie zumindest die Spuren ihrer Haut auf ihrer tragen, bis sie wieder ihren Schichtdienst antreten durfte.

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Sie wandelte zwischen Säulen herum, die fünf Meter durchmaßen und an die fünfundzwanzig Meter in den freien, von einer gleißenden Sonne erhellten Himmel aufragten. Ein goldenes, pulsierendes licht umfloß die Säulen. Einmal erschinen sie strahlendweiß und undurchsichtig und dann wieder so durchsichtig wie hauchdünnes Glas. Immer dann, wenn die Säulen durchscheinend wurden konnte sie darin schwebende Gestalten erkennen. Es waren Männer und Frauen von unterschiedlicher Größe und Haarfarbe. Allen gemeinsam war, daß sie vollkommen nackt waren und eine wie matt schimmerndes Gold widerscheinende Hautfarbe aufwiesen. Ein zehn Meter breiter Gang schuf eine Trennung zwischen den Anordnungen, die zwei mit der breiten Grundseite zueinander hinweisende Dreiecke waren. Eine der dreieckigen Säulengruppen enthielt nur Frauen. Die andere beherbergte Männer. Zu den bildhaften Eindrücken gesellten sich noch eine große, in regelmäßigen Abständen wallende Hitze, die direkt in den Körper der Wandelnden einströmte und ein Chor aus sphärenhaft schwebenden Stimmen. Dieser sang ihr zu: "Trägerin des Schlüssels unseres leuchtenden Vaters, suche den, den du mit ihm geweiht hast und komme zu uns, den Kindern der Sonne!"

Patricia Straton erwachte. Sie hatte wieder einmal geträumt. Es war dieser Traum von diesen beiden dreieckig angeordneten Säulenwäldern, die zusammen ein großes Sechseck bildeten. Seitdem sie wußte, daß Nyx und der Mitternachtsdiamant verschwunden waren hatte sie diesen Traum schon zehn mal durchlebt. Immer wieder hatte sie danach das von Daianira Hemlock gestohlene Medaillon der Inkas auf ihrem Körper gefühlt, schwer wie Blei und beinahe so heiß wie eine glühende Herdplatte. Mochte es sein, daß in diesem Kleinod eine Macht steckte, die erst erwachte, wenn der Mitternachtsdiamant für Vampire unauffindbar wurde? Aber was sollte diese Traumbotschaft? Patricia fragte sich, ob sie nicht doch einen Fehler gemacht hatte, als sie Daianira das Amulett Intis Beistand abgenommen hatte. Vielleicht wäre Anthelia dadurch nicht wiedergekehrt. Andererseits hatte sie, Patricia, es doch darauf angelegt, daß Anthelia ihre alte Macht zurückgewinnen konnte, auch wenn sie damals davon ausgehen mußte, daß die in Daianiras Schoß gefangene Hexenlady vielleicht doch was verraten hatte, was sie und jede andere Hexe zu einer willigen Sklavin Daianiras hätte werden lassen. Anthelia hatte sie alle ausgetrickst und war nun sogar noch stärker und wohl unverwundbar geworden. Patricia konnte sich nur auf den Schutz des Amuletts verlassen, daß die neue Anthelia ihr keine bedingungslose Unterwerfung abverlangen konnte. Doch was sollte dieser Traum von den Säulen? Fünfzig Säulen hatte Patricia in ihren Träumen gezählt. Eine an der äußersten Spitze jedes Dreiecks. Dann eine Reihe aus drei, dahinter eine aus fünf, dann aus sieben und schließlich noch aus neun Säulen, die die Basis bildeten. Wo gab es diese Säulen? Natürlich war sich Patricia darüber klar, daß diese Säulen und ihre schwebenden Bewohner was mit der Herkunft des Sonnenmedaillons zu tun hatten. Aber wenn es diese Säulen gab, dann mußten sie sehr gut versteckt sein und/oder durch magische Verhüllungen vor dem Auffinden geschützt sein. Aber was sollte diese Traumbotschaft? Wen sollte sie aufsuchen, und warum sollte sie mit ihm zu den Sonnenkindern, wie sich die in den Säulen schwebenden selbst genannt hatten? Wen sie aufsuchen sollte fiel ihr nun, wo sie den Chor der Sonnenkinder das erste mal richtig verstanden hatte ein. Mit dem Medaillon hatte sie den ehemaligen Benjamin Calder an sich gebunden, der jetzt als Sohn des von ihr in Ungnade getriebenen Senators Wellington existierte. Ein Gedanke reichte ihr, um in sein Bewußtsein hineinzulauschen oder in seinen Erinnerungen zu stöbern, als säße er ihr direkt gegenüber und sie wende die Legilimentik auf ihn an. Doch warum sollte sie ihn zu diesen Sonnenkindern bringen? Am Ende würde sie noch dafür bestraft, weil sie Cecil Wellington mit dem Medaillon aus dem Bann des Seelenmedaillons Anthelias gerissen hatte und ihn nun als ihren ganz persönlichen Kundschafter kultivierte. So beschloß sie, erst einmal nichts zu unternehmen.

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Die Augen des Oliver Gilmore hatten das Gewissen des Mannes namens John Brooks betäubt. Der kleine Junge hatte dieselben Augen wie sein in Ungnade gefallener Vater. Brooks hatte die Drohung des Ex-Senators nicht vergessen. Eigentlich bevorzugte er es, die Zielobjekte durch fingierte Unfälle zu erledigen. Doch weil Wellington unbedingt die Herzen seiner unrühmlichen Liebschaft und des daraus entstandenen Sohnes haben wollte mußte er tatsächlich zu ihnen vordringen und sie aus nächster Nähe erledigen.

Der Profi-Killer hatte seine angewiesenen Opfer drei Tage beobachtet, den Alltag der Mutter und des Kindes ermittelt und überlegt, ob er nicht doch mit durchschnittenen Bremsschläuchen besser fuhr als direkt zu ihnen vorzudringen. Doch diese Eve Gilmore fuhr so selten mit ihrem Auto. Außerdem hatte sie eine Freundin, die sich den Wagen ausborgte. Es würde nichts bringen, eine andere als die Zielperson zu töten. So blieb ihm nur die Variante des unbefugten Eindringens in die Appartmentwohnung der Eve Gilmore.

In der Nacht vom vierten zum fünften August turnte eine pechschwarze Gestalt an der Außenfassade des Appartmenthauses hinauf, jeden Mauervorsprung, jedes uneinsehbare Gesims ausnutzend. Brooks kletterte gerne. Wenn er nicht als Auftragsmörder unterwegs war, legte er sich mit den steinernen Riesen der Rocky Mountains an oder kletterte in Felshängen herum. Auch war er passionierter Felsenspringer, der einen gehörigen Adrenalinstoß erfuhr, wenn er sich mit einem Fallschirm von schmalen Felsplateaus in die Tiefe stürzte und knapp hundert Meter über Grund den rettenden Schirm öffnete. Seine Kletterleidenschaft kam ihm nun zu Gute. Sicher vor Straßenbeleuchtungen und Streulicht arbeitete er sich nun bis zum Balkon der Gilmores hinauf. Die Balkontür war verschlossen. Doch für einen Profi wie Brooks bot sie kein unüberwindliches Hindernis. Mit einem Diamantenen Glasschneider trennte er vorsichtig die obere Hälfte der zweigeteilten Scheibe aus dem Rahmen. Dieser Vorgang dauerte zwar mehrere Minuten, weil er so leise wie möglich arbeiten mußte. Doch dann schaffte er es, die herausgeschnittene Scheibe entgegenzunehmen und vorsichtig neben die Tür zu legen. Mit seiner dick behandschuhten Rechten langte er durch die Öffnung und entriegelte die Tür. Er hatte natürlich vorher geprüft, ob die Tür mit Alarmvorrichtungen gesichert war. Sie war es nicht. Brooks schlüpfte dunkel und geräuschlos wie ein Schatten in das hinter der Balkontür liegende Wohnzimmer. Der dicke Teppich half ihm, lautlos zu schreiten. Brooks dachte daran, daß hier irgendwo etwas von Wellingtons kostbarem Erbgut auf dem Teppich getropft war. Doch gleich würde wohl noch etwas anderes auf den Teppich tropfen. Brooks wußte nicht, wo die Mutter oder ihr Kind schliefen. Am Tage hatte er sich nicht in die Wohnung trauen können, und über den Flur ging es nicht, weil irgendwer befunden hatte, auf jedem Flur eine Überwachungskamera anzubringen, die die Besucher und Bewohner beim Verlassen des Treppenhauses oder der beiden Fahrstühle aufnahm. Doch Brooks war nicht zum ersten Mal in einer fremden Wohnung. Er fand rasch den Trakt mit den drei Zimmern, von denen eines das Bad war und das andere wohl ein Gästezimmer war, das nun auch als Kinderzimmer herhalten mochte. Er wollte gerade die linke der beiden möglichen Türen öffnen, als die rechte Tür aufflog und ein heller Schatten aus dem dunklen Rechteck hervorschnellte. Brooks war schnell. Doch auch ein abgebrühter Profi wie er hatte eine Schrecksekunde. Die wurde ihm zum Verhängnis. Denn unvermittel krachte etwas auf seinen Kopf und löste ein Feuerwerk explodierender Sterne vor seinen Augen aus, das unvermittelt in tiefe Schwärze überging. Der Schlag mit der Bronzenachbildung der Freiheitsstatue hatte dem Mörder im Auftrag Wellingtons die Besinnung geraubt.

Eve Gilmore bebte, nicht vor Angst oder Erschütterung, weil sie gerade einen Menschen niedergeschlagen und vielleicht getötet hatte. Sie bebte vor Wut. Und in ihren Augen glomm sogar etwas wie Befriedigung, diesen ungebetenen Eindringling niedergeschlagen zu haben. Sie blickte auf den am Boden liegenden Mann in pechschwarzer Einbrecherkluft. Seine lichtschluckende Kapuze hatte die Wucht des Schlages nicht parieren können. Die schwarze Maske vor dem Gesicht verlieh dem Eindringling einen Hauch von Zorro. Eve grabschte nach dem verhüllenden Tuch und riß es dem reglosen fort. Das bleiche Gesicht eines dem Tode nahen Mannes blickte sie mit leblosen Augen an. Jetzt sah Eve auch den großen roten Kleks, der unter der Kapuze hervorsickerte und sich über die Stirn ergoß, jedoch nicht pulsierend, sondern zähflüssig wie Schlamm. Eve bückte sich und griff dem Fremden an den Hals. Sie fühlte die Schlagader. Doch sie pulsierte nicht mehr. Da wußte sie, daß sie den Fremden mit einem Schlag getötet hatte. Einen winzigen Moment flackerte Reue und Hilflosigkeit in ihrem Bewußtsein auf. Sie hatte einen Menschen getötet. Doch dann überwog die Gewißheit, daß dieser Mensch sie hatte töten wollen, sie und vor allem ihren Sohn. Also hatte es doch gestimmt, was Elsa, eine ihrer früheren Berufskolleginnen ihr per E-mail mitgeteilt hatte. Ein jemand hatte ihr einen Auftragskiller auf den Hals gehetzt. Jemand? Ein ganz bestimmter jemand! Eve fühlte nun keine Reue mehr. Die Wut und die Verachtung überwogen. Der leblose Körper da vor ihr war kein bedauernswerter Mensch, sondern ein Stück Dreck, eine Gefahr für sie und ihren Sohn Oliver, die auf jeden Fall ausradiert werden mußte. Ungewöhnlich gelassen ließ Oliver Gilmores Mutter die Statue neben der Leiche ihres Beinahen Mörders fallen und eilte in ihr Schlafzimmer zurück, wo sie das auf dem Nachttisch liegende schnurlose Telefon nahm und 911 wählte, um anzuzeigen, daß sie einen Einbrecher in Notwehr niedergeschlagen habe und jetzt nicht wisse, ob er tot oder nur bewußtlos sei. Sie wurde aufgefordert, am Ort zu bleiben und den niedergeschlagenen zu untersuchen. Mit gestellter Ängstlichkeit gab sie der Dame in der Notrufzentrale durch, daß der Mann sich nicht mehr regte und sie weder Puls noch Atmung bei ihm feststellen konnte. mit gespieltem Entsetzen erwähnte sie das Blut, daß sich unter der schwarzen Kapuze gesammelt habe. Daraufhin wurde sie gebeten, den Körper unverändert liegen zu lassen.

Fünf Minuten später trafen zwei Cops in Eve Gilmores Wohnung ein. Eve hatte inzwischen ihren verängstigt schreienden Sohn Oliver beruhigen müssen. Sie mußte ihr ganzes durch ihre Callgirlzeit geschultes Schauspieltalent bemühen, um die total verstörte Mutter zu geben, die einen unerwünschten Eindringling aus Versehen totgeschlagen hatte. Aber sie erwähnte, daß man sie gewarnt habe. Eine frühere Kollegin von ihr hatte einen Tipp von einem ihrer festen Kunden bekommen, daß Wellington wohl jemanden auf sie angesetzt habe. Sie habe es jedoch nicht glauben wollen, weil sie ja gerade mit dem Vater ihres unehelichen Sohnes über dessen Versorgung einig geworden sei.

"Wir prüfen das nach, Ma'am. Ziehen Sie sich bitte an und kommen sie mit Ihrem Sohn mit uns aufs Revier", blaffte der ranghöhere der beiden Streifenpolizisten. Sein Partner funkte bereits nach der Spurensicherung und der Kriminalpolizei, die klären sollte, ob der Einbrecher wirklich ein Killer war und ob Eve tatsächlich in Notwehr oder Nothilfe gehandelt und ihre Kraft unterschätzt hatte, als sie den Eindringling niederschlug.

Stunden später wurde Elsas Kunde verhaftet, weil herauskam, daß er mit dem aus guten Gründen untergetauchten Killer Charlie Walters alias Thomas Powers alias Jim Brandon zusammengearbeitet hatte. Bei der Durchsuchung des Hauses von diesem Freund wurde auch der Computer sichergestellt. Auf diesem befand sich die digitalisierte Tonaufzeichnung eines Gespräches, das als E-Mail-Anlage an mehrere gute Bekannte des Toten gesendet worden war. Dieses aufgezeichnete Gespräch sollte wohl eine Art Rückversicherung für den Killer sein, der sich dem Auftraggeber gegenüber John Brooks genannt hatte. Damit stand fest, daß Reginald Wellington tatsächlich versucht hatte, für anderthalb Millionen Dollar seine unrühmliche Liebschaft und seinen unehelich gezeugten Sohn beseitigen zu lassen.

Bereits zwölf Stunden nach den gewonnenen Erkenntnissen wurde der Ex-Senator in seinem Bungalow in Florida von Mitarbeitern des FBI verhaftet.

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Der Lärm der Maschinen war für ihn Musik, die Musik des Fortschritts und des Gewinns. Jedes rhythmische Stampfen, Fauchen, Brummen, Zischen, Surren und Rumpeln bedeutete einen weiteren Zugewinn für ihn, Boris Hummelskirchen. Niemand hätte vermutet, daß der einstige Freund sonniger Strände und Stammkunde luxuriöser Sonnenstudios seit fünf Monaten keinen Sonnenstrahl mehr an seine Haut gelassen hatte. Sein Gesicht wirkte für alle anderen immer noch so, als habe er vier Wochen am Strand von Hawaii oder Gran Canaria Urlaub gemacht. Das lag aber nur daran, daß die Haut, die er unter der aus seinem eigenen Haar gefertigten Perücke trug, in dieser sonnenbraunen Färbung getönt worden war, um seinen Mitarbeitern und Freunden in der Welt der Menschen keinen Grund zur Sorge zu geben. Da die künstliche Haut an allen wichtigen Stellen Öffnungen aufwies, konnte er eigentlich tagelang damit herumlaufen. Über seinen Augen trug er sehr stark getönte, nach außen hin seine mausgraue Augenfarbe imitierende Kontaktlinsen, die ihm halfen, das Tageslicht zu ertragen.

Der in einem italienischen Maßanzug mit schwarzer Seidenkrawatte gekleidete Fabrikeigentümer schritt die Aufstellung der Maschinen ab, die ihm das Ein- und Auskommen sicherten. Da wurden Teile von ultraleichten Tragflächen gegossen. Dort wurden Innenverkleidungen für kleine Flugzeuge hergestellt. Arbeiter in blauen Überwürfen hantierten an den großen Maschinen oder überwachten die selbsttätig arbeitenden Roboter, die die Präzisionsarbeit an den Werkstücken ausführten. Hummelskirchen grüßte die Untergebenen und nahm ihre ernsten oder auch geheuchelten Respektsbekundungen zur Kenntnis. Dann durchschritt er ein massives Stahltor, das nur mit einer besonderen Schlüsselkarte zu öffnen war. Dahinter lag eine Abteilung, in der früher Abdeckplanen und atmungsaktive Zelte hergestellt worden waren. Seit vier Monaten entstanden hier aber andere wichtige Ausrüstungsgüter. Hier arbeiteten nur sieben stationäre Roboter, die nach genauen Vorgaben aus einem Computer die nach bestimmten Formeln zusammengebrauten Grundstoffe zu fertigen Überziehfolien weiterverarbeiteten. Die programmierbaren Maschinen fragten nicht, wozu sie diese Folien machen sollten. sie fragten nicht danach, was aus Hummelskirchen geworden war, der seiner Vorliebe für unverbindliche Liebschaften sein neues Leben verdankte. Sie arbeiteten ohne Klage und Mißtrauen, Tag und Nacht. Technik half der übernatürlichen Welt. menschenwerk half mit, das Reich der Nachtkinder auf Erden zu errichten. Schon eine Ironie, dachte Boris Hummelskirchen.

Zwar hatte auch er wie alle von der erhabenen Nyx zu ihrem Sohn gemachte Boris Hummelskirchen den mentalen Todesschrei seiner Herrscherin vernommen und war danach für mehr als eine halbe Stunde bewegungsunfähig gewesen. Doch als er einen Anruf einer ihm bis dahin nicht vorgestellten Schwester der Nacht erhalten hatte, die sich ihm gegenüber als Lamia, die Blutmondkönigin zu erkennen gab, hatte er ohne großes Zögern die Herstellung von Solexfolien fortgeführt. Nyxes Geist war mit Lamia verschmolzen und hatte die Idee des Reiches ohne Grenzen zu neuem Leben erweckt. Er würde ihr dabei helfen, das Weltreich der Vampire zu vollenden.

In dieser Nacht würden wieder zwanzig Lastwagen seines Kontaktmannes aus Belgrad vorfahren und die Produktion der letzten Woche abtransportieren, zweihundert Folien, davon zwanzig für Kinder unter zwölf Jahren. Lamia hatte davon gesprochen, daß bald genug Siedlungen von Nachtkindern auf der Welt existieren würden, um das große Reich ohne Landesgrenzen umzerschlagbar auf der Welt zu behaupten.

Boris Hummelskirchen blickte auf seine teure Armbanduhr. In zwei Stunden würde die Sonne untergehen. Wenn die Lastwagen fort waren würde er die scheinbar sonnengebräunte Zweithaut abstreifen und als risige Fledermaus in die weitere Umgebung seiner Heimatregion fliegen, um sich mindestens zwei Liter Menschenblut zu beschaffen. Nyxes Band der Unaufspürbarkeit lag ihm am Fußgelenk an. Es war wie die Folie eine Art Lebensversicherung. Denn ohne das Band mochten diese wie aus dem Märchenbuch gekletterten Spitzhutträger und Zauberstabschwinger ihn doch noch anpeilen und ihm wie der Vampirjäger van Helsing einen Eichenpflock ins Herz treiben.

Hummelskirchen kehrte in sein Büro zurück, wo er noch einige elektronische Briefe schrieb und mit einem Verschlüsselungsprogramm kodierte, damit nur die Empfänger sie lesen konnten. Als er die E-Mails auf die Reise durch das Internet abgeschickt hatte verfiel er in eine totengleiche Starre, in der er jedoch nicht schlief, sondern lediglich seine am Tag eingeschrenkten Kräfte schonte.

Er hörte die Sirenen, die das ende der Tagesschicht verhießen. Nun würden nur noch fünfzig Mann in den Fabrikhallen arbeiten. Der Großteil der Belegschaft hatte nun frei. Hummelskirchen hatte genau darauf geachtet, daß die für den Abtransport der Folien anfahrenden Lastwagen nur dort parkten, wo keine Nachtschichtler herumliefen.

Als die Sonne ganz verschwunden war und die Dunkelheit über dem Fabrikgelände lag wie eine schützende Decke, fühlte Hummelskirchen, wie die Lichtlosigkeit ihm neue Kräfte gab. Wenn er jetzt noch frisches Blut direkt aus den Adern argloser Menschen saugen konnte, konnte er wieder ganze Bäume ausreißen. Er lauschte und wartete. Tatsächlich klingelte das Haustelefon. Einer seiner vier Vertrauten, die er persönlich zu Bürgern Nocturnias gemacht hatte, saß an der östlichen Schranke und meldete zwanzig kleine Lastwagen. Die drei anderen Mitbürger Nocturnias waren schon auf den Gabelstaplern, um die Paletten mit den Folien zum Aufladen hinauszubringen. Hummelskirchen gab den Abtransport der Folien frei. Dann tippte er eine ausländische Telefonnummer und wartete, bis sich eine südländisch klingende Stimme meldete. Hummelskirchen sagte nur: "Neue Ladung unterwegs, mein Freund."

"Alles klar. Ware geht gleich weiter an den Zielort. Gute Nacht!" Das ganze Gespräch hatte keine dreißig Sekunden gedauert und war so unverbindlich gelaufen, daß niemand der vielleicht doch mithörte erfuhr, mit wem Hummelskirchen telefoniert hatte. Denn sein Gesprächspartner sprach immer nur über Satellitentelefon. Sein Beruf zwang ihn dazu, nie länger als einige Stunden am selben Ort zu bleiben.

Hummelskirchen wollte hinausgehen, um wie die Male zuvor den Abtransport der fertigen Folien zu überwachen, als er etwas fühlte, daß ihn alarmierte. Seine neue Natur verlieh ihm die Gabe, Lebewesen im Umkreis von hundert Metern zu erspüren, ohne sie sehen zu müssen. Er konnte zwischen Menschen und Tieren unterscheiden, ja sogar intuitiv erkennen, wie gesund die Wesen in seiner Umgebung waren. Was er jetzt erfaßte war fremdartig. Es war zwar eine Ausstrahlung von einer Menschenfrau, doch irgendwas in dieser Präsenz schwang mit, daß ihn an ein lauerndes Raubtier erinnerte wie er es bei Katzen vor Mauselöchern, Greifvögeln auf Beuteflug und Spinnen in ihren Netzen kannte. Ja, diese Präsenz hatte was von einer sich anpirschenden Spinne, die einen geeigneten Ort für ein Netz suchte, um möglichst viel Beute zu erwischen. Er fühlte, daß dieses Wesen genau fünfzig Meter von dem Ort entfernt lauerte, wo seine Lastwagen hielten. eer mußte das prüfen. Nachher war dort jemand, die seine Pläne verraten konnte.

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patricia Straton brauchte sich nur mehr zu konzentrieren, falls sie den Körper ihres Kundschafters übernehmen und bewegen wollte. Doch ihr ging es nur darum, Kontakt mit ihm zu halten, ohne daß er es zunächst merkte. So bekam sie durch Cecil Wellingtons Augen und Ohren mit, wie dessen Onkel Jean-Claude ihn ins Wohnzimmer rief. Cecil eilte hin. Sie sah durch seine Augen Madame Lacrois, wie sich Henriette nach der Scheidung von Wellington wieder nannte. Die scheinbare Mutter des Jungen, der seit mehreren Jahren als Cecil Wellington auftrat weinte. Patricia hatte in vorsichtigen Versuchen herausbekommen, daß sie ihre telepathischen Sinne auch über den Geist des Jungen auf Menschen anwenden konnte, die außerhalb ihrer natürlichen Reichweite standen. So fing sie Wogen der Wut und der endgültigen Enttäuschung auf, die von Henriette ausgingen. Monsieur Lacrois sprach zu Cecil, versuchte, ihn behutsam darauf hinzuweisen, daß etwas schlimmes passiert war. Doch Cecil sagte mit einer hier unerwarteten Eiseskälte:

"Onkel Jean-Claude, wenn du mir jetzt erzählen möchtest, daß mein sauberer Herr Vater versucht hat, seine Urlaubsbekanntschaft und meinen kleinen Halbbruder von einem Profi-Killer abmurksen zu lassen kommst du genau zehn Minuten zu spät. Das Internet ist voll davon. Komilitonen haben mich auch per E-Mail angetextet, ob das mir ziemlich nahe geht. Sicher muß ich wohl damit klarkommen, daß ich jetzt offiziell der Sohn eines Mörders bin. Aber ich glaube nicht, daß mein achso ehrenwerter Erzeuger zum ersten mal wen über die Klinge springen lassen wollte. Ich bin mir sicher, daß der mit Waffenschiebern gekungelt hat. Insofern nix neues. Wird nur schwierig sein, mit den Jungs und Mädels an der Uni klarzukommen. Aber bis das Semester wieder losgeht habe ich raus, wie ich mich denen gegenüber verhalten muß, um nicht einzuknicken."

Jean-Claude Lacrois erbleichte über diese Abgebrühtheit. Seine Schwester Henriette starrte den jungen mann an, den sie für ihren leiblichen Sohn hielt. Deshalb sagte dieser rasch:

"Maman, ich weiß, das tut dir jetzt heftig weh. Aber Reginald Wellington war oder besser ist ein Drecksack, das war der schon immer. Ich habe mal eines seiner Passwörter für den Rechner gefunden und mal gekuckt, wie gut der sein System gesichert hat. Da habe ich einige ziemlich finstere Daten gefunden. Ich wollte das nur keinem erzählen, solange dieser Typ uns zwei unter Kontrolle hatte. Der hätte ja einen von den Leibwächtern anspitzen können, mich beim Fahrradtraining zu schnell über eine Böschung fahren zu lassen. Der hat mit Waffenhändlern gekungelt, die sicher auch mit Terroristen verbandelt waren. Deshalb ist das für mich kein so heftiges Ding, zu hören, daß der deine Konkurrentin erledigen lassen wollte, weil die dem zu teuer wurde. Weißt du was er dann nämlich noch gemacht hätte?"

"Hör auf!!" Schrie Henriette Wellington. Patricia Straton fühlte die Panik in der französischstämmigen Mutter Cecils. Natürlich wußte sie, was er dann gemacht hätte, wenn dieses Vorhaben geklappt hätte. Patricia unterdrückte den Impuls, sich in die laufenden Gedankenströme des mit ihr Verbundenen einzufädeln und ihm zu raten, seine Mutter nicht weiter zu quälen. Denn eine Qual war es für sie. Ihr halbes leben, ihre wertvollsten Jahre, hatte sie Tisch und Bett mit einem Verbrecher geteilt, ja sogar dessen Kind im Leib getragen und unter großer Anstrengung zur Welt gebracht. Es gab durchaus einige Wissenschaftler, die beweisen wollten, daß der Hang zur Kriminalität vererbbar sei, ebenso der Hang zur Drogensucht oder zur Homophilie. Die Mehrheit der Genforscher bestritt dies jedoch und beteuerte, daß Kriminalität keine erbliche, sondern umweltbedingte Entwicklung eines Menschen sei. Doch mochte Henriette Lacrois geschiedene Wellington gerade jetzt daran denken, einem Mörder bei der Verlängerung seiner Blutlinie geholfen zu haben. Eine unbedachte Nacht in Paris hatte gereicht, um ihr Leben zu verderben. Patricia Straton, die quasi Gast im Körper Cecil Wellingtons war fühlte ebenfalls eine gewisse Bestürzung. sicher, die Skrupellosigkeit Reginald Wellingtons hatte sie nicht zu verantworten. Aber die Existenz von Oliver Gilmore und das seinetwegen ein nicht zu sehr zu bedauerner Mensch sein vorzeitiges Ende fand ging auf ihr Konto. Sie hatte die nach außen so perfekte Familienidylle der Wellingtons zerstört, weil sie wollte, daß Cecil sein freies Leben führen konnte. Deshalb hatte sie Reginald Wellington mit Eve Gilmore verkuppelt, im Rausch eines besonders starken Liebestrankes miteinander schlafen lassen und damit die Zeugung eines unehelichen Kindes zugelassen.

"Du tust so, als wenn dir der Typ komplett am Arsch vorbeigeht", meinte Albert Lacrois und fing sich dafür von seinem Vater und seiner Tante einen bitterbösen Blick ein. Cecil schüttelte den Kopf und erwiderte:

"Neh, Al, ich tu nicht so, der Typ geht mir quer am Arsch vorbei. Sicher werden ein paar Leute in Berkeley jetzt Mördersohn zu mir sagen. Aber als Mitglied der George-Bush-Partei und Freund von dessen Familie war der für die Hippies und Rotsocken bei denen doch immer schon einer. Also nix echt neues für mich. Wird für Floridas Gouverneur ein hartes Stück, ob der den Freund seines Bruders lebenslang einbuchten oder hinrichten lassen soll und ..." Henriette schnellte von ihrem Stuhl hoch und schlug mit der flachen Hand zu. Doch Cecil tauchte unter dem Schlag weg und stieß aus, daß auch keine Ohrfeige ihn von seiner Überzeugung abbringen würde. Patricia hielt es nun doch für geboten, sich einzuklinken und ihm in seine Gedanken zu flüstern, er möge jetzt doch Ruhe geben und seine Mutter zur Ruhe finden lassen. So sagte er mit einer gewissen Verstörtheit in der Stimme:

"'tschuldigung, Maman, ich muß das erst klarkriegen, wie heftig dich das gerade runtergezogen hat. Am besten lasse ich euch erst mal alleine." Er zog sich in sein Zimmer zurück. Patricia wechselte mit ihm noch einige Gedanken. Sie beteuerte, daß sie diese Entwicklung nicht wirklich gewollt hatte. Doch Cecil schickte ihr zurück:

"Jetzt dafür zum Beichtstuhl rennen ist ein bißchen spät und so unnötig wie Wasser ins Meer zu kippen. Dieser Profi-Killer hat's nicht besser verdient, und der Typ, zu dessen Sohn mich deine höchste Schwester gemacht hat wäre auch so irgendwann voll auf die Schnauze gefallen. Im Grunde kann ich den Typen nur beneiden, an dessen Stelle ihr mich hingepflanzt habt. Der muß dieses Elend nicht weiter miterleben."

"Dann ist von deinem früheren sein noch viel da?" Fragte Patricia. Cecil Wellington amüsierte diese rein mental erklingende Frage. "Ich habe nur die Erinnerungen und manche Ideen von dem übernommen. Im Grunde mach ich genau das, was ich auch gemacht hätte, wenn ich eurer Hexenbande nicht über den Weg gelaufen wäre. Was macht denn eure große Lady jetzt gerade, wo ich für sie nichts mehr herausfinden kann?"

"Sie hat einen neuen Feind, um den sie sich kümmern muß. Sein Name ist Nocturnia", schickte Patricia weiter. Als sie diesen Gedanken an Cecil übermittelte fühlte sie, wie sich ihr Sonnenmedaillon erhitzte und sah für einen winzigen Augenblick das aus fünfzig Säulen gebildete Sechseck vor dem geistigen Auge. Cecil Wellington, der in seinem früheren Leben Ben Calder geheißen hatte, bekam diese kurze Vision wohl ebenfalls mit. Denn unvermittelt wurde sein von Trotz und Verachtung gefülltes Bewußtsein von Befremdung und Neugier erfüllt. Er fragte, was das jetzt für ein Bild war, daß sie ihm zugeschickt habe, lauter goldene Menschen in Glastürmen.

"Ich weiß es noch nicht. Aber ich muß wohl erkennen, daß wir beide das demnächst herausbekommen müssen", erwiderte Patricia. "Lebe bis dahin mit deinen zugeteilten Anverwandten, bis ich näheres weiß!"

"Bis dann, Patty", erwiderte Cecil.

"Paß mit dem auf, was du denkst, Kleiner!" Gedankenknurrte Patricia Straton ihren magischen Kontaktpartner an. "Nachher darf dein Halbbruder noch in dich reinpullern." Diese Drohung traf und saß. Cecil wußte, daß Patricia sehr gut mit Hexenzaubern zurechtkam. Sich vorzustellen, daß sie ihn in etwas ihm unangenehmes verwandeln würde verdrängte seinen Trotz.

Behutsam zog sich Patricia aus der über mehrere tausend Kilometer geknüpften Verbindung zurück, die nur bestand, weil sie durch die Magie des Sonnenmedaillons verbunden waren. Ihr war klar, daß sie tatsächlich demnächst herausfinden mußte, ob die fünfzig Säulen der Sonnenkinder wirklich existierten und warum sie und Cecil dorthin mußten. Einen Hinweis hatte sie erhalten: In dem Moment, wo sie an Nocturnia gedacht hatte, war das Bild der fünfzig gläsernen Säulen in ihrem und Cecils Wachbewußtsein erschienen.

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Der Raum war stockdunkel. Daß Fabrizio Campestrano in diesem dunklen Zimmer hockte wußte Girolamo Bertoloni nur, weil dieser Kalabreser ihn beim Eintreten angesprochen hatte. "Komm herein, Girolamo. Schade, daß Don Adriano deinen Vater für wichtigeres einbestellt hat. Aber er sagte mir, du hättest sein Vertrauen."

"Bei allem Respekt, Don Fabrizio, aber in diesem Zimmer ist es für mich zu dunkel. Ich spreche nicht gerne mit Leuten, die ich nicht sehen kann", begehrte Girolamo auf. Einer von Campestranos Leibwächtern stieß ihn dafür schmerzhaft in den Rücken. "Wenn der Capo sagt, daß du da reingehst gehst du da rein." Girolamo hätte fast erwidert, daß man ihn besser nicht wie einen niederen Lakeien oder Betteljungen behandeln möge. Seine Familie war wichtig genug, um selbst genug Respekt zu verlangen. Er war jedoch auf fremden Gebiet, ob in Freundesland oder Feindesland entschied sich an seinem Verhalten.

Licht flammte auf, und Girolamo sah ihn in seinem schwarzen Ledersessel wie einen König auf dem Thron. Ja, das war Don Fabrizio Campestrano. Und er war nicht alleine. Sein Enkel Renato saß neben ihm auf einem Stuhl und wiegte eine schallgedämpfte Luga auf den Oberschenkeln. Girolamo nahm auf dem bequemen Stuhl Platz, der den Campestranos gegenüberlag. Die Tür wurde von außen geschlossen. Ein bulliger Leibwächter blieb im Raum zurück, die Hand verdächtig nahe an der starken Ausbeulung seiner rechten Jackentasche.

"Wir haben mit euch Kontakt aufgenommen, weil wir euch ein Angebot machen möchten. Ihr wollt immer noch wissen, wo die Carlottis sind, nicht wahr? Außerdem wollt ihr wissen, wer euch in diese unschöne Vendetta mit den Bertuccis hineingetrieben hat, nicht wahr?"

"mein Großvater ist wütend, weil sich rausgestellt hat, daß dieser Carlotti mit denen vom FBI kungelt", knurrte Girolamo. Was sollte es. Daß die Bertolonis die Schmach immer noch nicht verwunden hatten pfiffen alle Spatzen von Hawaii bis Sizilien von den Dächern. Doch was hatte der Campestrano-Clan damit zu tun. Seitwann wagte es die ’Ndrangheta, sich in Sachen der Cosa Nostra einzumischen. Jeder sollte sein Revier bejagen und beackern und das des Nachbarn in Ruhe lassen.

"Wir haben uns das angesehen und gefragt, ob wir nicht die nächsten sind, die unangenehme Sachen erleben müssen. Daher ist es sehr wichtig, zu wissen, wo die Carlottis sind, sofern sie jemals so geheißen haben. Hinzu kommt noch etwas, die hübsche Blume der Carlottis, Laura, war gut bis sehr gut befreundet mit dem Sohn dieses armseligen Heuchlers Wellington. Der erschien dem FBI und der CIA sehr interessant, weil ihn einmal wer entführen ließ, der mit guten Geschäftsfreunden von mir zu tun hatte. - Keiner aus meiner Familie."

"Was betrifft uns das? Cecil Wellington ist seit dem Verschwinden der Carlottis von unseren Leuten überwacht worden, sofern sie näher als einen Kilometer an ihn rankonnten. Näher trauten sie sich nicht an ihn heran."

"Warum nicht?" Fragte Campestrano. Eigentlich hätte er bei dieser Frage überlegen lächeln müssen. Doch er öffnete seine Lippen gerade weit genug, um seinen Worten genug Platz zum Ausschlüpfen zu lassen. Girolamo erwähnte, daß wohl noch Leute von Wellingtons alter Schutzmannschaft auf ihn aufpaßten, Leibwächter, die von seiner Mutter engagiert worden waren. Doch Campestrano lachte laut.

"Ihr seid einfältige Leute. Nah, bleib besser sitzen, Söhnchen!" Girolamo wollte dem alten Mann für diese Beleidigung an die Kehle. Doch eine einfache Handbewegung des Dons zeigte ihm, daß dieser sich nicht angreifen lassen würde. Renato spielte etwas zu auffällig am Griff seiner Luga. Der konnte bestimmt schnell schießen. Girolamo wußte, daß Renato in Oxford studierte, also nach außen eine gutbürgerliche Fassade errichtete. So einer durfte doch nicht mit den inneren Angelegenheiten einer so wichtigen Familie betraut werden, bevor er nicht eine ganz biedere Existenz errichtet hatte. Das galt eigentlich auch für Girolamo. Doch seitdem er selbst Opfer einer Entführung geworden war hielt ihn sein Großvater in seiner Nähe und hatte ihn als Assistenten von Don Adriano empfohlen, der den Nordosten der Staaten kontrollierte.

"Ihr traut Euch eine Menge zu, Don Fabrizio. Ich hoffe, Euch ist klar, daß wir Bertolonis gute Freunde in Chicago haben."

"In Frankreich auch?" Fragte Fabrizio. Girolamo fragte, wieso in Frankreich. "Weil Cecil Wellington dort ist. Ich habe meine guten Freunde bei der Luftfahrtbehörde und den Fluglotsen gefragt, wie der entführt werden konnte und erfuhr, daß etwas die Radargeräte gestört haben muß. Wer sowas kann überlegt sich schon, warum er jemanden zu sich holt. Womöglich weiß Wellington noch was von Laura, wo ihr Vater gerne mit ihr und den anderen hinfährt oder so. Da wir fürchten müssen, daß unsere guten Geschäfte durch Carlotti gefährdet sind interessiert es uns wie euch, wo Carlotti sich aufhält und was an diesem Wellington so wichtig war, daß Linus Price ihn hat entführen lassen."

"Achso, und deshalb sollen wir ihn noch einmal kidnappen, wo er jetzt nicht mehr von hundert Leibwächtern umzingelt wird?" Fragte Girolamo bewußt übertreibend.

"Carlottis Sohn sollte von der Hornsby-Bande erledigt werden. Das ging daneben. Hornsbys Leute sind auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Hornsbys ganze Organisation ist einige Monate danach selbst enthauptet worden. Hornsby ist in seinem Privatjet umgekommen, angeblich wegen Druckabfalls. Dann hat Price diesen Wellington entführt und ging dabei selbst drauf. Irgendwer hält die Hand über den Jungen, und wahrscheinlich auch über die Carlottis. Aber das machen die nur in Amerika und wohl auch nur, solange der Senator Wellington Senator war. Der arme Tropf mußte ja unbedingt mit einem abgehalfterten Freudenmädchen noch einen Sohn auflegen, und hat sich noch dazu dabei erwischen lassen, daß er dieses Flittchen und seine Brut umbringen lassen wollte. Damit dürfte Cecil jetzt keinen weiteren Schutz mehr erhalten. Klärt das mit euren Freunden in Frankreich und ladet Cecil ein. Wir sind bereit, euch zwanzig Prozent von unserem Umsatz zur Verfügung zu stellen, wenn wir mitbekommen dürfen, was der Junge weiß und ob er vielleicht den Aufenthaltsort von Laura Carlotti kennt."

"Und wenn er genauso ahnungslos ist wie wir?" Schnarrte Girolamo.

"Vermißt ihn niemand außer seiner Mamma."

"Würde ich so nicht sagen, Don Fabrizio. Ich bin offiziell Yale-Student, da kriege ich aus den Netzwerken einiges mit. Auch wenn Kalifornien schon eine Partyzone ist fällt so ein Jüngelchen wie Wellington da doch gut auf, vor allem, wenn den viele junge Frauen anhimmeln und offenbar auch was dafür zurückbekommen."

"Was du nicht sagst", sagte Renato die ersten Worte, die Girolamo überhaupt von ihm hörte. Dann sagte Fabrizio Campestrano:

"Ich habe da läuten hören, daß die Bank deiner Familie demnächst auf unregelmäßigkeiten überprüft wird, weil da jemand was ausgeplaudert hat. Ich muß stark annehmen, daß es Lauras Vater war. Wenn wir rauskriegen, wo der mit seiner Familie hin ist, bringt uns das allen was."

"Neh ist klar, und weil wir die besseren Beziehungen haben als Euer Bergbauernvolk sollen wir für euch rauskriegen, ob dieser Schönling und Mädchentröster noch weiß, wer Laura Carlotti ist?" Fragte Girolamo. Fabrizio nickte. Girolamo lachte. Da nahm der Kopf der Campestrano-Sippe Kontaktlinsen von den Augen herunter. Unvermittelt verfing sich Girolamos Blick in dem des Don Fabrizio. Er fühlte den Ansturm einer Kraft in seinen Verstand eindringen, die er nicht zurückschlagen konnte. Es war eine Urgewalt.

"Ihr holt euch den Jungen und bringt ihn in eure sichere Unterkunft. Dann rufst du mich an, damit Renato euch dabei helfen kann, den zu verhören!" Hörte er mit den Ohren und in seinem Kopf den klaren und unmißdeutbaren Befehl, der sich ihm durch die Macht des Blickes in seinen Verstand einbrannte. Girolamo hörte sich wie im Traum antworten, daß er die Anweisung ausführen würde. Er fühlte es eher als es zu steuern, wie er aufstand, dem Clanchef der Campestranos die Hand schüttelte und dann, von den Leibwächtern flankiert, die Villa der Campestranos wieder verließ. Unterwegs schnüffelte er. Es roch nach Käse, Wein und Oregano. Doch Knoblauch lag nicht in der Luft. Doch weil er gerade von einem inneren Drang erfüllt war, schnellstmöglich Kontakt mit Luigi und François in Paris aufzunehmen, achtete er nicht weiter darauf.

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Albertines Informationen halfen ihr, die beiden wachhabenden zauberer trotz guter Tarnzauber zu finden und mit ungesagten Schlafzaubern außer Gefecht zu setzen. Wenn sie diesen Hummelskirchen haben wollte, dann durften ihr diese Muggelüberwachungsleute nicht dazwischenkommen. Erst als sie sicher war, daß die beiden Beobachter ihr nicht ins Handwerk pfuschen konnten, bezog sie einen sicheren Beobachtungsposten, um zu sehen, ob auch in dieser Nacht wieder Lastkraftwagen angefahren kommen würden. Tatsächlich machte sie bei Einbruch der Nacht mehrere dieser großen, aus je einem senkrechten Rohr links und Rechts dicken Qualm verströmenden Wagen aus, die auf eine Schranke zufuhren, bremsten und dann in Zweierreihen durch die offene Schranke fuhren.

Ihr Gedankenspürsinn reichte zwar mehrere hundert Meter weit, und mit ihrem Fernrohr konnte sie auch mehr als einen Kilometer weit sehen. Sie mußte also nicht so nahe an die Fabrik heran. Doch als sie aus Hummelskirchens dumpf klingenden Gedanken entnommen hatte, daß alle Folien der letzten Produktion fortgeschafft werden sollten wollte sie die Fracht abfangen und zerstören. Dabei wollte sie mindestens einen der normalen Menschen, die die stinkenden Transportwagen fuhren ausforschen, an wen die Ladung gehen sollte. So pirschte sich Anthelia in einem nachtschwarzen Taucheranzug an die gerade zum Verladen parkenden Lastwagen heran. Dabei erfaßte sie, daß ihre bloße Nähe den Vampir Hummelskirchen irritierte. Er wollte sie aufsuchen und gegebenenfalls töten. Seine vier zu Nachtkindern gemachten Vertrauten hatten derweil damit zu tun, mit surrenden Vehikeln, die vorne mit breiten, zweizinkigen Gabelkonstruktionen bestückt waren, große Paletten mit fertigen Folien herauszubringen, um diese in die Laderäume der wartenden Lastwagen zu bugsieren.

Anthelia zog ihren Zauberstab. Sie erwartete Hummelskirchen, der soeben aus dem kleinen Seitentor auf den Warteplatz der Lastwagen trat. Sie fühlte, daß er seine Gedanken abschirmte, wohl weil er davon ausging, gleich mit jemanden aus der Zaubererwelt kämpfen zu müssen. Da kam er. Er sah sehr athletisch und elegant aus, bewegte sich sehr selbstbewußt. Wäre er ein Mann mit warmem, rotem Blut im Körper, hätte sie ihn eher als möglichen Liebhaber in Betracht gezogen. So waren sie beide Todfeinde, die sich hier und jetzt begegneten.

"Wer bist du?" Schnarrte der Blutsauger, als er nur noch zwanzig Schritte von Anthelia entfernt stand. Diese verschloß ihren Geist und stemmte sich gegen den magischen Blick des Vampirs.

"Boris Hummelskirchen?" Fragte Anthelia gelassen.

"Weißt du sicher schon längst, du Hexenweib. Was willst du hier, mir kann keine von euch was."

"Woher weißt du das so genau, Vampir? Hat Lamia, deine neue Königin, das behauptet?" Fragte Anthelia und vollführte mit ihrem Zauberstab eine sanfte waagerechte Bewegung auf der Höhe seiner Füße.

"Woher hast du den Namen? Egal! Bürgerin, Feindin oder Futter!" Brüllte Hummelskirchen und wollte vorspringen. Doch Anthelia hatte während seiner Antwort einen alten Zauberspruch gemurmelt, der die Kraft der Erde dazu brachte, etwas an einem mit dem Zauberkraftausrichter bezeichneten Ort so fest wie angewachsen zu halten. So verwunderte es den Vampir, daß er nicht vom Fleck kam. Er schlenkerte mit den Armen, als seien es Windmühlenflügel im Sturm. Er wippte in den Knien und versuchte, sich aus dem unsichtbaren Griff zu lösen, der seine Füße hielt. Anthelia fühlte, daß etwas dunkles in diesem Vampir aufkam. Etwas, das mit dem Gefühl, ein Gefangener zu sein anwuchs. Warum auch immer sie das tat wußte sie in dem Moment nicht. Jedenfalls stieß sie das Wort der Loslösung aus, um die Fessel der Mutter Erde zu lösen. Der Vampir kam frei und flog vier Meter nach oben. Seine Panik wurde zur Euphorie der Überlegenheit. Doch Anthelia wollte nicht warten, bis er ihr an den Hals sprang. Sie vollführte eine rasche Abfolge von Zauberstabbewegungen und murmelte in einer hektisch anmutenden und doch äußerst präzisen Folge die Zauberwörter, die einen weißen Nebel um den Vampir entstehen ließen, der gerade wieder auf die Füße kam und nun nach vorne springen wollte. Doch da fesselte ihn der weiße Dunst bereits, umhüllte ihn wie eine immer dichter werdende Blase, bis diese schneller als ein Lidschlag zu einer festen, eiförmigen Schale wurde.

Laut polternd wie eine schwere Tonvase kullerte die materialisierte Umhüllung mit dem darin eingekapselten Vampir auf Anthelia zu. Der gefangene Blutsauger hieb mit Fäusten und Füßen gegen sein tür- und fensterloses Gefängnis. Anthelia fühlte erneut, wie eine dunkle Kraft in ihm aufstieg, die mit seinem Gefühl, ein Gefangener zu Sein stieg. Dann erglühte die weiße Schale in einem flirrenden Blau und vibrierte so sehr, daß sie ein tiefes Brummen von sich gab. Der eingeschlossene Vampir schrie vor Schreck oder Schmerzen auf. Doch dann erstarb sein Geschrei genauso wie das blaue Leuchten und das wilde Vibrieren seines nahtlos geschlossenen Behälters. Anthelia hörte ihn wimmern und erkannte, daß sie instinktiv das richtige getan hatte. Mit dem Incapsovulus-Zauber hatte sie den Vampir, der eine eigene magische Konstitution besaß, sicherstellen können. Alle aus ihm ausbrechende Zauberkraft wurde von der weißen Schale aufgesogen und zerstreut, so auch die Kraft, die ihn wohl zerstören sollte, wenn er unentrinnbar gefangen war. Anthelia lächelte. Also gab es doch was gegen in einen Menschen oder anderen Organismus eingeprägten Schmelzfeuerfluch. Schmelzfeuer vernichtete lebende Materie, bis es keine lebende Materie mehr in seiner Reichweite gab. die aus innerer Magie erhaltene Umhüllung hatte das aus dem Vampir lodernde Schmelzfeuer absorbiert, bevor es den Blutsauger vernichten konnte. Jetzt war er ihr gefangener. Doch um ihn abzutransportieren mußte sie die weiße Schale wieder auflösen und den Vampir anders fesseln. So sagte sie:

"Sei froh, daß ich dich aus der Gewalt deiner Herrin geholt habe. Sie hat dein Leben nicht groß geschätzt, Blutsauger."

"Was war das?! Was hast du mit mir angestellt?!" Rief der eingeschlossene Vampir. Es klang so, als stecke er in einem mannsgroßen Tonkrug mit Deckel. Anthelia antwortete nicht. Sie hatte gerade was anderes zu tun. Sie disapparierte, um in der Nähe der Lastwagen aufzutauchen. Hier konnte sie ihren Gedankenspürsinn noch besser ausnutzen und vor allem mit dem Imperius-Fluch hantieren, um die Fahrer dazu zu bringen, die Lastwagen an einen unbefahrenen Punkt zu bringen und dann in Brand zu stecken. Doch dazu kam es erst nicht. Denn als Anthelia genau auf der Höhe des ersten Wagens aparierte, wurden die vier anderen Vampire aufmerksam. Sie sprangen von ihren Gabelstaplern herab und rannten auf den weiblichen Eindringling zu. Anthelia erkannte gerade noch rechtzeitig, welchen unterlassungsfehler sie begangen hatte, nicht mehr an die anderen vier Vampire zu denken. Der Überlebensinstinkt der Spinne trieb ihre innere Tiergestalt nach außen. Plötzlich hatte sie acht Beine, Fühler und gefährliche Beißscheren. Ihr Körper bestand nun aus einem zusammenhängenden Kopf-Brust-Stück und einem runden Hinterleib. Gerade als die magische Metamorphose vollendet war, stürzten sich die vier Vampire auf die ungebetene Besucherin. Die Lastwagenfahrer erstarrten vor Überraschung und Entsetzen, als sie die erst so überragend schöne Frau aus dem Nichts kommen sahen und die dann innerhalb von zwei Sekunden zu einer Horrorkreatur wurde, wie sie nur in Alpträumen und Filmen existieren konnte.

Anthelia, die nun Naaneavargias Spinnennatur auslebte, wehrte zwei der noch als Menschen herumlaufenden Vampire mit einer Drehung ihres Körpers ab. Der dritte versuchte, ihr seine Fangzähne in das rechte Tastorgan zu schlagen und mußte schmerzhaft feststellen, daß die Spinnenhaut hart wie Stahl sein mochte. Einer seiner Zähne brach mit häßlichem Knacken ab. Anthelia ließ ihn nicht lange leiden. Mit ihren rechten Beißscheren trennte sie dem Vampir kaltblütig den Kopf vom Rumpf. Der vierte Vampir hatte sich eine andere Taktik überlegt. Er hechtete auf einen der Lastwagen und konzentrierte sich auf die transformative Trance, die ihn in eine Fledermaus verwandeln sollte. Währenddessen setzten die beiden ersten Vampire zu einem neuen Angriff an, um ihren gerade getöteten Blutsbruder zu rächen. Anthelia warf sich auf einen der Vampire und drückte ihn zu Boden. Der Blutsauger hatte, weil es ja schon dunkel war, seine vollen, übermenschlichen Körperkräfte. Doch gegen die übernatürliche Kraft und Beweglichkeit der schwarzen Spinne kam er damit nicht an. Sie bugsierte ihn in die ideale Stellung, klemmte ihn zwischen ihre vier Vorderbeine und biß auch ihm den Kopf ab. Der zweite Vampir versuchte, sie mit Faustschlägen an den Augen zu treffen. Anthelia rollte sich herum, kam in Rückenlage und klammerte den Vampir mit allen acht Beinen fest. "Dichchchch brauchche ichchch auchchch nichchchcht mehr", zischte sie ihm zu, bevor auch er sein nichtmenschliches Dasein aushauchte. Sein Kopf kullerte genau vor das linke Vorderrad des nächsten Lastwagens. Der Fahrer stand selbst so bleich da wie ein Vampir. Anthelia achtete nicht auf ihn, sondern auf den gerade zur Fledermaus gewordenen Hummelskirchen-Mitarbeiter. Dieser stieß sich von der Ladefläche des Lastwagens ab und flatterte auf die schwarze Spinne zu. Diese wich dem niederstoßenden Vampir so schnell aus, daß er mit seinen lederartigen Flughäuten klatschend auf den Boden schlug und einen Moment zu lange liegenblieb. Die Spinne würgte ihm ihren ätzenden Verdauungsschleim entgegen und traf ihn voll.

Die Spinne wollte gerade wieder zur Frau werden, als fünf der Lastwagen mit laut dröhnenden Motoren auf sie zurollten. Die Fahrer wollten sie offenbar plattwalzen. ob sie das überstand wußte sie nicht und legte es auch nicht darauf an. Sie rollte sich zur Seite und kam wieder auf ihre acht Beine. Die fünf Laster donnerten über den sich gerade auflösenden Vampir hinweg. Die Reifen bekamen dabei noch was von dem zersetzenden Sekret ab, mit dem die Spinne ihr Opfer getötet hatte. Laut krachend platzten die Gummireifen weg. Klatschend schlugen die luftleer werdenden Schläuche gegen den Boden. Die Wagen rutschten aus und krachten ineinander. Einer schaffte es gerade noch, anzuhalten, bevor seine Vorderfront dem Kollegen in den Auflieger krachen konnte. Jetzt blockierten fünf Lastwagen die Ausfahrt. Von den auf der anderen Seite des Geländes in den Hallen arbeitenden Menschen hatte wohl noch keiner mitbekommen, was hier geschehen war. Anthelia besah sich das Unheil mit ihren Facettenaugen. Dann wurde sie selbst wieder zur Menschenfrau und stellte sich vor die nun aus der Schockstarre erwachenden Fahrer der übrigen Lastwagen hin. Zwei der Fahrer zückten Revolver und wollten auf das Geschöpf schießen, das vorhin ein mörderisches Biest war und nun als überragende Schönheit im dunklen Gummianzug vor ihnen stand.

"Mich können nur Silberkugeln töten, habt ihr sowas?" Fragte Anthelia dreist. Die beiden Fahrer hatten wohl schon davon gehört, daß gewöhnliche Bleikugeln ein Monstrum wie dieses da vor ihnen nicht töten konnten. Sie ließen ihre Revolver sinken. "Von euch will ich nichts, außer der Ladung, die ihr hier fortbringen wolltet. Die da sind auch keine Menschen so wie ihr gewesen. Das waren Vampire. Und gegen die habt ihr sicher auch so viel wie ich. Also steigt in den noch leeren Wagen ein, alle und macht, daß ihr vom Gelände kommt!"

"Wir müssen die Sachen liefern, du Monster", begehrte ein gedrungener, vollbärtiger Fahrer auf. "Du hast keine Ahnung, was uns blüht, wenn wir nicht liefern."

"Dafür hast du gesehen, was ich mit denen machen kann, die mir dumm kommen. Und ich kann noch mehr, Bürschchen", erwiderte Anthelia und hielt plötzlich ihren Zauberstab in der Hand. "Centinimus!" Rief sie und machte eine von oben nach unten führende Schlagbewegung mit dem Zauberstab. Der aufmüpfige Fahrer schrumpfte zusammen, wurde gerade etwas mehr als einen Zentimeter groß. "Remagno!" Rief Anthelia nach fünf Sekunden, als der auf Insektengröße verkleinerte mit lauter Piepsstimme um Hilfe gerufen hatte. "Ich kann euch alle zu Insekten machen und meinen Untertanen den Hausspinnen zum Fraß überlassen, wenn ihr nicht augenblicklich tut, was ich euch gerade befohlen habe", stieß Anthelia mit unerbittlicher Miene und Betonung aus. Die Fahrer standen nun alle da wie Salzsäulen. Auch der gerade verkleinerte und rückvergrößerte Fahrer wirkte wie eine Statue oder eine Wachsfigur. "Na, wird's bald!" Bellte Anthelia den Männern entgegen.

"Los, weg hier. Ich will mich von der da nicht tothexen oder fressen lassen", zischte einer der Fahrer.

"Spinnst du, der Jugo zerschreddert uns, wenn wir dem diese Plastikfolien nicht liefern", fauchte ein anderer Fahrer zurück.

"Langsam kriege ich Hunger", sagte Anthelia. "du da siehst sehr gut genährt aus", sagte sie noch, auf den Fahrer deutend, der die anderen daran hindern wollte, ohne die Ladung fortzufahren. Sie tauchte mit ihrem Gedankenspürsinn in sein Bewußtsein ein. Dabei erfuhr sie, daß die Ladung Nach Belgrad gehen sollte, wo sie per Donaufrachter zum Schwarzen Meer verschifft werden sollte. Anthelia fühlte eine lauernde Gefahr in ihrem Rücken und warf sich herum. Einer der Fahrer kam mit einem hoch erhobenen Feuerlöscher auf sie zugesprungen. Anthelias Telekinese warf ihn zur Seite. Der rote Feuerlöscher fiel zu Boden. Anthelia deutete mit dem Zauberstab auf das Brandbekämpfungsgerät und rief "Vanesco solidus!" Mit lautem Plopp verschwand der Feuerlöscher.

"Du, du, du und du werdet mein Abendessen", sagte sie mit dem Zauberstab auf drei untersetzte Männer deutend. "Die anderen sind mir zu mager. Die lasse ich auch verschwinden, wenn ihr nicht in einer Minute mit einem eurer Stinkvehikel von diesem Hof seid!"

Jetzt kapierten es die Fahrer, daß alles andere harmlos war, als den Zorn und den Hunger dieser Bestie auf sich zu ziehen. anthelia schrumpfte die fünf vorderen Wagen auf Spielzeugautogröße ein und wirbelte sie telekinetisch aus der Bahn. Das verstanden die Fahrer. Sie bestiegen den noch nicht beladenen Lastwagen und fuhren los. Anthelia paßte genau auf, daß niemand mehr auf dumme Gedanken kam. Erst als der leere Laster rumpelnd vom Hof gefahren und dröhnend auf die öffentliche Straße eingeschwenkt war, kümmerte sie sich um alle anderen Laster. Da Solexfolien absolut unmagisch waren konnte sie alle Laster mit dem Einschrumpfzauber verkleinern und vor sich hertreiben lassen, bis sie in der Halle war, wo bereits alle Paletten der Solexfolie aufgestapelt waren. Anthelia blickte sich um. Die Tür konnte sie magisch verriegeln. In der Decke erkannte sie die Öffnungen von Düsen. Sie wußte, daß in großen Gebäuden Löschvorrichtungen existierten, die im Brandfall künstlichen Regen von allen Decken fallen lassen konnten. Den brauchte sie hier und jetzt nicht. "Imperturbatio!" Murmelte sie, während sie jede der Düsen mit dem Zauberstab anzielte. Damit blockierte sie die Öffnungen mit einem unsichtbaren Undurchlässigkeitszauber. Dann verließ sie die Halle. Fünfzig Meter entfernt zielte sie auf das offene Tor und schickte eine blaugrüne Feuerkugel hindurch. Mit lautem Knall wallte eine goldrote Flammenwolke aus dem Tor heraus, als der Feuerball in der Halle auf festen Widerstand traf und die in ihm verdichtete Kraft des Feuers entlud. Natürlich ging sofort der Feueralarm los. Anthelia kümmerte es nicht. Ihr Zerstörungsdrang trieb sie weiter an. Er führte sie zunächst in die Zentrale für die Steuercomputer für die Industrieroboter, die sie aus den Gedanken eines Technikers kennengelernt hatte. Diese schnitt sie mit dem Persectum-Zauber von ihrer Stromversorgung ab und verkleinerte sie, um sie dann telekinetisch gegen die Wände fliegen zu lassen, wo sie in Trümmern gingen. Damit waren auch alle Unterlagen über die Herstellungsweise der Folien vernichtet. Da sie davon ausgehen mußte, daß Güldenbergs Leute sich sowieso um die Fabrik kümmern würden hatte sie mit dieser Zauberei keine Probleme. Ihr ging es jetzt nur noch um Hummelskirchen und diesen Dobrovic.

Als sie wieder dort war, wo die weiße Kapsel lag, in der Boris Hummelskirchen immer noch versuchte, sich freizusprengen, löste sie diese kurzerhand auf. Der Vampir fuhr auf seine Beine und starrte sie an. "Die Nacht ist noch jung. Deine Ladung ist vernichtet. Jetzt will ich nur noch wissen, wo Lamias Versteck ist."

"Er bringe ich mich um, als es dir zu verraten, du Höllenhure."

"Kommst du mir dumm, Blutsauger. Dich darf es doch für die Menschen auch nicht geben. Also reiß dein Maul nicht zu weit auf!" Spie Anthelia ihm entgegen. Dann wurde sie wieder zur schwarzen Spinne und wollte den Vampir einfangen. Doch dieser wurde innerhalb weniger Sekunden zu einer Fledermaus und stieß sich ab, bevor ihn ein Fangfaden erreichen konnte. Mit wuchtigen Flügelschlägen nahm er höhe und flog in die Dunkelheit davon. Anthelia wurde wieder zur Hexe. Sie lachte. Dann wirkte sie den altaxarroischen Flugzauber und jagte dem flüchtenden Vampir hinterher. "Hast du dir eingebildet, mir zu entkommen!" Rief sie ihm zu. Dann jagte sie ihm mehrere Eisenketten auf den Leib, die sich klirrend um ihn festschmiedeten und die lederartigen Flughäute blockierten. Anthelia warf sich auf den abstürzenden Vampir, hielt mit der freien Hand die rechte Flughaut fest und warf sich in eine Drehung. doch es gelang nicht. Vampire konnten offenbar nicht auf eine Apparition mitgenommen werden. Anthelia verlor den Halt und fiel zur Seite. Gerade eben noch konnte sie ihre Flugformel denken, um den drohenden Aufprall zu verhindern. Doch Hummelskirchen krachte mit dem Kopf zuerst auf den Boden und blieb liegen. Seine Gedanken erloschen. Anthelia prüfte mit dem Vivideo-Zauber, ob er noch lebte. Doch sie konnte keine Lebenszeichen mehr sehen. Wie zur Bestätigung, daß dem Vampir kein Leben mehr innewohnte, verwandelte sich die Fledermaus in einen Menschen zurück. Soetwas geschah auch mit getöteten Werwesen, wußte Anthelia. Sie ließ die magischen Ketten verschwinden und blickte mit einem Ausdruck großer Enttäuschung auf den Vampir, den sie fast gehabt hätte. Sie hatte zwar eine Solexfolienfabrik ausgeschaltet, aber nichts wirkliches erreicht. Nur ein Name blieb ihr, Slobodan Dobrovic. Der würde bald erfahren, daß seine Leute die Ladung nicht mitbrachten, vielleicht auch schon bald hören, daß die Zulieferfabrik angegriffen worden war. Bevor das passierte mußte sie herausbekommen, wo sich dieser Mann oder Vampir aufhielt.

Weil sie hier fertig war hatte sie keine Probleme, die beiden Zauberer zu wecken. Einem sagte sie: "Meine Schwesternschaft hat diese Fabrik unschädlich gemacht. Hier wurden Solexfolien hergestellt. sag das eurem zaubereiminister!" Dann disapparierte sie, bevor der Mitarbeiter aus dem Muggelkontaktbüro etwas gegen sie unternehmen konnte.

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Sie träumte wieder von den Säulen und den in diesen schwebenden Menschen mit goldener Haut. "Komm zu uns, den Sonnenkindern und bringe jenen mit dir, den du durch einen der drei Schlüssel geweiht hast!" Sang der Chor aus fünfundzwanzig Männern und ebensovielen Frauen. Patricia hatte ihre Ablehnung aufgegeben. Die Hitzewallungen, die durch das auf ihrer Brust liegende Medaillon in sie hineinschossen grenzten schon an schmerzhafte Energiestöße. So fragte sie in einer Pause zwischen den fordernden Gesängen:

"Wer seid ihr?"

"Wir sind die Kinder der Sonne, des großen Vaters Himmelsfeuer und den Müttern des Lichtes und des Lebens. Wir hüten das Erbe des Himmelsfeuers und die Träger des roten Blutes. Doch wir mußten schlafen, und müssen erwachen, nur der Abendlandschlüssel, den du trägst und mit dem du einen Jüngling mit der Kraft des himmlischen Lebensfeuers erfüllt hast gibt uns die Macht, mit dir zu sprechen. Doch ihr müßt zu uns finden und uns erwecken, damit die Flut der von finsterem König gezeugten Kinder der Nacht nicht weiter über diese Welt wütet. Suche den von dir mit unserer Kraft geweihten auf und finde zu uns!"

"Die Flut der Nachtkinder? Meint ihr das Vampirreich Nocturnia?" Fragte Patricia.

"Dies ist der Name, den ihr Land erhalten soll", sangen nun die Frauen alleine. Darauf antwortend sangen die Männer: "Der von Dunkelheit erfüllte will sie als seine Vorhut nutzen, wenn er eines hellen Tages einen neuen Knecht findet, der ihm zu Leib und Leben verhelfen mag."

"Wer soll das sein, der von Dunkelheit erfüllte. Voldemort und Grindelwald sind beide tot", erwiderte Patricia und hoffte, daß am Ende nicht Anthelia die von Dunkelheit erfüllte sein sollte.

"Er herrschte mit den neun anderen in der letzten erhabenen Zeit. Sein Streben war es, alles Licht und Feuer aus der Welt und den Seelen zu verdrängen. Sein Name wart gefürchtet und verhaßt. Er entwand seine Seele dem Körper, als dieser starb. Doch sein Geist schläft und erwartet den Tag der Befreiung. seine der Nacht angetrauten Abkömmlinge werden ihm Heer und Dinerschaft sein, wenn sie nicht aufgehalten werden und lernen, daß sie nicht in Überzahl bestehen können. Also komm mit dem von dir unserer Kraft geweihten zu uns und erwecke uns aus unserem langen Schlaf!"

"Wo und wie soll ich das tun?" Fragte Patricia Straton. Zur Antwort fühlte sie sich unvermittelt in die Höhe steigen und sah unter sich das Säulensechseck kleiner und kleiner werdend. Wenige Augenblicke später sah sie eine grün-braune Savannenlandschaft. Die Sonne stand gerade im Zenit und ließ die Luft über dem von kleinen Flüssen und Ssen durchzogenen Landstrich flimmern. An ihrer linken Seite konnte Patricia nun ein glitzerndes Band erkennen, auf das sie zutrieb. Dann fand sie sich über einem breiten Strom. Sie raste ohne spürbaren Fahrtwind zu fühlen über dem breiten Strom dahin bis zu dessen Mündungsdelta, hinaus auf das Meer. Sie stieg weiter nach oben, nicht aus eigenem Willen, sondern weil etwas sie anhob. Jetzt sah sie einen großen Ausschnitt des Mittelmeergebietes mit der Meerenge von Gibraltar, der stiefelförmigen italienischen Halbinsel und der nordafrikanischen Küste, wo sie den breiten Strom als schmales Band im Sonnenlicht glitzern sah. Allerdings vermißte sie das helle, weite Wüstenland der Sahara. Dann raste die gerade noch leicht gekrümmte Erdoberfläche wieder auf sie zu und verflachte sich dabei. Nach nur wenigen Sekunden breitete sich nur die weite Savanne unter ihr aus. Dann fiel sie wieder genau in den breiten Gang, der die beiden Säulendreiecke trennte, die die nach Geschlecht aufgeteilten Bewohner voneinander trennte. "Vierhundert Tausendschritt in Mittag und siebenhundert Tausendschritt in Morgen vom großen Strom, den du gesehen hast. Dort ist unsere Schlaf- und Wohnstatt. Doch eile dich. Denn Nocturnias Volk wächst ständig weiter!"

"Wie kann ich euch aufwecken?" Fragte Patricia.

"Kommt mit dem Schlüssel des Himmelsfeuers. Er wird euch den Weg zu uns zeigen!" Sang der Chor der fünfzig Sonnenkinder. Dann strahlte die Sonne noch heller, schien alles in Brand zu setzen, bis Patricia meinte, im weißen Licht verbrannt zu werden und übergangslos erwachte. Sie fühlte die sengende Hitze, die in ihren Körper strömte und sah durch die dünne Bettdecke das rotgoldene Glimmen ihres magischen Schmuckstückes. Sie Fühlte es bleischwer unter ihren Brüsten aufliegen und hörte die Forderung der Sonnenkinder, zu ihnen zu kommen. Dann kühlte das Medaillon ab. Das rote Glimmen erlosch, und das goldene Schmuckstück verlor seine bedrückende Schwere. Patricia griff unter ihr Nachthemd und berührte das Medaillon. Es fühlte sich körperwarm an und vibrierte sacht. Ohne weiter darüber nachgrübeln zu müssen wurde ihr klar, daß das Medaillon sie peinigen würde, wenn sie der Aufforderung nicht nachkam. Also galt es, nach Frankreich zu reisen und Cecil Wellington von seiner Verwandtschaft fortzuholen und irgendwo in der Sahara, die vor Jahrtausenden wohl noch fruchtbares Land war, den Zugang zu den fünfzig Säulen zu finden. Daß diese Säulen existieren mußten erschien ihr nun wortwörtlich sonnenklar. Doch wie genau sie diese finden sollte, wo sowas auffälliges bestimmt schon längst hätte gefunden werden müssen, wenn keine verhüllende Magie darauf lag, das mußte sie noch klären. Doch vor allem wußte sie nicht, was dort von ihr und Cecil verlangt wurde. Warum sollte sie ihn mitbringen. Er konnte nicht zaubern. Abgesehen von der in ihn eingeflößten Magie der Verwandlung und des Sonnenmedaillons war an ihm nichts wirklich besonderes. Aber eben die Kraft des Medaillons war das besondere, was ihn berechtigte, ja regelrecht verpflichtete, an den Ort der schlafenden Sonnenkinder zu reisen.

Als habe Patricia bereits eine geistige Fernverbindung mit Cecil errichtet sah sie unvermittelt Bilder vor sich und hörte Cecils angstvolle Gedanken: "Hilfe, ich werde wieder entführt!"

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Slobodan Dobrovic wußte, daß er mit dem Teufel Geschäfte machte. Er hatte zwar bis heute keinen Beweis dafür bekommen. Doch er wurde den Verdacht nicht los, daß Juri Kamarov, der ihn mit diesem Boris Hummelskirchen zusammengebracht hatte, ein Vourdalac war, was die Rumänen Nosferatu und die im Westen Vampire nannten. Außerdem hatte er eine dieser besonderen Folien geprüft, weil er wissen wollte, was an denen so wichtig war. Sie waren wie Schutzhäute, die tatsächlich alles UV-Licht der Sonne und ihre Wärmestrahlung abhielten. Wenn das stimmte, dann konnten die echten Vampire vielleicht aus ihren Verstecken, wenn die Sonne schien und konnten herumlaufen.

Dobrovic war Bandit, Gangsterboss, ein hochrangiger Verbrecher, der in seiner immer weiter auseinanderbröckelnden Heimat Jugoslawien genauso auf der Fahndungsliste stand wie bei den Polizeibehörden in Österreich, der Tschechischen Republik und Ungarn. Daher war es für ihn überlebenswichtig, nie länger als zwei Stunden am selben Ort zu bleiben. Er war zu einer Art Nomade geworden, wie die Romer in Osteuropa. Fünf große, gepanzerte Wohnmobile waren seine ganze Hauptzentrale, die innerhalb weniger Stunden mehrere hundert Kilometer überwinden konnten. Zehn Männer bildeten seine Leibwache. Es waren ehemalige Sowjetsoldaten, die nach dem Zusammenbruch des roten Imperiums keine geregelte Arbeit mehr fanden. Er hatte sie dem alten Kamarov abgekauft, von dem Gerüchte sagten, daß sein eigen Fleisch und Blut ihn umgebracht hatte. Dobrovic glaubte es, daß Juri soweit ging. Immerhin hatte der einen polnischen Zigarettenschmuggler erledigt und sich gerade vor vier Tagen erst eine Schlacht mit einem vietnamesischen Konkurrenten geliefert, um nun der Alleinimporteur osteuropäischer Schmuggelware zu sein. Auch hatte er auf diese Weise Zugang zu Schleuserbanden, die osteuropäische Frauen und Mädchen für westeuropäische Bordelle zusammenkarrten. Illegale Prostitution war nicht Dobrovics Hauptgeschäft. Er handelte mit Waffen und Drogen, zwischendurch auch mal mit geheimen Informationen, die er alten KGB-Leuten abkaufen konnte. All das reichte aus, um ihn zu einem gefährlichen aber auch gefährdeten Mann zu machen.

Um sich und seine Männer nicht vor Sehnsucht nach weiblicher Gesellschaft vergehen zu lassen, war eines der fünf Wohnmobile sein rollendes Privatbordell, in dem vier südeuropäische Dirnen ihm und seinen Leuten zur Verfügung stehen mußten. eine echte Geliebte wollte sich der aus Montenegro stammende Bandenchef nicht zulegen, zu kostspielig und zu riskant. Solche Frauen konnten einem Mann den Kopf derartig verdrehen und ihn dann an irgendwen verpfeifen. Die vier Huren wußten, daß sie nur so lange lebten, wie sie für ihn und seine Männer brav die Beine breitmachten. Außerdem ging es denen bei ihm besser als ihren Kolleginnen, die für die anderen Kriminellen in heruntergekommenen Schuppen anzuschaffen hatten.

Dobrovic saß nun in seiner eigentlichen Kommandozentrale, die über mehrere Sattelitenfunkgeräte mit Verschlüsselungsvorrichtungen und einen mit eigenem Dieselgenerator am laufen gehaltenen Rechner aus den USA ausgerüstet war. Außerdem hatte er hier seine Schlafkoje. Sein handzahmer Fahrer Aldo führte die kleine Karavane gerade auf einer für diese Wagen riskanten Serpentinenstraße in die schwarzen Berge hinauf, die dem Land Montenegro seinen Namen verliehen. Der Bandenchef blickte auf den Monitor des stoßsicher gelagerten Rechners und grinste. Im Flimmernden Licht der auf dem Monitor aufgereihten Zahlenkolonnen konnte er schwach sein Spiegelbild sehen, vor allem den Schnauzbart, den er trotz aller ihn zeigenden Steckbriefe nicht abrasieren wollte. Gerade hatte er die Abrechnung für den Monat Juli geprüft. Afrika brauchte ständig neue Waffen, obwohl die Völker dort von Hunger und Durst geplagt waren. Außerdem würde er bald einen weiteren Abnehmer für russische Waffen haben, wenn er endlich an diese Leute herankam, die den Amerikanern in den letzten beiden Jahren das Gruseln beigebracht hatten. Jedenfalls konnte er bald wieder zwölf Millionen Dollar mehr auf seinen Konten in der Schweiz, auf den Kaiman-Inseln und in Liechtenstein verbuddeln.

"Chef, jetzt wird's langsam zu dunkel. Wir sollten in dem Seitental halten, daß nur noch zehn Kilometer von uns weg ist!" Rief Aldo über Gegensprechanlage durch. Dobrovic schluckte einen Fluch hinunter und blaffte zurück, daß er das Tal auf dem Monitor sehen wollte. Er klickte mit der Maus auf eine stilisierte Kamera und bekam erst einen schwarzen Bildschirm. Dann sah er die Aufnahme der auf dem Dach montierten Telekamera, die mit einem zuschaltbaren Restlichtverstärker ausgerüstet war und ließ diese schwenken. Dann sah er das Tal, wovon Aldo gesprochen hatte. "Gut, da rein und anhalten. Gib's per Text an die vier anderen weiter!" Befal er seinem Fahrer. Dann holte er die Aufstellung seiner Einkünfte auf den Bildschirm zurück, prüfte noch einmal, wie er die Millionen verteilen wollte und sicherte die Datei. Dann ließ er den Rechner herunterfahren. Heute Nacht würde er mal ohne Ausflug in den bordellwagen auskommen. Da läutete das Satellitentelefon. Es war Hummelskirchen, der vermeldete, daß die Ware unterwegs war. Das würde ihm von Juri Kamarov noch einmal eine halbe Million einbringen, wenn das Zeug auf dem Donaufrachter war. Mit dieser beruhigenden Gewißheit schaltete Dobrovic den Satellitenfernseher ein und wählte einen amerikanischen Sportsender, der heute Nacht ein Baseballspiel übertragen würde. Auch wenn dieser Sport in Europa nicht so populär war wie in den Staaten hatte Dobrovic ihn lieben gelernt. Überhaupt hatte er eine merkwürdige Auffassung. Was Kumpane und Freunde anging, so durften es nur Landsleute sein. Sport, Luxus und Technologie sollten aber aus den Fabriken im Westen stammen.

Doch irgendwie spielte der Satellitenempfang nicht recht mit. Das mochte an diesem schmalen Tal liegen und daran, daß irgendwo zwischen hier und dem Satelliten wieder mal schwere Gewitter niedergingen. So blieb Dobrovic nur, sich zur Nacht hinzulegen. Er hörte einmal den lauten Lustschrei einer seiner vier Liebesdienerinnen und fragte sich, wie naiv seine Leute sein mochten, zu glauben, daß sie auch nur eine von denen wirklich befriedigten. Dann schlief er ein.

Das Telefon riß ihn mitten in der Nacht aus dem Schlaf. Wer wagte es, ihn zu wecken? Dobrovic blickte auf die Anzeige. Tatsächlich konnte er eine Telefonnummer lesen, die zudem mit dem Namenszug "Fuhrunternehmen Transalpin" gekennzeichnet war. Das war sein ganz legal laufendes Fuhrunternehmen. Er nahm das Gespräch an. "Und, alle Laster unterwegs, habe ich gehört", sagte er.

"Eben nicht, Chef. Unsere Überwachung hat neunzehn von denen verloren. Einer fährt geradewegs nach westen auf die deutsch-niederländische Grenze zu. Die andren sind regelrecht ausgefallen", sagte eine aufgeregte Stimme am anderen Ende. Slobodan stieß einen sehr deftigen Fluch aus. Er hatte die Laster ohne Wissen der Fahrer mit leistungsstarken Überwachungssendern ausgestattet, die über das GPS-Netz die genauen Positionen ermittelten und an die Zentrale der Fuhrunternehmen weiterfunkten. Damit konnten mögliche Kaperungen und freche Unterschlagungen frühzeitig aufgedeckt werden.

"Ich will die Überwachungsprotokolle. Schick mir alles rüber, Mirco!"

"Die Laster sind nach und nach ausgefallen, als habe jemand gezielt auf die Überwachungsgeräte eingedroschen. Das war aber keiner von den Jungs. Die haben keine Ahnung davon, daß wir die Wagen alle verwanzt haben."

"In den Dingern ist doch auch eine Ausfallsursachenübermittlung drin. Her mit den Protokollen, Mirco!"

"Sind in zehn Minuten bei Ihnen im Briefkasten, Chef", sagte der Anrufer unterwürfig. Slobodan Dobrovic trennte die Verbindung und hieb auf den Tisch. Wie konnte es passieren, daß die Überwachung von neunzehn Lastwagen ausfiel, die nahe beieinander gefahren waren? Was trieb den einen noch erfaßten dazu, ganz woanders hinzufahren? Er schäumte vor Wut. Gerade so konnte er noch den Rechner hochfahren, ohne ihn mit Faustschlägen zu traktieren. Er tippte sein Passwort ein und wartete, bis er seine virtuelle Schreibtischoberfläche auf dem Bildschirm hatte. Er wählte das E-Mail-Programm aus und klickte auf "Post abrufen". Tatsächlich erhielt er ein umfangreiches Datenpaket, eine mit einem nur ihm und Mirco bekanntem Passwort verschlüsselte Archivdatei, die er entpackte. Als er die darin enthaltenen Aufzeichnungen der Überwachung studierte wurde ihm anders. Die Signale waren nicht einfach ausgefallen. Vielmehr waren sie schlagartig schwächer geworden und dann in einer Art letztem Aufflackern verwürfelt worden. Die für gewaltsame Beschädigungen üblichen Codezahlen wurden jedenfalls nicht mitgeliefert. Es war so, als seien die Batterien schlagartig leergelaufen. Der eine noch anmeßbare Wagen gondelte bereits durch Niedersachsen richtung Niederlande, wo er laut Auftrag nichts zu suchen hatte. Dobrovic fragte sich, wie und von wem seine neunzehn anderen Lastwagen außer gefecht gesetzt worden waren. Dann fiel ihm ein, daß jeder Lastwagen über eine Mobiltelefonverbindung verfügte. Er wollte gerade selbst den noch fahrenden Lastwagen anwählen, als ihm einfiel, daß das nicht so klug wäre. Besser Mircos Leute riefen an. "Sag denen aber nicht, daß wir wissen, wo sie sind", riet Dobrovic seinem handzahmen Fuhrunternehmer.

Zehn Minuten später erfuhr der Bandenchef, daß außer dem einen Lastwagen, dessen Fahrer behauptete, wie vorgesehen auf der Route richtung Österreich zu sein, keiner der anderen Anschlüsse anwählbar gewesen war. Dobrovic überlegte, ob er Kamarov anrufen und ihn darauf ansetzen sollte. Dann fiel ihm ein, Hummelskirchen selbst anzurufen. Doch in seinem Büro ging nur der Anrufbeantworter dran, und auch sein Mobiltelefon meldete sich mit der Mailbox. Blieb noch der Festnetzanschluß. Doch den wollte Dobrovic nicht anrufen. Er hatte mit Juri Kamarov vereinbart, daß nur Juri oder einer seiner Leute diesen Hummelskirchen zu Hause anrufen durfte. Allerdings fiel Dobrovic ein, daß er wen in der Gegend der Fabrik hatte, einen kleinen Bauunternehmer, der mit selten legalen Billigarbeitern größeren Baufirmen aushalf, wenn die nicht zu viel Geld ausgeben wollten. Den rief er an und scheuchte ihn hoch. "Da hat wer meine Ladung abgezogen, Goran. Fahr mal in die Nähe von der Fabrik und sieh nach, ob sie noch steht!"

"Dieser Laden für Ultraleichtflieger? Kam gerade in den Nachrichten, daß es da eine Explosion oder sowas gegeben hat. Eine Fertigungshalle ist komplett abgebrannt. Die Leute in der Gegend mußten alle Türen und Fenster zulassen, und das im Sommer. Kann sein, daß deine Ladung dabei mit draufgegangen ist."

"Ja, aber einer meiner Wagen muß da wohl noch weggekommen sein. Der Fahrer hat mit seinem Fuhrunternehmer geredet."

"Ich hab's nur aus den Nachrichten, Slobodan", sagte Goran verdrossen. "Schreibs als Verlust ab!"

"Du bist lustig, ich habe die Ladung nicht gekauft, sondern nur zu transportieren. Wenn ich nicht liefere habe ich großen Ärger", schnaubte Dobrovic.

"Tja, das Risiko des freien Unternehmers", bekam er die völlig mitleidslose Antwort. "Jedenfalls habe ich das so mitgekriegt, daß die Fabrik wohl erst einmal wegen einer Explosion und Brandes geschlossen bleiben wird. Wenn der, für den du die Ladung hast laufen lassen das auch mitkriegt kann der dir nix. Nacht, Slobo!" Slobodan wollte noch was erwidern. Doch Goran hatte schon aufgelegt.

"Wenn die Laster bis übermorgen nicht in Belgrad sind killt dieser Vourdalac mich, wenn ich Glück habe", dachte Dobrovic. Dann dachte er daran, daß er sich schlicht totstellen konnte, wie es Hummelskirchen offenbar getan hatte. Das war kein Problem. Er programmierte das Satellitentelefon einfach so, daß Juri Kamarovs Nummer an einen Anrufbeantworter weitergeleitet wurde, der erzählte, daß die Verbindung zur Zeit nicht erreichbar sei. Mit dem Trick hatte er schon häufiger unliebsame Anrufer von sich ferngehalten. Er konnte nicht wissen, daß jemand anderes bereits hinter ihm her war, die nicht warten würde, bis Kamarov davon erfuhr, daß seine Ladung nicht termingerecht ankommen würde.

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Cecil frönte wieder der aus dem Leben Ben Calders geretteten Leidenschaft, dem Radrennsport. Ihn reizte es, die pariser Etappe der Tour de France nachzufahren. Sicher, im Moment drängten sich tausende von Autos auf den Straßen, die bei der Tour für die Zieleinfahrt der Fahrradsportler gesperrt wurden. Doch einmal das Gefühl zu haben, wie Induraín, Ulrich und Armstrong über die Champs-Élysées zu brausen war das frühe Aufstehen schon wert. In seiner Heimat Harrisburg war es gerade vier Uhr Nachts. In Berkeley, Kalifornien sogar erst ein Uhr. Cecil konzentrierte sich, um jede Lücke auszunutzen, die sich ihm bot. Sein Cousin hatte ihn am Morgen gefragt, ob er sich in zwei Tagen auch die Sonnenfinsternis ansehen wolle, die wohl im Älsass vollständig zu sehen sein würde. Wenn er schon mal hier war, warum nicht!

Cecil Wellington wollte gerade zu seiner persönlichen Zieleinfahrt auf die breite Prachtstraße Champs-Élysées einbiegen, als vor ihm ein Ford Transit mit obligatorisch verbeulten Kotflügeln nach links ausschwenkte und ihn zu einem höchst riskanten Bremsmanöver zwang. Beinahe wäre er über die niedrige Lenkstange seines Rades hinwegkatapultiert worden. Knapp fünf Meter vom Heck des Kleintransporters hatte er die rasende Fahrt genug gebremst, um an dem Transit vorbeizuschlüpfen. Da hörte er einen Knall und ein Zischen. Sofort fühlte er, wie sein Hinterrad durchsackte. Der Hinterreifen war platt. Er sah sich schnell um, wo er anhalten konnte, als er hinter sich die breite Schnauze eines silbergrauen Mercedes sah, die genau auf das Fahrrad zuhielt. Der Benz bremste nicht. Cecil sah schnell nach vorne. Da war der Transit, mit dem er gerade auf gleiche Höhe kam. Sein Rad wurde immer hecklastiger. Gleich würde das Rad auf der Felge laufen. Der Mercedes bremste überhaupt nicht. Cecil fühlte Panik. Was wurde das? Er konnte nur noch nach rechts auf die Straße springen. Lieber das geliehene Rad platt als er selbst. Er hechtete nach rechts. Scheppernd kippte sein Rennrad um und schabte vom restlichen Schwung noch einige Meter weit getrieben über die Fahrbahn. Dann sah er aus der offenen Schiebetür des Transits drei Männer mit Skimasken und dunklen Jacken springen. Da ging Cecil ein vierundzwanzigarmiger Kronleuchter auf. Es wäre nicht das erste mal gewesen, daß jemand ihn angriff. Er blickte schnell noch nach hinten. Der Mercedes stand knapp vor dem niedergestürzten Rad, bog dabei aber schon ab, so daß er als rollender Sichtschutz zwischen Cecil und den übrigen Passanten stand. In dem Moment waren auch schon die drei Maskenmänner bei ihm. Er sah noch einen vierten, der mit einer Uzi mit aufgepflanztem Schalldämpfer aus dem Transit zielte. Cecil hielt die Luft an. Ja, tatsächlich, da klatschte ihm wer ein nasses Tuch vor Mund und Nase, während zwei andere ihn bei den Armen packten und zum Ford Transit zogen. Die ganze Aktion dauerte nur drei Sekunden, dann flog Cecil auch schon auf eine der Sitzbänke. Noch immer hielt er die Luft an. Das nasse Tuch klebte immer noch vor Mund und Nase. Sicher war das Chloroform oder Äther. Die drei Maskierten enterten den Transporter. Die Tür glitt surrend zu. Komfortabel, eine Servoschiebetür, dachte Cecil. Doch dann besann er sich. Wenn sie ihn entführten mußte es einen Grund haben. Vielleicht war das eine Aktion seines angeblichen Vaters, um ihn auch noch loszuwerden. Etwas, daß der zeitgleich mit dem verunglückten Profi-Killer in Marsch gesetzt hatte. So dachte er schnell an eine gewisse Adresse, daß er gerade entführt wurde und fühlte sogar eine gewisse Todesangst. Auch wenn er ein gestohlenes Leben lebte, es war mittlerweile sein Leben geworden. Das wollte er nicht verlieren.

Der Transit fuhr an. Jemand schnallte den sich ohnmächtig stellenden Cecil auf der Sitzbank fest und nahm das Tuch von seiner Nase weg. Cecil hielt die Luft jedoch noch zwanzig Sekunden an. Sein Training verschaffte ihm die nötige Kondition, um länger als anderthalb Minuten ohne Atemzug auszukommen. Außerdem dachte er konzentriert an Patricia Straton. Tatsächlich bekam er eine Antwort von ihr.

"Entspann dich und denke an deine Entführer!" Cecil wollte schon fragen, was das sollte, als er Entschlossenheit und Geldgier fühlte und wie ein langsam lauter gestelltes Radio Stimmen in seinem Kopf hörte. Konnte Patricia ihn etwa auf anderer Leute Gedanken einpegeln? "Ja, sie kann", war die von ihr unter seine Schädeldecke gepflanzte Antwort. Er dachte an seine Entführer und vernahm deren Gedanken, als sprächen sie mit ihren Stimmen. Er unterschied rein gedachtes von dem leise getuschelten und erfuhr, daß sie in Orly mit dem kleinen Girolamo an seines Opas Privatjet zusammentreffen würden, um ihn abzuliefern. Vorsichtig holte Cecil wieder Luft, hielt die Augen jedoch geschlossen. Das half ihm auch, sich auf das für ihn fremde Gefühl einzustellen, anderer Leute Gedanken zu hören. Aber konnte er das wirklich, oder war er nur eine Art Durchgangsstation? Er lauschte weiter auf die unausgesprochenen Worte und verstand, daß es um Girolamo Bertoloni ging, der darauf bestanden hatte, den angeblichen Nebenbuhler um die Gunst Laura Carlottis einzukassieren. Offenbar meinte Bertoloni, Cecil hätte noch Kontakt zu Laura.

"Ich komme zu diesem Flughafen. Tu nichts. Stell dich weiter bewußtlos!" Pflanzte ihm Patricia Straton in den Kopf. Cecil gehorchte. Denn er hatte auch erfahren, daß der Mann mit der Uzi den Befehl hatte, ihn und jeden zu erschießen, wenn er um Hilfe rufen würde. Patricia würde sicher wieder in ihrem Panzerzeug auftauchen, mit dem sie schon mehrere Gangster geschafft hatte. Und das hier waren eben auch nur Gangster, bezahlte Greifer, die für wen anderen die Drecksarbeit machten. Sicher würde die Polizei bald informiert. Die Entführung konnte unmöglich unbeobachtet geblieben sein. Da fing er mit Hilfe von Patricia noch zwei amüsiert schwingende Gedanken aus der Luft.

"Wird Georges sicher amüsieren, den Flics zu erzählen, wie wir für den Krimi eine Entführung nachgestellt haben. Hoffentlich sind die Kameras echt, die er besorgt hat." Ein anderer dachte beinahe Zeitgleich:

"Wird Jeannettes kleinen Liebhaber wohl nicht sonderlich gut schlafen lassen, daß sein achso geliebter Vetter verschwunden ist." Cecil verstand. Hatte Albert nicht eine Freundin, die Jeannette hieß? Hatte er der nicht erzählt, daß Cecil demnächst durch Paris radeln wollte? Das war es also, das Leck, daß diese Tour überhaupt möglich gemacht hatte.

Die Fahrt verlief normal. Keine Polizeisirene überlagerte das Gebrumm des Motors. Cecil tat weiterhin bewußtlos. Sollten die Gangster doch denken, ihn in die Privatmaschine dieses Bertoloni zu bringen. Aber wenn die ihn da erst einmal hatten, konnte Patricia oder Anthelia ihm nicht mehr helfen. Warum bedauerte er das jetzt, daß die ihn sonst so dirigierenden Hexen ihn nicht retten konnten?

"Sie werden es immer wieder versuchen, weil jemand sich zu sehr für dich interessiert", ertönte Patricias Gedankenstimme so laut, als säße sie selbst in seinem Kopf. "Die Bande arbeitet uns in die Hände. Bleib ganz ruhig, du kommst da lebend raus, was die nicht für sich beanspruchen dürfen."

"Willst du sie umbringen?" Fragte Cecil.

"Nicht in Paris. Außerdem müssen einige übrigbleiben, die aussagen können, dich außer Landes geschafft zu haben."

"Bombe im Flugzeug?" Fragte Cecil. Er verschwendete keinen Gedanken daran, daß wegen ihm Menschen sterben würden. Die Gangster wollten es ja nicht anders. Sie hätten ihn doch in Ruhe lassen können.

"Hmm, in die Richtung drehe ich was. Danke für den Tipp!" Erhielt er Patricias Antwort.

Bis zur Ankunft am Flughafen Orly blieb es für Cecil ruhig. Dann pegelte Patricia ihn noch einmal auf die Gedanken des Anführers der Maskenträger ein, einen gewissen François Monier. Dadurch erfuhren er und seine unsichtbare Schutzherrin, daß der gerade vollgetankte Privatjet Girolamos in Hangar fünf wartete. Cecil fragte sich, ob der Pilot der Maschine womöglich ein unschuldiger Mensch sei und erfuhr, daß der Pilot der Maschine der Privatpilot von Girolamos Großvater war und diesen auch schon öfter zu konspirativen Treffen geflogen hatte. Dann hielt der Transporter auch schon. Cecil gab weiter den narkotisierten. Patricia unterstützte das sogar, indem sie ihm wie auch immer eingab, daß er kein Gefühl mehr im Körper hatte. Offenbar war das wichtig. Denn François stellte irgendwas mit ihm an und sagte: "Den hat's voll erwischt, wenn der nur auf Leiche machen würde hätte der spätestens jetzt zucken müssen."

"Bertoloni will den wach haben", zischte François' Kumpan.

"Die haben sieben Stunden Flug vor sich. Da wird der Bubi wieder wach sein", knurrte der Anführer der vier Maskenmänner.

Cecil hörte es eher als er es fühlte, denn irgendwie hielt Patricia seine Körperempfindungen auf null. Er hörte um sich herum schritte und hörte, daß der Hall wechselte. Erst ging es draußen entlang und dann in eine große Halle. Dann hörte er den Auftraggeber auf amerikanisch durchsetztem Französisch sagen, daß er sich bedanke und das versprochene Geld in dem Moment auf dem angegebenen Konto landete, wenn die Maschine sicher in Philadelphia gelandet sei." Bei der Gelegenheit bekam er über Patricias Gedankenmithörzauber heraus, wie die schweizer Kontonummer und das Kennwort für eine Transaktion des Mafiosos lauteten. Das Konto gehörte Girolamos Großvater. Außerdem bekam er noch die Kontonummer von François' Maskenquartett mit. Offenbar hatte Patricia ein gewisses Interesse an diesen brisanten Daten. Er konnte sich sogar denken welches. Sie war Anthelias Stellvertreterin, nachdem ihre Mutter, die Katzenfrau pandora, von einem ominösen Schwarzmagier umgebracht worden war, den Cecil nie im Leben zu sehen bekommen hatte. Somit verfolgte Patricia sicher eine ähnliche Politik wie ihre große Anführerin, Verwirrung, Zwietracht, Chaos. Allerdings wunderte es Cecil, daß Bertolonis Gedanken so dumpf und verschwommen klangen wie von einem schlecht empfangbaren Kurzwellensender.

"Du wirst für dein neues Leben genug Geld nötig haben, Ben Calder", hörte er ihre Stimme im Kopf. Sie hatte ihn bei seinem früheren Namen genannt. Das war eindeutig. Cecil Wellington war wertlos. Cecil Wellington war nicht mehr nötig. Cecil Wellington würde demnächst sterben. Würde er sterben? Nein, denn Patricia hatte ja gerade was von seinem neuen Leben telepathiert. Noch einmal benutzte sie seinen Kopf und Geist als Durchlaufempfänger, damit sie beide mitbekamen, wohin Bertoloni wollte. Immer noch klangen dessen Gedanken verschwommen, rauschend und dumpf wie ein sehr schwach empfangener Kurzwellensender. "Interessant", dachten Cecil und Patricia zeitgleich. "Klingt nach Gedankenüberlagerung. Der Muggel wird wohl kaum was können, um mich aus seinem Geist auszusperren. Sowas passiert Leuten, die unter einem fortwährenden Bann stehen, wie ihn Sabberhexen, Meigas und Vampire ausüben können. Bei den Abhängigen von Succubi ist es ähnlich, wie ich miterleben mußte."

"Will sagen, der Typ ist besessen?" Fragte Cecil und sah zugleich wen mit auf ihn deutenden Zeigefinger vor dem geistigen Auge. Was war er denn anderes.

"Sagen wir so, er handelt nicht aus freiem Willen und auch nicht unter einem von einem Zauberer oder einer Hexe gewirkrten Fluch. Er kann nicht klar denken. Jemand hat seinen Willen über seinen gelagert, aber nicht mit Zauberstabmagie, sondern durch direkten Blickkontakt. Aber jetzt ganz konzentriert bleiben!"

Cecil fühlte ein wenig mehr von seinem Körper und bekam mit, wie er getragen und eine Leiter hinaufbugsiert wurde. Der hall änderte sich wieder. Jetzt meinte er, in einem kleineren Raum zu sein als vorher. "Du bist jetzt im Flugzeug. Ups, die wollen dich noch gesondert wegpacken", hörte er Patricias Stimme und fühlte wieder, daß er nichts fühlte. Er wurde weitergetragen und dann in einen ganz engen Raum abgelegt. Dann hörte er ein leises Zischen und meinte schon, wieder ein Narkosemittel abbekommen zu sollen. Er wollte die Luft anhalten. Doch Patricia hielt ihn an, weiterzuatmen. Jeder Atemzug zischte. Jetzt klapperte etwas dumpf über ihm und sperrte die anderen Geräusche aus. Cecil glaubte, in einem Sarg zu liegen. Er hatte sich das immer wieder vorgestellt, wie das war, in einer Totenkiste zu liegen, ohne sich bewegen zu können. Platzangst hatte er keine. Nur die Furcht, hilflos zu sein und ersticken zu müssen setzten ihm zu. Da kehrten seine körperlichen Empfindungen vollständig zurück. Er fühlte das gummierte Mundstück einer Beatmungsflasche in seinem Mund und daß er in etwas steckte, was ihm die Arme an der Brust zusammenschnürte. Eine Zwangsjacke! Die gemeinen Kerle hatten ihm eine Zwangsjacke angezogen. Er hatte es in Fernsehfilmen schon häufig gesehen, wie tobsüchtige Irrenhauspatienten in solche Jacken gesteckt wurden. Sie hatten ihn in einem Sarg mit Sauerstoffflasche verstaut und noch dazu in einer Zwangsjacke sichergestellt. Was kam noch alles? Folter? Amputationen? "Du brauchst nur eine Stunde auszuhalten. Dann bist du da wieder raus", telepathierte ihm Patricia Straton. Er fragte sie unhörbar zurück, wie sie ihn aus einem fliegenden Flugzeug herauszaubern wollte.

"Indem ich die Kiste mit einem etwa gleichgroßen Gegenstand magisch verbunden habe. In einer Stunde rufe ich einen Zauber auf, der die Kiste mit dem Gegenstand die Plätze tauschen läßt. Wie erwähnt, die Banditen spielen uns wunderbar in die Hände."

"Und was ist mit diesem Bertoloni?" Fragte Cecil.

"An dem bin ich gerade dran. Laß mich mal in Ruhe! Muß mich sehr genau konzentrieren, damit er mich nicht bemerkt."

"Ich hoffe mal, das klappt alles so, wie du das vorhast, Patricia", dachte Cecil. Er erhielt darauf keine Antwort.

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Eigentlich hatte Jean-Baptiste Douville nur beobachten wollen, wie sich der Sohn des nun zum zweiten Mal über seine Männlichkeit gestolperten Ex-Senators benahm, wie er mit seinen Verwandten zurechtkam und ob ihm das arg zusetzte, daß er jetzt einen Halbbruder hatte, der sich eines Tages mit ihm darum zanken mochte, was von Vaters Erbschaft noch wer zu kriegen hatte. Doch seit damals sein etwas unvorsichtigerer Kollege Bouvier spurlos verschwunden war und keine Polizei der Welt ihn irgendwo hatte auftauchen sehen können näherte sich Douville seinem ausgewählten Ziel nur noch mit einer Kamera mit Teleobjektiv.

Douville folgte Cecil Wellington, der nicht den Mädchennamen seiner Mutter aufgeladen bekommen hatte, in sicherem Abstand. Die unter dem Kühlergrill montierte Kamera mit 24er-Zoom war schon James-Bond-würdig. Der daran hängende Videorekorder konnte eine Stunde Film oder entsprechend in 25 Bilder pro Sekunde auflösbare Einzelfotos aufnehmen. Der kleine Renault von 1980 hielt locker mit dem auf seinem Rennrad dahinpreschenden Burschen mit. Douville hatte die einschlägigen Klatschblätter gelesen und erfahren, daß der Junge in den Staaten von vielen Mitstudentinnen umschwärmt wurde, trotz daß er nicht mehr den Politikersohn mit untadeligem Elternhaus herauskehrte. Das lag aber eindeutig daran, daß der Junge sehr attraktiv aussah. Douville lauerte förmlich darauf, den Jungen mit einer Frau oder einem Mädchen zusammen zu erwischen. Das wären die Fotos der Saison. Und die Schlagzeile würde einschlagen wie einer der Asteroiden und Kometen, von denen es Hollywood in letzter Zeit so gerne hatte. "Sohn eines Wein trinkenden Wasserpredigers tritt in Vaters Fußstapfen." Oder sollte er besser texten: "Sohn von mutmaßlichem Mörder sucht Zuflucht in der freien Liebe"? Er merkte schon, daß das Texten und Titeln nicht sein Job war. Er lieferte die Bilder, erzählte der Redaktion, wo und wie er die gemacht hatte. Den rest erledigten die Kollegen Schreiberlinge, die dann sowieso den meisten Ärger abbekamen, weil ein Bild ohne Kommentar nicht viel aussagte, obwohl es zurecht hieß, daß ein Bild mehr als tausend Worte sagen konnte.

Douville fiel das Aufgebot am Straßenrand sofort ins Auge. Kameras und Douville, das war wie ein Baby und sein Schnuller. Deshalb war er immer sehr konzentriert, wenn irgendwo auch andere Objektive die Umgebung einfingen. Das hier sah nach Filmleuten aus, die jene, die mit der Wirklichkeit nicht schon genug Unterhaltung hatten, mit erfundenen Geschichten belieferten. Was wurde hier gedreht? Nicht noch ein Science-Fiction-Film über den Weltuntergang, hoffte Douville. Dann sah er den Transit voraus. Hinter ihm brummte gerade ein silbergrauer Mercedes vorbei. Douville mußte nach rechts, um den Wagen vorbeizulassen. Deshalb entging ihm, wodurch Cecils Hinterreifen auf einmal so schnell seine Luft verlor. Cecil mußte vom Rad springen, weil der Mercedes keine Anstalten machte, abzubremsen und den Jungen Studenten förmlich auf den Transit zutrieb wie ein Jagdhund das Wild zum Jäger. Der Mercedes bremste dann doch, weil er sonst das fluchtartig verlassene Fahrrad plattgefahren hätte und schwang dabei so aus, daß er für die Passanten auf der anderen Straßenseite die Sicht auf den Transit und Cecil verstellte. Dann wurde der junge Radrennfahrer von mehreren maskierten Männern gegriffen und hineingeworfen. Das konnte doch kein Filmkunststück sein. Douville hatte auf volles heranzoomen geschaltet und ließ die Kamera im Videomodus weiterlaufen, während er zusah, noch näher an die beiden Fremden Wagen zu kommen, Dann fuhr der Transit aber auch schon los. Passanten, die das Geschehen beobachteten und die laufenden Kameras bemerkt hatten klatschten, als einer, der wohl als Regisseur auftrat seinem Kameramann sagte, daß die Szene im Kasten sei. Aber das war nie im Leben gestellt. Douville fühlte das Adrenalin in seine Blutbahn schießen. Cecil wurde entführt, und durch die Kameras vor allen Leuten, ohne daß die was kapierten. Douville fing noch einmal die scheinbaren Kameraleute ein. Die konnten natürlich nicht maskiert herumlaufen. Das wäre ja aufgefallen. Aber was machte er jetzt mit dem Material. Er mußte die Polizei anrufen. Oder sollte er das seinen Redakteur tun lassen? Er hätte dann rechtfertigen müssen, warum er mit seinem Wagen hinter Cecil hergefahren war und das Material abgeben müssen. Nein, erst den Boss vom Journal de Paris.

Douville fuhr so ruhig er konnte an den scheinheiligen Kameraleuten vorbei, war geistesgegenwärtig genug, neugierig tuend zum Fenster hinauszusehen und dann weiterzufahren. Hätte er sofort auf das Gas getreten, wäre den Gangstern eingefallen, daß er vielleicht doch was mitbekommen hatte, was ihn stutzig gemacht haben mußte. Weit genug weg vom Schauplatz der Entführung rief er seinen Chefredakteur an und gab ihm in Stichworten die Situation durch.

"sie sind sicher, daß die Entführung wirklich passiert ist und kein Film-Stunt war?" Fragte Douvilles Chefredakteur, Monsieur Marceau.

"Absolut, weil Cecil schon die ganze Zeit geradelt ist. Wenn das ein Film-Stunt war hätte der ja immer dieselbe Strecke fahren und das Ding durchspielen müssen."

"Okay, das Material gehört uns, das ist sicher. Aber bei sowas müssen wir mit der Polizei zusammenarbeiten, vor allem, wo der Vater des Jungen gerade wegen Auftragsmordes angeklagt werden soll."

"Sie meinen, das könnten Kumpels von dem Killer sein, der von Wellingtons Geliebter niedergeschlagen wurde?"

"Ja, die oder auch Leute von Wellington, die den ersten Sohn beseitigen sollen. Da zählt jede Sekunde, wenn der Junge überhaupt noch lebt."

"Gut, die nächste Wache ist gleich um die Ecke, Monsieur. Dann soll ich das ganze Band herausgeben?"

"Ich rufe unseren Anwalt, der soll zu ihnen hin, um Ihnen zu helfen, daß man Sie nicht wegen Beihilfe drankriegt", erwiderte Marceau und ließ sich noch die genaue Adresse der Polizeiwache ansagen.

Als Commissaire Charlet Douvilles Aufnahmen sah und dessen Geschichte hörte grummelte er erst etwas von "unbelehrbare Paparazzi". Doch dann schaltete er sehr schnell und ließ das Videoband mit der Entführung und den aufgenommenen Kameraleuten und Entführern in die Videoauswertung schicken.

"Sagen Sie mal ehrlich, Monsieur Douville, wenn das mit dieser Entführung nicht passiert wäre, wo hätten Sie dann die Grenze Ihrer Nachforschungen gezogen?" Fragte der Polizeikommissar und umklammerte seinen Kugelschreiber, als wolle er ihn gleich zerbrechen.

"Auf jeden Fall vor einem Schlafzimmer", erwiderte Douville.

"Ich weiß, Sie leben von der Selbstdarstellung und Dummheit erfolgreicher Leute. Aber seitdem wir das mit Lady Diana hatten sollten Leute Ihrer Zunft doch etwas mehr Rücksicht walten lassen. Das was Sie da machen wird auch nicht durch diese zufällig mitbekommene Entführung gerechtfertigt."

"Die Leute wollen das, daß wir über sie berichten, Monsieur Lecommissaire", verteidigte Douville seine Tätigkeit. "Wenn keiner mehr was von ihnen sehen oder lesen will wären die doch arg geknickt. Die ganzen Supermodels und das Kronprinzesschen von den Hiltons..."

"Haben alle auch mal Freizeit und möchten Duschen, ohne gleich von einem Zeitungsfotografen abgeschossen zu werden", belehrte der Polizeioffizier den Bilderjäger. "Aber lassen wir das erstmal! Ihnen ist klar, daß Sie mit dieser Geschichte nicht an die Öffentlichkeit gehen dürfen, bevor wir nicht genug Ermittlungsvorsprung haben. Die Leute, die Sie da eingefangen haben könnten zu einer Mafiaorganisation gehören, wenn natürlich auch nur zweite oder dritte Garnitur."

"Gerade dann sollte die Öffentlichkeit wissen, wer am hellichten Tag junge Leute entführt, falls die sich irgendwo im Lande verkriechen."

"Ja, und wenn die ihre Bilder im Fernsehen oder der Zeitung sehen murksen die jeden ab, der sie kennt. Wollen Sie diese Morde mitverantworten, Monsieur Douville?"

"Sie werfen Monsieur Douville doch nicht vor, mit diesen Verbrechern gemeinsame Sache zu machen, werter Commissaire Charlet?" schaltete sich nun der Anwalt des Journal de Paris ein, für das Douville arbeitete.

"Das wohl nicht. Aber wir Kriminalisten hätten durchaus mehr Ruhe, wenn die Medien nicht gleich Maigret und Sherlock Holmes oder die Retter der Informationsfreiheit spielen müßten. Aber lassen wir das auch!" Grummelte Charlet und ließ sich das Protokoll unterschreiben. Douville bestand auf einer Ausleihquittung, daß er seine Ausrüstung und das Bildmaterial nur für die unmittelbare Ermittlungsarbeit ausgehändigt hatte.

"Wenn wer rausfindet, daß Sie diese Bilder gemacht haben leben Sie vielleicht nicht lange genug, um sich das Band wiederzuholen", mußte der Kommissar noch eine Ermahnung mit Drohfaktor anbringen. Douville und der Hausanwalt des Journals nickten nur.

__________

Patricia Straton hatte sich erst geärgert, doch dann wie ein Hexenmädchen am Weihnachtstag gefreut, daß diese Banditen ihr die geniale Möglichkeit auf goldenem Tablett servierten, Cecil von seinen Verwandten fortzukriegen und gleichzeitig sicherzustellen, daß niemand nach ihm suchen würde. Zudem erhielt sie auf diesem Wege noch Zugriffsmöglichkeiten auf Geldreserven der weltweit operierenden Verbrecherorganisationen. Sie hatte mit einem riskanten aber durch das Medaillon begünstigten Nullosentis-Zauber Cecils Tast- und Lageempfindungen vorübergehend neutralisiert, um den Anschein der Narkose zu wahren. Tatsächlich hatte einer der Maskenleute, die sie nun aus ihrer natürlichen Gedankenhörweite heraus belauschen konnte mit einer spitzen Nadel zugestochen, um zu prüfen, ob Cecil die Narkose simulierte. Die sargartige Kiste im Flugzeug hatte ihr ein triumphierendes Lächeln abgerungen. Besser ging es wirklich nicht. Sie belegte die Kiste mit einem Ortsvertauschungszauber, ähnlich dem Translokalisationszauber, mit dem sie in genau einer Stunde von wo auch immer die Kiste gegen etwas anderes austauschen würde. Die Banditen im Flugzeug würden davon nicht viel mitbekommen, denn Patricia hatte bei Erhalt der Informationen, welches Flugzeug sie fliegen würden bereits Vorkehrungen getroffen, daß die Insassen nicht groß über die Vertauschungsaktion nachdenken konnten.

Wichtiger als die Rettungsvorbereitungen für Cecil erschien ihr im Moment der Geist von Girolamo Bertoloni. Der Enkel eines mit der Mafia eng zusammenarbeitenden Geldverschiebers konnte nicht frei denken. Er bewegte sich zwar normalschnell. Doch sein Wille wurde überlagert. Das war kein Imperius. Ähnlich hatte sie die Gedanken von Richard Andrews empfunden, bevor sie ihm den Infanticorpore-Fluch auferlegt hatte. War Bertoloni der Abhängige einer Abgrundstochter? Dann sollte sie sich rasch zurückziehen. Doch als sie den Italoamerikaner genau im Blick hatte und ihre eigene Gabe durch Legilimentik vervielfachen konnte, sah sie nebelhaft verschleierte Bilder eines dunklen Raumes und eines älteren Mannes im Sessel. Sie erfuhr auch dessen Namen, Fabrizio Campestrano. Der wollte Cecil, weil er keine Verbündeten in der Gegend hatte. Er gehörte einem anderen italienischen Verbrecherbund an, der mit der Mafia oder Cosa Nostra auf Sizielien nur geschäftlich zu tun hatte und ansonsten eigene Wege beschritt. Sie erfuhr, daß Campestrano sich für den Aufenthaltsort der Carlottis interessierte, aber erkannte, daß es dem in Wirklichkeit um Cecil Wellington ging. Als sie endlich genug über Campestrano und dessen Wohnsitz aus Bertolonis Geist geschöpft hatte, ohne daß dieser es bemerkte, war ihr klar, daß Bertoloni den Flug auf keinen Fall überleben durfte. Stieg er nicht in die Maschine ein, mußte sie ihn direkt töten. Fallen stellen, Bomben legen, vergiften, das alles war einfacher als einem Todgeweihten beim Sterben in die Augen zu sehen, wußte Patricia. Doch Bertoloni stieg in das Flugzeug ein, das wenige Minuten später aus dem Hangar hinausfuhr. "Drecksqualm!" Fluchte Patricia, die die nach Kerosin stinkenden Abgasfahnen der zwei Triebwerke aus hundert Metern Entfernung entgegengeblasen bekam. Zehn Minuten später stieg die kleine Maschine mit der Nase und dann mit dem Vorderteil nach oben, fauchte über das Ende der Startbahn hinweg und erklomm mit flammenden Düsen den Himmel. François und seine Maskenträger sahen der davonjagenden Maschine nach. Sie zählten in Gedanken schon das Geld. "Du warst diesen Maskenbanditen glatt eine halbe Million Dollar wert", schickte sie an Cecil weiter und beruhigte ihn noch einmal, daß sie ihn in nun noch fünfzig Minuten aus der Maschine herausholen würde.

"Eine halbe Million? Das muß ich wohl als Beleidigung ansehen."

"Wir gucken nachher mal, wie viel auf dem Konto ist und legen es dir als Startgeld für dein neues Leben an."

"Oha, Geld kann man zurückverfolgen, auch wenn du es über zwanzig Banken laufen läßt. Computer sind geduldig. Es sei denn, du machst zehntausend kleinere Überweisungen an über hundert verschiedene Konten draus. Mein werter Vater, der Killerboss, hat damit auch schon Parteispenden umgeleitet."

"Du erklärst mir das nachher in Ruhe. Genieße noch ein wenig die Reise!" Schickte Patricia zurück. Die Verbindung klappte immer noch sehr gut. Dann zog sie sich mit der Kiste aus einer Lagerhalle an einen für Apparitionsspürer nicht einsehbaren Ort zurück. Dann wartete sie. Als sie zehn Sekunden vor der errechneten Stunde von ihrer Uhr ablas wirkte sie den Ortsversetzungszauber für bewegliche Objekte. Lebende Wesen in Kisten wurden mit den Kisten zusammen versetzt, wenn mindestens ein anderes Lebewesen im zu tauschenden Objekt enthalten war. Patricia hatte zwanzig Kanalratten zusammengefangen und in der Austauschkiste eingesperrt. Jetzt verschwanden diese in einer feuerroten Lichtspirale, die sich immer schneller drehte und dann, mit einem Ruck, zum stehen kam, bevor sie sich genauso schnell in die Gegenrichtung drehte und dann in wilden Funken auseinanderflog. Dabei gab sie jene dunkle Kiste frei, die in Bertolonis Maschine gestanden hatte. Sie klopfte an den Deckel und fragte mit körperlicher Stimme: "Hallo, jemand zu Hause?"

"Uha, was war das denn für eine Höllenschleuder?" Fragte Cecil in Gedanken, während Patricia den Deckel aufklappte und ihm das Mundstück der Sauerstoffflasche zwischen den Zähnen fortzog.

"Meine Mutter hat den Zauber mal mit mir und einem Straßenköter gemacht. War für dich wohl so, als fielest du durch einen roten Schacht, wie?"

"Ich habe echt gedacht, ich würde zur Hölle fahren."

"Ich denke, wenn die Hölle alle aufnimmt, die an sie glauben, dann sind unsere kriminellen Helfershelfer gerade auf dem Weg dorthin", sagte Patricia. Cecil fragte sie, was sie mit dem Flugzeug angestellt hatte.

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"Ach neh, die werten Herrschaften", sagte Charlet, als er zu den aufgenommenen Fotos die Einträge der Verbrecherkartei erhielt. "Übliches Spiel, Anrufverzeichnis erbitten, Hausdurchsuchung beantragen und Freundeskreis abklopfen, ob die mit wem Kontakt aus einer der internationalen Organisationen hatten!" Gab der Kommissar seine Befehle aus.

Als gemeldet wurde, daß der Transit am Flughafen Orly auf dem Parkplatz für Privatflieger abgestellt worden war fragte der Kommissar nach, welche Privatmaschinen gerade starteten. Es gab vier, drei davon wollten in die Staaten. Dann erhielt er nähere Rückmeldung über die sogenannten Filmleute. Einen davon kannte er, Georges Boulanger. "Der ist dreist, sich mit den Streifenkollegen zu unterhalten, was für einen Film sie da drehen, weil die das kaputte Rennrad haben", dachte er. "Aber Frechheit siegt nicht immer, Freundchen", dachte er noch an die Adresse Boulangers. Dann fiel ihm ein, mit wem Boulanger in lezter Zeit, seitdem er seine Strafe wegen wiederholten Taschendiebstahls abgesessen hatte, so alles Kontakt gehabt hatte. Als er einen bestimmten Namen dachte, pfiff er durch die Zähne: François Monier, der Mann für Unmöglichkeiten. "Féfé, Arbeit!" Rief er seinem jungen Assistenten Ferdinand Dubois zu. Der junge Kriminalbeamte mit dem harmlos wirkenden Gesicht wie ein kleines Kind kam herüber und ließ sich von seinem Vorgesetzten den Auftrag erteilen, die Monier-Bande auszukundschaften. "Wenn die nicht an ihren üblichen Stellen auftauchen haben die was mit der Sauerei zu tun, Féfé. Aber wenn die alle diese Dreistigkeit haben wie dieser Georges Boulanger kriegst du die bei Maman Pauline zu fassen."

"Die wollte mir das letzte mal ein Glas Milch hinstellen, weil Kinder und Leute unter achtzehn bei der nix mit Alk kriegen", grummelte Dubois.

"Ist im Dienst auch richtig, daß du nix trinkst. Aber sieh zu, daß du rauskriegst, ob die Bande noch in der Stadt ist!"

Sofort, Chef", bestätigte der junge Polizeibeamte und zog los.

Eine halbe Stunde später hatte Charlet noch ein paar weitere Meldungen im Zusammenhang mit der Entführung. Demnach hatte jemand den silbergrauen Nobelbrummer aus Deutschland auf der Autobahn richtung Avignon gesichtet. Die Halternachfrage hatte schon lange ergeben, daß die beiden Fahrzeuge frisch vor dem Coup gestohlen worden waren. Nachher hatten die Banditen den Mercedes bereits an wem anderen weiterverscherbelt, der ihn nach Marseille und dann über das Mittelmeer nach Afrika verschieben wollte. Die eigentlich entscheidende Frage war jedoch nicht beantwortet worden, in welchem Flugzeug der entführte US-amerikaner saß. Da ihm die Feds aus Washington sowieso mit ihren Cowboystiefeln auf die Füße treten würden konnte er sie auch gleich selbst anrufen, solange er nicht von denen gezwungen wurde, sich vor die Brust zu schlagen und "Mea Culpa!" zu rufen. Allerdings war es schon ein seltener Zufall, daß dieser Paparazzo die Entführung mitbekommen und die so auffälligen Täter, daß sie wieder unauffällig waren, auf Videoband bekommen hatte. Sollten Monier und seine Leute wirklich so dreist sein, zu glauben, Passanten und Polizisten gründlich verladen zu haben, würden sie bald lernen, daß jedes Maß an Humor einmal voll war.

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Bertoloni handelte wie im Traum. Er wollte diesen Jungen nach Philadelphia bringen und dann Campestrano anrufen, daß er ihn hatte. Er wußte nicht, was der alte ’Ndrangheta-Häuptling mit diesem Schönling wollte. Er wußte nur, daß er neben den fünfhundert Riesen noch mehr an François' Schlägertruppe zahlen mußte, sollten die ihn nicht verpfeifen. Doch solange er nicht gelandet war bekamen die kein Geld. Die Gulfstream seines Großvaters pflügte gerade durch dichte Wolken. Er hatte keine Augen dafür. In seinem Kopf war nur dieser Auftrag, Cecil Wellington nach Philadelphia zu bringen.

"Gigi, wir kriegen Probleme", meinte der Pilot. "Ich habe hier Überspannung. Die gesamte Elektrik übertourt sich und ..." Plopp! Ein lauter, hohl nachklingender Knall erschütterte das Innere der Maschine. Girolamo blickte nach hinten und sah eine helle Kiste. Eine Helle kiste. Die war doch vorhin noch dunkelbraun und ... Da krachte es hell und scharf. Funken stoben aus allen Anschlüssen und elektronischen Komponenten. Gleichzeitig knirschte es häßlich zu beiden Seiten, und ein Schwall Kerosin schwappte ins Flugzeuginnere. Der Pilot starrte auf die rauchenden Trümmer des Funkgerätes. Der Autopilot lief noch auf einem anderen Stromkreis. Doch da knisterten Funken aus den Leitungen und entzündeten die im Passagierraum gestauten Treibstoffgase. Pilot und Passagier hatten keine Möglichkeit mehr, dem Inferno zu entkommen. Eine grelle Lohe explodierte in alle Richtungen des Flugzeuges. Die Tanks wurden noch weiter aufgerissen, und der freiwerdende Treibstoff entzündete sich. Dabei schmolz die Leitung für die Sauerstoffanlage für die Beatmung bei Druckabfall. Damit gerieten auch die noch nicht entzündeten Gase in Brand. Diese Kettenreaktion dauerte nicht einmal eine Sekunde. Dann zerplatzte das ganze Flugzeug in einem orangeroten Feuerball. glühende Trümmer und die unverwüstlich erscheinenden Flugschreiber regneten wie ein Meteoritenschauer über dem offenen Atlantik herab.

Der für die Überwachung der Gulfstream zuständige Fluglotse erschrak, als die Maschine erst das vorgeschriebene Identifikationssignal verlor und dann von einem Moment zum anderen zu einer Wolke winziger Bruchstücke auseinanderflog. Der Lotse hieb auf den Alarmknopf. In Intervallen klang nun ein Summton. Die letzten zehn Sekunden vor dem Unglück blieben ab nun für die anstehenden Überprüfungen gespeichert. Dazu gehörte auch die exakte Positionsangabe. Der Lotse konnte über Funk nur noch alle unterhalb der Flugfläche der für Philadelphia angemeldeten Gulfstream warnen, falls Trümmerstücke in die Flugbahnen gerieten. Dann mußte der junge Flugaufseher abgelöst werden.

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"Da bleibt nicht mehr viel übrig", sagte Cecil mit einer gewissen Beklemmung in der Stimme. "Als wenn ich nicht schon längst gewußt hätte, daß man sich mit euch nicht anlegt." Patricia nickte nur. Schweigsam apparierte sie mit ihm über gesicherte Haltepunkte bis in ihr Versteck, das durch Fidelius-Zauber geschützt war. Patricia gebot Cecil, daß er kein Wort sagte, solange sie nicht wußten, ob er einstweilen hier bleiben müsse. Von unten hörten sie zwei Frauen sprechen. Nur in Gedanken sprachen sie über Cecils gerade beendetes Leben als Sohn eines Ex-Senators. Cecil fragte Patricia, wie es für ihn weitergehen würde. Er dachte einmal etwas wehmütig an Henriette Lacrois, die nun auch den Sohn verloren hatte. Doch dann fiel ihm ein, daß dieser ihr schon vor bald vier Jahren genommen worden war. Er dachte an seine wahren Eltern und an Donna Cramer, seine erste Freundin. Das war wirklich ein anderes Leben. Als junger Student hatte Cecil eigene Erlebnisse mit Frauen gehabt, aber nichts, was dem mit Donna und Laura gleichkam. Patricia schickte ihm zu, daß sie ihm helfen würde, ein neues, ganz eigenes Leben zu führen, wenn er ihr dafür half, eine wohl unfreiwillig übernommene Verpflichtung einzulösen. Dabei deutete sie auf das Sonnenmedaillon. In Bildern und worthaften Gedanken vermittelte sie ihm, was sie darüber erfahren hatte und bat Cecil, ihr zu helfen, diese Sonnenkinder zu wecken, falls dies nötig war, um die Vampire der Nocturnia-Bewegung zu erledigen. Cecil lauschte und erkannte, daß Nocturnia wohl hinter seiner zweiten Entführung steckte. Als er auch erfuhr, daß Vampire sich neuerdings auch durch eine Art Virus vermehren konnten, war er bereit, Patricia zu helfen.

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"Was für Maschinen sind das?" Grummelte der Mann am anderen Ende der Telefonleitung nach Washington. Charlet, der sich als Franzose in Paris herablassen mußte, sein verstaubtes Oberschulenglisch anzubringen, gab die Flugdaten durch. Der FBI-Mensch am anderen Ende der abhörsicheren Leitung schwieg. Dann sagte er: "Ach die Firma Fraschetti Unterhaltungselektronik. Deren Boss gehört der Privatjet. Aber wir vom Büro haben da was läuten gehört, daß der Flüge für einen gewissen Bertoloni anbietet. Das ist in den Nordstaaten ein ziemlich ehrenwerter Herr."

"Neapel, Sizilien oder Kalabrien", knurrte Charlet.

"Sizilianer. Hatte vor etwas mehr als einem Jahr eine Unstimmigkeit mit einer anderen Familie, weil sein Enkelsohn entführt worden war. Stellte sich raus, daß ein Drogenchef in Südamerika das angeheizt hat, um sich auf dem Drogenmarkt breiter zu machen als er lang war. Hätte fast eine ausgewachsene Vendetta gegeben, weil der es angestellt hat, einen konkurrierenden Clan der Cosa Nostra als Verdächtige hinzustellen. Ist ihm nicht gut bekommen. Seine landeseigenen Konkurrenten bekamen ein Angebot, das sie nicht ablehnen wollten, ihn in den endgültigen Ruhestand zu schicken. Ich gebe raus, daß die Maschine bei der Landung gefilzt wird. wird mir schon was einfallen, Notfalls Plutoniumschmuggel aus einer Wiederaufarbeitungsanlage."

"Als wenn Sie drüben keine Atomkraftwerke hätten, Monsieur", knurrte Charlet. Dann bedankte er sich doch mit der für sein Land typischen Höflichkeit. Jetzt waren zumindest schon mal einige Sachen geklärt. Cecil Wellington war von der US-Abteilung der Mafia gekidnappt worden. Er hatte also recht gehabt, als er dem Paparazzo Zurückhaltung befohlen hatte.

Henriette Lacrois war mit ihrem Bruder in das Hauptquartier der Sûrté gekommen um sich näher über den Vorfall informieren zu lassen. Nach außen hin wirkte sie gefaßt. Kunststück, wo ihr Sohn nicht das erste mal verschleppt worden war. Doch als dann die Flugüberwachung, die auf dezentes Betreiben von Interpol die verdächtige Maschine überwachte meldete, daß diese plötzlich durchgesackt und auf einen Schlag in Stücke gegangen sei fühlte Charlet beide Trommelfelle so stark wie sonst nie. Denn Henriette Lacrois schrie ihre ganze zurückgehaltene Verzweiflung mit einem einzigen Laut hinaus. Dann fiel sie in Ohnmacht. Zwei Sanitäter eilten herbei und rieten dazu, die Bewußtlose in ein Krankenhaus zu bringen. Der Bruder Henriettes nickte betroffen. Ein Krankenwagen wurde angefordert, denn die Atmung der Frau war sehr besorgniserregend.

Als Madame Lacrois zusammen mit ihrem Bruder mit dem Krankenwagen abgefahren war meinte Dubois, der mittlerweile wieder zurück im Hauptquartier war: "Ob die Frau da wieder rauskommt? Erst das Ding mit dem Reitunfall, dann die Entführung durch diesen Price, dann die Affäre ihres Ex-mannes, weswegen der jetzt selbst im Gefängnis oder vielleicht sogar auf der Todesliege landet und jetzt diese Meldung."

"Dabei haben wir noch nicht mal die Bestätigung, daß der Junge in dieser Maschine war, als sie explodierte. Das kann auch ein Trick gewesen sein, uns mit dieser Maschine zu ködern und den Jungen in Wirklichkeit anderswie außer Landes zu bringen."

"Sagen Sie das mal einer Mutter, die glaubt, daß ihr Sohn gerade gestorben ist", grummelte Féfé Dubois.

"Aber wer jagt einen Privatjet in die Luft, nur so zur Verlade?" Fragte Charlet. "Es sei denn, diese Vendetta läuft noch, und jemand hat gedacht, diesen Bertoloni oder wen aus seiner Familie zu erwischen."

"Haben wir denn Bilder von denen?" Fragte Dubois. Charlet nickte und zeigte ihm die vom FBI zugefaxten Bilder der Bertoloni und Bertucci-Sippe. "Dann fahre ich noch mal nach Orly und quetsch die Privatjetmechaniker aus, ob einer von denen da aufgetaucht ist", sagte Dubois.

"Okay, aber dann nimm zwei Mann mit, die aufpassen, daß dir keiner Blei in die Birne ballert. Am besten ziehst du auch das schußsichere Unterzeug an! Leute die Flugzeuge in die Luft sprengen kümmern sich einen Dreck um ein Polizistenleben

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Anthelia hatte nach dem Tod von Hummelskirchen die Verfolgung des geflüchteten Lastwagens aufgenommen. Denn ihr war eingefallen, daß die von ihr freigegebenen Fahrer wußten, für wen sie fuhren, und über diesen kam sie sicher an Dobrovic oder zumindest das nächste Glied der Befehlskette heran. Katzenregel nummer eins: Wer den Schwanz von der Maus im Maul hat, hat die ganze Maus sicher.

Auf dem unsichtbar machenden Harvey-Besen brauste die höchste Schwester des Spinnenordens über die Autobahn. Sie ging davon aus, daß der geflüchtete Wagen sicher bis zum nächsten Autobahnabschnitt gefahren war, der an das Industriegelände angrenzte. Sie flog in mehreren hundert Metern Höhe, gerade noch tief genug, um nach Gedankenquellen zu suchen, die ihr schon einmal untergekommen waren. Es war ein Glücksspiel, da sie ganz alleine vorgehen mußte. Sie flog mit hoher Geschwindigkeit nach süden, bis sie sich sicher war, den fliehenden Wagen nicht in dieser Richtung zu finden. Denn der konnte gerade einmal halb so schnell fahren wie sie fliegen konnte. Also in einem weiten Bogen zurück, nach norden, bis sie wußte, daß er dort auch nicht entlangfuhr, obwohl er sicher über eine der Landesgrenzen wollte. Dann fiel ihr ein, daß viele europäische Länder die Grenzkontrollen abgeschafft hatten. Es war also einfacher, mal eben über die Grenze nach Österreich oder die Niederlande zu entkommen. Also nahm sie Kurs auf die Autobahn, die zum nächsten deutsch-niederländischen Grenzübergang führte.

Sie brauchte knapp zwanzig Minuten bei 200 Stundenkilometern, bis sie unter sich einen Lastwagen ausmachte, der ihr bekannt vorkam. Als sie tiefer sank erfaßte sie, daß darauf mindestens zehn oder zwanzig Leute mitfuhren. Das war er. Anthelia paßte ihre Fluggeschwindigkeit an und flog hoch genug über dem Wagen, dessen Abgase ihr fast entgegenstiegen, wenn sie trotz ihrer Hitze nicht schwerer als die Umgebungsluft gewesen wären. Sie blieb zwei Stunden lang über dem wagen. Dann fuhr er rechts ran. Anthelia bekam mit, daß sich die Fahrer abwechseln wollten. Die Zeit reichte ihr aus. Sie landete unbemerkt von den Fahrern und begann mit schwingendem Zauberstab, ein Lied aus der Zeit ihrer Tante Sardonia zu singen. Die Fahrer hörten es und verfielen nach wenigen Tönen in eine geistesabwesende Haltung, die zu einem immer tieferen Schlaf wurde. Anthelia ließ die anderen Autos an sich vorbeirauschen und sah, wie die auf der Ladefläche sitzenden Männer gegeneinandersackten und die vier im Führerhaus fast herauskippten. Einen der im Führerhaus sitzenden holte sie sich auf ihren Besen und flog mit ihm einige Hundert Meter weit von der Autobahn fort, weit genug, damit ihn niemand rufen oder schreien hören konnte. Doch wenn sie es richtig anstellte mußte er nicht laut werden. Sie landete mit ihm und sprach leise Worte auf ihn ein, die den durch ihr Lied auferlegten Bann lösten. als sie merkte, daß der von ihr entführte Fahrer seine Umgebung wieder wahrnahm stieß sie mit aller legilimentischen Kraft in seinen Geist vor. Sie suchte nach dem Standort seines Betriebes und irgendwelchen Sachen, die er im Bezug auf Dobrovic gesagt oder gehört hatte. Der Fahrer selbst hatte Dobrovic bisher nizu sehen bekommen. Der direkte Vorgesetzte war Mirco Tadic, der ein ordentlich angemeldetes Fuhrunternehmen in Wien betrieb, das Frachtgut für den Balkan beförderte. Sie holte sich noch die Anschrift dieses Fuhrunternehmers aus dem Geist des Fahrers heraus, bevor sie ihm mit einem Gedächtniszauber eingab, wie seine Kameraden eingeschlafen zu sein. Ohne die Worte der Erweckung würden die Schlafenden beim Licht der Sonne wieder aufwachen. Dann brachte sie den verschleppten Fahrer wieder zu seinen Kollegen zurück und sang nur für ihn hörbar auf ihn ein, bis er wieder schlief. Sie schloß die Türen des Führerhauses und disapparierte. Ihr Ziel war Wien.

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"Super, dieses Weib hat offenbar mehr Kontakte bei uns als ich", knurrte Heinrich Güldenberg, als er erfuhr, daß jene blaßgoldene Schönheit, die auch mal als schwarze Spinne auftreten konnte, die Fabrik von Boris Hummelskirchen heimgesucht hatte. der des Vampirismus verdächtigte Fabrikdirektor war zerschmettert am Boden Liegend von seiner Eingreiftruppe aufgefunden worden. In der Halle, in der ein starkes Feuer getobt hatte, waren Überreste winzigkleiner Lastkraftwagen gefunden worden. Offenbar hatte diese Vereinigung der Schönen und dem Biest es angestellt, die Fuhre abzufangen, die demnächst wohl abgehen sollte. Güldenberg überlegte, wie viele Hexen von der Überwachung gewußt hatten. Es waren sieben Stück, die Sekretärin des Leiters des Muggelkontaktbüros eingeschlossen. Die konnten doch nicht alle für diese Sardonianerin arbeiten, mit der Cartridge eine Art Burgfrieden ausgehandelt hatte. "Erst fliegen wir bei der Weltmeisterschaft gegen die Engländer raus und dann muß ich mich noch fragen, wo in meinem Ministerium ein großes Leck ist", schnaubte Güldenberg. Er wußte, daß er keine der sieben Hexenkonkret verdächtigen durfte. Denn wenn er eine zu Unrecht verdächtigte, konnte die ihn wegen Rufschädigung drankriegen. Zudem würde die Quelle für diese Spinnenhexe dadurch gewarnt, wenn sie nicht in weiser Voraussicht davon ausgehen mochte, daß ihre Einmischung unangenehme Vermutungen aufwarf.

"wir können zwei von den Nummernschildern lesen, Herr Minister. Die hat echte zugelassene Lastwagen eingeschrumpft. Die haben österreichische Nummernschilder", sagte Weizengold, der neue Leiter des Muggelkontaktbüros.

"Und die Fahrer?" Fragte Güldenberg beklommen.

"Wir haben keine Winzskelette oder Mikroarmknochen gefunden, Heinrich. Die hat nur die Laster eingeschrumpft, damit sie sie besser verheizen konnte."

"Ideen hat sie schon", knurrte Güldenberg. "Aber dann laufen die Fahrer doch noch irgendwo rum, sicher mit verdrehtem Gedächtnis."

"Wenn Sie das möchten, Herr Minister, gebe ich eine Anfrage an den Kollegen in Wien heraus, der nachforschen kann, ob ein Fuhrunternehmer seine Lastautos vermißt und wie viele genau."

"Da müssen wir dann wohl die Polizei mit einbeziehen. Gefällt mir nicht, vor allem, weil ich mir das schadenfrohe Geschwätz von Rosshufler nicht anhören will, daß wir auch aus der WM geflogen sind."

"Tja, wenn Ihnen das zu anstrengend ist gehe ich zu Lederhosen-Leo und frage den höflich, ob er für uns suchen läßt", sagte Weizengold. Sein Vorgesetzter nickte ihm zu.

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Juri Kamarov war überglücklich. Endlich hatte er Ho erledigt. Dieser Vietnamese hatte doch echt gedacht, länger als zwei Monate zu leben, wo er, Juri Kamarov, sogar seinen eigenen Vater aus der Welt geschafft hatte. Eine billige Straßendirne, die sich von Ho losmachen wollte, hatte dem lieben Juri alles erzählt, was er wissen mußte, um Hos letzten Ort auf dieser Welt herauszufinden. Dafür hatte er dem leichten Mädchen eine neue Anstellung gegeben. Sie war seine ganz private Sekretärin, Blutgattin und Neubürgerin von Nocturnia geworden. Lamia hatte diese Einbürgerung genehmigt, da sie einsah, daß Ho ein unerträglicher Störfaktor bleiben würde. Jetzt, vier Tage nach der entscheidenden Schlacht, hatte Juri alle alten Kontakte Hos fest in Händen. Er war nun die Nummer eins im deutsch-polnischen Schmuggler- und Schleusergewerbe. Über ihn mußte auch Nocturnia nun alle Fracht- und Personentransportaktionen nach Westeuropa buchen.

"Juri, ich kriege keine Verbindung mehr mit Hummelskirchen", sagte Ilona, die wasserstoffblonde Ex-Hure, die des Nachts auch als Nachtkerze auf Blutjagd gehen mochte.

"Ich rufe seine Privatnummer an, Goldhamster", sagte Juri und griff zum Mobiltelefon. Seine Festung verfügte über eine Satellitenübermittlungsanlage, die alle zehn Sekunden eine neue Strecke aufbaute, um mögliche Rückverfolgungsaktionen zu unterbinden. Doch diese die Polizei verhöhnende Hochtechnologie brachte ihm nichts ein. Denn Hummelskirchen war nicht erreichbar. Dann erfuhr er aus den Nachrichten, daß eine Fabrik bei Goslar durch eine schwere Explosion mit anschließendem Feuer zu großen Teilen zerstört worden war. Ilona bekam heraus, daß es sich um die Fabrik von Hummelskirchen handelte. Man ging davon aus, daß der Unternehmer selbst in die Explosion hineingeraten und darin umgekommen sei.

"Was, zu viele Zufälle", knurrte Juri. Dann blickte er auf die Uhr. "Goldhamster, wir müssen unsere Schutzfolien überziehen, so schön du ohne die auch aussiehst. Aber die Sonne tut uns nicht mehr so gut wie früher." Ilona lächelte und zeigte ihre gerade zwei Wochen alten Vampirzähne. "Habe ich schon drunter. Sitzt wirklich wie eine zweite Haut, Süßer."

"Oh, habe ich vorhin nicht mitbekommen, als wir ... gut, ist jetzt auch nicht so tragisch. Ich rufe gleich unseren Freund Schnauzbart an und frage den mal, ob er was von den neuen Folien weiß."

"Ich habe gerade den Auftrag von Terra Musica, die unsere Ballettreisen in ihr Angebot nehmen wollen, Juri", sagte Ilona.

"In Moskau kann ich mich für's erste nicht blicken lassen, wo die Aasgeier noch nicht genug haben, die das Erbe meines Vaters verputzen wollen. Aber da werde ich in diesem Jahr auch noch mal durchfegen", sagte Juri Kamarov. Dann zog er sich ins fensterlose Umkleidezimmer zurück, wo er die Solexfolie anlegte, um den Tag überstehen zu können. Um bei Kräften zu bleiben trank er frisches Schweineblut aus einer großen Thermosflasche. Dann rief er Slobodan Dobrovics Nummer an. Doch statt den montenegrinischen Kumpanen hörte er eine englischsprechende Automatenstimme, die ihm erzählte, daß die Verbindung nicht hergestellt werden konnte. Vier weitere Versuche später war er sich sicher, daß Dobrovic sein Telefon absichtlich ausgeschaltet hatte, wohl weil er nicht erreicht werden wollte. Das ärgerte Juri Kamarov, der sich doch so sicher fühlte, alles und jeden in seiner Interessenssphäre zu kontrollieren.

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Mirco Tadic wußte, daß er arge Probleme bekommen konnte, wenn Dobrovic sich erst einmal beruhigt hatte. Doch für die verschwundenen Lastwagen konnte der Fuhrunternehmer schließlich nichts. Doch was scherte das einen Schwerverbrecher wie Dobrovic, der ihn bedenkenlos als Sündenbock über die Klinge springen lassen würde, nur um seine Wut an irgendwem abzureagieren. Außerdem wußte Tadic, daß Dobrovic nicht auf eigene Rechnung arbeitete, sondern für jemanden als Zwischenstelle herhielt. Wer immer hinter ihm stand mochte nun genauso wütend werden, wenn die angeforderte Fracht nicht termingerecht eintraf. Womöglich lieferte Dobrovic ihn, Mirco Tadic dann als Hauptschuldigen aus, damit sich der große Unbekannte an ihm abreagieren konnte. Vor allem wollte er jetzt wissen, warum der einzige noch erfaßbare Wagen gerade in die Niederlande unterwegs war. er fragte noch einmal die nur ihm zugängliche Überwachung ab. Von seinen einst vierzig Wagen waren fünf gerade in Italien. Einer tuckerte gerade durch die Karpaten richtung Borgopass. Die anderen noch erfaßten Wagen waren gerade mit einer Fracht auf dem Weg nach Österreich und würden dann wohl zu ihm zurückkehren, wenn sie die Fracht am Bestimmungsziel abgeliefert hatten. Nur der eine, der den Convoy nach Goslar begleitet hatte, stand gerade irgendwo am Rand der Autobahn Richtung Niederlande. Der stand herum? Offenbar schlief der Fahrer gerade. Aber dazu hätte er einen der offiziellen Rastplätze ansteuern sollen. Herumstehende Laster lockten Plünderer an oder riefen die Polizei auf den Plan. Er griff nach dem Telefon und wählte die Nummer des noch angezeigten lasters. Doch niemand ging dran.

"Deine Fahrer schlafen, bis die Sonne sie wachküßt, Mirco", hörte er aus dem Nichts eine warme, tiefe Frauenstimme säuseln. Er fuhr herum. Doch zunächst sah er niemanden. Die Tür war zu und von innen verriegelt, damit er in Ruhe nachforschen konnte, was mit gleich neunzehn seiner Laster passiert war. "Das hätte ich ahnen müssen, daß ihr mittlerweile alle eure Vehikel mit Melde- und Aufspürvorrichtungen bestücken könnt", sagte die fremde Frauenstimme. Tadic wollte gerade um Hilfe rufen, als vor ihm die Luft flimmerte. Dann stand sie vor seinem Schreibtisch. Die dunkelblonde Frau mit der blaßgoldenen Haut und den grünblauen Augen strahlte ihn an. Sie trug einen hautengen, nachtschwarzen Gummianzug, der alles hervorragende an ihr genau nachzeichnete. Tadic wußte nicht, was er sagen sollte. "Am besten sagst du gar nichts. Silencio!" Zischte die Unbekannte. Dabei hielt sie einen silbergrauen Stab auf ihn gerichtet. Er wollte rufen. Doch kein Laut drang aus seiner Kehle. Dann fühlte er, wie etwas in seinem Verstand durcheinandergeriet. Unvermittelt sah er Bilder vor sich, hörte Wörter, Namen, Ortsbezeichnungen, sah einen schnauzbärtigen Mann vor sich und hörte sich mit ihm sprechen. Dann kehrte er in die Gegenwart zurück. Die Fremde stand immer noch vor ihm. Doch was tat sie jetzt? Sie zog den Reißverschluß ihres Anzuges auf. Darunter trug sie nichts anderes.

"Da du mir alles erzählt hast, was ich wissen möchte schenke ich dir ein paar unvergleichliche Stunden, Mirco Tadic. Du hast großes Glück, daß du mich getroffen hast. Denn nur mit meiner Hilfe wirst du aus der Abhängigkeit dieses Schnauzbartes und seines Auftraggebers freikommen." Sie näherte sich ihm. Er machte erst eine Abwehrbewegung. Doch sie nahm seine Hand und legte sie auf ihren Körper. Er war schon drauf und dran, sie zu schlagen, als er fühlte, wie er sie immer mehr begehrte. Dieses Weib da kam aus dem Jenseits, Engel oder Teufel. Sie hatte ihm alles Wissen entrissen, was er über Dobrovic besaß. Wenn er sie nicht auch anders bediente, würde sie so verschwinden, wie sie gekommen war und ihn womöglich ausliefern. So warf er seine Bedenken über Bord. Warum nicht vor der Höllenfahrt eine heiße Runde mit Satans Tochter?

"Wußte ich doch, daß du es auch willst", sagte sie, als er sich wehrlos von ihr befingern und entkleiden ließ.

Total erschöpft wachte Tadic am nächsten Morgen auf. Die Unbekannte war fort. Die Tür war immer noch zu, und der Schlüssel steckte von innen im Schloß. Dann hatte er wohl nur geträumt. Wäre nicht das erste mal, daß er im Büro eingeschlafen war. Aber dann hatte er von seiner Sekretärin oder der Schwester seines Freundes Rudolph geträumt. Dieses Wunderweib, daß ihm den heftigsten erotischen Traum seines Lebens verschafft hatte war eindeutig keine von den beiden gewesen. Er dachte an Geschichten von Buhlhexen, sogenannten Succubi, die des Nachts zu alleinstehenden Männern ins Bett stiegen und sich mit ihnen vergnügten, um sie entweder auszulaugen oder unter ihren Bann zu stellen. Aber das waren von der Kirche in Umlauf gebrachte Märchen, weil sie nicht begreifen wollte, wie ein Christenmensch mit Moral und Anstand nachts von heißen Liebesakten träumen durfte, wenn nicht jemand aus der Hölle derartige Erlebnisse zu verantworten hatte, um die Menschen entweder zur Sünde zu verführen oder als niedere Opfer zu benutzen. Dann fiel ihm auf einmal ein, daß er wieder mit Dobrovic sprechen wollte, weil der eine Laster auf der Autobahn gestanden hatte. Er prüfte nach, wo der Wagen jetzt war und stellte mit Schrecken fest, daß der Laster gerade auf dem Hof der Autobahnpolizei bei Emden stand. Als habe er damit etwas ausgelöst klingelte sein Telefon.

"Hier Polizeikommissar Holzschnitzer, wir haben gerade von Kollegen aus Deutschland erfahren, daß die eines Ihrer Lastautos aufgefunden haben. Können Sie uns bestätigen, ob Sie der Eigentümer des Wagens sind." Der Anrufer teilte eine Autonummer mit. Tadic bestätigte es. Was sollte es jetzt? Als er gefragt wurde, warum der Laster mit zwanzig Männern besetzt am Autobahnrand gestanden hatte, obwohl er Frachtpapiere für Badeanzüge für Belgrad hatte, aber keine solche Fracht geladen hatte, tat Tadic erschrocken und fragte, ob sie nur den einen Lastwagen gefunden hatten. Auf die Frage, wie viele er denn gerade in der Gegend hatte fahren lassen sagte er, daß er insgesamt zwanzig Wagen für verschiedene Fuhren in Deutschland fahren hatte und er von keinem eine Rückmeldung erhalten habe. Doch offenbar hatten die deutschen Polizisten gründlich genug gearbeitet.

"Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß Sie nicht wüßten, wo Ihre Lastwagen herumfahren, wo die Kollegen aus Emden eine kleine aber hochwertige Sendeanlage gefunden haben, die wohl als Standortüberwachungsmittel verwendet werden sollte. Also, wo sind die anderen Wagen?"

"Dann müssen Sie die Männer fragen, die auf dem einen Wagen gesessen haben. Man hat mich wohl um die Fracht und um meine Wagen gebracht."

"Das dürfen Sie mir gerne im direkten Gespräch schildern. Telefon ist da nicht so gescheit, wenn wir beide das herausfinden wollen", erwiderte Holzschnitzer. Tadic überlegte, was er erzählen durfte. Wenn er Dobrovic verriet, war er morgen schon tot. Andererseits war er jetzt schon so gut wie tot, weil er keine plausible Erklärung für das Verschwinden der anderen Wagen hatte. So raffte er sich auf, um zum Kommissariat zu fahren.

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Anthelia verfolgte die Spur weiter, die Tadic ihr aufgezeigt hatte. Er kannte Dobrovic und hatte schon mit Kontaktleuten von ihm gesprochen. Doch ihr Hunger nach körperlicher Liebe hatte sie so heftig gepiesackt, daß sie diesen erst einmal hatte stillen müssen. Jetzt konnte sie wenigstens wieder andere Männer ansehen, ohne gleich daran zu denken, mit diesen intim zu werden. Das war auch nötig. Denn Tadics Verbindungsmann zu Dobrovic war ein muskulöser, sonnenverwöhnter Bursche mit schwarzglänzenden Locken und dunkelbraunen Augen. Milosch hieß er und betrieb neben einer Sporthalle auch eine Zulieferfirma für Autoteile.

Anthelia hatte für ihren Besuch bei Milosch eine Kombination aus hautenger Jeans und Sonnentop mit dünnen Trägern gewählt, so daß der Muskelmann viel von dem sah, was sie zu bieten hatte, wenn auch noch nicht alles. Sie stellte fest, daß er auch nur ein Mann war, der an den richtigen Stellen stimuliert den eigenen Verstand vernachlässigte. So erkundigte sie sich nach den Trainingsmöglichkeiten und erwähnte, als sie gefragt wurde, wer ihr den Sportclub empfohlen hatte, daß sie von Slobodan Dobrovic den Hinweis bekommen hatte.

"Ach neh", erwiderte Milosch mißtrauisch. Doch Anthelia wußte seinen Argwohn zu vertreiben, als sie ihm sagte, daß er sie aus Vietnam herübergeholt hatte, weil sie dort als Tochter eines französischen Geschäftsmanns auf der Durchreise nie so recht gelitten war und er ja gute Geschäftsbeziehungen dorthin hatte.

"Können noch besser werden", erwiderte Milosch und dachte unbefangen daran, daß Dobrovic mit einem Russen gemeinsame Sache machte, der wohl auch mit den Vietnamesen kungelte. Anthelia fragte scheinbar einfältig, ob Dobrovic wieder im Lande sei. Milosch lachte:

"In welchem, werte Frau? Der ist mal hier und mal da, viel unterwegs, Sie verstehen?" Anthelia fischte dabei heraus, daß Dobrovic die lästige Angewohnheit hatte, mit fünf fahrbaren Wohnhäusern unterwegs zu sein, heute bei Belgrad, morgen bei Rom, übermorgen vielleicht in Moskau. Leider bekam sie nicht heraus, wo Dobrovic gerade steckte. Doch für diesen Fall hatte sie bereits eine nicht ganz ungefährliche aber wirkungsvolle Tour ausgeheckt.

"Ich dachte nur, weil ich hörte, er sei im Moment nach Wien unterwegs, weil ihn ein Geschäftspartner aufs Kreuz gelegt hat."

"man hört viel und sagt zu viel", sagte Milosch und dachte daran, daß diese Frau vielleicht was über Mircos Laster wußte. Sie erwiderte darauf nur, daß sie sich da auch besser nicht einmischen wollte. Es seien ja nicht ihre Lastwagen gewesen. Dann fragte sie, wann sie ihre erste Trainingsstunde antreten konnte. Milosch überlegte rasch und sagte, daß sie gleich heute Nachmittag herkommen könne. Dabei dachte er daran, Dobrovic anzurufen und ihn zu warnen. Anthelia lächelte ehrlich erfreut und fragte, ob sie um drei Uhr herkommen könne. Milosch nickte und wünschte ihr bis dahin einen schönen Tag in der alten Kaiserstadt Wien. Anthelia bedankte sich höflich und verließ das Büro des Muskelmannes. Draußen bekam sie mit, wie er mit seinem guten Freund und heimlichen Schutzherren telefonierte. Über seine Ohren hörte sie mit, wie Dobrovic immer verärgerter wurde. Dann sagte er:

"Ich schicke Klotz und Keule zu dir hin, die sollen die zu mir bringen. Bin gerade in der Nähe von Sarajevo. Die sollen die mit meinem Privatjet hinbringen."

"Und wenn sie nicht will?"

"Sollen Klotz und Keule mir nur ihren Körper abliefern."

"Schlage vor, daß Doc sie reisewillig stimmt, Slobo. Denn die umzubringen, bevor sie bei dir ist wäre zu schade. Die ist Halbvietnamesin, aber mit grünblauen Augen, keine Schlitzaugen. Die mußt du dir angucken."

"Und die hat behauptet, ich hätte die aus dem Dschungel rausgeholt, weil sie ein Franzosenbankert sei? Das wüßte ich aber. Die hängt sicher mit Hos Leuten zusammen. Dann hat der uns die Tour vermasselt. Wird meinen russischen Freund freuen, wo der Ho gerade erst vom Markt genommen hat."

"Okay, ich sag dem Doc, er soll sie beim Training beaufsichtigen, bis Klotz und Keule da sind. Geht das mit deinem Jet?"

"Ist in fünf Stunden in Wien", erwiderte Dobrovic.

"Dann kann der in sechs Stunden wieder starten", sagte Muskel-Milosch. Anthelia zog sich aus den Gedanken des Sporthallenbetreibers und Strohmannes von Dobrovic zurück. Man wollte ihr also eine Falle stellen, um sie zu Dobrovic zu bringen. Genau zu dem wollte sie hin. Mit der Bemerkung Reisewillig stimmen meinte Milosch, daß ein als Sportarzt angestellter Handlanger ihr eine Betäubungsspritze geben sollte. Gifte machten ihr nichts mehr aus. Sie würde sich dann einfach halbtot stellen. Aber sie mußte vorher noch klarstellen, daß Mirco Tadic nichts passierte. So apparierte sie unsichtbar in die Nähe von Tadics Büro. Dort warteten jedoch schon drei Zauberer vom österreichischen Magieministerium. Anthelia konnte gerade noch in Deckung gehen, als Tadic von einem Polizeiauto zurückgebracht wurde. Sie bekam mit, wie die Untergebenen Rosshuflers den Fuhrunternehmer in seinem Büro abfingen und aushorchten. Anthelia ritt der Teufel, dem Fuhrunternehmer per Imperius einzusuggerieren, er solle verraten, was die Laster transportiert hatten. Das wirkte. Die Zauberer brachten Tadic in Sicherheit, weil sie davon ausgehen mußten, daß er in die Machenschaften Hummelskirchens verwickelt war. Wenn er Glück hatte, war Dobrovic in vielleicht acht Stunden Geschichte.

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Anthelia-Naaneavargia traf wie angemeldet um fünfzehn Uhr im Sportstudio von Milosch ein und betrachtete die ihr zur Verfügung stehenden Geräte. Sie wollte ihre Bauchmuskeln trainieren und suchte sich das dafür geeignete Gerät aus. Zu den aus den an der Decke verteilten Lautsprechern rieselnden aktuellen Sommerhits absolvierte sie zum Vergnügen schaulustiger Männer geschmeidige Verrenkungen auf dem Bauchmuskeltrainingsgerät. Dann erfaßte sie die Gedanken eines Mannes, der sich hier offiziell Doktor Kürschner nannte. Hinter ihm stapften zwei übertrainierte Burschen in hautenger Sportkleidung herein. Das waren für Anthelia zu viele Muskeln. Irgendwo mußte noch eine gewisse menschliche Form zu erkennen sein. Die drei Ankömmlinge warteten, bis Anthelia die Übungseinheit beendete und trotz der eingestellten Belastungsstufe keinen Tropfen Schweiß am Körper hatte. Das war für Kürschner der ideale Anknüpfpunkt, um mit der im kurzen Sportzeug steckenden Frau mit der blaßgoldenen Haut zu sprechen. Der Doktor sah trotz nicht so üppiger Oberarm und Beinmuskulatur wesentlich männlicher aus, fand Anthelia. Er strahlte Durchsetzungskraft, Entschlossenheit und Zielstrebigkeit aus und bewegte sich sehr gewandt. Der Arzt fragte, wie lange sie schon trainierte und bekam eine Antwort, die ihm unverdächtig vorkam. Dann fragte er sie, ob sie schon was getrunken habe. Sie verneinte es und bekannte, daß sie nun doch einen gewissen Durst verspüre. So lud er sie an die Bar ein, wo sie ein isotonisches Getränk bekommen konnte, daß die umgesetzten Elektrolyte wiederherstellen würde. Anthelia überhörte das. sie wußte, was dieser Mann wirklich wollte. Aber das wollte sie ja auch. So ließ sie sich darauf ein. Die beiden überquellenden Männer warteten ab. Sie sollten erst eingreifen, wenn der Doktor mit "der Kleinen" nicht alleine fertig wurde. Anthelia hatte kein Bedürfnis, zwei auf reine Kraftmeierei ausgehenden Halbidioten ein Erfolgserlebnis zu gönnen, daß sie zu zweit mit einer Frau fertig wurden. Das gönnte sie dann doch lieber dem Doc, der sie aus der Sporthalle führte und durch einen dunklen Korridor geleitete, bis er wie ein in Selbstüberheblichkeit als Zauberkünstler auftretender Taschenspieler eine kleine Injektionspistole aus dem rechten Ärmel hervorholte. Anthelia tat überrascht, öffnete den Mund, als wolle sie was sagen oder rufen, als ihr die Nadel auch schon in die Halsschlagader gerammt wurde. Der Schmerz war nicht schön, und das Brennen des in sie hineinschießenden Elixiers gefiel ihr auch nicht. Doch weil sie wußte, daß sie jetzt wohl tote Hexe spielen mußte, wankte sie, griff sich an den Hals, röchelte und sackte zu boden. Kürschner fing sie ab und bettete sie auf den Teppich. Dann zog er einen Pieper und drückte einige Tasten. Nicht mal eine Minute später kamen zwei hauseigene Sanitäter und luden die scheinbar aktionsunfähige Frau auf eine Trage. Die Muskelmänner Klotz und Keule folgten wie schrankbreite Schatten, als die Trage durch das Haus gefahren wurde. Kürschner erwähnte, daß die Frau sich offenbar total überfordert hatte und sie deshalb ins Krankenhaus gebracht würde. Tatsächlich fuhr ein Krankenwagen vor, in dessen Heck die Trage eingeladen wurde. Kürschner wechselte mit den Begleitern ein paar Worte. Anthelia erfuhr, daß der Wagen auf Umwegen zum Flughafen fahren sollte. Dort würden Klotz und Keule auch schon hinfahren, nachdem sie um ihr Vergnügen gebracht worden waren, der blaßgoldenen Dame die Überlegenheit von hochgezüchteten Muskeln vorzuführen. Aber vielleicht bekamen sie im Jet ja noch eine Möglichkeit, sich mit der knackigen Dame zu befassen.

Anthelia hielt ihre Augen geschlossen. Der in ihrem Anzug sicher verstaute Zauberstab, mit dem sie vor der Trainingseinheit ihre eigenen Körperkräfte etwas angehoben hatte, fiel keinem auf. Das in sie hineingespritzte Betäubungsmittel hatte sich bereits vvollständig aufgelöst. Die Tränen der ewigkeit duldeten kein Gift, daß den von ihnen manipulierten Körper beeinträchtigen oder verändern sollte.

Sie mochte keine Flugzeuge. Die erschienen ihr zu unsicher und waren zu dem zu laut und verpesteten die Luft. Sie tat jedoch so, als sei sie weiterhin bewußtlos. Von einem der scheinbaren Sanitäter schnappte sie auf, daß das Mittel zwei Stunden lang vorhalten würde. Dann waren sie sicher schon in Sarajevo.

Anthelia ließ es sich also gefallen, daß sie in das Flugzeug verladen wurde. Die beiden Sanitäter wurden von Klotz und keule abgelöst, die die Auslieferung der Ladung sicherstellen sollten. Der Pilot holte die Starterlaubnis ein und brachte das kleine Düsenflugzeug auf Touren.

"Vergiß es, das kann jeder Pimpf, über eine mit Drogen vollgedröhnte Frau drüberrutschen", knurrte Klotz, weil Keule wohl darauf ausging, sich an Anthelia zu vergreifen.

"Aber wenn die echt bis zur Landung pennt haben wir nix mehr von der, weil der Schnauzbart die entweder für sich behält oder abmurksen läßt."

"Mit deinen Muckis kannst du an jeder Ecke eine haben", erwiderte Klotz verbittert. Anthelia hörte aber seine Gedanken und wußte, daß er da auch schon andere Erfahrungen gemacht hatte. Das Frauen doch eher auf Erfolg und materiellen Besitz und natürlich Bildung und Intelligenz bestanden. Muskelmänner waren nur zum angucken, nichts für eine erfolgreiche Beziehung.

Der Flug verlief wegen der in den Bergen üblichen Luftverwirbelungen ruckelig. Dann passierte etwas, mit dem Klotz und Keule absolut nicht gerechnet hatten und was Anthelia sichtlich verärgerte.

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"Okay, du lieferst die drei an meiner Zweigstelle in Sarajevo ab", hörte der Pilot Dobrovics Stimme in einem winzigen Ohrhörer. Über das kleine Kehlkopfmikrofon flüsterte der Flugzeugführer zurück:

"Und wo treffen wir uns dann, wenn ich die Maschine gelandet habe?"

"Bin gerade bei Treffpunkt drei. Komm dahin, wenn du den Vogel gelandet hast. Ich warte da einen halben Tag."

"Geht klar, Slobodan", sagte der Pilot. Dann hörte er auf einmal einen lauten Knall. Schlagartig fiel der Kabinendruck ab. Der Pilot hoffte, daß die Sauerstoffmasken herunterfallen würden. Das taten sie auch. Doch als er seine vor Mund und Nase gepreßt und mit dem Gummiband hinter seinem Kopf befestigt hatte, merkte er rasch, daß er nicht besser atmen konnte als vorher. Die Luft wurde ihm immer knapper. In den Ohren knackte es. Die Geräusche schienen in einem Meer aus Rauschen zu verschwimmen. Vor seinen Augen tanzten rote Punkte, die zu einem Vorhang aus Dunkelheit wurden.

In der Passagierkabine bekam Anthelia mit, wie der Pilot an ein Plateau südlich des Berges dachte, wo sie einmal mit Itoluhila, Daianira, Nyx und dem Waisenknaben Tom Riddle um den Mitternachtsdiamanten gestritten hatte. Pandora war dabei von diesem zerstörungssüchtigen Irren getötet worden. Doch nun passierte was, daß sie schlagartig aus ihren Erinnerungen herausholte. Schlagartig meinte sie, jemand würde ihr auf die Trommelfelle drücken. Ihr wurde plötzlich kälter und die Luft wurde knapp. Klotz und Keule fischten nach Sauerstoffmasken. Doch sie schinen kaputt zu sein. Denn statt genügend Frischluft atmen zu können röchelten die beiden Muskelmänner. Auch Anthelia fühlte, wie der schwindende Luftvorrat ihr zu schaffen machte. Der Pilot kämpfte ebenfalls um sein Bewußtsein. Er hatte diesmal nicht mit dem Druckregler herumgefuhrwerkt. Jetzt wurde Anthelia klar, was sie mit dem Gürtel der zwei Dutzend Leben verloren hatte. gift machte ihr nichts mehr aus. Als Spinne widerstand sie Feuer und elektrischem Strom, Geschossen und Klingen. Aber gegen Kälte und Ersticken half das heimtückische Gebräu aus Altaxarroi nicht. Sie konnte ertrinken oder an Luftmangel zu Grunde gehen.

Sie hielt noch die Luft an. Doch es war nur eine Frage von Sekunden, bis sie neuen Atem holen mußte. Der schwindende Druck ließ ihre Lungenflügel schmerzhaft ausdehnen. Die Maschine sackte durch. War sie eben noch auf über neuntausend Meter über die Bergwelt der Alpen hinweggeglitten, geriet sie nun in einen immer steileren Sturzflug. anthelia hatte keine andere Wahl mehr. Sie mußte ihren Zauberstab zücken, wenn sie nicht wirklich bewußtlos werden wollte. Sie warf sich herum und ergriff ihren Stab. Die Muskelmänner glaubten wohl, einer Halluzination aufzusitzen, als die eben noch aktionsunfähige von irgendwo her einen silbernen Stab hervorzerrte und diesen vor ihrem Kopf herumschwang. Doch dann forderte der Sauerstoffmangel seinen Tribut. Klotz und Keule wurden bewußtlos.

Anthelia schaffte es gerade noch, den Kopfblasenzauber zu vollenden. Erleichtert atmete sie die sie nun umfließende Luft ein und wieder aus und wieder ein. Ihre Lebensgeister kehrten sofort zurück. Die beiden Muskelprotze hingen ohnmächtig in ihren Gurten. Anthelia beseitigte mit ihrer Telekinese die sie an der Trage haltenden Riemen und sprang auf. Sie stürzte zum nächsten Fenster und sah, daß die kleine Maschine gerade in eine Gruppe hoher Berge hineinstieß. Noch lagen zwischen ihr und den Gipfeln noch einige hundert Meter Luft. Doch das änderte sich mit jeder Sekunde. Anthelia wußte nicht, was das mit dem Druckabfall sollte. An ein technisches Versagen glaubte sie nicht. Dafür war das Problem zu drastisch aufgetreten. Außerdem hatte der Steuermann dieses in seinen Tod stürzenden Metallvogels dessen elektrische Eigensteuerung, den Autopiloten, in Betrieb gesetzt. Der hätte den Flieger ja dann auf dem ausgewählten Kurs und der ausgewählten Höhe weiterführen müssen. Also hatte jemand diesen Vorfall herbeigeführt: Sabotage in Tateinheit mit vierfachem Mord. Vierfachem? Anthelia beschloß, daß ein dreifacher schon schwerwiegend genug war und disapparierte wie damals aus der Maschine des Arnold Hornsby. Keine Sekunde später krachte der Privatjet mit dem Bug in eine Felswand. Die Aufprallwucht stauchte das Flugzeug zusammen. Wo immer noch überschüssige Bewegungskraft vorhanden war, wurde diese schlagartig zu Wärme und entzündete den beim Aufprall auslaufenden Treibstoff. Das ganze dauerte keine Zehntelsekunde. Dann glitt ein großer Feuerball die Steilwand hinunter.

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"Bums! Ihr seid tot!" Grinste Dobrovic, nachdem er auf seine Uhr gesehen hatte. Seine Wartungsmannschaft hatte sicher ganze Arbeit geleistet. Sobald die Sauerstoffversorgung komplett ausfiel, würde ein besonderes Unterprogramm im Bordcomputer den Autopiloten deaktivieren. Den rest übernahm Mutter Erdes Anziehungskraft. Damit waren die beiden Idioten Klotz und Keule, ein etwas zu neugieriger Pilot, der häufig mitgehört hatte, worüber Dobrovic so mit seinen Geschäftskunden gesprochen hatte und eine nicht näher bekannte unerwünschte Mitwisserin erledigt. Das tollste war, daß das als Materialversagen gewertet werden würde. Der Mechaniker, der die Manipulation vorgenommen hatte, bekam gerade vier Millionen Dollar auf ein schweizer Konto überwiesen und würde in vier Stunden mit einem neuen Reisepass gen Südamerika aufbrechen. In drei Wochen dürfte er dann auch mit der Versicherung klar sein, daß er einen neuen Flieger bekam. Der nächste Pilot sollte aber etwas weniger Neugierig sein.

"Cecilia, hast du Zeit für mich?" Fragte Dobrovic das dunkelhaarige Mädchen von Sardinien.

"Für wie lange, Capo?" Fragte sie mit verrucht klingender Stimme.

"Bis ich nur noch schlafen kann, Süße. Meine Geschäfte laufen gerade wunderbar ins Ruder zurück. Morgen können wir ausschlafen."

"Okay, dann in fünf Minuten in meinem Zimmer", sagte Cecilia und schloß ihr Fenster von innen.

"Wir sollten heute noch weiterfahren. Oder wolltest du dich wirklich mit diesem Luftkutscher treffen, Boss?" Fragte Aldo.

"Ich erwarte noch Post von Dragan. Dann können wir weiterfahren. Solange bin ich drüben", sagte er und deutete auf das scharlachrote Wohnmobil, in dem seine vier Triebabfuhrgehilfinnen zu Hause waren.

"Ich meine nur, weil du mit dem Telefon gearbeitet hast. Mittlerweile stehen wir auch bei der CIA auf der Gesucht-Liste, und die kungeln mit einem Laden, der Telefongespräche im Ausland abhört", erwiderte Aldo.

"Dann werden die sich einen Wolf suchen, Aldo. Der Apparat baut über zwei Strecken eine Verbindung auf und wechselt alle zehn Sekunden zu einem anderen Satelliten über. bis die wissen wo wir sind, sind wir längst woanders."

"Und der Luftkutscher?" Fragte Aldo.

"Würde mich wundern, wenn der sich echt hertraut, wo er weiß, daß mir seine letzte Kursabweichung nicht so gut gefallen hat."

"Alles klar, Boss. Ich bin dann bei Mario und Pavel zum Pokern. Wenn du deine Angelegenheiten im roten Wagen erledigt hast und ich hinters Lenkrad soll piep mich bitte an!" Aldo verbeugte sich kurz. Dann ging er zu einem Wohnmobil, in dem mehrere der Leibwächter ihr Quartier hatten. Slobodan Dobrovic nahm noch eine kurze Dusche, bevor er mit Begierde im Blick und immer enger werdender Hose zum roten Wagen hinüberlief und dreimal klopfte, das Zeichen, daß er zu Cecilia wollte. Sie öffnete ihm persönlich. Da sie hier unter sich waren trug sie nur ihr aufreizendes rotes Unterzeug. Denn Dobrovic vertat keine Zeit mit umständlichem Vorspiel. Er kletterte in den Wagen und schloß die Tür. Cecilia umarmte ihn und drückte sich an ihn. Er war bereits so sehr darauf erpicht, mit ihr ins kleine Sündenzimmer zu gehen, daß er nicht mitbekam, wie etwas den Türriegel einrasten ließ und die Tür mit dem Rahmen verschweißte.

Als Dobrovic in das bereits nach außen verhüllte kleine Zimmer kam, in dem ein fest am Boden angeschraubtes Federbett stand, wollte er gleich zur Sache kommen. Er schloß die Tür und warf sich mit ihr auf die bequeme Lotterliege. Als er daran ging, seine Auserwählte für die nächsten Stunden mit einer gewissen Ruppigkeit zu entpacken erstarrte diese auf einmal und wurde hart wie holz. Dann schien sie wie ein Schneemann im Hochsommer dahinzuschmelzen, jedoch ohne eine Wasserlaache zu bilden. Keine Zwei Sekunden dauerte es, da lag auf dem Bett eine gerade einmal dreißig Zentimeter große Holzpuppe, die jedoch von Farbgebung und Form eine erwachsene Frau mit allen Geschlechtsmerkmalen darstellte.

"Mehr ist die nicht wert, nur ein kleines Püppchen für gelangweilte Kinder", hörte Dobrovic eine ihm bis dahin unbekannte, Deutsch sprechende Frauenstimme aus dem Nichts. Dann sah er ein Flimmern, und dann stand sie neben dem Bett, völlig nackt, nur einen silbernen Stab in der rechten haltend. Das war sie, die ihm Milosch beschrieben hatte! Das konnte aber nicht sein. Die war doch ...

"Vielleicht bin ich ein Geist, du kleiner schnauzbärtiger Schlingel", sagte die Unbekannte. Dobrovic stieß seine rechte Hand vor und berührte den Körper der Fremden. Er war echt. Er fühlte die Wärme der Haut und den leicht nachgebenden Bauch der Unbekannten, die sich ihm förmlich darbot. Dobrovic wollte ihr den silbernen Stab wegnehmen. Da erstarrte auch er. Doch ihm geschah nicht dasselbe wie Cecilia. Er hockte nur bewegungsunfähig da.

"Ich hatte eigentlich vor, mich ganz gesittet mit dir zu unterhalten. Aber du wolltest mich umbringen, und das macht mich meistens ziemlich böse, wenn das jemand versucht. Hummelskirchens Handlanger haben es ja auch versucht, und die gibt es nicht mehr. Eigentlich hätte ich dir gerne gezeigt, daß ich dieser da und den drei anderen erfahrungsmäßig weit vorausbin. Aber so, wie du mich behandelt hast wäre es eine Schande, einen Feigling die Wonnen meines Lebenskelches kosten zu lassen." Sie wirbelte auf der Stelle herum und stand nun im rosaroten Umhang mit Kapuze und weißen Schuhen vor ihm. Er dachte sofort, daß er einer Hexe in die Falle gegangen war. Erst ein Vampir, jetzt eine echte Hexe, und noch dazu eine, die keinen Buckel und keine Nasenwarze hatte.

"Vampir ist das Stichwort. Wer ist dein Kontaktmann von diesen Blutsaugern?" Fragte sie. Dobrovic versuchte, um Hilfe zu rufen. Doch er konnte nicht einmal die Lippen bewegen. Dann dachte er daran, daß er mit Juri Kamarov zusammenarbeitete, sah dessen Gesicht vor sich. Die blaßgoldene Hexe lächelte.

"Den Namen kenne ich. Also hat sie ihn tatsächlich zu einem ihrer Verbindungssklaven zu solchen Räuberbanden gemacht wie du eine Führst. Du kennst ihn und kannst ihn an einen bestimmten Punkt bitten?"

"Er wird dir das Blut aussaugen, du Höllennutte."

"Hure, nicht Nutte! Ein bißchen Anstand, wenn ich bitten darf", erwiderte die Hexe verdrossen. "Und ich kriege ihn doch zu fassen, weil sonst kriegt er dich, wenn ich in Umlauf setze, daß du seine Fracht bewußt zerstört hast, um Nocturnia zu sabotieren. Schon daran gedacht?" Fragte sie ihn. Dobrovic erschrak innerlich. Der ihn fesselnde Zauberbann verhinderte, daß er zusammenfuhr.

"Das denkt er sicher schon und sucht mich", dachte der Bandenchef. Die Hexe konnte ja offenbar jeden Gedanken von ihm lesen.

"Oh, dann kann ich dich als Köder einer Angel auswerfen und darauf warten, daß er anbeißt, und das wohl wortwörtlich. Aber ich kann dich vor ihm schützen und sie da auch wieder zu einer Gespielin aus Fleisch und Blut werden lassen, wenn du mir den Gefallen tust, ihm auszurichten, daß er am Tag der Sonnenfinsternis auf hier an diesen Punkt kommt."

"Der traut mir nicht mehr. Der wird Leute schicken", erwiderte Dobrovic in Gedanken und fügte hinzu: "Denn so würde ich das auch mit wem machen, der mich verladen hat."

"Tja, da könntest du recht haben", mußte die Hexe eingestehen. Dann sondierte sie seinen Verstand und erfuhr, wo er mit Juri zusammengetroffen war und wodurch Dobrovic davon überzeugt war, daß Juri ein Vourdalac, ein Vampir war. Denn er hatte junge Mädchen entführen lassen und ihm, Dobrovic, die Abfuhr der Leichen aufgehalst. an denen hatte er die typischen Bißwunden am Hals gesehen und erst gedacht, sie würden selbst zu Nachtgeschöpfen und ihn dann auch zu einem Untoten machen. Er hatte nie gewagt, Juri darauf anzusprechen, zumal ihm sein zahmer Medizinmann Kürschner Methoden gezeigt hatte, wie der Tod durch Blutaussaugen vorgetäuscht werden konnte. Dennoch war er sich nun sicherer als vorhin, daß Juri ein Blutsauger geworden war. Dann sah er noch einmal Juris Gesicht vor sich und dachte an dessen Stimme, als spräche er gerade mit ihm.

"Du hast mir doch sehr gut geholfen, Slobodan Dobrovic. Deshalb werde ich dir doch eine außergewöhnliche Erfahrung schenken", flüsterte die Hexe im rosaroten Umhang. Dann zielte sie mit dem Zauberstab auf die Holzpuppe Cecilia und ließ einen violetten Blitz aus dem Stab überschlagen. Statt der Puppe lag nun die splitternackte Privatdirne Dobrovics auf dem Bett. Sie strampelte, riß den Mund zum Schrei auf. Doch da konnte sie sich nicht mehr bewegen.

"Intercorpores permuto!" Stieß Anthelia mit von Dobrovic auf Cecilia schwingenden Zauberstab aus. Ein greller Lichtbogen entstand und hüllte beide ein, fraß sie wie sonnenhelles Feuer auf. Dann krachte es, und auf dem Bett lagen Slobodan Dobrovic und Cecilia. Sie hatten jedoch ihre Plätze getauscht.

"Ihr werdet jetzt einen vollen Tag lang in der Haut des jeweils anderen stecken. Verratet ihr jedoch, wer ihr seid, auch wenn euch das keiner glaubt, hält mein Zauber bis zum Ende eurer beider Leben vor. Ihr müßt beide das tun, was die von euch jetzt verkörperten getan und gesagt haben. Fallt ihr aus euren auferlegten Rollen, bleibt ihr solange in diesen Gestalten, bis der oder die letzte von euch beiden stirbt", zischte Anthelia.

"Das ist nicht wahr. Das ist ein Alptraum", dachte Dobrovic. Anthelia war froh, daß sie die Sprache dieses Banditen konnte, um es zu verstehen.

"Die Zeit läuft, ihr beiden."

"Und wenn die das toll findet, ich zu sein?" Dachte Dobrovic und Cecilia dachte: "Das passiert nicht echt, ich soll der Schnauzbart sein?"

"Wenn die das toll findet, wird sie eben dein Leben führen müssen und sich dauernd vor Juri Kamarov verstecken müssen, falls es mir nicht gelingt, ihn zu fassen. Abgesehen davon ist es nur halb so interessant, ein Mann zu sein. Gehabt euch wohl!" Sie wedelte kurz mit dem silbernen Zauberstab. Die beiden Körpervertauschten zuckten zusammen und bewegten sich. Anthelia verschwand mit leisem Plopp im Nichts. Zurück blieben ein im Körper eines Freudenmädchens gefangener Bandenführer und eine in den Körper eines Bandenchefs versetzte Dirne, die sich prüfend über den Schnauzbart strich, während der in ihrem Körper steckende Dobrovic sich ungläubig von oben bis unten betastete. Dann sagte Cecilia mit Dobrovics Stimme:

"Sie meinte, wir sollten alles so tun wie wenn du ich wärest und ich du. Warum nicht?"

"Vergiß es, du mieses Flittchen", schnarrte die falsche Cecilia.

"Im Moment bist du das Flittchen und wirst es wohl bleiben, wenn du irgendwem erzählst, wer uns da gerade besucht hat."

"Mieses Weib. Ich bring dich um. Dann hört der scheiß Zauber sowieso auf", knurrte Dobrovic mit Cecilias Stimme. Dann fiel ihm ein, daß das vielleicht nicht so gut war, seinen eigenen Körper umzubringen. Denn dann konnte er nicht mehr in ihn zurückgepflanzt werden. Aber ihn widerte es an, mit sich selbst Sex haben zu sollen. Jetzt, wo er seinen Körper mit anderen Augen sehen konnte fiel ihm auf, wie behaart er war. Doch was er gerade als seinen Körper fühlte gefiel ihm auch nicht recht. Am Ende mußte er mit Aldo oder Marco oder Zlatko oder anderen seiner Leibwächter schlafen, bis dieser verflixte eine Tag vorbei war, ohne daß er jemandem erzählte, daß er nicht Cecilia war. Doch Cecilia würde sich schnell als Betrüger verraten und damit den Fluch fortdauern lassen. Er mußte ihr wohl alles beibringen, was sie wissen mußte, um einen Tag er zu sein. Dann, wenn der Tag um war, konnte er sie immer noch aus dem Wagen werfen, während er mit hundert Stundenkilometern an einem Abgrund entlangfuhr. Aber wenn sie in der Zeit getötet wurde? Dann blieb seine Seele in ihrem Körper gefangen und er mußte als Hure weiterleben. Niemand würde ihn für voll nehmen, wenn er erzählte, von einer Hexe verwünscht worden zu sein. Das war wahrhaftig ein Alptraum.

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In den nächsten Tagen - Cecil durfte nur denken, was er sagen wollte und keine lauten Schritte tun - half er Patricia, die erbeuteten Kontodaten zu verwenden. Von verschiedenen Internetzugängen weltweit buchten sie mehrere Geldmengen ab und transferierten sie auf von Cecil auf den Kaiman-Inseln und den Bahamas eingerichteten Konten. Erst als die Bertolonis nachsehen wollten, wie viel sie noch hatten fiel auf, daß ihnen glatt zwanzig Millionen Dollar abhandengekommen waren. Cecil hatte von dem Geld jedoch nur ein Zehntel für eigene Verwendungszwecke abgezweigt und einen Großteil auf das Konto von François und seiner Bande verschoben. Wenn die Mafia ihrem Geld nachjagte, sollten die sich an ihre französischen Spießgesellen halten. Patricia griff derweilen zu einem weiteren Mittel, um den Wespenschwarm aufzuscheuchen, ohne selbst gestochen zu werden. Sie teilte Anthelia mit, daß sie Cecil vor Nachstellungen Nocturnias hatte retten müssen und ihn bis auf weiteres versteckt hielt, da er als Kundschafter eh nur noch im Bezug auf das Internet taugte. Gleichzeitig gab sie Anthelia die Informationen über Campestrano. Anthelia selbst jagte gerade einem Verbündeten Nocturnias in Deutschland und Osteuropa nach. So war Patricia bis auf weiteres ungebunden.

Am elften August beobachtete Cecil mit ihr zusammen die totale Sonnenfinsternis von einem freien Feld in Südwestdeutschland aus. Für Cecil war es ein erhabenes Erlebnis, durch eine der dafür extra hergestellten Schutzfolien zuzusehen, wie die gleißende Sonnenscheibe vom Mondschatten Stück für Stück überdeckt wurde. Dann war die Totalität erreicht, und Cecil konnte die bläulich flirrende Corona, die im Vergleich zur dichteren Sonnenscheibe dunklere Gashülle der Sonne für einige Minuten sehen. Alle tagaktiven Tiere schwiegen. In der Ferne verhielten Autofahrer auf einer Autobahn. Es kühlte spürbar ab. Sterne wurden sichtbar. Als dann mit dem ersten Lichtstrahl der zurückkehrenden Sonne das lautlose Spektakel vorbei war, erkannte Cecil, wie schön es sein konnte, zu leben, um dieses überragende Schauspiel der Natur zu bewundern. Am nächsten Tag wollten er und Patricia aufbrechen, um die schlafenden Sonnenkinder zu wecken.

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Anthelia hatte den Namen, die Stimme und das Gesicht Juri Kamarovs. Sie wußte, daß er sich vorzugsweise in der Gegend um Berlin oder Görlitz aufhielt. Sie versuchte, ihn mit einem Fernfluch zu erreichen und dazu zu bringen, sich an einen Ort zu begeben, wo sie ihn treffen konnte.

Tage vergingen. Anthelia genoß wie mehrere Millionen Menschen in Europa die totale Sonnenfinsternis. Sie dachte dabei daran, was die Nächtigen aus Altaxarroi in den Zonen der vollkommenen Finsternis für dunkle Kreaturen erschaffen oder der Sonne entgegenwirkende Zauber gewirkt hatten. Einige der Zauber waren über das ägyptische Reich bis in diese Tage erhalten geblieben. Anthelia hatte auch einmal daran gedacht, eine Sonnenfinsternis auszunutzen, um mächtigere Kreaturen zu erschaffen als die Entomanthropen. Doch die Ereignisse um Valery Saunders hatten ihr bewiesen, daß es sehr gefährlich war, mit neuen Möglichkeiten zu experimentieren. Und jetzt, wo Naaneavargia und sie zu einer Person geworden waren dachte sie auch eher daran, die ihr bekannten und bewährten Methoden zu nutzen, um die Führerschaft der Hexen mit dem Erbe aus dem alten Reich anzustreben. doch vorher mußte Nocturnia ausgelöscht werden.

Die Sonne war gerade vom Mondschatten verschlungen. Anthelia nahm die in einem Muggelladen für Brillen und andere optische Geräte gekaufte Folienbrille ab und blickte in die Corona, die bläulich flammend den dunklen Kreis umkränzte, hinter dem die gleißende Sonne gerade verborgen lag. Da fiel ihr der entsprechende Zauber ein, um ein sich vor der Sonne verbergendes Wesen genau zum Zeitpunkt einer Finsternis gezielt zu rufen und konzentrierte sich. Es war eine alte Formel aus Naaneavargias Geburtsland. Ihrer Mutter Vater war ein Meister des Feuers gewesen, weshalb sie auch die Wörter des Feuers kannte. Wörtlich übersetzt hieß die Formel:

Wenn im Schatten schweigt das Licht,
welches Leben reifen läßt,
tritt hervor vor mein Gesicht,
Jener der mich warten läßt.
Wenn das Himmelsfeuer schläft und schweigt,
sich des Himmels Krone zeigt,
sei für mich enthüllt und klar,
was die Dunkelheit gebar!

In Anthelias Muttersprache beschwor sie mit zur verhüllten Sonne deutendem Zauberstab:

"Juri Kamarov, hör auf mein Wort!
Verrate mir deinen jetzigen Ort!"

Sie glaubte erst an eine Einbildung, als sie im Flammenkranz der Sonnencorona das Gesicht Juri Kamarovs sah, das erst verwundert, dann erschrocken und dann von tiefer Qual gezeichnet auf sie herabblickte. Sie wiederholte die beiden Zauberformeln. Da sah sie, wie Kamarovs Gesicht sich ihrem näherte. Er öffnete seinen Mund, wollte unter großer Anstrengung was sagen, da explodierte sein Gesicht in gleißendblauem Feuer, das eins wurde mit dem der Corona. Anthelia hörte einen lauten Todesschrei in ihrem Kopf und fühlte, wie ihr Zauberstab eiskalt wurde und erzitterte. Dann waren die Erscheinung und der Gedanke an einen im Tode schreienden Juri Kamarov schon wieder vergangen. Anthelias Zauberstab erwärmte sich wieder. Die Führerin der Spinnenhexen fuchtelte mit dem Stab und jagte eine Fontäne giftgrüner Funken in den gerade dunklen Himmel hinauf. Die Funken vermischten sich mit den Sternen, die im Moment am Himmel zu sehen waren. Noch eine Minute würde das lautlose Naturschauspiel dauern. Dann würde die Sonne sich hinter dem Schatten des Neumondes hervortasten und allmählich wieder Licht und Wärme auf die Erde zurücksenden. Doch Anthelia wußte, daß sie ihr ziel nicht erreicht hatte. Ihre Anrufung war zwar auf das gewünschte Ziel getroffen, von diesem gehört und verstanden worden. Doch etwas oder jemand hatte ihn endgültig daran gehindert, sich und damit Nocturnia zu verraten. Anthelia verwünschte ihre Gedankenlosigkeit, daß sie nicht vorausgesehen hatte, daß eine Anrufung mit Zwang zur Antwort wie eine Gefangennahme oder ein Zwang zum Verrat wirken mußte. Und wie Nocturnias wichtige Bürger am Verrat gehindert wurden wußte sie ja mittlerweile.

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Juri Kamarov stand zusammen mit seiner Herrin Lamia auf einem Hügel knapp zehn Kilometer von Saarbrücken entfernt, um die Abwesenheit der Sonne zu feiern, wenn auch nur für zwei Minuten. Zu den sowieso schon üblichen Sonnenschutzkontaktlinsen trugen sie noch die in allen deutschen Optikläden erhältlichen Folienbrillen, die im Licht der Sonne silbern glänzten und in einem Gestell aus Pappe eingespannt waren. Juri fühlte es körperlich, wie der die Sonne mehr und mehr verdeckende Mondschatten ihm Kraft einflößte. Lamia badete sich bereits im Schatten des Mondes. Als die Sonnenscheibe gänzlich bedeckt war, jubelte sie sogar über die plötzlich auf sie einstürzende Kraft. Die Sonne war für zwei Minuten besiegt. Der den Vampiren Kraft spendende Mond zeigte sich nun völlig dunkel. Zwar war Lamia eine Hellmondvampirin. Doch die Macht des Mondschattens lud sie regelrecht auf. Auch Juri genoß die in ihn hineinschießende Energie aus Lichtlosigkeit. Er wünschte sich, daß dieser Zustand sein Leben lang vorhielte. Dann hörte er die Stimme in seinem Kopf. Es war eine Frauenstimme, die mit einer immer stärkeren Kraft zu ihm sprach. Er verstand nur, daß er ihr sagen sollte, wo er war. Er erschrak, weil er merkte, wie eindringlich und zwingend diese Aufforderung war. Lamia fühlte es, daß mit ihrem Zögling etwas bedrohliches vorging. Sie sah ihn an und fragte ihn:

"Was passiert mit dir?"

"Verdammt, jemand macht was, daß ich ihr verraten soll, wo ich gerade bin. Ich will das nicht. Ich darf das doch nicht", keuchte Juri. Doch die in ihn eindringende Stimme, die ihn mit Namen ansprach wirkte schon wie mit den Ohren gehört. Juri warf seinen Kopf zurück und starrte in den blauen Flammenring der Corona. Dort sah er ein Gesicht, das Gesicht einer Frau mit dunklen Haaren und heller beinahe goldener Haut. Er hörte sie seinen Namen rufen und ihn auffordern, ihm seinen jetzigen Ort zu verraten. Er wand sich. Die vom Mondschatten zufließende Kraft war keine wonnige, ihn beflügelnde Kraft, sondern eine bedrohliche, ihn lähmende Macht, die immer stärker wurde, bis er fühlte, daß er seinen Standort verraten mußte. Er hörte noch Lamias Warnung:

"Nicht deinen Ort verraten, Juri!" Doch da war es schon zu spät. Juri rief der verhüllten Sonne zugewandt: "Ich bin gerade auf ...!" Lamia hechtete zur Seite. Im selben Augenblick fauchte eine Flammengarbe aus Juris Körper, loderte nach oben und ließ den Körper des Vampirs wie Wachs in der Kerzenflamme zerschmelzen und vergehen. Beinahe hätte ein Ausläufer der Flamme Lamia berührt und sie, ihre Schöpferin, mit in die Vernichtung gerissen. Dann fiel die Flammemsäule in sich zusammen. Dort, wo sie aufgelodert war, gab es nichts mehr. Juri Kamarov existierte nicht mehr.

"Der Ruf aus den Schatten", dachte Lamia. Der in Nyx lange Zeit ruhende Mitternachtsdiamant hatte ihr viele mit Sonne und Dunkelheit verknüpfte Zauber beigebracht. Wer hatte diesen alten, doch eigentlich vergessenen Ruf gekannt und verwendet? Lamia stellte mit großem Entsetzen fest, daß sie selbst immer noch in großer Gefahr schwebte. Denn wenn die Ruferin - zumindest hatte Juri von einer Ruferin gesprochen - nun sie zu rufen versuchte, würde sie kein Schmelzfeuer daran hindern, ihren Standort zu verraten. Nur wenn sie sich dem Licht der Sonne wieder aussetzte, konnte sie dem Ruf lange genug widerstehen, bevor der Rufer selbst nicht mehr im Mondschatten stand. Sie disapparierte, um weit im Norden, außerhalb des Mondschattens, auf einem Gletscher anzukommen. Sie war wütend und erschrocken zugleich. Wütend, weil sie einen wichtigen Gehilfen verloren hatte und außerdem nicht die volle Zeit der totalen Bedeckung auskosten konnte. Sie war verängstigt, weil da jemand existierte, die jeden ihr bekannten Vampir bei einer Sonnenfinsternis dazu zwingen konnte, seinen Standort zu verraten, sie eingeschlossen. Ja, und sie hörte auch die leisen Worte "Lamia hör auf mein Wort ..." Doch weil Lamia nicht ihr wahrer Name war, sondern nur der erwählte Name, so erreichte die Anrufung sie nicht mit jener Urgewalt wie Juri Kamarov. Doch wenn die Unbekannte sie mit dem Geburtsnamen von Nyx oder dem des von ihr bewohnten Leibes anrief konnte nur die frei auf sie strahlende Sonne sie schützen. Ironie, dachte Lamia. Ein Vampir flüchtet sich in die Sonne, um sich nicht fangen zu lassen. Ebenso war es eine Ironie, daß sie das nur konnte, weil sie jene Schutzfolie trug, die sie, wo sie noch ein Mensch gewesen war, selbst erfunden hatte.

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Anthelia schluckte ihre Verärgerung schnell hinunter. Vielleicht konnte sie Lamia selbst dazu zwingen, sich zu verraten. Doch es gelang nicht. Entweder stand Lamia nicht im Mondschatten und konnte sie so gut zurückdrängen, oder es mußte der Name sein, mit dem sie bei ihrer Geburt als Mensch bedacht worden war. Anthelia ärgerte sich, daß sie es verdorben hatte. Wenn sie Juri nicht auf die brachiale Tour hätte rufen wollen, hätte sie ihn vielleicht aufgestöbert und ihn früh genug in eine magische Kapsel schließen können, um das Schmelzfeuer unschädlich aus ihm abfließen zu lassen. Diese Chance hatte sie nun verspielt und konnte nun wieder bei null anfangen. So blieb ihr nur, das dem Ende zugehende Naturschauspiel bis zum ersten neuen Sonnenstrahl zu verfolgen.

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"Und die haben eine Kiste in den Flieger nach Philly geschoben?" Fragte Charlet seinen Assistenten. Dieser nickte. Drei Tage war es jetzt schon her, daß Cecil Wellington entführt wurde. Sie ermittelten in alle Richtungen weiter. Dabei war herausgekommen, daß Girolamo Bertoloni tatsächlich im Flugzeug gesessen hatte. Es war gelungen, einen der Monier-Bande zu erwischen. Der wurde damit konfrontiert, bei einer Entführung mit anschließendem Mord mitgeholfen zu haben. Doch der Verdächtige tat unschuldsvoll, bis Charlet ihm sagte, daß sich auch andere nach dem Verbleib der Monier-Banditen erkundigten, Leute, denen es verdammt an die Nieren ging, daß ein gewisser Girolamo Bertoloni nicht nach Hause gekommen war. Das wirkte. Rico, so hieß der Verdächtige, packte aus und verriet, daß sie den Jungen zum Flughafen gebracht und übergeben hatten. Danach hätten sie sich voneinander getrennt. Wo Monier sei wisse er im Moment nicht, weil der seinen Leuten nicht verraten wollte, wo er sich herumtrieb. Charlet glaubte dem kleinen Gangster das. So ging die Suche nach den direkten Entführern von Cecil Wellington weiter.

Charlet fragte sich auch, warum Bertolonis Enkelsohn in eigener Person herübergekommen war. Die hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, wen anderen zu schicken. Offenbar war es diesem Bertoloni so wichtig, daß er selbst überwachen mußte, ob das Unternehmen klappte. Jedenfalls war Girolamo jetzt wohl Fischfutter, ebenso wie womöglich Cecil Wellington. Henriette Lacrois war nicht aus ihrem Schock erwacht. Sie befand sich in einem Zustand zwischen Verstand und Wahnsinn. Die Ärzte und Schwestern hörten nur, wie sie alte Wiegenlieder sang, die auch Charlet und Dubois schon als Säuglinge gehört hatten. Offenbar war die arme Frau geistig auf den Punkt zurückgefallen, wo sie ihrem Sohn diese Lieder vorgesungen hatte, wenn nicht sogar, wo sie selbst ein Baby war und diese Lieder von ihrer Mutter vorgesungen bekommen hatte. Das war das wahrhaft grausame am Polizeiberuf, das Leid der Angehörigen ausblenden zu müssen, um nicht selbst davon kaputtgemacht zu werden.

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Für den Jungen, der mal Ben Calder und mal Cecil geheißen hatte war es schon gruselig, hinter Patricia auf einem unsichtbaren Hexenbesen zu sitzen. Beide waren durch Gurte miteinander verbunden. Patricia flog in knapp hundert Metern Höhe über die ausgedehnten Sandfelder der Sahara dahin. Beide wurden durch gleichwarme Kleidung mit Kapuzen vor der ausdörrenden Hitze geschützt. Die Kleidung würde ihnen auch nachts vor der klirrenden Kälte Schutz bieten.

"Schon ein komisches Gefühl, über dieser großen Wüste herumzugondeln und nichts von sich selbst zu sehen oder die sonst so berüchtigte Hitze zu spüren", sagte Ben Calder alias Cecil Wellington.

"Wir sind gleich über dem Gebiet, daß mir die Sonnenkinder angegeben haben. Damals gab es hier wohl noch keine Wüstenlandschaft. Ich hoffe, wir kriegen das richtig hin. Mit dem Navigieren ist es hier ja schon schwierig."

"Vor allem, wie lang bei denen ein Schritt sein soll. Was sind denn das für Leute. Sind die aus Atlantis oder von einem anderen Planeten oder was?"

"Wir hatten es ja damals von Atlantis, wo ich dich von deiner Flucht vor dieser Mörderbande abgeholt habe", sagte Patricia. "Ich vermute, daß die Sonnenkinder wie der Mitternachtsdiamant und einige Sachen mehr Überbleibsel aus diesem alten Reich sind. Warum sie nicht wie alles andere aus diesem Land, das überlebt hat frei rumlaufen weiß ich nicht. Ich hoffe mal, wir können diese Sonnenkinder wecken und uns mit ihnen verständigen."

"Das hoffe ich auch mal", sagte Patricias Begleiter.

Sie flogen noch drei Stunden, da sie vom Nildelta aus gestartet waren und erst nach süden geflogen waren. Jetzt galt es, die siebenhundert Tausendschritt in Morgenrichtung also Osten zu fliegen. Doch der Harvey-Besen erwies sich nicht so gut gegen die hohen Temperaturen gewappnet wie seine Reiter. Er wurde langsamer, erschöpfte sich immer mehr. So blieb den beiden Suchenden nur, gegen Abend für die Nacht einen Landeplatz zu finden. Patricia zog ein paar Zauber um den Standplatz für das kleine Tarnzelt, daß sie aufbauen konnten. Jetzt würden ihnen keine Schlangen, Skorpione oder andere Wüstentiere zu nahe kommen.

Um noch etwas von der kühleren Nacht auszunutzen flogen sie mehrere Stunden vor Sonnenaufgang weiter. Diese Temperatur, besser diese Luft behagte dem unsichtbaren Besen mehr als die von der Gluthitze ausgedünnte Luft. Patricia erklärte ihrem nichtmagischen Begleiter, daß Besen nur bis zu bestimmten Flughöhen hingelangen konnten. Die erhitzte Luft über der Wüste mochte ähnlich dünn sein wie die Luft in großen Höhen. Gut zu wissen, was man diesen praktischen Stecken abverlangen darf."

"Dahinten ist ein Kamel, wie im Reiseprospekt", grinste der aus der Muggelwelt herausgelöste Jüngling und deutete auf das imposante, bei jedem Schritt schaukelnde Trampeltier, das mehrere Kilometer von ihnen entfernt durch den Sand stapfte.

"Wir sind jetzt über dem Gebiet, wenn ich mich nicht komplett verrechnet habe. Am besten landen wir", sagte Patricia und brachte den Harvey-Besen zu Boden.

Trotz der gegen die langsam zunehmende Hitze abschirmenden Kleidung fühlte Cecil alias Benjamin eine gewisse Anstrengung. Denn er mußte ja die trockene, immer heißer werdende Luft einatmen. Irgendwann kam Patricia darauf, seinen Kopf mit einer magischen Luftblase zu umschließen. Jetzt ging es besser. Der junge Mann bestaunte nun die Landschaft, die aus dem roten, beigen und braunen Sand ragenden Felsen, die langgestreckten Dühnen und die unendlich scheinende Fläche, über der die Luft flimmerte. Einmal sah er verschwommen ein Flugzeug, das auf dem Rücken fliegend einen Bogen über dem Horizont flog. Sicher war das eine Fata Morgana, jene berühmt-berüchtigte Luftspiegelung, die Wüstenwanderern die unmöglichsten Dinge vorgaukeln konnte. Womöglich flog das Original dieses Flugzeuges weit von ihnen fort, und sein Licht wurde durch die flimmernde Luft bis hierhin gespiegelt. Er machte Patricia darauf aufmerksam und deutete auf eine Palme, die für einige Sekunden in der Luft stand. Doch sobald Wind aufkam, löste sich das Trugbild auf. .

"Wir müssen etwas machen, um diesen Säulenwald zu finden", sagte Patricia. Wenn diese Anlage hier irgendwo ist, können wir Wochen lang hier herumlaufen. Dann würden wir trotz Wärmeschutz verdursten."

"Wenn dieses Amulett, mit dessen Energie du mich aufgeladen hast ein Schlüssel sein soll, dann aktivier das doch mit den Zaubersprüchen, mit denen du mich damit geflutet hast", schlug Cecil alias Benjamin vor. Patricia nickte und kniete sich hin. Sie löste das Medaillon von ihrem Hals und hielt die Kette so, daß das magische Schmuckstück gerade nach unten hing. Sie ließ es erst auspendeln. Dann sprach sie jene Worte, die sie aus den Erinnerungen ihrer Mutter geschöpft hatte. Tatsächlich begann das Medaillon zu vibrieren und bekam eine flirrende, goldene Aura. Dann begann es, sacht nach vorne rechts auszuschwingen, bis es fast waagerecht in der Luft lag. Dann fiel es wieder zurück. Doch anders als ein Pendel kehrte es nur in die genau senkrechte Lage über dem Wüstenboden zurück. Dann trieb eine unsichtbare Macht, ein Sog oder ein Stupser, das Amulett wieder nach vorne. Patricia sah, wie es knapp ein Grad südlich der gerade sichtbaren Sonne in die Waagerechte geriet und dann wieder zurückschwang. Patricia stand auf und ging genau in die Richtung. Ihr Begleiter folgte ihr. Wie zwei Wünschelrutengänger folgten sie dem immer schneller und immer weiter auslenkenden Flug des Sonnenmedaillons. Alle zehn Minuten befragte Patricia es. Sie gingen immer der Bahn nach, die es zwei- oder dreimal beschrieb. Eine Stunde waren sie so unterwegs, bis die Auslenkung geringer wurde. Sie mußten nun noch ein wenig nach norden korrigieren, um genau geradeaus zu laufen, bis das Medaillon nur noch ein fünf Grad, dann vier Grad nach vorne ausschwang. Nach insgesamt zwei Stunden Fußmarsch durch den nun backofenheißen Wüstensand erzitterte das Medaillon nur und sprühte goldene Blitze in die Tiefe. Patricia fiel von einem plötzlichen Gewicht nach unten gezogen auf die Knie. Dabei berührte das Medaillon den heißen Sand.

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"Bertoloni ist stocksauer", knurrte Fabrizio Campestrano. "Hätte nicht viel gefehlt, und der hätte zur Blutrache aufgerufen."

"Wir hatten absolut nichts davon, das Flugzeug von ihm unterwegs in einen Meteoritenregen zu verwandeln", erwiderte Renato. "Wer immer das war hat uns die einzige Möglichkeit versaut, herauszubekommen, ob dieser Cecil Wellington mit der magischen Welt kungelt und Gigi Bertoloni dabei entsorgt."

"Wenn deine werte Nachtkönigin dich das nächste mal anquatscht, dann sage ihr bitte einen schönen Gruß, daß ich mir wegen eines bloßen Verdachtes keine Vendetta mit einer der mächtigsten Familien der Nordstaaten einhandeln möchte. Ich weiß, unser Auftrag ist klar. Aber den können wir nur durchführen, wenn wir uns nicht mit rachsüchtigen Sizilianern herumprügeln müssen."

"Wenn's beim prügeln bliebe, Nonno", sagte Renato. "Außerdem ist sie auch deine Königin. Da du durch mein Blut mit mir verbunden bist und ich ihr Blut getrunken habe, um so zu werden wie sie, gehörst du genauso zu ihr wie ich."

"Ja, und wenn es auch echte Zauberer und Hexen gibt und dieser Wellington von denen kontrolliert wurde haben wir die bald auch auf der Pelle", erwiderte Fabritio und sah seinen Enkel sehr mißbilligend an.

"Nocturnia wird trotzdem mächtig", sagte Renato. Sein Großvater verzichtete darauf, ihm dafür eine herunterzuhauen.

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Der Junge, der mal Benjamin Calder geheißen hatte, war ja schon einiges an Zauberei gewöhnt. Er hatte unsichtbare, fliegende Autos erlebt, Verwandlungen an sich und Anderen mitbekommen und war auch schon durch einen bunten unendlichen Raum hindurchgetragen worden. Doch nun erlebte er was neues. Das Sonnenmedaillon patricias, daß sie bis an diesen Punkt geführt hatte, strahlte so hell auf wie das Gestirn, dem es zugeordnet war. Blitze schossen aus dem Medaillon in den Himmel. Doch sie vergingen nicht, sondern zersprühten zu Funken, die eine immer dichtere Säule aus rotierendem Licht bildeten. Gleichzeitig sah es für die beiden so aus, als löse sich der Sand unter ihnen auf. Er schien in glasklaren Meeresfluten zu zerfließen, zu verwirbeln und schlicht im Nichts zu verschwinden. Als spüle jemand mit einer unspürbaren Flut den Sand fort, verschwanden alle Sandkörner. Doch das war nur optisch. Denn die beiden Suchenden bewegten sich um keinen Zentimeter in die Tiefe. Dann konnte Cecil alias Ben etwas nebelhaftes erkennen. Es sa aus, wie ein großer Drachen, wie er ihn selbst als Junge im Herbst gerne hatte aufsteigen lassen. Aus dem gasförmigen Etwas wurde etwas festes, Es erstrahlte im Sonnenlicht so weiß wie italienischer Marmor. Vielleicht war es auch sowas. Er konnte nun die oberen Enden von Säulen sehen, die scheinbar aus dem Boden herauswuchsen, bis er zwei große Anordnungen von Säulen erkannte, die jede für sich ein Dreieck bildete und zusammengenommen ein Sechseck formten. Genauso hatte er die Säulen in der Vision gesehen, die Patricia mit ihm geteilt hatte. Genauso hatte sie ihm beschrieben, wonach sie gesucht hatten. Er zählte fünfzig dieser turmhohen säulen.

"Schön, sehen können wir die jetzt. Aber wenn die was von uns wollen müssen wir ja wohl auch dahin. Sollst du mich da hinteleportieren?" Fragte Patricias Begleiter.

"Nein, wir müssen zum Mittleren Gang, der die beiden Säulendreiecke voneinander trennt", sagte Patricia. Offenbar hatte sie eine entsprechende Anweisung erhalten. Sie stand auf und ging über den nun durchsichtigen Boden und überschritt die westlichen Säulen. Ihr junger Begleiter erkannte, daß die Säulen genau in Ost-west-Richtung ausgerichtet waren. Er hatte eigentlich mit einer Nord-Süd-Ausrichtung gerechnet. Doch wenn wer immer meinte, die Säulen so hinstellen zu müssen ...

"Stellt euch nebeneinander und berührt zusammen den Schlüssel des Himmelsfeuers!" hörten Patricia und ihr Begleiter aus der Tiefe einen Chor in einer Art Jubelgesang, als sie genau über der Passage zwischen den Säulendreiecken standen. Patricia ergriff die rechte, ihr Mitreisender die linke Hälfte. Sofort meinten beide, ein Strom heißen Wassers jage durch ihre Hände in ihre Arme, durch ihre Körper und durch ihre Füße hinein in den Boden. Es brodelte und pulsierte förmlich. Um sie herum entstand ein goldener Strahlenkranz, der sich immer dichter um sie legte, bis sie beide meinten, in einem Brunnenschacht voller heißem Wasser in die Tiefe zu sinken. Cecil Wellington alias Benjamin Calder fühlte erst Panik. Doch dann übermannte ihn große Freude, daß er endlich an den Ort seiner Bestimmung kam. Sie hörten kein Geräusch, während sie in die Tiefe sanken. Als sie eigentlich vom unsichtbaren Sand begraben schienen, meinte Cecil, jetzt keine Luft mehr zu bekommen. Doch er konnte weiteratmen. Tiefer und tiefer sanken sie hinab. Die über ihnen stehende Sonne wurde jedoch dunkler und röter. Es sah so aus, als ginge sie unter, obwohl sie immer noch im Osten stand. Noch tiefer sanken die beiden in jenem magischen Schacht voller flüssiger Wärme hinab. Jetzt passierten sie die oberen Enden der Säulen, die völlig glatt und geradlinig gebaut waren. Sie wirkten auf Cecil wie gigantische, in diese Landschaft gepflanzte Zuckerstangen. Weiter abwärts ging die magische Reise. Immer dunkler wurde die Sonne. Jetzt erstrahlten die Säulen in einem orangegoldenen Ton. Weiter unten wurden sie glutrot. Das zwischen Patricia und Cecil eingeklemmte Sonnenmedaillon strahlte in derselben Farbe, die die über ihnen stehende Sonne gerade noch zu ihnen schickte. Dann sahen sie den Grund, nur noch wenige Meter unter sich. Immer noch wie in einer brodelnden Wassersäule stehend senkten sich die beiden Suchenden herab. Der Grund schimmerte rotgolden. Cecil sah die Sonne zu einer Scheibe aus dunkelroter Glut werden, während der wolkenlose Wüstenhimmel zu einem blutroten Zelt wurde, das von den Häuptern der Säulen getragen zu werden schien. Dann, der Ruck. Sie standen wieder auf festem Boden. Das Gefühl heißen Wassers um sich und in sich verflog. Cecil fürchtete schon, jetzt tief im Wüstensand eingegraben zu sein und nicht mehr atmen zu können. Doch er bekam luft. Das Säulensechseck schien in einer herllich kühlen, sauerstoffreichen Luftblase eingebettet zu sein. Dann hörten sie beide mit ihren Ohren den Chor der Stimmen aus den Säulen. Für den ohne Magie großgewordenen Amerikaner war es unheimlich und höchsterhaben zugleich:

"Ihr seid nun bei uns. Doch um uns aus unserem dauernden Schlafe zu wecken muß nun jeder von euch alles ablegen, was ihn oder sie mit der Welt dort oben verbindet. Nur der Schlüssel des Himmelsfeurs darf getragen werden. Alles andere legt ab. Pur und rein sollt ihr jene finden, die ihr erwecken sollt, um mit ihrer Hilfe auch uns zu erwecken."

"Moment, wir sollen uns komplett ausziehen?" Fragte Cecil. Patricia sagte nichts. Sie schlüpfte einfach aus allen ihren Sachen, ohne jede Hemmung. Cecil sah, wie sie auch den Zauberstab und den Besen niederlegte. Sie wandte sich Cecil zu. Der sah sie an, wie sie da komplett entkleidet vor ihm stand und kein bißchen verschämt dreinschaute. Sie lächelte ihn an. "Das ist nur fair, daß du mich mal von außen siehst, wo du schon mal meinen Körper wie deinen eigenen gefühlt hast", sagte sie. Cecil nickte und verdrängte die seltsame Stimmung. Einerseits war er jung und gerade im Vollbesitz männlicher Begierden. Andererseits empfand er es als gerade unpassend, sich Patricia als mögliche Sexpartnerin vorzustellen. Er warf die von zwei Elternpaaren anerzogene Scham über Bord und begann, seine Sachen abzustreifen, die Schuhe, die Socken, die dreiviertellange Jeanshose, das T-shirt, das Unterhemd und am Ende auch den Schlüpfer. Auch seine Armbanduhr legte er ab, nachdem er gesehen hatte, daß ihre Anzeige komplett leer war. Er hatte gelernt, daß Magie und Elektronik einander nicht duldeten. Wo viel Magie in einer Raumzone verdichtet war versagte jede Elektronik. Als er auch alle seine nicht angeborenen und in den Körper eingeprägten Dinge abgelegt hatte erklang der Chor aus den Säulen erneut.

"Geweihter des Himmelsfeuers, suche den kleinen Morgen! Trägerin des Schlüssels des Himmelsfeuers, suche du den großen Abend! Dort erfüllet die Bestimmung eures Seins!"

"Morgen heißt Osten", vermutete Patricia. Cecil nickte. Also mußte er der blutrot glosenden Sonne entgegen, die über dem östlichen Säulendreieck hing. Patricia deutete nach Westen und sagte: "Mit Groß oder Klein mag die Anzahl der Säulen gemeint sein. Dann müßte ich zu der Neunerreihe hingehen."

"Und ich durch den ganzen Säulenwald da bis zur einzelnen Säule", sagte Cecil und deutete nach Osten. "Wie war das. Die sind hier nach Jungs und Mädels aufgeteilt wie in der Jugendherberge?"

"So habe ich es gesehen. Womöglich stehen die Säulen mit den Sonnentöchtern im Westen und die mit den Sonnensöhnen im Osten."

"Hmm, was passiert, wenn ich dann nach westen gehe?" Fragte Cecil und ging auf die längste Reihe der westlichen Säulen zu. Doch als er versuchte, zwischen ihnen hindurchzuschlüpfen, prallte er auf eine gummiartige, aber körperwarme Wand, die ihn nicht durchließ, obwohl er nichts sah, was ihn aufhielt. Patricia grinste ihn an. "Wenn wir wirklich jeweils den uns zugeordneten Geschlechtern folgen müssen darfst du da nicht durch."

"Kommst du nach Morgenrichtung durch?" Fragte Cecil. Patricia versuchte es. Doch auch sie prallte gegen eine federnde, aber undurchdringliche Barriere. Selbst wenn sie das Sonnenmedaillon vorstreckte kam sie nicht durch.

"Tja, müssen wir uns eben hier trennen. Du, ich weiß echt nicht, was die jetzt genau von uns wollen, Ben. aber habe keine Angst."

"Und was, wenn die uns beide umbringen oder einsperren, damit einer von denen in unseren Körpern da wieder hochgeht?" Fragte der Junge, der gerade nicht wußte, wer er eigentlich sein sollte und deutete nach oben.

"Wir kommen hier nicht mehr raus, wenn die uns nicht lassen. Bißchen früh für diesen Einwand", erwiderte Patricia. "Die können uns hier verhungern und verdursten lassen. Also müssen wir den Weg komplett zu Ende gehen, egal, wohin er führt."

"Klar, du hast damit keine Probleme. Aber ich wollte eigentlich noch ein bißchen was vom Leben haben und nicht in einer von diesen Säulen da feststecken."

"Wartet jemand auf dich?" Fragte Patricia herausfordernd. Das traf genau dort, wo es dem Jungen weh tat. Nein, niemand wartete mehr auf ihn. Ben Calder war tot beziehungsweise spurlos verschwunden. Cecil Wellington war vor wenigen Tagen mit lautem Getöse über dem Atlantik draufgegangen. Die Nachrichten hatten die Flugzeugkatastrophe rauf- und runteranalysiert. Die Nachrichtengruppen im Internet zum Thema Flugsicherheit, Terrorismus und organisierte Kriminalität überschlugen sich mit Deutungen und Spekulationen über das wie und warum des Privatjetabsturzes. Auf ihn wartete wirklich keiner mehr.

"Auf mich wartet auch niemand, Ben. Ich bin für die Zaubererwelt offiziell tot. Antehlia kommt auch gut ohne mich aus. Wenn das hier etwas ist, was meinem bisherigen Leben einen Sinn gibt, dann will ich das jetzt konsequent zu Ende durchziehen. Und wenn du wirklich schon als Mann durchgehen möchtest, dann mußt du auch konsequent sein. Der Weg führt nach vorne, nicht zurück. Viel Glück!" Patricia beließ es bei dieser Ansprache und wandte sich dem westlichen Säulendreieck zu. Ben alias Cecil konnte nichts anderes tun, als auch ihr Glück zu wünschen. Dann sah er, wie sie zwischen den neun Säulen der längsten westlichen Reihe hindurchging. Womöglich würde sie nun zusehen, irgendwas zu verspüren, auszuprobieren und dann irgendwann den richtigen Auslöser finden. Dasselbe mußte er tun. Und er hatte kein Sonnenmedaillon mit.

Er ging langsam auf die Neunerreihe des östlichen Säulendreiecks zu. Als er die mittlere der neun Säulen berührte, fühlte er nur die Kälte harten Gesteins. Doch es fühlte sich glatt an. Er umlief die Säule nach osten, ohne auf den unsichtbaren Widerstand zu prallen. Ihm kam die Idee, ganz um die Säule herumzulaufen und wieder in die Unterteilungspassage zurückzukehren. Er umlief die mittlere Säule und wollte schon an ihr vorbei, als ihn etwas an Beinen und Körper nach hinten zog, nicht brutal, aber deutlich. Er versuchte es mit einem Spurt, doch das Resultat war, daß er mitten im Lauf abhob und senkrecht nach oben stieg, bis ihn etwas wie ein unsichtbarer Fahrstuhl sanft zu Boden zurückbrachte. Er konnte nicht mehr aus dem Säulendreieck heraus. Er rief nach Patricia. Doch seine Stimme hallte nur aus dem von ihm betretenen Säulendreieck wider. Er versuchte es mit Gedanken. Doch diesmal kam keine Reaktion. Er sah, wie Patricia die einzelnen Säulen der Neunerreihe berührte und mit dem Medaillon bestrich. Doch es tat sich offenbar nichts.

"Auf mich wartet niemand", dachte der Junge. "Wenn ich hier krepiere kräht kein Hahn mehr nach mir. Soll's das gewesen sein?"

Der Junge, der als Ben Calder geboren worden war und aus Anthelias merkwürdiger Gnade heraus fast vier Jahre der Sohn eines spießigen, doch dazu auch verlogenen Politikers gewesen war, war allein, allein zwischen insgesamt fünfundzwanzig fünfundzwanzig Meter hohen, fünf Meter durchmessenden Säulen. Der kleine Morgen. Er mußte den kleinen Morgen finden und seine Bestimmung erfüllen. Er ging davon aus, daß er die einzelne Säule ansteuern mußte, die die östliche Spitze des Dreiecks bildete. Sollte das nicht stimmen war es das eben. Er ging los und passierte die siebener-, die Fünfer- und die Dreierreihe. jetzt stand die einzelne Säule vor ihm. "Das wird also zwischen uns ausgemacht", sagte er der Säule zugewandt. Er ging auf dem glatten, handwarmen Boden auf die Säule zu. Die Schritte seiner nackten Füße waren das einzige Geräusch in dieser Umgebung. Dann stand er vor der Säule. Ja, die war anders. Er fühlte es. Es war, als renne ihm gerade eine Ameisenarmee über den Körper, als flögen gerade hunderttausend Schmetterlinge in seinem Bauch herum und als prickelten hunderte von Brausetabletten unter seinen Füßen. In dieser Säule steckte eine Energie. Vielleicht brachte die ihn um, wenn er die Säule anfaßte. Doch anders konnte er nicht klären, was er hier sollte. Entweder verbrannte er gleich in einem Lichtbogen zu Asche oder erhielt in jeder Hinsicht erleuchtung. Er streckte seine Hände vor und legte die Handflächen an das Material der Säule. Da brach es über ihn herein, und er meinte, endgültig erledigt zu sein.

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Zachary Marchand hatte seinen Muggelweltberuf behalten. Denn für das Laveau-Institut konnte er genausogut beim FBI Feuermelder spielen wie für das Zaubereiministerium. Als er am Morgen des zwölften Augustes in der Stimme des Westwindes und dem Kristallherold gelesen hatte, daß Godiva Cartridge fünf Tage nach dem errechneten Termin ihren zweiten Sohn zur Welt gebracht hatte und dieser Jason heißen würde, war er in das FBI-Büro von New Orleans gefahren, wo ihn sein Magie- und somit ahnungsloser Kollege Wim Proctor schon entgegenkam.

"Die Zentrale in Washington hat Alarmstufe Gelb gegeben, Zach. Womöglich kriegen wir bald wieder eine Vendetta zwischen zwei Mafia-Familien", sagte der vierschrötige FBI-Mann mit der angebräunten Haut und der schwarzen Naturkrause, die auf seinen afrikanischstämmigen Großvater väterlicherseits zurückging. Zach Marchand zuckte die Schultern. Seit Tagen waren das Internet und die alteingesessenen Massenmedien voll von der Story, daß der Enkel einer in den Staaten ansessigen Mafia-Familie bei dem Versuch, den Sohn des wegen Auftragsmordes in Untersuchungshaft genommenen Ex-Senators Wellington zu entführen, in einem Privatflugzeug über dem Atlantik verstorben war. Die Maschine war regelrecht zu Confetti geworden.

"Haben die Kollegen da oben bei den Yankees raus, wer da mit drinhängt?" Fragte Zachary.

"Justin hat mit einem Franzosen palavert, einem Commissaire Tscharlett von der Sjurti in Paris. Die suchen da nach denen, die den Jungen hoppgenommen haben", erwiderte Proctor.

"Schon dreist, einen berühmten Jungen zu kidnappen und das so zu drehen, als sei das ein Filmstunt. Wie kamen die denn auf den Einfall?" Fragte Zach Marchand.

"Habe ich mal in einem Spionageroman gelesen. "Die unsichtbare Flotte" heißt der. Da haben die das auch so abgezogen. Da werden die Gangster in Paris es wohl herhaben", sagte Proctor. Marchand nahm es als nicht so ganz wesentliche Einzelheit zur Kenntnis. Ihm ging gerade durch den Kopf, in welchen Zusammenhängen er schon von Cecil Wellington gehört hatte. Taufrisch war ja gerade der gescheiterte Auftragsmord seines Vaters an dessen Geliebter und ihrem gemeinsamen, unehelichen Sohn. Aber davor war doch noch was gewesen. Richtig, die Entführung des Jungen von diesem Computergroßmogul Linus Price. Price war dabei draufgegangen. Irgendwie schien die Familie Wellington die Gangster anzulocken wie das Licht die Motten und diese dann genauso zu verbrennen. War das noch normal?

"Hmm, wie dem auch sei, wir sollten mal nachfühlen, warum die ehrenwerte Gesellschaft den Jungen entführen wollte und wer Interesse daran hat, Bertolonis Enkelsohn in der Luft zerreißen zu lassen", sagte Marchand seinem Kollegen.

"Läuft schon. Die Zentrale hat alle Büros und die Drähte zu Inter- und Europol angezupft. Falls da wieder was zwischen den Bertolonis und einer anderen Sippschaft hochgekocht ist, könnte es hier oder in Bella Italia bald zu einer Gegenaktion kommen. Hmm, Moment mal, hat Agent Romulus nicht gemeldet, daß seine Tochter mit diesem Cecil gut bis sehr gut befreundet war?"

"Hmm, will ich mir noch mal ansehen. Komme ich denn mit meinem Passwort an die Romulus-Akten dran?"

"Da mußt du den Chef fragen. Ich habe da keinen Durchblick, wer da wo drankommt, seitdem wir diesen Kompetenzenstreit mit der Matrosenpolizei hatten."

"Den ich unblutig beilegen konnte, Wim", erwähnte Zachary Marchand.

"Ja, weil die NCIS-Tante ja mit dir auf der Oberschule war", wußte Wim Proctor. Marchand nickte. Er konnte sich auch noch an diesen Fall erinnern, wo das FBI und die Kriminalermittlungsabteilung der Marine sich drum gestritten hatten, wer dafür zuständig war. Lydia Franklin, seine muggelstämmige Schulkameradin, machte dort das, was er hier im FBI machte, Feuer melden und kleinere Brände unverzüglich austreten. Doch das gehörte hier jetzt nicht hin. Ihn interessierte jetzt alles im Bezug auf die Wellingtons, deren unfreiwillig berühmt gewordenen Sohn und dessen Beziehung zu den unter dem Decknamen Carlotti lange Zeit in Pennsylvania tätigen Agenten mit dem Decknamen Romulus. Deshalb ging er sofort zu seinem Chef, Mr. Wilberforce und fragte an, ob sein Zugriffscode die entsprechenden Dateien abrufen konnte. Er konnte nicht. Doch als Marchand dem Chef eine sehr haarsträubende Theorie vorlegte, wiegte Wilberforce den Kopf.

"Ich muß nach den aktuellen Ereignissen davon ausgehen, daß die Wellingtons überwacht und unterwandert wurden, womöglich um Einfluß auf den Senator und damit auf unsere Staatsführung zu erlangen. Könnte sein, daß man den Jungen Wellington in der McCurton-Klinik durch Drogen und Hypnose beeinflußt hat, um seine Eltern auszuspionieren." Als Marchand das sagte, erschrak er förmlich selbst über diesen Gedanken. Ihm fiel ein, daß Cecil Wellington nach einem schweren Reitunfall lange im Koma gelegen hatte und auf wundersame Weise wiedererwacht war und keine Schäden zurückbehalten hatte. Da hätte er doch schon nach der Sache mit Linus Price hinterhaken sollen. Jetzt war es zu spät dafür.

"Sie meinen, der Junge wurde einer Gehirnwäsche unterzogen, einer Schweinerei, wie die Virginia-Bauernlümmel sie in den Fünfzigern ausprobiert haben?"

"Wo unser erhabener Gründer Hoover und der achso unermüdliche Kommunistenschreck McKarthy einträchtig zusammengearbeitet haben", wußte Marchand die passende Antwort.

"McCurton hat eine geniale neurologische Mannschaft in seiner Klinik. Wenn jemand weiß, wie ein Gehirn funktioniert, dann die. Das müßten wir dann aber gut unter dem Teppich halten, weil in der Klinik noch andere sehr wichtige Patienten gewohnt haben. Bevor wir uns da in einer Paranoia verfangen behalten Sie dieses Ansinnen besser einstweilen für sich, Sonderagent Marchand!"

"Da habe ich kein Problem mit", erwiderte Marchand. Das war nicht einmal geheuchelt. Denn wenn das zutraf, was er gerade überlegt hatte, ging das über die Möglichkeiten des FBI hinaus und betraf ganz andere Behörden.

"gut, Ich lade die Dateien herunter und schicke die Ihnen mit Ihrem Code verschlüsselt in den grauen Briefkasten. Aber denken Sie daran, sie nicht länger als drei Tage dort liegen zu lassen! Die Akte genießt die dritthöchste Geheimhaltungsstufe in der Behörde", sagte Wilberforce. Marchand bedankte sich und ging in sein Büro. Solange er keine Außeneinsätze hatte oder von seinen Zaubererweltarbeitgebern nicht angefordert wurde, konnte er dort mit brisanten Daten jonglieren und nach Sachen suchen, die im Zusammenhang mit Nocturnia oder anderen magischen Organisationen standen.

Eine Viertelstunde später piepte sein Rechner, daß im inoffiziellen Postfach des Sonderagenten, den sein Chef und er als grauen Briefkasten bezeichneten, eine größere Datenmenge in gepackter und passwortgesicherter Form eingetroffen war. Marchand entpackte die Dateien auf einem nicht an das Netzwerk angeschlossenen Kleinrechner und öffnete die Akte über Laura Carlotti. Diese war noch nicht geboren worden, als Sonderagent Brunetti sich darauf eingelassen hatte, den aufstrebenden italoamerikanischen Bauunternehmer zu mimen. Der unter dem Decknamen Romulus laufende verdeckte Ermittler hatte notiert, daß seine Tochter Laura sich immer häufiger und immer intensiver mit dem Sohn des Senators Wellington befaßte. Dabei gebe es warnende Hinweise, daß Reginald Wellington Kontakte zu fragwürdigen, aber rechtlich nicht greifbaren Leuten gepflegt haben sollte. Dann zog sich Marchand noch alles, was über Cecil Wellington im Umlauf war aus dem für alle Sonderagenten zugänglichen Netzwerk. Die dem Chef vorgeflunkerte Theorie mit der heimlichen Gehirnwäsche ließ ihn dabei nicht mehr los. Was wäre, wenn jemand diesen Cecil Wellington tatsächlich heimlich aus dem Krankenhaus entführt und mit besonderen Mitteln darauf programmiert hatte, die Wellingtons auszuspionieren? Als er dann noch las, daß Linus Price und sein Schwager Titus Greywater bei der Entführung Wellingtons ums Leben gekommen waren schlug er sich vor den Kopf. Greywater? Titus Greywater?! Der war doch auch in Thorntails gewesen. Da hatte er tatsächlich eine Verbindung zwischen Cecil und der magischen Welt. Denn dann machte es Sinn, ihn zu entführen, weil jemand aus der Zaubererwelt wissen wollte, ob mit Cecil irgendwer herumgehokuspokust hatte. Das wiederum mußte die, die das gemacht hatten natürlich auf den Plan rufen. Tja, und jetzt wohl wieder, dachte der als FBI-Agent auftretende Spezialist des Laveau-Instituts. Jetzt war die Frage, ob Cecil Wellington dabei wirklich umgekommen war oder noch vor dem Abflug der Maschine herausgeholt wurde und die Betreiber des Düsentaxis mit einer magischen Bombe unter ihren Gangstergesäßen davongeflogen waren? Falls er nicht doch einem Anfall von Paranoia aufgesessen war hatte da jemand die Hand über Cecil gehalten, um ihn als lohnenden Kundschafter in der Muggelwelt zu kultivieren. Ihm fiel in dem Zusammenhang nur eine Gruppe ein, die das Interesse und die Möglichkeiten besaß, um das zu veranstalten: Die schwarze Spinne. Aber jetzt war ihr Informant erledigt, sprich- und wortwörtlich verbrannt, zumindest offiziell tot. Womöglich hatte die Macht, die Cecil kontrolliert hatte die Neugier der Mafiosi dazu genutzt, den zu interessant gewordenen Kundschafter aus der Schußlinie zu nehmen. Der Senator taugte eh nichts mehr, war als auszuspionierendes Zielobjekt wertlos geworden. Merkwürdigerweise mußte er an den mehrere Jahre zurückliegenden Fall Benjamin Calder denken und daß die selige Jane Porter ihn zu gerne gesprochen hätte. War der damals auch ein Kundschafter Anthelias gewesen? War er sozusagen der Probeschuß, um zu sehen, ob so ein Spion tatsächlich was taugte? Dann - und hier mochte es nun wirklich mehr Paranoia als logische Verknüpfung sein, mochte Anthelia nach dem gelungenen Streich mit Cecil Wellington noch weitere Kundschafter in der magielosen Welt unterhalten. Somit konnte Cecil Wellington tatsächlich wertlos geworden und mit dem Mafia-Flieger über dem Atlantik zerbröselt worden sein. Wenn die Spinne genug Alarmfäden ausgespannt hatte, konnte sie einen zu heftig erschütterten Faden problemlos abtrennen, damit man nicht an diesem zu ihr hinfand. Wie vernagelt war er, der doch genau sowas erfassen und bearbeiten sollte, daß er erst jetzt, wohl drei Tage zu spät, darauf kam? Aber daß Anthelias Spinnenschwestern offiziell in der Muggelwelt lebende Menschen als mögliche Kundschafter kultivierten sollte er zumindest seinen wirklichen Arbeitgebern mitteilen.

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Patricia Straton fühlte es in ihrem Kopf rucken, als die Gedankenverbindung zu ihrem Begleiter abriß. Sie umlief gerade die mittlere der neun westlichen Säulen. Sie versuchte, in die Passage zurückzukehren. Doch eine unsichtbare Kraft zog sie sanft zurück, bevor sie über die trennende Linie treten konnte. Ihr wurde klar, daß sie nicht mehr an ihre Kleidung oder an ihren Zauberstab kommen konnte. Es blieb nur, die Säulen zu untersuchen.

Doch als sie die neun Seulen des Westdreiecks alle einmal berührt und mit dem Medaillon überstrichen hatte wußte sie, daß sie hier offenbar nicht weiterkam. Sie hielt sich das Medaillon an die Stirn und dachte: "Sonnenkinder, wo muß ich hin?" Doch diesmal blieben die fünfzig schlafenden Sonnenkinder stumm. Patricia hatte keine andere Wahl, als nun jede einzelne der fünfundzwanzig Säulen abzusuchen, falls ihr keine Idee kam, welche genau sie ansteuern mußte. Großer Abend. Damit konnte doch nur die längste der in Abendrichtung liegenden Säulenreihen gemeint sein. Oder war vielleicht doch die westlichste Neunerreihe gemeint? Ach, das wäre ja dann auch die hier, an der sie gerade entlanggelaufen war. Benny Calder alias Cecil Wellington hatte es da einfacher. Er mußte zunächst nur die östlichste Säule untersuchen, wenngleich er kein Sonnenmedaillon und keine telepathischen Fähigkeiten besaß. Ihre magischen Kräfte waren ohne den Zauberstab fast so beschränkt wie die des jungen Burschen, den sie mit der Kraft des Sonnenmedaillons angefüllt hatte. Sie überlegte. Vielleicht sollte sie die Säulen vom westlichsten Punkt her untersuchen, also wie ihr Begleiter mit der einzelnen Säule anfangen. So ging sie los. Ihre nackten Füße klatschten leise auf den warmen, harten Boden.

Sie passierte die kürzeren Säulenreihen, bis sie genau auf die einzelne Säule zuhielt. Sie versuchte einmal, nach links oder rechts aus dem Dreieck auszubrechen. Doch dieselbe Macht, die sie gehindert hatte, in die Unterteilung zurückzukehren, hielt sie auch davon ab, das Dreieck zu verlassen.

Als sie nur noch einen Schritt von der einzelnen Säule entfernt stand fühlte sie die davon ausstrahlende Kraft. Sie meinte, in Schauern unsichtbarer Entladungen zu baden, von wuselnden Insektenschwärmen umflogen zu werden und wie ein kleiner Kessel von innen her zu brodeln. Ein höchst angenehmes Gefühl war das. Sie führte das Sonnenmedaillon an die Säule heran. Doch es entwand sich ihr und klatschte gegen ihren blanken Brustkorb zurück. Ihr blieb also nichts übrig, als mit bloßen Händen an die Säule zu fassen und zu hoffen, daß sie dabei nicht restlos vernichtet wurde. Sie streckte ihre Hände aus und berührte die Säule. Unvermittelt durchraste sie etwas wie eine Glutlawine und riß sie nach vorne.

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"Guck mal, Selene, da wirst du in Thorntails noch einen Klassenkameraden bekommen", säuselte Theia Hemlock, während sie ihre kleine Tochter in den Armen hielt und las ihr den Artikel über die erfreuliche Geburt des zweiten Sohnes von Minister Cartridge vor. Da sie beide gerade alleine und von außen nicht abzuhören waren trug Selene Hemlock jenes ihr so lieb gewordene Halsband mit dem rosaroten Anhängsel wie ein Blasebalg. So konnte sie, während ihre Gesichtsmuskeln und ihre Zunge damit zu tun hatten, an ihr Frühstück zu kommen ihre Gedanken in hörbare Wörter umwandeln lassen:

"Für den wird es erfreulich sein, wenn er vor der Geburt nicht auch schon wie aus tiefem Schlaf erwacht ist, Mom. Aber dann stimmt das Geschmiere dieser Person Kimmkorn ja nicht. Oder hat man den Cartridges ein Neugeborenes untergeschoben, um die Gerüchte zu dementieren, Mrs. Cartridge sei nicht schwanger gewesen?"

"Ich bin mir sicher, daß die Cartridges wegen Nocturnia ein paar brauchbare Helfer und -innen angestellt haben, um den Minister nicht zu gefährden, indem jemand seine Frau und den Jungen entführt oder gar tötet", erwiderte Theia und las den Artikel weiter, um nicht irgendwas sagen zu müssen, das wie eine heimliche Forderung klang. Denn das hatte sie mit Selene ausgemacht, daß sie während der Stillzeiten nichts sagte, was ihren Argwohn erregen mochte.

"Das hätte eure feinohrige Linda Knowles aber gehört, wenn wer nur so getan hat, daß sie ein Kind erwartet", quäkte der rosarote Anhang von Selenes Halsband. Doch die Antwort fiel ihr prompt ein: "Es sei denn, Linda Knowles wurde rechtzeitig eingeweiht und hat im Namen der Sicherheit des Ministers mitgespielt."

"Durchaus anzunehmen", erwiderte Theia Hemlock und las weiter. "Aha, Frankreich hat also die Weltmeisterschaft gewonnen. Möchtest du den ganzen Artikel hören, Kleines?" Ungewollt beantwortete Selene es mit einem kräftigen Aufstoßen, bevor ihr Cogison quäkte, daß es sie sehr interessiere, wie das Spiel verlaufen sei. außer dem Bericht über das Finale des Spiels stand auch noch ein Artikel über ein weiteres Dorf im Westwind, dessen Bewohner über Nacht zu Vampiren mutiert waren.

"Gibt es immer noch kein Gegenmittel gegen diese Pest?" übertrug das Cogison Selenes wütende Gedanken.

"Sie müssen erst die Wirkungsweise des Agens austüfteln. Oma Eileithyia und die anderen Heiler sitzen schon dran. Es ist sehr schade, daß ich da nicht einfach hingehen kann und meine Zaubertrankkenntnisse verwenden kann", erwiderte Theia darauf. Selene bejahte es. Denn mit Daianiras überragendem Zaubertrankwissen würde dem Vampyrogen wohl bald beizukommen sein, um einen Impfstoff und vielleicht sogar ein Gegenmittel zu entwickeln. Denn künstlich erzeugte Vampire mochten wie die künstlich erzeugten Schlangenmenschen nur solange verwandelt bleiben, solange bestimmte Faktoren bestanden oder nicht eintraten. Da Selene Tourrecandides Zaubertrank- und Fluchabwehrwissen über ihre Geburt als Theias Tochter hinübergerettet hatte pflichtete sie ihrer neuen Mutter bei, daß sie hier eher untätig herumsaßen.

"So untätig sind wir zwei nicht. Immerhin bist du in den drei Wochen, die du an der Luft bist schon um stolze zwei Zentimeter gewachsen und hast einhundert Gramm zugelegt, mein Wonneproppen", lachte Theia. "Und ich sehe zu, wie ich die von dir leider nicht übernommenen Kilogramm auf anderem Weg in dich hineinfüttern kann."

"Ja, und dabei muß ich aufpassen, nicht zu viel zu können außer plärren, nuckeln und einnässen", schnarrte das Cogison.

"Was nicht so einfach ist, zumindest was das Plärren angeht, Honey", erwiderte Theia schmunzelnd. Selene erinnerte sich noch an Eileithyias schon bedrohlich wirkende Ankündigung, Selene für zwei Wochen in der Säuglingsabteilung des Honestus-Powell-Krankenhauses unterzubringen, damit sie korrektes Babyschreien erlernte. Denn es konnte durchaus mal passieren, daß Theia mit ihrer kleinen Tochter zu einer öffentlichen Veranstaltung mußte und Selene dann nicht so Schrie wie ein anderes Neugeborenes. Doch sie in diese Säuglingsabteilung zu verlegen mußte begründet werden. Und bisher hatte die werte Großheilerin Greensporn keinen glaubhaften Grund finden oder erfinden können, um sie lange genug zu natürlich entstandenen und geistig unbelasteten Wickelkindern zu stecken. Aber Selene war klar, daß ihre unerwartete und auch unerwünschte zweite Kindheit später noch Probleme machen würde, wenn sie aus den Windeln herausgewachsen war und zusehen mußte, nicht zu viel sagen zu können.

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Das war die Hölle. Er war endgültig beim Teufel gelandet. Das war nicht auszuhalten! Diese Gedanken tobten durch den gepeinigten Geist des Jungen, der meinte, in einem Strudl aus Feuer gefangen zu sein, glühendheiße Knetstäbe in sich walken zu fühlen und nur noch schreien konnte. Doch sein Schrei hallte nicht wider. Er vibrierte in ihm nach. Er sah Bilder vor sich auftauchen, Anthelia, Silver Bullet, Laura Carlotti, Pandora Straton, Linus Price, Laura Carlotti, die Parteifreunde Reginald Wellingtons, eine in dreißig Stücke zerspringende Erdkugel. Er sah die nackten, sich in Wollust windenden Körper der Frauen, mit denen er bereits geschlafen hatte. Und über dem allen lag dieser unsägliche Schmerz, als würde er in allen Feuern der Hölle zugleich brennen. Oben, unten, links, rechts, vorne hinten, vorher, jetzt, nachher, alles nicht mehr da. Er verging, er verbrannte. Er wurde ausgelöscht. Sein ganzes Sein war ein einziger großer Irrtum gewesen. Er hatte seine Existenz nicht verdient. Jetzt radierte das Schicksal ihn endgültig aus. Blitze, laute, viel zu schnell klingende Wortströme, Bilder, die explodierten, alles wurde zu einem bunten, durcheinanderklingenden Chaos, in dem er dahinschmolz, verbrannte, zerstäubt wurde. Dann fiel die Schwärze über ihn.

Als er wieder zu sich kam wußte der Junge nicht, wo er war. Hatte er geträumt? Diese Anthelia hatte ihn doch gerade mit ihrem Zauberstab in einen tiefen Schlaf versenkt, weil sie warten wollte, bis sie ihn in ein neues Leben zurückschicken konnte. Anthelia, wer war das. Ach ja, die Hexe in rosaroter Kleidung, die von ihren Mitschwestern beschworen worden war. "Verstoßene Schwester, kehre nun wieder! Nimm an diesen Körper, beweg seine Glieder!" Ja, so hatten sie sie ins Leben gerufen. Dann war das mit diesen beiden schwerbewaffneten Gangsterbanden passiert. Er war mit seinen Eltern nach Seattle umgezogen. Da hatte er Krach mit einer brutalen Jugendbande in seiner Schule bekommen und fliehen müssen. Patricia hatte ihn abgefangen, ihn vor ihn jagenden Verbrechern gerettet. Und danach ... Er hatte geschlafen. Er hatte geträumt. Er hatte geträumt, der Sohn eines Senators zu sein, in einem Haus mit Butler und Zimmermädchen zu leben, sich immer wieder mit seinem Vater zu streiten, um dann irgendwann als begehrter junger Student der Schwarm vieler Mädchen zu werden. Hatte er das alles geträumt? Da war dieses Mädchen, Laura Carlotti. Da war die Party zum vierzigsten Geburtstag der Sängerin Madonna. Er wußte gar nicht, daß er die so gerne gehört hatte. Bei dieser Party hatte er es zum ersten Mal mit einer Frau getan, obwohl Anthelia ihn gewarnt hatte, daß sie ihm Unverwüstlichkeit schenkte, die nur so lange hielt, wie er noch kein Kind in die Welt gesetzt hatte. Und jetzt. War er noch bei Anthelia? Vielleicht lag er auch nur im Bett und hatte das alles geträumt, was passiert war, die Beschwörung, die Hexen, den Brand von Dropout, die Flucht aus Seattle und Patricia Straton. Er schlug die Augen auf. Wo war er hier?

Um sich herum sah er eine milchigweiße runde Wand. Sie umgab einen Raum, der gerade vier Meter durchmessen mochte. Er lag auf einer weichen, warmen, schneeweißen Unterlage, als sei er die Titelfigur aus dem Märchen von der Prinzessin auf der Erbse. Dann sah er nach oben. Er lag am Grund eines Schachtes oder einer Säule aus Milchglas. Von oben sickerte blutrotes Licht herein, und er konnte den Rand einer etwas heller glühenden Scheibe erkennen. Dann füllte sich die ganze Decke weit über ihm mit angenehm hellem, weißen Licht aus. Unter dem Licht erkannte er etwas. Er kniff sich in den Arm. Er träumte nicht mehr. Er sah an sich herunter. Ja, er war noch wie vor dieser Begegnung mit dieser Anthelia, nur daß er irgendwie noch mehr Haare auf der Brust bekommen hatte. Dafür waren die lästigen Pickel verschwunden. Offenbar hatte er diese schlimme Phase überstanden. Dann sah er wieder nach oben, sie schwebte immer noch zu ihm herab. Ja, sie. Eine kleine, kugelrunde Frau, vielleicht sogar noch ein Mädchen. Sie besaß eine goldene Haut, rubinrotes Lockenhaar und Augen wie Roséwein, der in seinen Träumen von Cecil Wellington immer wieder mitgespielt hatte. Ihr rundes Gesicht wirkte einerseits Babyhaft. Doch ihre Augen blickten ihn so an, als habe sie hier den totalen Durchblick. Jetzt erst fiel ihm auf, daß sie nichts anhatte. Er auch nicht. Was für ein Film lief denn jetzt ab? Wann spielte das alles hier? Und wo zum Teufel war er hier? Eine Säule? Er lag in einer Säule. Da war doch was. Ja, die fünfzig Säulen mit den Sonnenkindern, fünfundzwanzig Frauen und genausoviele Männer, und er hatte von den Sonnenkindern den Auftrag bekommen, nach dem kleinen Morgen zu suchen. Dann hatte er das alles doch nicht geträumt. Nur hatte er es irgendwie neu einsortiert, und vor allem hatte er sich in sich, Ben Calder, ohne Anthelias gnädiges Geschenk, zurückverwandelt. Dann sah er wieder das kugelrunde Mädchen. Sie schwebte immer noch wie eine Wachskugel in Schmieröl nach unten. Jetzt war sie nur noch zehn Meter über ihm. Er ertappte sich, daß er ihr auf die privatesten Stellen glotzte. Das regte ihn einerseits an. Doch die Unsicherheit, wo er hier war und wie das alles passiert war überwog das merkwürdige Begehren. Stand er auf mollige Mädchen? Die da über ihm beguckte ihn auch, als wolle sie abklopfen, ob er ihr Typ sein würde. Dabei glitt sie noch weiter nach unten. Dann berührten ihre Füße den federweichen Boden. Sie wandte sich ihm zu. Jetzt erkannte er, daß sie gerade mal bis zur Oberkannte seines Brustkorbs reichte. Sie lächelte und zeigte strahlendweiße Zähne. Er hörte ein glockenhelles Lachen. Dann strich sie sich mit einer beiläufig anmutenden Bewegung die roten Locken von ihren Ohren weg. Er erkannte nun einen hauchdünnen Ohrring an ihrem rechten Ohr, an dem eine kleine, goldene Kugel baumelte. Sie öffnete ihren kleinen, roten Mund und sagte etwas mit der glockenreinen Stimme einer Opernsängerin. Er hörte die Wörter. Sie klangen für ihn fremd. Dennoch verstand er sie:

"Du bist der dem Himmelsfeuer geweihte. Ich bin kleiner Morgen. Schön, daß du mich gefunden hast."

"Du bist kleiner Morgen?" Fragte er auf Englisch und wußte in dem Moment, daß sie ihn auch verstehen würde. "Wer ich bin. Ähm, ich war mal Ben Calder. Das bin ich jetzt wohl wieder. Okay, ich bin Ben Calder. Freut mich, dich kennenzulernen."

"Ich freue mich auch, jüngster Sohn, so ist doch die richtige Übersetzung deines Namens, richtig?"

"Irgendwas aus der Bibel. Das ist ein Buch über einen Gott, und wie an den geglaubt werden soll", erwiderte Ben Calder.

"Ihr habt wieder Götter? Womöglich sind das Geschichten von Leuten aus meinemHeimatland", sagte die kleine runde Frau, die vielleicht doch noch ein Mädchen war. Dann sah sie Ben Calder an und sagte:

"Du mußt dich übrigens nicht mehr fürchten. Ich habe zwar gespürt, wie die schützende Kraft meiner Ruhestatt dich von viel dunkler Kraft freispüelen mußte, aber daß du jetzt bei mir bist zeigt dir und mir, daß du der richtige für mich bist."

"Ich dachte, ich hätte eine Säule für Männer suchen sollen und meine Begleiterin ... Oha, ist die auch jetzt irgendwo in einer Säule?"

"Ist sie das, die den Schlüssel des Himmelsfeuers aus dem festen Land in Abendrichtung trägt. Dann ist sie jetzt bei meinem ältesten Bruder, großer Abend. du zählst noch nicht viele Sonnen, weil du mich so verschüchtert ansiehst."

"Wenn du mit Sonnen Jahre meinst weiß ich das gerade nicht. Ich weiß nicht, ob ich siebzehn oder schon neunzehn Jahre alt bin. Das alles ist irgendwie durcheinander."

"Das, was die Kraft meiner Säule von dir ablösen mußte war vielleicht zwei Sonnen länger da oder sah zumindest so aus. Es war nur Trug, von der Kraft vorgespieltes Scheinleben. Das hast du ablegen müssen. Denn in den Säulen dürfen nur die von Licht und den Kräften der vier Urkräfte erfüllte hinein. Die von Finsternis erfüllte oder davon getränkten werden entweder abgewiesen oder davon freigespült, wie du."

"Das war also alles. Ich habe den ganzen Fluch und alles was dranhängt abgebrannt bekommen. Aber wozu das. Was soll ich hier?"

"Was soll ein Mann, wenn er mit einer Frau unverhüllt zusammenkommt? Du bist bei mir, um mit mir meinen ersten Tanz des Lebens zu tanzen." Sie sah Ben an und bewegte sich aufreizend, ja anlockend. Er verstand. Doch richtig wahrhaben wollte er das nicht. Er sollte mit ihr ...?

"Ich soll mit dir den Tanz des Lebens tanzen. Ähm, deinen ersten? Ähm, wieviele Sonnen zählst du denn, auch wenn das jetzt unhöflich ist."

"Fünfundsechzig Sonnen", erwiderte Kleiner Morgen lächelnd. Ben Calder sah sie noch mal an. Zwanzig Jahre ließ er ihr durchgehen. Aber fünfundsechzig. Das stimmte doch nie im Leben. Doch sie erkannte es wohl und bestätigte es noch einmal. Dann sagte sie, daß sie sich auch gewundert habe, weil er für sie so aussah, als zähle er bereits sechzig Sonnen. Sie erklärte dann wohlwollend lächelnd, daß die Kinder ihres Volkes vierhundert Sonnen erreichen konnten. Das nahm Ben als Begründung für ihr junges Aussehen hin. Dann kam er wieder auf das zurück, was er mit ihr tun sollte. Doch sie bestätigte es nur. Dann sagte sie: "Wir sind die Erwecker unseres kleinen Volkes. Mein ältester Bruder und ich haben bisher noch nie den Tanz des neuen Lebens getanzt. Denn wir mußten auf der Hut sein vor den Dienern des Nächtigen Herren, der die Kinder der Nacht, die das Blut der Menschen trinken erschaffen hat. Sie jagten uns, sie fürchteten uns. Die Diener des nächtigen Herren töteten viele von uns. Denn unser Blut tötet die Kinder der Nacht, weil da das Licht der Sonne drinsteckt. um zu sichern, daß wir nicht ausstarben wurden wir fünfzig, meine vier Brüder, meine acht Schwestern und ich, sowie deren bereits erwählte Gefährten in dieser Ruhestatt versteckt, bis Kinder des Tages vor den Kindern der Nacht zurückgedrängt werden. Wer einen der drei von unseren Ureltern ausgelegten Schlüssel fand und deren Kraft wecken konnte, sollte mit einem andersgeschlechtlichen Gefährten zu uns, damit er und sie mit meinem ältesten Bruder und mir den Funken neuen Lebens entfachen und damit alle schlafenden Sonnenkinder aufwecken. Also erfülle bitte deine Pflicht und gib mir deinen Teil des Lebens, damit ich uns daraus ein neues Leben schaffen kann! Ich hörte, es sei erst unangenehm, doch dann das schönste, was zwei Menschen miteinander teilen können. Das möchte ich jetzt mit dir erleben."

"Öhm, du möchtest ein Kind von mir? Wieso von mir? Ich meine, sieh mich mal an!"

"Das tu ich die ganze Zeit, und du siehst mich die ganze Zeit an. Auch wenn ich vielleicht nicht wie die Frau deines Schlaflebens sein mag, so bin ich deine Gefährtin, seitdem du zu mir in diese Säule vorgetreten bist, und du bist mein Gefährte. Und so wie du aussiehst mußt du dich nicht vor dir ängstigen und ich mich deshalb auch nicht vor dir. Also komm schon zu mir, auf daß wir einander geben und nehmen!"

"Ähm, so einfach ist das bei uns von heute nicht. Ich kenne dich doch gar nicht richtig. Wie will ich da wissen, ob du meine Kinder haben möchtest und du kennst mich ja überhaupt nicht. Was ist, wenn wir beide einfach da rausgehen und den anderen sagen, sie können jetzt auch rauskommen?"

"Wir können erst hier raus, wenn wir beide den Funken neuen Lebens entfacht haben. Vorher wird uns der Schutz der Säule nicht freigeben. Und wenn die Dunkelheit über dieses Land fällt, werden wir beide hier in neuem Schlaf erstarren und erst in einer ganzen Sonne wieder aufwachen. Bis dahin werden die sich vermehrenden Nachtkinder, die durch den Raub von Lebenssaft neue Abkömmlinge schaffen zu viele sein. Das willst du doch nicht wirklich." Bei ihrem letzten Satz sah sie ihn sehr aufmunternd an und breitete Arme und Beine aus. Ben dachte daran, daß Patricia womöglich nicht in die andere Säule eingelassen worden war, weil sie eine böse Hexe war. So sagte er:

"Und meine Begleiterin muß mit deinem Bruder, öhm, neues Leben zusammentanzen?"

"Das ist so", sagte Kleiner Morgen.

"Und wenn sie nicht zu ihm hinkommt, weil sie nicht gut genug ist, also von zu viel Dunkelheit erfüllt ist?"

"Dann hättet ihr den Schlüssel nicht benutzen können, um zu uns zu gelangen. Ich hörte in meinem Erwachen, daß er sich freut, daß eine ihn nahm, die der Dunkelheit abkehren wollte statt der, die ihn nur mit der brennenden Kraft des Sonnenfeuers einsetzen wollte. Ihr wäret nicht hier, wenn ihr beiden nicht zu uns vordringen könntet. Außerdem fühle ich, daß mein Bruder sich bereits mit ihr daran macht, seinen Teil zu erfüllen. Noch haben wir genug Zwölfteltage, bis unser väterliches Gestirn sein Feuer in den Schatten seiner Angetrauten bettet. Du willst es doch im Grunde auch, daß wir beide hier hinaus können. So schlimm wird es schon nicht werden, daß du davor mehr angst haben mußt als ich."

"Woher willst du wissen, daß ich weniger Angst davor haben muß?" Fragte Ben Calder. Doch statt einer Antwort trat sie auf ihn zu. Er fühlte ihre Körperwärme, merkte, wie er sich unbewußt zu ihr hinabbeugte. Sie erwartete seine Umarmung, um sie zu erwidern. Er versuchte, sie zu küssen. Das erste mal war es zu zaghaft. Dann gab er sich einen Ruck. Er küßte sie erneut, inniger, länger. Sie fühlte ihn und er hörte ihre Stimme in sich: "Zeig mir das neue Leben, Ben Calder!" Dann sanken sie beide auf die weiche Unterlage, die wie für diese Tat gemacht war.

Ben Calder erinnerte sich an die Liebeserlebnisse mit den Komilitoninnen, auch wie Patricia ihn einmal in ihre Wahrnehmung gezogen und sich selbst befriedigt hatte, um ihm zu zeigen, wie eine Frau die größte Lust fühlen konnte. Doch das hier war wieder anders. Er glaubte, mit ihr zu fliegen, von ihr Kraft zu erfahren und ihr zurückzugeben. Gleichzeitig hatte er Bilder in seinem Kopf, von ihr, ihrer Kindheit in den Straßen einer Stadt, die Yanxotharan hieß, was Stadt des Feuerherren hieß. Sie sah Bilder aus seinem Leben, Donna, Laura und alle anderen. Sie fühlten einander nicht nur mit den Körpern, sondern auch mit ihren Erinnerungen. Beide flossen geistig ineinander und glitten wieder in ihre eigenen Gedankensphären zurück. Dann kam seine höchste Erregung. Doch er hielt durch, bis auch sie ihre erste größte Wonne erfuhr. Er fühlte sich herrlich erschöpft. Aber immer noch wach genug, mehr von ihr zu genießen, sie besser kennenzulernen. Sie ließ ihn, sie nahm ihn, und gab ihn an sich selbst zurück. Dabei erfuhr er noch mehr von ihr, von ihren Eltern, die die ersten Kinder der Sonne waren, die von fünf Mächtigen des Lichtes und fünf mächtigen des Feuers gezeugt worden waren. Jeder der fünf Männer hatte mit jeder der fünf Frauen mindestens einen Sohn und eine Tochter gezeugt. Um sie zu Sonnenkindern werden zu lassen mußten die Ureltern an einem von starken Sonnenzaubern durchfluteten Ort, um sich dort mit der Kraft der Sonne zu vereinen und dabei Kinder mit dem Blut der Sonne zu zeugen. All das lernte Ben Calder, der keine Angst mehr fühlte, während er und Kleiner Morgen trotz des Größenunterschiedes immer besser zusammenfanden, immer mehr zu körperlichen und seelischen Vertrauten wurden. Erst als die weiße Beleuchtung an der Decke in einen Farbton wie eine Morgenröte bei klarem Sommerhimmel wechselte, erkannte Ben, daß er wohl über Stunden hinweg alle zurückgehaltene Lust und alle aufgesparte Kraft in diesen Lebenstanz investiert hatte. Doch was, wenn das nicht reichte. Was war, wenn Patricia sich verweigert hatte oder gerade nicht für neues Leben empfänglich war oder irgendwelche Verhütungsmittel nahm?

"Ich höre gerade meinen ältesten Bruder. Er und die erhabene, so wie ihr Name wohl übersetzt wird, haben ebenfalls den Tanz des neuen Lebens vollzogen. Der Funke ist bei ihr und bei mir entfacht. Wir können hinaus."

"Moment, eben hatte ich keinen Gedankenkontakt mit ihr."

"Weil sie nicht deine Schwester im Blut war. Doch wenn wir diese schützende Säule verlassen, mein Angetrauter, so werden wir uns alle im Geiste verstehen, wenn wir zueinander sprechen wollen. Danke für deinen Mut, dein Wissen und deine Entschlossenheit. Damit werden wir beide das Werk des von Dunkelheit erfüllten, der in seinem selbsterwählten Gefängnis sitzt niederhalten."

"Moment mal, du meinst, wir sind jetzt sowas wie ein Ehepaar, verheiratet?"

"Körperlich und seelisch sind wir zwei einander verbunden. Und wenn unser erstes neues Leben meinem warmen Leib entschlüpft wird es jeder fraglos hinnehmen."

"Was ich mit dir erlebt habe habe ich mit den anderen, die ich schon zu dieser Art Tanz geführt habe noch nicht erlebt."

"Das ist bei uns Sonnenkindern so, wenn sie einander als körperliche und seelische Vertraute finden, jüngster Sohn. Der Name paßt zu dir, denn du wurdest durch die Weihe des Schlüssels und die Lebenszeugung mit mir das jüngste der lebenden Sonnenkinder." Wie zur Bestätigung ihrer Worte erglühte die gesamte bis dahin milchgläserne Säule in jenem goldenroten Schimmer und wurde dann vollkommen durchsichtig. Kleiner Morgen, was in ihrer Muttersprache Gisirdaria hieß, lehnte sich mit ihrem bereits jetzt schon runden Bauch gegen die unsichtbare wand. Diese flimmerte nun. Sie ergriff Bens Hand und führte ihn durch die Wand hindurch, die für den gerade einen langen und anstrengenden Tag überstandenen Jungen wie eine warme Brise war. Dann standen sie beide vor der einzelnen Säule, die nun keine andere Energie mehr abstrahlte. Da sah Ben Patricia Straton, die ihre dunkelbraunen Haare wild zerzaust hatte. Neben ihr schritt ein goldhäutiger Mann mit rubinrotem Haar und roséfarbenen Augen. Ja, das war tatsächlich ein Bruder von Kleiner Morgen. Beide sahen genauso abgekämpft und verstruwelt aus wie er und Gisirdaria. Dann Sahen sie, wie ein blauer Schimmer zwischen den Säulendreiecken aufglomm. Beide Paare gingen darauf zu. Kleinr Morgen hielt die Hand ihres nun angetrauten, der ohne Glocken, Brautkleid und Zylinder geheiratet hatte. Selbes galt dann ja auch für Patricia, die etwas befremdet dreinschaute, aber in ihren dunkelgrünen Augen mit dem leichten Graustich auch eine gewisse Entschlossenheit aufblitzen ließ. Dann durchschritten beide Paarre die Barrieren zu der Passage. Die Erde bebte. Ben hörte unvermittelt Patricias Gedanken wider und auch die ihres neuen Gefährten, Gooaridarian. Er dachte: "Hilfe, nicht so viele auf einmal." Alle vier lachten. Wieder bebte die Erde. Dann erglühten alle anderen Säulen in sonnenuntergangsroten Licht und lösten sich auf. vierundzwanzig Männer und ebensoviele Frauen kletterten von weißen Podesten herunter. Ben mußte einen Moment daran denken, daß er es bei einigen von den Frauen besser getroffen hätte. "Aber nur vom Sehen, Gefährte", lachte Gisirdarias Gedankenstimme in seinem Schädel. Er errötete, was ein kollektives Lachen hervorrief. Er hörte nun alle Stimmen aus dem Chor mit den Ohren und mit dem Geist. Sie merkten, daß er mit dieser Art zu hören noch nicht vertraut genug war und schafften es, ihre Geistesstimmen leiser klingen zu lassen. "Wir beide haben ein ganzes, langes Leben Zeit, dir alles beizubringen, was wir Sonnenkinder können", sagte Gisirdaria. Dann begrüßte sie durch reinen Blickkontakt und Denken ihre neue Schwägerin, Patricia Straton. Diese strahlte Ben an und dachte: "Du hattest sicher den leichteren Teil dabei. Wußte auch nicht, daß es darauf hinausläuft. Ob mir das gefällt, bald so rumzulaufen wie Goddy Cartridge oder Daianiras angebliche Tochter. Aber womöglich ist das der Preis, den wir für die Hilfe von den Sonnenkindern zahlen müssen."

"Vielleicht bist du ja auch darum herumgekommen", dachte Ben wie selbstverständlich.

"Sonst wäre ich nicht mit ihm aus der Säule freigekommen. Weißt du eigentlich, wie alt er ist?" Ben sah Gooaridarian an und gab die Antwort: "Hundertzwanzig Jare, fünfundfünfzig Jahre älter als meine neue Gefährtin." Patricia sah Ben noch einmal an und nickte dann. "Jetzt bist du komplett von Anthelias Gaben gereinigt."

"Liebe Brüder, Schwestern, Schwesterngefährten und Brudergefährtinnen, unser Schlaf wurde beendet. Unser Sinn erfüllt sich. Wir werden nun hinausgehen in die neue Welt, in der zwei Völker leben, die mit der Kraft und die ohne die Kraft. Die Gefahr heißt Nocturnia. Doch auch der im finsteren lauernde Nächtige ist noch nicht verschwunden. Er wartet auf einen neuen Knecht, um sein finsteres Treiben fortzuführen. Unser Sinn ist unser Mehren. Unser Mehren unsere Bestimmung. Doch werden wir uns denen entgegenstellen müssen, die dieses Reich der Nachtkinder gründen und vergrößern wollen. So kleidet euch in Hüllen und Verständigung!" Sprach Gooaridarian.

Darauf hoben sich die Podeste, von denen die anderen Sonnenkinder herabgestigen waren und wurden zu runden Schränken. Aus diesen zogen die achtundvierzig merkwürdige blaue und goldene Kleidungsstücke, die fast wie Strampelanzüge für Babys wirkten. Ben hatte inzwischen seine abgelegten Kleidungsstücke und die gerade nicht funktionierende Digitaluhr gefunden. Schnell schlüpfte er in seine Sachen, begleitet vom leisen Gedankenkichern der anderen Frauen, von denen er nicht wußte, ob sie jünger oder noch älter als Gisirdaria waren. Patricia zog sich ebenfalls wieder ihre Sachen an. Dann griff sie zu ihrem Zauberstab. In der Zeit schlüpften die anderen Sonnenkinder in ihre merkwürdigen Strampelanzüge. Doch als alle bekleidet waren flimmerten die einteiligen Anzüge und veränderten sich. Auf einmal standen alle Frauen in jenen Sachen da, die Patricia trug, nur unterschiedlich gefärbt. Alle Männer oder Jungen trugen Jeans und T-Shirts, wobei die Jeans in allen Blauschattierungen, Weiß und Dunkelgrau erschienen. Dann griffen sie alle in die Schränke und holten kristallenerne Pyramiden hervor und steckten sich jeweils noch kleine, hauchdünne Ohrringe mit goldenen Kügelchen an die rechten Ohren. Wozu war denn das jetzt gut? Fragte Ben und erhielt sofort eine Antwort: "Allversteher. Sie machen uns verstehen, was unsere Ohren von Mündern anderer hören, solange es Sprachen sind, die über reine Revierlaute oder Lebenszeugungsrufe hinausgehen." Die gläsernen Pyramiden waren die Vorläufer der Zauberstäbe. Diese brauchten die Sonnenkinder zum beschreiten des Kurzen weges, wie sie die Teleportation oder das Apparieren nannten. Ben Calder mußte diese Flut neuer Erkenntnisse und Eindrücke erst einmal verdauen. So nahm er nur wie in einem Traum wahr, wie sich alle anderen verständigten, in jedem festen Land der Welt mindestens ein vertrautes Paar anzusiedeln. Da die Menschen heute alle anders aussahen als zur alten Zeit würden sie sich mit künstlicher Farbe die Gesichter bemalen müssen, um unter den Menschen der Gegenwart nicht aufzufallen. Als das alles besprochen war, bildeten sie einen großen kreis in der Passage. Dann sangen alle Sonnenkinder eine magische Formel, die bunte Blitze erzeugte, die mit dem schwachen Licht der nun weit westlich stehenden Sonne zusammenflossen. Ben fühlte, wie sie alle auf einer art unsichtbarer Plattform hinaufglitten, an den Säulen entlang, weiter nach oben. Die Sonne wurde immer heller. Dann durchstießen sie die unsichtbare Grenze zwischen dem Sand und der frischen Luft und standen auf einmal auf sandigem Boden. Patricia gab Ben seinen gleichwarmen Umhang. Doch Gisirdaria, die nun in einem smaragdgrünen Rock und einer goldenen Bluse dastand sagte, daß Ben den für die Nacht nicht brauche. Er sei nun wie Patricia ein Kind der Sonne und daher am Tag vor ihrer tödlichen Hitze sicher und nachts von innerer Wärme voll genug, um die größte Kälte zu verdrängen. Dann fand noch einmal eine telepathische Abstimmung statt, die innerhalb weniger Sekunden klärte, wer sich wo niederlassen sollte. Ben meinte, im inneren eines riesigen Computers zu stecken, so rasch flogen ihm Daten und Abstimmungen zu. Er dachte an das Kollektiv der Borg, die im Schwarmbewußtsein lebten. Doch hier war jeder eigenständig und mußte sich nur dem allgemeinen Gedankenfluß öffnen, wenn er Dinge erlernen oder erlerntes rasch weitergeben wollte. Dann verschwanden die anderen Paare alle, nach Afrika, Europa, Asien, wo sie vielleicht nicht so heftig auffallen mochten, Australien, Nord- und Südamerika, sowie dem antarktischen Kontinent. Zunächst galt es, sich den neuen Menschen vom Aussehen her anzupassen. Erst wenn das erledigt war und die vielen neuen Sprachen verstanden und erlernt werden würden, konnte der vor Jahrtausenden vorbereitete Gegenstoß gegen die Vampirpest geschehen. Ben ertappte sich, wie er mit seiner neuen Angetrauten und Patricia zu einer geistigen Einheit wurde. So erfuhr er nicht nur alle von Patricia erlernten Zaubersprüche, die er wohl selbst nicht anwenden konnte, sondern auch alles über Nocturnia, Lady Nyx und den Mitternachtsdiamanten, was sie ihm bisher noch nicht erzählt hatte. Ben überlegte, wie er von heute an heißen sollte. Denn mit einem der alten Namen konnte er nicht weiterleben. Die telepathische Verbindung erlaubte ihm, innerhalb von Sekunden zu klären, wo er mit Worten wohl eine Minute gebraucht hätte. Irgendwie war es danach klar, daß Ben Calder demnächst als Brandon Rivers weiterleben würde, während Gisirdaria außerhalb der sicheren Zuflucht als seine Frau Dawn Rivers auftreten würde. Gooaridarian würde Hesperos heißen, das altgriechische Wort für Abend zusammen mit Patricia, die ihren Namen behalten mußte, weil der Fidelius-Zauber sonst nicht vorhalten würde. Sie vier würden die nordamerikanische Basisgemeinschaft bilden und dort leben, wo Patricia bisher gelebt hatte. So formierten sie einen Kreis aus vier Personen. Ben, der ab heute Brandon hieß, fühlte das herrliche zusammenstauchen zwischen Ausgangs- und Zielort. Dann standen sie alle in der Halle, wo Virginia Hencocks Praxis lag. Gisirdaria, die nun den Neuweltnamen Dawn Rivers tragen wollte, schnappte von ihrer Schwägerin auf, daß sie wohl auch hier ihre ersten Kinder bekommen konnten, da Virginia, die selbst durch eine an und für sich dunkle Kraft vom Mann zur Frau geworden war, die Körperkunde der Frauen erlernt hatte und werdenden Müttern helfen konnte. Brandon Rivers - so schnell konnte er sich mit diesem Namen anfreunden - bezog mit seiner neuen Angetrauten ein Zimmer in der Nähe von dem von Patricia und seinem Schwager Gooaridarian alias Hesperos. Patricia würde es übernehmen, ihre Vermieterin über die drei Neuzugänge zu informieren. Er fing von ihr noch den Gedanken auf, daß Anthelia das sicher nicht besonders spaßig finden mochte, aber nichts mehr dagegen tun könne, da sie auf ein mit Vampirkräften versetztes Medaillon geschworen habe, dessen Kraft nun in ihr feststeckte und sie dadurch vor Sonnenmagie auf der Hut sein mußte.

"Und du denkst echt, du wirst bald mein eerstes Kind kriegen?" gedankenfragte Brandon die kleine, kugelrunde Frau, die vom erlebten Alter her seine Großmutter sein konnte.

"Das habe ich dir doch gesagt, daß wir sonst nicht aus meiner Säule freigekommen wären, Brandon. Am besten geben wir uns nun der Erholung des Schlafes hin, bevor wir beide in eine neue Welt aufbrechen, in der du und ich voneinander lernen werden."

"Schlafgut, Lollypop", dachte Brandon bevor ihm klar wurde, daß er Dawn Rivers damit vielleicht kränkte.

"Was rundes, süßes, erfreuendes. Werde ich morgen probieren, ob es mir auch so schmeckt wie es dir und Patricia schmeckt", erhielt er zur Antwort. Dann machte sie ihm gegenüber zu. Das mußte er auf jeden Fall noch lernen, wie das ging, um nicht in einer Tour von Gedanken durchflogen zu werden. Mit diesem Vorsatz schlief er dem neuen Tag, dem ersten Tag seines dritten Lebens entgegen.

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Anthelia suchte in den kommenden Tagen weiter nach Hinweisen auf Lamia und ihre Basis Winternacht. Vor allem wollte sie wissen, wer sie war. Denn ihr war klar, daß sie ja schon vor Nyxes Vernichtung existiert haben mußte und nun eben das Erbe übernommen hatte. Weitere Vampirsiedlungen wurden entdeckt. Die Vergissmichs und Kampftruppen der Zaubereiministerien kamen aus den Einsetzen nicht mehr heraus. Nocturnia drohte durch eine immer größere Zahl von Neubürgern kampflos die Welt zu erobern.

Sie wollte darangehen, eine Art Gegengift zu Nocturnias Vampyrogen zu entwickeln, als sie eine Posteule von Patricia Straton bekam.

Höchste Schwester,

Ich möchte dir mitteilen, daß ich wohl bis auf weiteres nicht mehr von dir in irgendwelche Einsätze geschickt werden kann. Denn mir ist etwas widerfahren, daß ich selbst für gänzlich unmöglich gehalten hätte.

Du erinnerst dich ja sehr gut an das Sonnenmedaillon, daß ich Daianira abgenommen habe. Es hat sich bewahrheitet, daß auch ihm eine lebendige Kraft, eine Art Seele innewohnt wie deinem Seelenmedaillon. Denn es hat mich durch Träume und Visionen dazu getrieben, nach dem Versteck der Sonnenkinder zu suchen. Du liest richtig. Die Sonnenkinder, welche in den Legenden der Vampire erwähnt werden, die ihre natürlichen Todfeinde sind. Ich wollte es nicht wahrhaben, habe versucht, die mir zugetragenen Träume und Visionen zu verdrängen. Doch sie wurden immer intensiver. Ich wurde aufgefordert, mit dem, der von der Kraft des Medaillons durchdrungen wurde, dort hinzureisen, wo die Sonnenkinder schlafen. Damit konnte nur Cecil gemeint sein. Ich suchte ihn also auf und folgte den in den Visionen erteilten Anweisungen. Dabei fanden wir tatsächlich fünfzig schlafende Menschenwesen, die sich als die Kinder der Sonne bezeichneten und konnten sie wecken. Allerdings geschah dies zu dem Preis, daß wir, also Cecil und ich, nun selbst mit diesen Sonnenkindern verbunden sind und ihnen helfen sollen, eine den normalen Menschen freundlich gesinnte Gegenbewegung zu den sich ausbreitenden Vampiren zu bilden. Cecil Wellington verlor dabei übrigens die von dir aufgeprägte Identität. Das ist auch nicht so schlimm, denn wie du sicher den Nachrichten entnehmen wirst haben Verbrecher aus den Staaten versucht, ihn zu entführen. Ich konnte diesen Umstand ausnutzen und ihn offiziell sterben lassen. Da sein von dir zugeteilter Vater endgültig in Ungnade gefallen ist wäre Cecil für uns eh nur noch als Muggelweltkenner von Bedeutung. Als solcher kann und wird er nun für uns Sonnenkinder unter neuem Namen weiterarbeiten. Denn er wurde durch den Aufweckvorgang selbst zu einem Sohn der Sonne und wohnt nun mit mir zusammen. Meine Vermieterin ist übrigens damit einverstanden, daß er, die von ihm erweckte und der von mir erweckte in ihrem Haus wohnen.

Da wir beide wissen, daß du die Nähe des Sonnenmedaillons nicht länger als nötig ertragen kannst, schlage ich vor, daß wir fortan auf dem Eulenpostweg oder dem Mentiloquismus in Verbindung bleiben und uns nicht mehr direkt treffen. Ich werde nicht gegen dich arbeiten, solange du nicht wieder solche Ungetüme wie Valery Saunders auf die Menschheit losläßt. Doch da nun in mir noch stärkere Kräfte des Sonnenmedaillons wirken und ich eine hohe Verpflichtung für die Sonnenkinder eingehen mußte, um sie zu erwecken, kann ich dir bei heiklen Missionen nicht mehr zur Seite stehen. Aus Respekt vor meiner verstorbenen Mutter, die wollte, daß du die magische und nichtmagische Menschheit zu einer besseren Ordnung bringst, bedanke ich mich bei dir für alles, was ich bei und von dir lernen durfte.

Auch wenn du nun finden könntest, wir seien keine Schwestern mehr, so hoffe ich doch, daß wir zumindest keine Feindinnen werden.

In Hochachtung und Anerkennung

Patricia Straton

Anthelia las den Brief noch einmal. Die Geschichte von den Sonnenkindern brachte bei ihr ein paar Saiten zum klingen. Hatte es nicht geheißen, daß die Licht- und Feuermeister hochbegabte und gut ausgebildete aus ihren Reihen erwählten, um eine Menschenrasse zu begründen, die die magischen Kräfte des großen Vaters Himmelsfeuers in ihrem Blut tragen Konnten? Sie mußte es wissen. Sie mußte es sehen und fühlen.

Sie apparierte knapp einen halben Kilometer entfernt von jenem Haus, in dem die Frauenärztin Virginia Hencock, die ihr Leben Anthelias Wunsch nach einer Muggelweltkundschafterin verdankte, ihre Praxis und Wohnung hatte. Als sie gänzlich aus dem Transit zwischen Ausgangs- und Zielort herauskam fühlte sie ein Sengen, als wollten hunderttausend Funken pro Sekunde ihre Haut in Brand stecken. Es erinnerte sie an die tödliche Strahlung Volakins. Doch das hier war anders. Es flog nicht durch die Luft, sondern stach von einem bestimmten Ort auf sie ein. Sie konnte das Haus sehen. Doch ihre Augen schmerzten, als blicke sie in die Sonne selbst hinein. Sie ging einen Schritt. Doch die Empfindung wurde schlagartig stärker. Sie ging noch einen Schritt und meinte, lichterloh zu brennen. Sie schrie auf und stolperte zurück. Sie mußte mehr als einen Kilometer vom Haus entfernt sein, bevor die peinigende Kraft nicht mehr zu spüren war. Sie apparierte des Nachts in einem Spezialgeschäft für Schutzausrüstung und stahl einen Geiger-Müller-Zähler. Mit diesem kehrte sie in die Straße zurück, in der Virginia Hencock praktizierte. Sofort fühlte sie dieses Sengen auf der Haut, als bliese ein Drache sein Feuer schwach gegen ihren Körper. Das Strahlenmeßgerät schlug jedoch nicht aus. Auch als sie sich dem sie zu verzehren drohenden unsichtbaren Feuer entgegenstemmte und noch vier Schritte ging, blieb das kleine Meßgerät ruhig. Es tickte ab und an, weil immer irgendwo ein Energieteilchen auf den Meßfühler traf. Doch die für Menschen und Zauberwesen so verheerende Strahlung wirkte hier nicht. Sie tat noch einen Schritt und meinte wieder, in hellen Flammen zu stehen. Sie hatte sich vorsorglich mit dem Silencius-Zauber belegt, um stumm schreien zu können. Sie fiel hin und wand sich. Sie meinte, der Boden glühe. Doch als sie von der Quelle ihrer Pein entfernt robbte ließ das Inferno nach, dem nur sie ausgesetzt war. Weil der Strahlenmesser immer noch nichts überhöhtes angemessen hatte mußte diese Kraft rein magisch sein und nur auf sie wirken, weil sie einen Teil von Dairons Seelenmedaillon in sich trug, dessen Substanz zwar vernichtet war, dessen Macht jedoch zu einem kleinen Teil in ihrem Körper steckte. Jetzt wußte sie, daß sie sich Patricia Straton und Cecil Wellington nicht mehr nähern konnte, ja fliehen mußte, wenn diese in ihre Nähe gerieten. Das war ein höchst anwiderndes Gefühl. Doch andererseits konnte sie nun nichts mehr dagegen tun. Im Grunde konnte sie sogar noch dankbar sein, daß Patricia das Medaillon an sich genommen hatte. Denn wenn es bei Daianira geblieben wäre, dann wäre sie, Anthelia, womöglich schon längst erloschen und unwiderbringlich vergangen.

Zurück in der Daggers-villa schrieb Anthelia ihrer talentierten, wohl nun ehemaligen Assistentin zurück, daß sie ihren Brief erhalten habe und wisse, daß sie beide sich nicht mehr einander annähern konnten. Was die Kreaturen anging, so würde Anthelia nur auf das zurückgreifen, was schon existierte. Damit hatte sie nicht gelogen, aber auch nicht behauptet, keine Entomanthropen mehr zu verwenden. Sie mußte eben nur einen neuen Entomolithen herstellen. Das wollte sie bald tun, alleine schon um die Vampire neuer Siedlungen bekämpfen zu können.

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Gérard Dumas erschrak, als er nach der wilden Party zum Sieg der französischen Quidditchnationalmannschaft neben einer Frau erwachte. Wie war er in dieses Bett gekommen? Nach dem Schrecken folgte jedoch die Erleichterung. Es war das große, von einem purpurroten Baldachin mit goldenen Herzen überspannte Himmelbett mit zwei Matratzen, das in der Hochzeitssuite des Hotels Plage de la Félicité lag. Auch das Haar der Frau und das scharlachrote Seidennachthemd kannte er. Da neben ihm lag seine seit dem ersten August angetraute Frau Sandrine, wohl noch selig schlummernd. Also war er im Rausch dieses bunten Inselgebräus nicht zu einer anderen Frau ins Bett gestiegen. Dann durfte er sich ohne schlechtes Gewissen an die wilden Stunden erinnern, die er mit ihr verbracht hatte. Nicht daß es die erste gemeinsame Liebesnacht gewesen wäre. Die hatte Sandrine ihm bereits wie es sich gehörte in der Hochzeitsnacht geboten oder besser, von ihm eingefordert. Sogesehen hatten sie es alle zwei Nächte richtig miteinander getrieben, wie eben blutjunge und frisch angetraute Eheleute. Aber nach dem rauschenden Fest zu Ehren der französischen Quidditchmannschaft, wo Janine Dupont nach einem packenden Spiel den Schnatz gefangen hatte, hatten die beiden Flitterwöchner noch einmal sehr gründlich ihre ehelichen Pflichten erfüllt. Hoffentlich nicht zu gründlich! Er dachte daran, daß Sandrine einige Flaschen mit der blauen Kontrazeptionslösung erhalten hatte, weil sie beide im nächsten Jahr noch die UTZs schaffen mußten und nicht wie ihrer beider Klassenkameraden Julius und Millie schon auf das erste Kind hofften.

Sandrine schlief wohl immer noch. War dieser Cocktail wirklich so heftig gewesen? Gérard fühlte keine Kopfschmerzen, wie er sie nach einer rauschenden Party mit Met verspürt hatte. Er streckte behutsam seine Hand nach ihrer gerade oben liegenden Wange aus und berührte sie vorsichtig. Ein leises, schläfriges Grummeln war die Reaktion. Sandrine maulte unverständliches und gähnte dann. Dann streckte sie sich, wobei ihre Füße Gérards Bein zur Seite drückten. Er hatte nicht gewußt, was für ein starkes Mädchen er da geheiratet hatte. Dann wachte Sandrine richtig auf.

"O Mann, hättest mich doch noch weiterschlafen lassen können, Süßer", sagte sie, nachdem sie sich vergewissert hatte, neben ihrem Mann aufgewacht zu sein. "Hui, so wild wir zwei das in der letzten Nacht miteinander getan haben ... hat dieses Tropengetränk wohl doch alle roten Eigenschaften aus mir herausgekitzelt, wie?"

"Ich habe schon Angst gehabt, ich wäre neben der lebenserfahrenen Mademoiselle Lerouge aufgewacht und hätte mich dann heimlich absetzen müssen", erwiderte Gérard.

"Kann ich mir denken, daß die alte Mulattin dich auch ganz gerne näher kennengelernt hätte", grummelte Sandrine. "Aber offenbar wußtest du doch noch, wo du dich hinlegen darfst."

"Zumindest das. Sollte wohl keine bunten Tropencocktails mehr einwerfen", erwiderte Gérard.

"Solange du davon noch ausdauernder wirst, Gégé", grinste Sandrine und fischte mit ihrem freien, fast nacktem Arm nach dem Oberkörper ihres Mannes.

"Sag nicht, du möchtest noch eine Runde", erschrak Gérard.

"Nicht wo es draußen schon heller Tag ist, Gégé", erwiderte Sandrine. Da bin ich dann doch die Tochter meiner Mutter. Die Liebe gehört dem Mond und nicht der Sonne."

"Sag das mal der Lerouge, die hätte mich doch fast durch die Klamotten genommen, wenn ich nicht rechtzeitig drauf gekommen wäre, daß wir uns nicht den Mont Pelé ansehen wollten. Aber jetzt sollten wir mal zusehen, aus dem wunderbaren Bett rauszukommen. Wie spät ist es denn eigentlich?" Sandrine wollte nach ihrer auf dem Nachtschränkchen liegenden Armbanduhr oder dem nur zur Dekoration mitgebrachten Wecker langen, als eine aus dem Nichts kommende Männerstimme im kühlen Tonfall "Elf Uhr dreiundzwanzig" sagte. Das gehörte zu den Komfortzaubern der Suite, die Sandrines und Gérards Eltern ihnen für die Flitterwochen spendiert hatten.

"Was, so spät schon?!" Erschrak Gérard. Er konnte sich vage erinnern, daß er um Mitternacht das letzte Mal auf die Uhr gesehen hatte. Das Verhütungselixier mußte bestenfalls direkt nach dem Beischlaf, spätestens zehn Stunden danach verwendet werden. Sandrine erkannte es auch und grabschte schnell an die Schublade ihres Nachtschränkchens, um das kleine Fläschchen herauszuholen. "Hilfst du mir mal, das blaue Zeug dahinzukriegen, wo ich es brauche?" Fragte sie Gérard nicht ohne gewisse Besorgnis. Er nickte und tastete behutsam an ihre Scham, um beim einfüllen der Verhütungslösung nichts danebengehen zu lassen. Sandrine kippte fast den halben Inhalt in ihren Körper hinein, um sicherzustellen, daß die Lösung ihre inneren Geschlechtsorgane auch gründlich genug tränkte. Dann blieb sie wie vorgeschrieben zehn Minuten und darüber noch mal zehn Minuten liegen, um das gebräu einwirken zu lassen, bevor sie Aufstand und den nicht von ihrem Geschlecht aufgenommenen Rest auszuspülen. Gérard dachte daran, daß er eigentlich auch diese elastischen Überzieher hätte mitnehmen können. Aber Sandrine hatte darauf bestanden, ihn unverfälscht spüren zu wollen und daß die Verhütungslösung schon gut genug sei. Gérard nutzte Sandrines Abwesenheit, um den Wetterbericht abzufragen. Das ging nämlich auch mit dem Komfortzauber:

"Wetterbericht für heute, den dreizehnten August neunzehnhundertneunundneunzig: Wolkenloser Himmel über ganz Martinique, Lufttemperatur Minimal zwanzig, maximal achtunddreißig Grad Celsius, Wind aus Südwest mit Stärke zwei. Meerestemperatur Maximal fünfundzwanzig Grad Celsius bei leichter Dünung!" Ratterte die vollkommen gefühlsfreie Zauberstimme herunter. Gérard griff sich an die Ohren. Das tat er meistens, wenn er meinte, sich verhört zu haben. Dann fragte er schnell: "Welchen Tag haben wir heute?"

"Dreizehnter August neunzehnhundertneunundneunzig", antwortete der Komfortzauber.

"Das kann nicht sein, wir haben am elften August gefeiert. Wir können doch nicht einen kompletten Tag verpennt haben", entfuhr es Gérard, der gerade daran dachte, daß Sandrine womöglich weit über die Zeit an die Empfängnisverhütung gedacht hatte. Dann erinnerte er sich, daß er ja fragen konnte, wann sie ins Zimmer zurückgekehrt waren. "Wann sind wir in das Zimmer gekommen?"

"Ein Uhr siebenunddreißig am zwölften August neunzehnhundertneunundneunzig", kam die nüchterne, ja schon amtlich klingende Antwort zurück.

"Sasan, die Luxusansage behauptet, wir hätten über einen Tag durchgepennt!" Rief Gérard in Richtung Badezimmer.

"Hab's gehört, Gégé", knurrte Sandrine und öffnete von innen die Tür. "Die Ansagen sind ja in allen Räumen zu hören. Aber das kann nicht sein, daß wir echt mehr als einen Tag im Bett gelegen haben. Dann war das mit dem blauen Sorgloselixier ja viel zu spät, wenn das stimmt."

"Kommt drauf an, wie du ... ähm, ob du ... ähm, na ja, ob das gerade bei dir so dringend nötig war, den zu nehmen", druckste Gérard herum. Sandrine betrat bis auf eine rote Seidenunterhose nackt das gemeinsame Schlafzimmer und baute sich vor Gérard auf: "Zwischen dem elften und vierzehnten müssen wir gut aufpassen, falls ich Millie nicht Konkurrenz machen möchte, sofern die echt schon wen neues bei sich aufgenommen hat", sagte Sandrine mit einer gewissen Verdrossenheit. Doch dann mußte sie lächeln. "Erst mal klären, ob heute wirklich der dreizehnte ist. Nachher geht deren Uhr einen Tag vor oder jemand will uns Flitterwöchner verladen, nachdem rumging, daß wir alle dieses bunte Zeug getrunken haben."

"Das kläre ich sofort", grummelte Gérard und griff in seinen Nachtschrank, wo er ein Notizbuch mit eingewirktem Kalenderansagezauber aufbewahrte, um seine nichtintimen Reiseerlebnisse korrekt festzuhalten. Er zog das lindgrüne Buch hervor und hielt es vor seinen Mund: "Was haben wir heute für einen Tag?" Fragte er im Flüsterton, um die Komfortzauberstimme der Suite nicht auszulösen.

"Heute ist der dreizehnte August im Jahr neunundneunzig!" trällerte eine Frauenstimme, die fast schon sang.

"Dann haben wir dich zu spät durchgespült, Sasan", seufzte Gérard.

"Du meinst, deine kleinen Lebensboten zu spät abgefangen, Gégé. Sollten die wirklich einen Brief vom Regenbogenvogel bei mir abgeliefert haben, bringe ich dir besser schon in diesem Jahr die Säuglingssachen bei, die ich von Hera Matine gelernt habe", erwiderte Sandrine mit einer Mischung aus Unbehagen in der Stimme aber einer gewissen Verwegenheit in ihren Gesichtszügen.

"Vielleicht sind die Kleinen auch vor dem Ziel verhungert, weil das bunte Zeug die gleich mit ausgelaugt hat", hoffte Gérard.

"Soll das heißen, du hast Angst vor deinem eigenen Kind, Gégé?" Fragte Sandrine nun unpassend erheitert klingend.

"Wir waren uns beide einig, daß wir erst die UTZe durchkriegen wollen, bevor wir uns ein Baby zulegen. Wenn das jetzt schon angelaufen sein sollte kannst du die Verwandlungs-UTZe schon mal nicht machen."

"Erst mal warten, ob da wirklich was passiert ist, was unser nächstes Jahr komplett umplant, Gégé. Wäre dann nur ein Problem mit der Goldbrosche von dir und mir, weil wir dann ein Ehepartnerzimmer bekämen."

"Daran hätten wir denken sollen", knurrte Gérard. Sandrine kniff ihm dafür in die Nase.

"Süßer, wir haben daran gedacht. Wir konnten ja nicht wissen, was die in ihre bunten Getränke reintun, daß man danach einen vollen Tag schlafen muß."

"Ich frage mich gerade, ob wir uns beschweren und Schadensersatz verlangen können", grummelte Gérard.

"Daß ein ordentlich verheiratetes Paar im Urlaub ein Kind gezeugt hat, Gégé? Das wäre der Witz des Jahrhunderts auf Martinique. Wie gesagt, wir warten das die nächsten Wochen ab! Da Madame Rossignol ja eh viele Mädchen nach den Ferien untersucht werde ich wie Millie als Pflegehelferin ein gutes Vorbild sein. Falls unsere Tochter schon im nächsten Jahr ankommen möchte kriege ich sie eben dann. Vielleicht habe ich sie aber auch noch mal dazu überredet, besser bis nach den UTZs zu warten. Das soll dann Madame Rossignol rausfinden."

"Falls unser Sohn sich nicht vorgedrängelt hat und sich mit unserer Tochter diesen Streich ausgedacht hat, um auch sicher schon im nächsten Schuljahr loszuplärren", grummelte Gérard. Sandrine mußte lachen. Dann knuddelte sie ihren Angetrauten. "Wußte gar nicht, daß die uns nachgesagten Eigenschaften bei der Liebe von mir in dich übergeflossen sind, Gégé", hauchte sie ihm dann noch ins Ohr. Das wollte Gérard dann aber doch nicht glauben. Immerhin hatte er beim Lauf über den Farbenteppich nur Blau, Weiß, Rot und Grün unter den Füßen gehabt.

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Mylene Lerouge gehörte zu den wenigen, die nicht den ganzen Tag verschlafen hatten. Denn anders als die ganzen hier residierenden Gäste, darunter die beiden Honigmondler Sandrine und Gérard Dumas, hatte sie zu dem Festgetränk, daß ihr Vetter Pierre nach dem Sieg der Franzosen ausgeschenkt hatte noch einen kleinen Trank eingenommen, der die Dauer der gewünschten Betäubung um sieben Stunden verkürzte. Zwar hätte sie gerne diesen jungen Zauberer Gérard Dumas in ihr breites Himmelbett gelockt. Doch dessen Frau hatte ihn vor ihr umklammert und mit ihm wohl den Weg in die Hochzeitsssuite gefunden. Doch sie war trotzdem erfolgreich gewesen. Sie hatte sich den gerade vierundzwanzig Jahre alten Zauberer Jonas Beaufont geangelt, der von der Wirkung des geheimen Gebräus bereits in die richtige Stimmung gekommen war. Sie hatte es mit ihm genossen, diese Ausdauer, diese Hemmungslosigkeit, die er nur in diesem Zustand gezeigt hatte, wo er sonst so überkorrekt und zurückhaltend auftrat. Aber jetzt hatte er ihr gehört und sicher genug von sich in ihr zurückgelassen, daß sie sein Fleisch und Blut ausreifen würde. Doch das mußte der nicht wissen. Sie war es gewohnt, alleine zu leben und wollte nur ein Kind, ohne das übliche Beziehungsgeplänkel mit einem Rohling oder einem auf sein eigenes Vorankommen ausgelegten Partner. Deshalb hatte sie den jungen Zauberer, als sie selbst früh genug aus der dem Rausch folgenden Betäubung erwacht war, in sein Zimmer zurückgebracht und in sein Bett gelegt. Sie war danach wie auf Wolken schwebend in ihr Zimmer zurückgekehrt. Fünfzig Jahre lebte sie schon auf dieser Insel, wenn sie mal von den sieben Jahren in Beauxbatons absah. die Koloniezauberer hier waren zu sehr auf ihre Stärke oder Unwiderstehlichkeit festgenagelt. Sie wollte europäisches Blut in ihrem Leib aufkeimen lassen. Immer wieder hatte sie es versucht, Touristen dazu zu bringen, mit ihr den Trank der fruchtbaren Leidenschaft zu trinken. Aber irgendwie hatten die sich nicht darauf einlassen wollen. Als Mitglied der geheimen Vereinigung Vita Magica hatte sie eigentlich vorgehabt, jedes zweite Jahr ein magisch begabtes Kind zu bekommen. Doch bisher hatte sie es nicht einmal zu einem gebracht. Dieser Beaufont sollte ihr endlich helfen, die im geheimen Orden geschworene Verpflichtung, mindestens ein magisches Kind zu erzeugen zu erfüllen, bevor sie nach Europa reisen mußte, um sich dort die Väter ihrer ungezeugten Kinder auszugucken.

"Schade, daß du nicht trinken durftest, Pierre", säuselte Mademoiselle Lerouge, als sie eine Stunde vor dem allgemeinen Abklingen der Betäubung ihren Vetter in der Küche traf.

"Wäre hier zu auffällig, Mylene. Aber wenn der stramme Bursche, den du dir gegriffen hast genauso stramme Jungs machen kann und jetzt einer von denen in dir groß werden darf ... bin mal gespannt, wen es noch alles erwischt hat."

"Richtig schöne schwarzblauhaarige Halbkreolen, Pierre", schnurrte Mylene Lerouge und tätschelte ihren nur von gutem Essen gerundeten Unterleib. "Aber du mußt demnächst auch wieder wen finden, nicht wahr?"

"Ich gehe in die Staaten, wenn die da Halloween feiern. Da finde ich sicher eine hübsche Naturblondine oder eine richtig rassige Rothaarige."

"Mußt nur aufpassen, daß die dich nicht dazu kriegt, die zu heiraten, Pierre. Oder stehst du auf an dir herumerziehende Haushexen?"

"Ich heirate doch keine Yankee-Hexe, Mylene", empörte sich Pierre leise. Dann sah er seine Cousine an. Ja, mit dem goldbraunen Hautton und der fast ins Schwarz übergehenden Kräuselmähne mochte die auch ohne den Geheimtrank der Vita Magica gute Partien finden. Aber sie hatte schon recht, daß viele überkultivierte Männer da gleich eine komplette Lebenspartnerschaft draus machen mußten, nur weil sie es hinbekommen hatten, ein magisch begabtes Kind zu zeugen. Manchmal wirkte der Trank aber auch so gut, daß lange enthaltsam lebende Hexen und Zauberer gleich zwei oder drei auf einmal hinbekamen. Falls seine Cousine das Glück hatte, würde sie zumindest in der geheimen Gemeinschaft wieder besser dastehen und nicht als die wählerische Pflichtverleugnerin, als die sie in ihrer Abwesenheit doch von manchen Hexen genannt wurde, die bereits fünf oder sechs magische Kinder geboren hatten. Um den Wildwuchs der Muggel zu kontern mußten sie mithalten. Alle Muggel umzubringen brachte nichts. Denn dann gäbe es nur Inzucht. Also mußten sie immer darauf hoffen, daß genug frisches Muggelstämmigenblut nachwuchs.

"Wissen wir eigentlich langsam, wer uns vor bald zwei Jahren diesen Streich gespielt und zwei Muggel mit unserem Trank beehrt hat?" Fragte Mylene Lerouge unvermittelt.

"Seitdem wir wissen, daß diese ehemalige käufliche Dame wohl diesen spießigen Politiker der Yankees nur deshalb in ihr Bett bekommen hat, weil sie beide den Trank erhalten haben und sie den typischenVerteidigungswillen für ihren Sohn geäußert hat suchen wir noch. Aber ich fürchte, wer das gemacht hat hat sich sehr gut abgesichert", knurrte Pierre.

"Fehlte noch, daß die Muggel unseren geheiligten Trank in die Finger bekommen können, um sich noch schneller zu vermehren", fauchte Mylene. "Aber wenn ich von dem netten Monsieur Beaufont gleich drei süße Lasten anvertraut bekommen habe, werden es eben wieder zwei magische Kinder mehr als das eine, das nicht von uns geplant war."

"Ich hörte sowas, daß die werte Ursuline Latierre sich erneut auf ein Kind oder zwei hintastet und daß ihr Schwiegerenkel Julius wohl schon mit seiner Frau auf Nachwuchs ausgeht. Schade, daß der vor zwei Jahren nicht zur Mora-Vingate-Party gelassen wurde", bemerkte Pierre. Dann sah er auf die Uhr. "Die anderen wachen sicher bald auf. könnte ein netter Tag werden, wenn die alle merken, wie lange sie geschlafen haben."

"Machen können die nichts mehr dran", erwiderte Mylene und verließ die Küche des Hotels Plage de la Félicité, um so zu tun, als sei sie ebenfalls von diesem Trank solange außer Gefecht gesetzt worden. Morgen würde sie dann abreisen und darauf hoffen, daß ihr ungehöriger Beutezug erfolgreich verlaufen war.

ENDE

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