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© 2003 by Thorsten Oberbossel
Julius Andrews, der Sohn des Chemikers Richard Andrews und der Computerprogrammiererin Martha Andrews, ist nach dem tragischen Ende des trimagischen Turniers in der Zaubererschule Hogwarts Gast der Zaubererfamilie Dusoleil im französischen Magierdorf Millemerveilles, wo er vor den möglichen Nachstellungen des wiedergekehrten dunklen Lords Voldemort sicher sein soll. Er lernt mit sieben dort lebenden Hexen und Zauberern bei der Beauxbatons-Lehrerin Faucon die Abwehr dunkler Künste, wobei er sich mehrmals in merkwürdige Situationen begibt. Einmal verkleinert er sich und seine Mitschülerin Virginie Delamontagne aus Versehen auf eine Größe, daß er die sonst zu winzigen Bakterien mit bloßen Augen sehen kann. Ein zweites Mal läßt er sich freiwillig durch den Infanticorpore-Fluch in den Körper eines Neugeborenen zurückversetzen. Letzteres zeigt ihm jedoch sehr deutlich, daß er seiner Gastschwester Claire wohl nicht so gleichgültig ist, wie er ursprünglich vermutete.
Neben dem Unterricht bei Madame Faucon lernt er noch magische Techniken für die erste Hilfe bei der Heilmagierin Hera Matine, die ihn auch über ihr Spezialgebiet, Geburtshilfe und Säuglingspflege unterrichten will.
Auf Grund von lauten Überschallknällen über Millemerveilles regt er an, das Dorf gegen mögliche Angriffe mit Atombomben zu sichern und reist mit Madame Delamontagne nach Paris, um dies mit dem Zaubereiministerium abzuklären. Dabei trifft Julius Babette Brickston, bei deren Eltern seine Eltern gerade Urlaub machen, anscheinend in Unkenntnis, daß Catherine, Madame Faucons Tochter, auch eine Hexe ist.
Sein Geburtstag wird für Julius zum Ereignis, weil Madame Delamontagne seine Mutter Herholen läßt, die sich auch mit Madame Faucon und Catherine ausspricht. Julius' Schulfreundinnen Gloria und Pina, sowie die Hollingsworth-Schwestern, kommen auch. Pina verwickelt Claire in eine für Julius unsinnig erscheinende Zankerei. Doch später denkt er darüber nach, ob die beiden Mädchen nicht irgendwie mehr für ihn empfinden, als Freundschaft oder gastschwesterliche Aufmerksamkeit. Dies denkt auch Aurora Dawn, die australische Heil- und Kräuterhexe, die ebenfalls seiner Geburtstagsfeier beiwohnt.
Nachdem er das für Claire Dusoleil gebastelte Geburtstagsgeschenk, die echte Zauberlaterne, mit Erfolg überreicht hat, spielt er im Schachturnier von Millemerveilles und gewinnt nach anstrengenden Spielen, zuletzt gegen Madame Delamontagne, den goldenen Zaubererhut, die höchste Auszeichnung des Turniers. Ebenso schaffen Claire und er es wie im Jahr zuvor, beim Sommerball von Millemerveilles die goldenen Tanzschuhe zu gewinnen. Bei diesem Tanzabend trifft er auch wieder mit der anmutigen Fleur Delacour zusammen und lernt kurz Belisama kennen, eine Cousine seiner Ferienmitschülerin Seraphine. Diese fragt ihn, ob er nicht doch nach Beauxbatons wechseln wolle, wie Claire und seine Ferienmitschülerin Caro es bereits vorher getan haben. Es erscheint ihm merkwürdig, daß er offenbar für die jungen Hexen interessant genug sein soll, daß sie ihn gerne in ihrer Schule hätten, die er auf der Reise nach Millemerveilles kurz besuchen durfte, ihn aber eher abschreckte als einlud. Nach dem Tanz geht es wieder ins Haus der Dusoleils zurück. Zwar ist mit dem Ball das wichtigste Ereignis der Ferien vorbei, doch für Kurzweile ist gesorgt, da sich eine weltberühmte Expertin angekündigt hat.
Obwohl mit dem Schachturnier und dem Sommerball die wichtigsten Ereignisse vorüber sind, wird es in Millemerveilles nicht langweilig. Denn in den ersten Augusttagen besucht die weltberühmte Verwandlungskünstlerin Maya Unittamo das Magierdorf und zeigt Beispiele ihrer Kunst. Julius gefällt, daß die über neunzig Jahre alte Hexe viel Humor hat und sehr erfrischend auftritt und ihm zeigt, wie schön es ist, gut zaubern zu können. Eine Übungsstunde in Verwandlung, an der er teilnimmt, enthält auch ein magisches Experiment, in welche Tiergestalt sich jemand verwandeln könnte, wenn er oder sie ein Animagus werden wollte. Julius erfährt dabei, daß er grundsätzlich die Gestalt eines Elefanten annehmen könnte, Claire besitzt die innere Veranlagung, sich in einen Marienkäfer zu verwandeln. Doch diese Tiergestalten, so Maya Unittamo, sind nicht verbindlich.
Im Ferienunterricht zur Abwehr dunkler Künste lernt Julius auch die drei unverzeihlichen Flüche kennen und erschauert, als er sieht, wie der tödliche Fluch Avada Kedavra wirkt.
Gedanken macht sich Julius darum, was ihm die Dorfrätin Delamontagne und Madame Faucon sagen, nämlich daß sie ihn am liebsten in Beauxbatons weiterlernen sehen würden. Außerdem nimmt Jeanne ihn zu einer Quidditchübungsstunde mit, vor der sie jedoch mit ihm eröffnet, daß ihre Schwester Claire tatsächlich mehr für Julius empfindet, als Interesse an einem Gast aus dem Ausland. Julius weiß nicht, wie er damit umgehen soll und versichert nur, daß ihm nicht daran gelegen sei, Claire ein Leid zuzufügen. Innerlich vertraut er sich mit der Situation an, daß Claire ihn als ersten festen Freund, vielleicht als Geliebten auserwählt hat.
Als Maya Unittamo abreist, erfährt Julius auch, daß seine Eltern wieder nach London zurückkehren. Er hofft, daß seine Mutter auch weiterhin gut mit den amtlichen Hexen und Zauberern auskommt. Doch die Gefahr besteht, daß sein Vater, der Julius' Zaubereiausbildung grundweg ablehnt, davon erfährt.
"... Meine Damen und Herren! Soeben haben wir unsere Reiseflughöhe verlassen und befinden uns im Landeanflug auf London Heathrow. Wir möchten Sie nun bitten, sich wieder anzuschnallen und das Rauchen einzustellen. Außerdem möchten wir Sie bitten, ihre Tischchen hochzuklappen und die Rückenlehnen Ihrer Sitze in aufrechte Position zurückzuklappen. Der Kapitän weist darauf hin, daß während der Landung die Benutzung von mitgeführten elektronischen Geräten aus Sicherheitsgründen untersagt ist", meldete die Chefstewardess über Lautsprecher, nachdem die Anschnall- und Nichtraucherzeichen aufleuchteten. Richard Andrews räkelte sich in seinem zurückgeklappten Sitz, stellte mit dem Hebel unter seiner Armlehne die Rückenlehne wieder in die Senkrechte und sah seine Frau Martha an, die den ungefähr anderthalbstündigen Flug in einem Buch gelesen hatte.
"London hat uns gleich wieder, Martha", verkündete Dr. Richard Andrews und zog seine dunkle Krawatte zurecht.
"Es war doch eine schöne Urlaubsreise, nicht wahr, Richard?" Fragte Martha Andrews und packte den Kriminalroman zurück in ihre Bordtasche.
"Immerhin haben wir viel erlebt", meinte Richard fast ohne Betonung. "Zumindest haben uns Catherine und Joe nicht den Eindruck vermittelt, nicht willkommen zu sein. Sie hätten aber die Kleine nicht extra fortschicken müssen."
"Das bot sich für die beiden doch gut an, Richard. Ich denke, die waren froh, daß Babette mal bei ihrer Großtante gewohnt hat. So konnten sie sich auch erholen."
"Dann hätte Joe durchsetzen müssen, daß seine Schwiegermutter nicht immer wieder zu Besuch kam", wandte Richard ein und verzog etwas das Gesicht. Für ihn wären die über vier Wochen Ferien wohl angenehmer verlaufen, wenn Joes Schwiegermutter, Madame Faucon, ihn nicht andauernd in Gespräche über seine Arbeit und über seinen Sohn Julius verwickelt hätte. Außerdem hatte die einen Kommandoton drauf, der einer Königin alle Ehre gemacht hätte. Hinzu kam, daß er, der selbst eine Führungsposition in seinem Chemieunternehmen innehatte, sich klein und hilflos fühlte, wenn ihn die ältere Dame streng ansah, als sei er wieder ein Schuljunge und sie eine altehrwürdige Lehrerin.
Martha dachte auch an die Zeit in Paris, wo sie gerade herkamen. Für sie war der Urlaub, der eigentlich nur zur Erholung dienen sollte, ein sehr aufschluß- und abwechslungsreicher Aufenthalt gewesen. Sie wußte besser als Richard, ihr Mann, daß Madame Faucon tatsächlich sehr viel Macht besaß, und hätte sie nicht die Fähigkeit besessen, ihre Gefühle niederzuhalten, bevor sie sich auf Gesicht und Körperhaltung auswirkten, hätte Richard sie wohl grinsen gesehen. Denn Martha wußte auch, daß Madame Faucon tatsächlich eine altehrwürdige Lehrerin war, allerdings in zwei Schulfächern, die nicht jedes Kind unterrichtet bekam: Verwandlung und Verteidigung gegen die dunklen Künste. Diese beiden Bereiche gehörten zum umfangreichen Angebot magischer Studien. Da Magie und Zauberei bis vor zwei Jahren im Weltbild der Andrews nur den Platz von lächerlichen Hirngespinsten eingenommen hatten, war es für Martha besonders unheimlich, nun Catherine Brickstons wahre Natur zu kennen. Denn am Geburtstag ihres Sohnes Julius, der in einem Dorf nur für Hexen und Zauberer stattfand, hatten sich Catherine und ihre Mutter Blanche Faucon ihr offenbart. Davon, so hatte sie befunden, durfte sie Richard nichts erzählen, denn Richard lehnte nach wie vor die Ausbildung ihres gemeinsamen Sohnes zum echten Zauberer ab.
Knapp zehn Minuten später berührten die Räder des mittelgroßen Passagierflugzeuges die von leichtem Nieselregen feuchte Landebahn. Quietschend rutschten sie noch mal ab, da der Schwung der Maschine dieser noch einen winzigen Überschuß Auftrieb verschaffte, trafen erneut auf den grauen Beton, hüpften wieder nach oben, bis das Hauptfahrwerk sicheren Bodenkontakt bekam. Als die Bugräder des Düsenflugzeuges aufsezten, atmeten nicht wenige Passagiere erleichtert aus. Mit vollem Gegenschub aus den Vier Düsen bremste die Maschine ihre rasante Fahrt von über 200 Stundenkilometern ab, bevor die eingebauten Öldruckbremsen zufaßten und die rasch rotierenden Räder verlangsamten. Die Bremsung zog die Passagiere in die umgelegten Sicherheitsgurte und vermittelte den Eindruck, leicht bergab zu rutschen. Dann hatte das Flugzeug genug Fahrt verloren, um von der Landebahn auf das vielbefahrene Rollfeld überzuwechseln, wo ein gelber Leitwagen mit dem Schriftzug "Folgen Sie mir" dem Piloten der Maschine den Weg zur endgültigen Parkposition zeigte. Als dann die Triebwerke mit in der Tonhöhe abfallendem Sirren ausliefen, sagte der Flugkapitän über Bordlautsprecher an, daß man nun den endgültigen Haltepunkt erreicht habe und die Passagiere aussteigen könnten. Er bedankte sich in hundertfach vollführter Gleichförmigkeit für den Flug mit seiner Gesellschaft und wünschte einen angenehmen Aufenthalt in London.
Eine große Metalltreppe wurde an das Flugzeug herangefahren, und die Passagiere verließen den Düsenflieger, um in kleine Busse zu steigen, die sie zum Ankunftsgebäude fuhren. Nachdem die Andrews fünfzehn Minuten auf ihr Gepäck hatten warten müssen, ging es mit einem Taxi zum großen weißen Haus Winston-Churchill-Straße 13, wo sie wohnten. Dort angekommen holten sie die Post, die sich in dem pompösen Briefkasten angehäuft hatte und brachten ihre Wäsche in den Keller, wo die große Waschmaschine schon wenige Minuten später die erste Ladung bearbeitete.
"Nur fünf Nachrichten auf dem Anrufbeantworter", stellte Martha Andrews fest, als sie das im Flur stehende Telefon mit dem Anrufbeantworter betrachtete. Sie drückte den großen Abrufknopf. Die weiblich gehaltene Computerstimme vermeldete fünf neue Nachrichten. Dann kamen die ersten zwei Nachrichten. Eine war von Richard Andrews' oberstem Chef, der etwas ungehalten kundtat, daß er nicht begeistert war, Richard nicht über dessen Mobiltelefon erreichen zu können. Die zweite Nachricht stammte von Moira Stuard, einer ehemaligen Klassenkameradin von Julius. Diese wünschte Julius zum dreizehnten Geburtstag viel Glück und erkundigte sich, ob sie ihm nicht ein Geschenk vorbeibringen könne. Die dritte Mitteilung war von einem Herbert Freemont, dessen Stimme Martha irgendwie bekannt vorkam.
"Sehr geehrter Doktor Andrews, hier Freemont. Ich rufe auf Ihrem Anrufbeantworter an, da ich Sie zum nächstmöglichen Termin, wenn Sie wieder in London sind, direkt sprechen möchte."
"Herbert Freemont?" Fragte Mrs. Andrews ihren Mann, der sein Gesicht verzog, als diese Nachricht abgespielt wurde.
"Ein Vertreter einer anderen Forschungsgruppe. Offenbar wollte er mir seine Neuigkeiten nicht über Handy mitteilen", antwortete Richard Andrews leicht verärgert.
Die vierte Nachricht stammte von zwei Tagen danach, wiederum von Moira Stuard. Diese klang leicht ungehalten, weil man ihr nicht auf ihre Nachricht geantwortet hatte. Sie äußerte die Vermutung, daß man mit ihr und ihrem Vater wohl nichts mehr zu schaffen haben wolle und wünschte den Andrews noch schöne Ferien.
"Professor Stuards Tochter wird wohl langsam überheblich", bemerkte Richard Andrews und warf dem Anrufbeantworter einen tadelnden Blick zu, als könne er Moira damit beeindrucken. Die fünfte Nachricht stammte wieder von Richard Andrews' Vorgesetztem, der ihm mitteilte, daß er bis zum vierten August von ihm hören wolle, oder ein Projekt, das er anlaufen lassen wollte, einem anderen Mitarbeiter geben würde. Richard rief sofort als gut dressierter Mitarbeiter seinen obersten Chef an und meldete sich zurück. Martha sah ihn entgeistert an, weil er gleich und ohne großen Übergang zustimmte, sofort in sein Büro zu fahren.
"Ich hätte den Urlaub doch nicht so lange ausdehnen dürfen", knurrte Dr. Andrews und klaubte seine Aktentasche auf. Dann verabschiedete er sich kurz von seiner Frau und fuhr mit seinem Wagen davon.
Martha Andrews löschte die Nachrichten, die sie nicht mehr beachten mußten, ließ nur die dieses Herbert Freemont auf dem Anrufbeantworter und rief Catherine in Paris an, daß sie wieder gut angekommen waren. Catherine freute sich hörbar, daß Martha und Richard wohlbehalten in London eingetroffen waren und richtete noch schöne grüße von Joe aus. Dann sagte sie leise:
"Meine Mutter wird dir wie vereinbart noch einen Brief schreiben. Sie meinte, das sei sie dir schuldig."
"In Ordnung, Catherine. Sie weiß ja, wohin sie ihn schicken soll", sagte Martha Andrews leise. Dann legte sie den Hörer auf.
Spät am Abend kehrte Richard Andrews zurück. Er sah so aus, als habe er sich total überanstrengt und seine ganze Erholung auf einen Schlag zum Schornstein hinausgejagt.
"Das mache ich nicht noch mal, Martha", keuchte er, als habe er einen Marathonlauf hinter sich. "Der Chef hat fünf Aufträge für ein flexibles und wärmedämmendes Plastikmaterial bekommen und hat meine Abteilung angekurbelt, reißfestere Molekülketten zu syntehtisieren, um ein mikrofeines Verbundgewebe für Mischkunststoffe zu schaffen. Er hat mich stundenlang über den Formeln und Prozeduren brüten lassen, damit ich meine Leute richtig einteilen kann. Außerdem hat der mir gedroht, daß ich bei neuerlicher Unauffindbarkeit einen neuen Arbeitgeber finden müsse. Das mir! Als wenn dem meine zehn Jahre vorbildlicher Arbeit nichts bedeuteten!"
"Der geht wohl davon aus, daß Forschungsleiter immer und überall im Dienst seien", stellte Martha Andrews trocken fest.
"Normalerweise sollte das auch so sein, Martha. Zum Teufel mit den Ferien! Demnächst mache ich nur noch Urlaub für zwei Wochen."
"Komm! Du willst ja nicht behaupten, daß dir die Ferien nicht bekommen wären, oder?"
"Wenn ich fast meine Anstellung verliere, bringen Ferien nichts ein, Martha."
"Ich habe dir diese Nachricht von Mr. Freemont noch auf dem Anrufbeantworter gelassen, Richard. Ich habe auch schon bei Catherine angerufen, daß wir gut angekommen seien. Sie läßt dich schön grüßen. Außerdem habe ich uns was zum Abendessen gemacht. Du mußt ja heftigen Hunger haben."
"Gehabt, Martha. Ich habe in der Firma was gegessen", sagte Richard Andrews. Martha nickte nur, obwohl sie es nicht so gut fand, daß ihr Mann ihr nicht vorher sagte, daß er auswärts aß. So gingen die beiden Eheleute um zwölf Uhr londoner Zeit ins Bett.
Am nächsten Morgen fuhr Richard wieder in sein Büro und rief von dort aus seinen Freund Rodney Underhill an, der sich unter dem Namen "Herbert Freemont" auf seinem Anrufbeantworter gemeldet hatte.
"Du wolltest was von mir, Rodney? Wo sollen wir uns treffen?"
"Kannst du heute noch zum Fernmeldeturm kommen? Ich habe mich noch mal über einige Herrschaften kundig gemacht."
"Kein Problem. Ich leite die erste Versuchsreihe ein. Die Durchläufe dauern zwei Stunden. Donaldson kann die Durchführung beaufsichtigen", sagte Richard Andrews. Er hoffte, mehr über die gemeinsamen Unternehmungen im Bezug auf Catherine und ihre Mutter zu hören. Denn trotz einer Überprüfung der Adresse von Madame Blanche Faucon, war er noch nicht ganz überzeugt, daß mit Catherines Mutter alles so war, wie es sein sollte.
"In Ordnung, Richard", sagte Rodney Underhill und legte auf. Richard Andrews ging an seine Arbeit und besuchte die Labors, in denen unter Einhaltung strickter Sicherheitsmaßnahmen neuartige Kunststoffverbindungen entwickelt und getestet wurden. Nach ungefähr einer Stunde kehrte er in sein Büro zurück und fand eine Notiz seiner Sekretärin, er möge einen Doktor Paul Hardbrick anrufen, der ihn in einer wichtigen Angelegenheit sprechen müsse. Richard Andrews fragte seine Sekretärin:
"Hat dieser Dr. Hardbrick Ihnen mitgeteilt, welcher Art diese Angelegenheit sein soll, Ms. Weatherspoon?"
"Er meinte nur, daß es eine persönliche Angelegenheit sei, die unmittelbar Sie beträfe", erwiderte die in konventionelles Wolkengrau gekleidete Sekretärin und hantierte mit der Computermaus, um das Bildschirmfenster für die Textverarbeitung zu öffnen. Richard Andrews nahm den Notizzettel, zog sich in sein Büro zurück, nahm den linken von zwei Telefonhörern ab, wählte die Auswärtsfreigabe des Hausnetzes, wartete auf das lange, leicht rauh klingende Tuuut, des Freizeichens und wählte die aufgeschriebene Nummer. Er wußte, daß er jeden Privaten Anruf penibel notieren mußte, wollte aber nicht sein Handy bemühen, da die Mobilgespräche wesentlich teurer kamen, als Anrufe über das Festnetz. Er wunderte sich, als eine Frauenstimme nach dreimaligem Rufzeichen "Chesterfield & Barring, Privatklinik für Herz-, Knochen- und Neurochirurgie, Apparat Dr. Hardbrick" sagte.
"Entschuldigung, Madam, aber ich wollte mit einem Dr. Paul Hardbrick sprechen. Bin ich da wirklich richtig verbunden?" Fragte Richard Andrews, der sich wunderte, was er mit einem Arzt aus einer Privatklinik zu schaffen haben sollte, mit dem er bislang nichts zu tun gehabt hatte.
"Wer spricht dort bitte?" Fragte die Frauenstimme zurück.
"Mein Name ist Andrews, Dr. Andrews."
"Dr. Hardbrick erwartet Ihren Anruf bereits", sagte die Frauenstimme. Richard Andrews hörte, wie ein Telefonhörer weitergereicht wurde. Dann vernahm er noch, wie die Frau, offenbar eine Schwester Louise, gebeten wurde, den Raum zu verlassen. Als dann noch eine Tür zuklappte und einige Sekunden Stille aus dem Hörer drangen, fühlte sich Richard Andrews merkwürdig, als würde man ihm gleich ein hochbrisantes Geheimnis anvertrauen.
"Dr. Andrews, gut das ich nun mit Ihnen sprechen kann", sagte eine Männerstimme etwas leiser, als gelte es, nicht belauscht zu werden.
"Ich denke mal, daß Ihre Zeit genauso knapp bemessen ist wie meine, Dr. Hardbrick. Also kommen Sie zum Punkt!" Drängte Richard Andrews zur Eile.
"Wie Sie wünschen, Dr. Andrews", sagte Dr. Hardbrick, beziehungsweise der Mann, der sich mit diesem Namen vorgestellt hatte. "Ihr Sohn wurde wie mein Sohn dazu gezwungen, eine Schule für Absonderliche zu besuchen. Ich weiß, daß Ihnen dies genauso mißfällt, wie meiner Frau und mir. Daher wollte ich Sie fragen, was Sie in dieser Richtung noch zu unternehmen gedenken."
"Entschuldigung, Doktor! Wie meinen Sie das?" Fragte Richard Andrews, der sich nicht sicher war, was der Mann am anderen Ende der Telefonleitung von ihm wollte.
"Stichwort "Hogwarts", Dr. Andrews", sagte Dr. Hardbrick nur. Richard Andrews fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gehirn wich. Leicht schwindelig hing er auf seinem Bürostuhl und stützte sich krampfhaft mit den Armen an den bequemen Lehnen ab.
"Was meinen Sie damit?" Fragte der Chemiker.
"Ihr Sohn, Julius heißt er wohl, ist wie mein Sohn Henry dazu gezwungen worden, ein abstruses Internat namens Hogwarts zu besuchen, wo er wie Henry dazu genötigt wird, okkulte Fertigkeiten wie Magie und Alchemie zu erlernen. Ich weiß das, weil ich mit meiner Frau vor einigen Monaten da selbst war. Ihre Frau war ja auch dort."
"Bitte wo?" Fragte Richard Andrews zwischen Ertapptheit und Wut gefangen. Er hatte schon immer befürchtet, daß ihm irgendwann irgendwer nachweisen könnte, daß sein Sohn Julius nicht in ein exklusives Internat für Kinder aus wichtigen Familien ginge, sondern ein echter Zauberlehrling war, weil er wohl eine besondere Begabung für wissenschaftlich nicht erklärbare Vorgänge mitbekommen hatte.
"In Hogwarts, Dr. Andrews. Wir, meine Frau und ich, waren mit Ihrer Frau zusammen in Hogwarts, diesem Unsinnsinternat. Ich erfuhr auch, daß Sie nach wie vor versuchen, Ihren Sohn von dort fernzuhalten und wollte wissen ..."
"Moment, Mister! Sie wollen mir doch nicht etwa erzählen, daß Sie mit meiner Frau zusammen die Schule meines Sohnes besucht haben. Wie kommen Sie eigentlich darauf, daß er in einer Einrichtung namens Hogwarts unterrichtet würde? Ich selbst habe ihm doch die Einschulung in der Theodor-C.-Beaufort-Schule verschafft und ..."
"Okay, Dr. Andrews", fuhr ihm Hardbrick ins wort. "Daß Sie irgendwas erzählen müssen, weil Ihr Sohn unerreichbar ist, verstehe ich. Allerdings weiß ich genau, daß Ihr Sohn mit meinem zusammen in eine Anstalt für sogenannte Hexen und Zauberer gesteckt wurde, weil er irgendwelche abnormen Anlagen hat. Henry, mein Sohn, hat mir viel von Julius erzählt und daß dieser sich offenbar sehr wohl dort fühlt, auch wenn Sie als Vater dies nicht gutheißen. Offenbar hat man es dort auch verstanden, Ihre Frau zu bekehren, diesem Unsinn weiterhin freien Lauf zu lassen, beziehungsweise eine Aufsichtsperson zur Seite gestellt, die mit ihr und uns dort war. Ihr Sohn kann auf einem echten Hexenbesen fliegen, mit einem Zauberstab Dinge fernsteuern oder molekular verändern. Finden Sie das etwa toll?"
"Wollen Sie mich erpressen?" Fragte Dr. Andrews, der nicht begreifen wollte, was dieser Dr. Hardbrick ihm da vorlegte.
"Im Gegenteil. Ich möchte, daß Sie über alles wissen, was sich um Ihren Sohn herum zuträgt. Außerdem würde ich, wenn ich ein erpresserischer Krimineller wäre, Ihre Frau ansprechen, da sie offenbar nicht von ihrem Ausflug berichtet hat."
"Nehmen wir einmal an, es stimmt, was Sie mir da erzählen, dann möchte ich doch gerne von Ihnen wissen, aus welchem Grund Sie meinen, sich an mich wenden zu müssen? Wenn es wirklich eine Schule für absonderlich begabte Schüler gäbe, dann gäbe es doch bestimmt auch Leute, die sicherstellen, daß der Unterricht dort erhalten bleibt."
"Eben, weil ich wissen möchte, welche Erfahrungen Sie bislang gemacht haben. Da Ihre Frau sich offenbar damit abgefunden hat, muß ich mich ja an Sie wenden. Deshalb wende ich mich an Sie, Dr. Andrews, da ich weiß, daß Ihre Position eine Beziehung zu absonderlichen Vorgängen nicht verträgt, ebenso wenig wie meine. Ihre Frau hat Ihnen also nichts von unserem Ausflug nach Hogwarts erzählt, in einem Auto, daß mehrere hundert Meilen in einem zeitlosen Sprung überwinden kann? Dann wundert mich nicht, daß Sie bislang nichts wirksames unternehmen konnten, um Ihren Sohn aus diesem Teufelsinternat herauszubekommen."
"Dr. Hardbrick. Ich möchte Ihnen lediglich mitteilen, daß ich mit Ihnen gerade ein Privatgespräch führe, von meinem Dienstanschluß aus. Da ich Privatgespräche nicht beliebig lange führen kann, kommen Sie bitte zum Punkt, weshalb Sie meinen, mich sprechen zu wollen!"
"Ich will, daß mein Sohn Henry aus Hogwarts rauskommt. Rauswerfen wollten sie ihn ja nicht, obwohl er alles getan hat, um dies zu schaffen. Ich will mit jemandem, der eine ähnliche Problematik hat, Erfahrungen austauschen. Vielleicht können wir gemeinsam ermöglichen, daß Julius, Ihr Sohn, ebenfalls zur Normalität zurückkehren kann. Wo können wir uns treffen, wo weder Sie noch ich niemanden kennen?"
"Mein Terminkalender ist voll, Sir. Außerdem berühren Sie hier Familienangelegenheiten. Was habe ich mit Ihrer Familie zu tun?"
"Eben das, daß Ihr und mein Sohn gegen unseren Willen zu abnormen Personen ausgebildet werden sollen. Also wo können wir uns morgen treffen. Das sollte für Sie nicht unwichtig sein."
"Ich rufe Sie in genau einer halben Stunde zurück. Falls Sie dann nicht gerade zu tun haben, werde ich Ihnen sagen, was ich entschieden habe", sagte Richard Andrews. Dr. Hardbrick war einverstanden. Die Verbindung wurde getrennt.
Richard Andrews überlegte, was er tun sollte. Immerhin hatte ihm dieser Dr. Hardbrick Dinge erzählt, die nur Eingeweihte wissen konnten. Doch woher hatte er die Informationen? Über sein Handy rief er Rodney Underhill an, den er mit "Herbert Freemont" ansprach und ihm auftrug, über die Hardbricks etwas zu recherchieren. Eine Viertelstunde später kam Rodney Underhills Anruf zurück.
"Du, diese Hardbricks sind wirklich interessant, Richard. Dieser Doktor arbeitet in Sheffield, seine Frau ist dort Physiklehrerin, ihr ältester Sohn hat dieses Jahr die Strictway-Highschool beendet und geht nach Cambridge, und der jüngere Sohn Henry soll angeblich in eine Schule für Hochbegabte, dem Goodman-Center in Devon gehen. Nur gibt es dieses Center nicht. Wahrscheinlich mußten die Hardbricks auch was erfinden, um vorzugeben, daß ihr jüngerer Sohn nicht allgemein lernt. Denn offenbar hat es die Schulbehörde nicht für nötig gehalten, Henry anderweitig unterzubringen, obwohl es dieses Center nicht gibt. Bei dir ist das übrigens genau so. Zwar steht nicht drin, wo euer Sohn genau hingeht, aber es steht auch nicht drin, daß er unerlaubt vom Unterricht ferngehalten wird. Weiter wollte ich mich nicht vorwagen, weil ich weiß, daß die uns schon draufgekommen sind, als du mir was erzählt hast. Nachher werde ich noch ausspioniert."
"Dann wohl auch ich, Herbert. Ich danke dir für diese Information. Wir treffen uns nachher für näheres", sagte Richard Andrews. Herbert Freemont, alias Rodney Underhill, verabschiedete sich und legte auf.
Dr. Andrews rief Dr. Hardbrick an und verabredete sich für den nächsten Tag in Devon, da weder er noch Dr. Andrews dort bekannt waren. Dann ging Richard Andrews zum Fernmeldeturm und traf sich mit seinem alten Schulfreund, der zurzeit beim Auslandsgeheimdienst arbeitete. Rodney Underhill hatte seine Haar- und Augenfarbe wieder so verändert, daß er als Geschäftsmann Herbert Freemont auftreten konnte. In einem grünen Ford Sedan fuhren sie aus London heraus und hielten auf freiem Feld. Rodney Underhill prüfte mit einem Fernglas, ob in der unmittelbaren Nähe wer mit Richtmikrofonen oder Kameras auf der Lauer lag. Erst dann sagte er leise:
"Die haben mich kassiert, Richard. Ich konnte dir nicht alles über Handy sagen, weil ich nicht wußte, ob die nicht in der Nähe waren. Weil du mir von Julius' Zaubereiausbildung erzählt hast, haben die mich hoppgenommen und zum Stillschweigen anderen gegenüber verdonnert. Die beobachten dich und Martha, weil ihr euch nicht an ihre Regeln halten wolltet."
"Wie? Was genau ist passiert?"
Rodney Underhill wollte erzählen, was ihm in Frankreich und dann in Belgien passiert war, doch der Schwur, den er auf den Eidesstein hatte leisten müssen, daß er nicht verriet, was ihm wiederfahren sei, wirkte sich aus. Unvermittelt versagte Rodney die Stimme, kaum daß er an die Ereignisse dachte. Er konnte nur sagen, daß er nicht darüber sprechen könne. So erfuhr Richard Andrews nicht, daß eine echte Gedankenleserin sie beide in Marseille erwischt hatte. Rodney sagte nur, daß man ihn abgefangen hatte, als er weiter recherchieren wollte und erfahren habe, was Richard ihm berichtet habe.
"Die haben sich gut abgesichert, Richard. Du kannst nicht einmal was in die Zeitung setzen, wenn die das nicht wollen. Ich fürchte sogar, daß die auch jetzt noch hinter dir und mir her sind."
"Dieser Hardbrick hat mir erzählt, daß Martha mit ihm in dieser Schule war, Rodney", flüsterte Richard Andrews. "Das hieße, daß Martha mit ihnen gemeinsame Sache macht. Das hieße, daß sie mich hintergeht und diesen Hokuspokus fördert, den die um Julius betreiben. Ich hatte mit ihr ausgemacht, daß wir zu diesen Leuten keinen Kontakt mehr halten wollten, weil die Julius gegen uns wenden wollten."
"Offenbar hält Martha es für vernünftiger, mit diesen Leuten gut auszukommen", stellte Rodney Underhill kühl fest. "Wahrscheinlich haben sie ihr zugesichert, mit Julius in Kontakt zu bleiben, wenn sie mitspielt. Mütterliche Instinkte gepaart mit Zwecklogik. Da kannst du nichts gegen machen, Richard."
"Falls dies wirklich so ist, Rodney. Ich fahre morgen nach Devon und unterhalte mich mit diesem Onkel Doktor. Wenn es stimmt, daß Martha wirklich in Hogwarts war, werde ich ihr und den Leuten, die ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt haben, einen dicken Strich durch die Rechnung machen. Es würde mir zwar sehr weh tun, aber eine zwingende Notwendigkeit sein."
"Du willst Martha doch nicht umbringen?" Erschrak Rodney Underhill und wurde kreidebleich.
"Nein, das würde ich nicht. Allein um nicht alles zu verlieren, was ich aufgebaut habe. Aber Tatsache ist, daß mein Sohn für mich verloren ist. Es steht auch fest, daß man versuchen wird, uns, also Martha und mich, klein zu halten. Daraus ergibt sich für mich, daß wenn es ihnen gelungen ist, Martha auf ihre Seite zu ziehen, ich eine potentielle Spionin gegen mich beherberge. Aber das muß ich wie gesagt noch rausfinden. Näheres gebe ich im Moment nicht preis, Rodney. Das wirst du hoffentlich verstehen."
"Dann hoffe ich für euch beide, daß dieser Hardbrick nur dummes Zeug erzählt hat."
"Das hoffe ich auch", sagte Richard Andrews.
"Rufst du mich morgen an, wenn du da warst?" Fragte Rodney Underhill. Richard Andrews nickte. Dann ließ er sich von seinem Freund in die Innenstadt zurückfahren.
Nach einem arbeitsreichen Tag kehrte Richard Andrews in sein Haus zurück. Seine Frau telefonierte gerade. Da sie ja erst am nächsten Tag arbeiten mußte, hatte sie wohl viel Zeit, um alles durch die lange Urlaubsreise aufgeschobene zu erledigen. Richard Andrews hörte nur, wie sie sagte:
"... Mr. Stuard, wir waren lange fort. Wenn Ihre Tochter meint, wir wollten mit Ihnen keinen Kontakt mehr halten, so ist das ihre Einstellung. Vergessen Sie nicht, daß Moira und Julius auf zwei völlig andere Schulen gehen. Da entwickelt sich naturgemäß auch ein anderes Umfeld. - In Ordnung, Mr. Stuard. Wiederhören!"
"Hat Professor Stuard dich angerufen oder du ihn?" Fragte Mr. Andrews seine Frau. Diese antwortete:
"Ich habe bei ihm angerufen, weil mir der Ton Moiras nicht sonderlich gefallen hat. Ich habe ihm erklärt, daß wir unsere Ferien in Frankreich verbracht haben und Julius gerade bei Klassenkameraden sei. Das mußte ich tun, sonst hätte Moira vielleicht noch irgendwelche Gerüchte in Umlauf gebracht. Moira tendiert meines Erachtens zu einer sensiblen, aber auf Würde bedachten jungen Dame."
"Das war in Ordnung so", sagte Richard Andrews zu Martha. Er dachte krampfhaft an etwas anderes als an den Verdacht, den Dr. Paul Hardbrick in ihm entfacht hatte. Wenn Martha wirklich weiterhin mit den Zauberern und Hexen verkehrte, auch wenn es nur brieflich war, würde er den letzten Rest Durchsetzungsvermögen verspielen. Denn wenn Martha sich berufen fühlte, auch gegen seinen Willen gemeinsame Sache mit den Entführern von Julius zu machen, galt sein Wort nichts mehr. Er würde nie wieder davon ausgehen können, Einfluß in seiner Familie zu haben. Rodney Underhill war als Verbündeter wertlos geworden, denn seine Position war gefährdet und er war von diesen Leuten erkannt worden. Vielleicht wurde er auch schon beobachtet, womöglich seit jenem unsäglichen Mittwoch vor dem letzten Osterfest, wo diese Mrs. Priestley gegen seinen engagierten Einsatz Julius mit sich genommen hatte und die Polizei danach nicht mehr tat, als zu überprüfen, ob Julius tatsächlich entführt worden sein konnte. Diese Leute aus der Zaubererwelt hatten ihre weitreichenden Verbindungen spielen lassen und seinen Antrag auf Strafverfolgung im Sande verlaufen lassen. Selbst eine Suche im Internet hatte nichts gebracht. Richard wandelte am Rande eines schweren Verfolgungswahns, weil er sich vorstellte, daß überall in der Stadt, ja auf der ganzen Welt, als Normalbürger verkleidete Hexen und Zauberer herumliefen, ja vielleicht sogar unsichtbar in seiner Nähe weilten, ihn belauschten oder gar in bestimmte Richtungen trieben. Doch er rief sich immer in Erinnerung, daß diese Leute sich ja nie zu weit vorwagen durften, denn dann wäre die von ihnen für so wichtig angegebene Geheimhaltung bedroht.
Den Abend verbrachten die Eheleute Andrews vor dem Fernseher, wo ein Spielfilm aus den siebziger Jahren gezeigt wurde. Kurz vor elf Uhr gingen sie zu Bett. Doch als Richard neben seiner Frau lag, suchten ihn die dunklen Gedanken wieder heim, die der Anruf von Paul Hardbrick aus Sheffield in sein Hirn gesät hatte. Was sollte er tun, wenn sich herausstellte, daß seine Frau wirklich in Hogwarts gewesen, ja dort selbst etwas gegen ihn mit den Leuten von da ausgehandelt hatte? Wie konnte er sicherstellen, daß weder von der nichtmagischen noch magischen Welt Schwierigkeiten aufkamen, wenn er gegen diese Aktion etwas unternahm? Was würde er tun? Er wußte nun, daß ein Geheimagent alleine keine Hilfe war. Er wußte auch, daß dann, wenn seine Frau wirklich mit dieser Priestley oder diesem Dumbledore paktierte, er selbst keine Ruhe mehr finden würde. Sollte er nun ebenfalls klein beigeben und einräumen, daß Julius in Hogwarts wirklich besser aufgehoben war? Aber was geschah nach Hogwarts? Sollte er zulassen, daß Julius ihm entfremdet mit anderen Hexen und Zauberern herumzog, merkwürdige Arbeiten ausführte und womöglich mit einer Hexe eine Familie neuer Zauberer gründete? Das wollte er sich doch nicht ansehen. Da wollte er lieber Julius ein für allemal verstoßen, jede Verantwortung für ihn ablehnen, die bisherigen dreizehn Jahre als halben Fehlschlag im Leben ansehen. Er erinnerte sich an alle Vorkommnisse, die vor jenen vermaledeiten Briefen aus Hogwarts geschehen waren, wo niemand so richtig erklären konnte, wieso dies geschehen konnte. Ja, so gesehen waren alle die Unfälle, die für Julius merkwürdig glimpflich ausgingen, die Vorfälle in seiner Schule und dann die Sache mit dem Sanderson-Haus, das über ihm zusammenkrachte, nachdem ein aufgescheuchter Wespenschwarm ihn daraus verjagt hatte, nicht fortzudiskutierende Hinweise auf außergewöhnliche, von keiner Naturwissenschaft erklär- oder Nachahmbare Auswirkungen. Julius hätte womöglich in Eton oder später ähnliche Auffälligkeiten gezeigt, und dies wäre auch auf ihn, Richard Andrews zurückgefallen. Somit mußte er, um ein friedliches Leben nach seiner Vorstellung fortsetzen zu können, jede Verbindung zu Julius abbrechen, es irgendwie hinstellen, als sei Julius für ihn gestorben. Aber das ging nicht, wenn seine eigene Frau aus wie immer gearteten Beweggründen heraus an Julius festhielt, mit denen, die ihn als einen der ihren erklärt hatten, weiterhin Kontakt hielt. Womöglich würde sie Julius zwischendurch auch besuchen können, wenn sie schon nach Hogwarts fahren durfte. Wenn er sicherstellen wollte, daß die Andrews' zukünftig keinen Sohn mehr haben sollten, mußte er klären, wie weit seine Frau sich mit Hogwarts eingelassen hatte. Falls dieser Paul Hardbrick recht hatte, mußte er schnell handeln. Denn bald würde in Hogwarts das neue Schuljahr anfangen, und er wollte verhindern, daß ihm oder Martha noch irgendwer Geld dafür abnehmen oder irgendwelche Gegenleistungen abverlangen konnte. Morgen um diese Zeit, würde er mehr wissen. Mit dieser Gewißheit schlief Richard Andrews ein.
Am nächsten Tag schaffte es Richard Andrews, ganz ruhig und wie üblich zu frühstücken, sich von seiner Frau zu verabschieden und das Haus zu verlassen. Er fuhr zu seinem Büro, prüfte die dort eingetroffenen Zwischenberichte über die laufenden Projekte und delegierte die laufenden Aufgaben so, daß er am Nachmittag in Devon sein konnte. So furh er morgens um zehn Uhr fort, nachdem er mit seinem obersten Chef ausgehandelt hatte, am Abend um sieben Uhr wieder da zu sein und verließ London.
Wie mit Dr. Hardbrick verabredet, trafen sie sich um halb zwei Nachmittags. Richard Andrews hatte eine Fahrt am Rande der Geschwindigkeitsübertretung hinter sich gebracht und sich erkundigt, wo er für ein ungestörtes Gespräch einen verlassenen und aus der Ferne nicht so gut abzuhörenden Platz finden konnte. Da er nicht genau erzählen durfte, was er eigentlich wollte, tat er so, als wolle er sich mit einer jungen Dame treffen. Er fragte in einigen heruntergekommenen Pubs und zwei Hotels und bekam immer dieselbe Auskunft: An zwei Felsenkuppen am Meer. Dort, so hatte ihm ein untersetzter Schankwirt mit verschmitztem Grinsen zugeflüstert, käme niemand hin, ohne das welche, die schon da wären, davon was mitbekämen und noch genug Vorwarnzeit hätten. So fuhr er mit Dr. Hardbrick an den besagten stillen Treffpunkt und lauschte einige Minuten auf das Rauschen der Brandung, die sich an etwa hundert Meter unter ihnen liegenden Klippen brach. Dann erzählte Mr. Hardbrick alles, was er von seinem Besuch in Hogwarts wußte, beschrieb Mrs. Priestley und Mrs. Andrews so genau, wie er sich noch erinnern konnte. Richard Andrews hörte nur zu. Als Dr. Hardbrick noch erzählte, daß er fast in den Bann eines verfluchten Mädchens geraten sei und von "der McGonagall" wegen seiner Kritik an der Zaubererwelt für einige Minuten in eine Maus verwandelt worden war, wie auch seine Frau, liefen Richard Andrews kalte Angstschauer über den Rücken. Da Hardbrick alles sehr genau beschrieb, fand Mr. Andrews keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Er fragte sich nur, ob er nicht getestet werden sollte, womöglich um zu klären, ob er für die Zaubererwelt noch eine Bedrohung sei. Doch je mehr Dr. Hardbrick berichtete, desto sicherer war sich Richard Andrews, daß dieser Mann ein ungewollter Bundesgenosse war, der zwar seine eigene Schlacht schlagen wollte aber dafür Gleichgesinnte benötigte.
"Was haben Sie denn unternommen, um Ihren Sohn von Hogwarts abzubringen?" Fragte Mr. Andrews.
"Wir konnten offenbar nicht verhindern, daß Henry von diesen Leuten gezwungen wurde, Prüfungen abzulegen, die er an der unteren Grenze der zulässigen Noten bestanden hat. Als er zu uns zurückkehrte, erzählte er uns davon, daß bei diesem Wettkampf einer seiner sogenannten Hauskameraden einfach so starb, als er mit einem anderen Hogwarts-Schüler von irgendeinem sogenannten dunklen Lord entführt worden war. Henry hat dieses Ereignis total verschüchtert, ja in sich gekehrt. Das war für uns ein willkommener Anlaß, ihn in ein diskretes Sanatorium einweisen zu lassen. Ein Studienkamerad von mir ist aprobierter Psychiater und Betreiber einer Einrichtung in Yorkshire. Wo genau Henry nun ist, sage ich nicht. Ich erfuhr nur, daß er dort mit Einverständnis meiner Frau und mir ruhiggestellt wurde. Allerdings sei es zwischenzeitlich zu merkwürdigen Erscheinungen gekommen, wie tanzende Teetassen oder sich selbst aufklappende Bücher. Aber nun ist Henry so stark ruhiggestellt, daß derlei nicht mehr passieren kann. Meine Frau und ich müssen nur aufpassen, daß uns diese Zauberer und Hexen nicht draufkommen. Aber wenn das neue Schuljahr anfängt, und Henry sitzt nicht in diesem merkwürdigen Zug, den außer ihm niemand besteigen kann, der nicht in diese Schule geht, schreiben die den sowieso ab. Die werden sich keinen Skandal erlauben, nur wegen eines Jungen."
Richard Andrews schluckte hörbar und starrte gerade aus auf die Kante der Klippen, unter denen sich schäumend die Meereswellen brachen. Die Hardbricks hatten ihren Sohn einfach für geisteskrank erklärt und in einer Nervenklinik untergebracht? Wäre das mit Julius auch die richtige Lösung gewesen?
"Wielange wollen Sie Ihren Sohn in dieser Anstalt, diesem Sanatorium lassen?" Erkundigte sich Mr. Andrews, dem die Vorstellung, einen Jungen durch Drogen jede Kraft und den Willen zu nehmen nicht sonderlich gefiel.
"Bis zum 4. September, wenn alles gut geht, Dr. Andrews. Danach wird er langsam wieder ins normale Leben zurückgeholt und später in ein schweizer Internat geschickt. Diese Hexen und Zauberer können ja nicht alles überwachen."
"Sie sprachen von einem schwarzen Magier, von dem Ihr Sohn geredet hat", griff Richard ein neues Thema auf, das ihn in eine ungemütliche Alarmstimmung versetzt hatte. Dr. Hardbrick nickte bestätigend, sah dabei aber sehr beunruhigt drein.
"Dieser Dumbledore hat denen aufgetischt, daß dieser getötete Junge, Cedric Diggory soll er geheißen haben, von einem Lord Voltagor oder Voldemort oder ähnlich getötet worden sein soll. Ich persönlich glaube eher, daß dieser Cedric Diggory zu mächtig geworden ist und wie durch einen Unfall ums Leben kam, weil Dumbledore das nicht hinnehmen konnte. Wo ich jung und unbedarft war, habe ich mich durch viele Schundromane über Teufelsanbeter und Hexerei gelesen. Da kamen manche Hexenmeister vor, die ihre Lehrlinge gezielt ermordet haben, weil ihnen von denen Gefahr drohte, oder sie haben sie dem Teufel oder irgendwelchen anderen Dämonen geopfert, um selbst mehr Macht zu erlangen."
"Dann glauben Sie nicht, daß ein außenstehender, ein echter Dunkelmagier, diesen Cedric umgebracht hat?" Fragte Richard Andrews.
"Wissen Sie, dieser Dumbledore arbeitet mit echten Riesen zusammen. Wenn er dann noch aus einer anderen sogenannten Zaubererschule, Borbattong oder ähnlich, Hexen mit der Kraft, Männer komplett willenlos zu machen engagiert, würde ich mich nicht wundern, wenn er selbst dieser Dunkelmagier wäre", sagte Hardbrick und schaute sich verstohlen um, ob nicht doch irgendwo ein ungebetener Zuhörer lauerte. Richard Andrews tat es ihm gleich. Doch er wußte auch, daß sich die Hexen und Zauberer unsichtbar machen konnten. Wenn hier welche wären, mußten sie sie nicht sehen. Doch daran wollte er jetzt nicht denken. Er fragte nur:
"Falls dem so ist, glauben Sie nicht, daß Dumbledore es darauf anlegt, unliebsame Mitwisser zu beseitigen? Nachher sind wir alle noch in Lebensgefahr, weil dieser alte Hexenmeister und seine Handlanger befinden, alle aufsässigen Schüler und Eltern zu töten. Wenn diese McGonagall Sie in eine Maus verwandelt hat, kann sie dies jederzeit wieder tun. Diese Sprout kennt magische Unkräuter, die Fleisch fressen und so weiter."
"Deshalb habe ich vorgesorgt, Dr. Andrews. Am besten tun Sie dies auch. Wenn mir oder meiner Familie was passiert, wir einfach verschwinden oder auf merkwürdige Art ums Leben kommen, werden zwei Anwälte und eine Detektivagentur viel Staub aufwirbeln, von der Presse bis zur Polizei, um diesen Unrat ans Licht zu bringen."
"Das können Sie vergessen", warf Richard Andrews entschieden ein. "Die haben Spione und Helfershelfer in der Polizei und auch im Geheimdienst. Ich habe mit diesen Leuten schon meine Erfahrungen gemacht."
"Verdammt!" Stieß Dr. Hardbrick aus. "Was soll ich dann tun?"
"Sich ruhig verhalten und hoffen, daß Ihr Plan funktioniert und keiner von denen drauf kommt, wo Henry nun ist. Wenn man nach ihm fragt, sagen Sie einfach, daß er zu früheren Schulfreunden gereist ist oder geben Sie vor, er sei irgendwo im Ausland! Verweigern Sie jede detaiierte Auskunft. Die sind nicht die Polizei oder sonstige Behörden. Ich habe leider den Fehler gemacht, meinen Sohn nicht gut unterzubringen, sondern ihn zu Leuten geschickt, die sich haben erwischen lassen, als sie meinen Jungen verbergen wollten. Diese Zauberer sind denen draufgekommen und haben Julius kassiert und bei sich untergebracht. Ich habe meine Chance verspielt."
"Und Ihre Frau hat sich auf diese Leute eingelassen", kam Dr. Hardbrick auf seine frühere Enthüllung zurück.
"Das kann und werde ich im Rahmen der Legalität regeln", sagte Dr. Andrews nur, ohne auf Einzelheiten einzugehen.
"Ich wollte Ihnen nicht zu irgendwelchen drastischen Maßnahmen raten, Sir. Ich wollte mit Ihnen nur besprechen, welche Möglichkeiten es gibt, unser väterliches Interesse durchzusetzen. Offenbar konnten Sie mir nicht weiterhelfen", sagte Dr. Hardbrick. Mr. Andrews erwiderte:
"Sie haben mir und vielleicht auch sich einen großen Gefallen getan, Dr. Hardbrick. Mir war und ist daran gelegen, diesen Zirkus so schnell wie möglich zu beenden, ohne dabei zu viel Staub aufzuwirbeln."
"Dann wünsche ich Ihnen noch eine gute Zeit, Dr. Andrews!" Sagte Paul Hardbrick und reichte dem Forschungsleiter einer Chemiefabrik die Hand zum Abschied. Dr. Andrews nahm die Hand und schüttelte sie kurz und knapp. Dann trennten sich die Wege der beiden Väter je eines jungen Zauberers.
Auf der Rückfahrt von Devon dachte Dr. Andrews darüber nach, was er machen konnte, ohne das bisherige Bild seiner Familie ins Wanken zu bringen oder anderweitig ins Gerede zu kommen. Er dachte immer wieder daran, daß seine Frau Martha mit diesen Leuten von Hogwarts und wohl auch aus Millemerveilles paktierte. Vielleicht, so dachte er, hatten die ihr zum Dank für ihre Kooperation sogar einen Besuch bei Julius in Millemerveilles erlaubt, ihr dort endgültig per Hexerei oder Hypnose Anweisungen erteilt, wie sie sich zukünftig verhalten sollte. Je länger er darüber nachdachte, desto deutlicher trat es vor sein geistiges Auge, wie Martha von dieser Madame Dusoleil, die ihn für mehrere Tage in eine Horror-Dornenhecke eingeschlossen hatte, seiner Frau die Hand gab und mit ihr zusammen plante, mit ihm fertig zu werden. Ja! Das war ein guter Ansatzpunkt! Er mußte davon ausgehen, daß es dieser Priestley, die Julius unter seinen Augen entführt hatte, nicht damit genug sei, Julius bei sich zu haben, sondern daß sie auch sicherstellen mußte, daß dessen Eltern gefügig gehalten wurden. Wenn seine Frau nun programmiert war, ihn ebenfalls umzustimmen, schwebte er wirklich in einer großen Gefahr. Ihm fiel ein, was er den Brickstons geschrieben hatte. Er hatte vor einem Jahr versucht, Julius von diesen verstecken zu lassen, indem er einen Brief an sie geschickt hatte, in dem stand, daß Julius drohte, in die Abhängigkeit von einer gewinn- und machtgierigen Sekte zu geraten. Warum sollte das nicht auch bei seiner Frau funktionieren? Er mußte lediglich Beweise beibringen, die Marthas Zugehörigkeit zu einer Sekte bestätigten, vielleicht sogar Beweise, daß sie nicht mehr zurechnungsfähig war.
Fast hätte er seinen Bentley unter einem zwölf Meter langen Lastwagen verkeilt und damit wohl alle Probleme für sich endgültig gelöst, zum Preis seines Lebens. Gerade noch rechtzeitig erkannte er jedoch die Gefahr und wich dem langen Ungetüm mit zehn Achsen aus und konzentrierte sich auf seinen Heimweg.
In seinem Büro angekommen zwang er sich zur Konzentration auf die Projektunterlagen. Er stellte beruhigt fest, daß alle Versuchsergebnisse wie zu ungefähr erwarteten Ergebnissen geführt hatten und darauf aufbauend Anschlußexperimente durchgeführt werden konnten, um einige Ergebnisse zu bestätigen oder fragwürdige Ergebnisse zu prüfen. Um neun Uhr abends rief er kurz bei seiner Frau an und teilte ihr mit, daß es etwas später werden würde. Dann rief er per Handy Herbert Freemont alias Rodney Underhill, seinen Freund vom Geheimdienst an. Ihm war etwas eingefallen, was er klären mußte, bevor er seinen groben Plan verfeinern und ausführen würde.
"Mr. Freemont, ich muß Sie noch mal treffen, weil die gestrige Angelegenheit bedauerlicherweise zum negativen Ergebnis führte", sagte Richard Andrews nur. Rodney alias Herbert Freemont erwiderte:
"Haben sich die Ihnen mitgeteilten Nachrichten bestätigt?"
"Bedauerlicherweise ja", sagte Richard Andrews.
"Dann morgen früh um neun bei unserem langohrigen Partner", sagte Rodney Underhill und legte auf. Richard Andrews' verbittertes Gesicht änderte sich zu einer zufriedenen Grimasse. Morgen um neun würde er in der Nähe des Pubs zum betrunkenen Esel mit seinem Freund und Bundesgenossen zusammentreffen. Der betrunkene Esel war ein Pub, den Rodney und er vor dreizehn Jahren als hoffnungsvolle Diplom-Anwärter häufig besucht hatten. Nun wollten sie sich davor treffen. Wohin es dann gehen würde, wußte Richard nicht. Doch er dachte über seinen Plan nach, den er auf alle Widersprüchlichkeiten abklopfte und umänderte, bis er etwas hatte, was schnell aber wirkungsvoll durchzuführen war.
Es machte ihm nichts aus, daß seine Frau bemerkte, wie er ständig über etwas nachdachte. Er warf ihr einige Arbeitsgänge und chemische Begriffe vor und berief sich darauf, daß er damit in den nächsten Tagen viel zu tun haben würde. Martha Andrews, die den Arbeitseifer ihres Mannes zur Genüge kannte, nahm dies wohl als glaubhafte Begründung für seine nachdenkliche Miene und sein Schweigen, das er nur für notwendige Worte unterbrach. Im Bett grübelte er noch darüber, wie schnell sein Vorhaben gelingen konnte. Das hing von Rodney Underhill ab.
Zwei Tage später, man schrieb den achten August. Martha Andrews hatte auch ihre Arbeit wieder aufgenommen und sich in laufende Projekte vertieft. So kam es, daß sie abends um elf Uhr noch vor dem Computer saß und Unterprogrammentwürfe prüfte.
Erst glaubte sie, ein Windhauch wäre durch das Zimmer gegangen. Doch sie hatte das Fenster geschlossen, um die hauseigene Alarmanlage scharfstellen zu können. Doch was war dieses kurze leise Säuseln, daß das leise Summen und Rauschen der Computerkühlung überlagert hatte? Sie lauschte in die sonst vorherrschende Stille hinein. Doch nichts tat sich. Nach etwa einer Minute arbeitete sie weiter.
"Martha sei folgsam! Befolge den Auftrag!" Flüsterte eine unortbare, geschlechtslose Stimme mit einem leichten Nachhall. Martha Andrews schrak wegen dieses absolut unerwarteten Lautes zusammen und fuhr herum. Ihr Herz begann mit mehr als hundert Schlägen pro Minute zu pochen.
"Ist da wer?" Fragte sie in den Raum, obwohl sie niemanden sah. Doch sie dachte an jemanden, der unsichtbar sein konnte. Niemand regte sich oder gab ihr eine Antwort. So führte sie das gehörte auf ihre überanstrengten Nerven zurück und nahm sich die Programmzeilen auf dem Monitor ihres Rechners vor.
Die winzige Zeitanzeige im unteren Bereich des Bildes zeigte 23:42:22 an, als sie wieder etwas ungewöhnliches hörte.
"Befolge deinen Auftrag, Martha! Gib ihm das Elixier!" Flüsterte die unheimliche Stimme, von der Martha nicht sagen konnte, aus welcher Richtung sie kam. Wieder erschrak sie und lauschte in den Raum. Nun hatte sie drei fremdartige Lautäußerungen gehört, die eindeutig und deutlich an sie, Martha Andrews, gerichtet gewesen waren. Unvermittelt erklang die Stimme wieder, geisterhaft aus dem Nichts heranschwebend und sofort verhallend.
"Erfülle deinen Auftrag, Martha! Gib deinem Mann Richard das Elixier!"
"Verdammt, da macht sich wer über mich lustig!" Fuhr es Martha durch den Kopf. Sie beendete ihre Sitzung am Computer, indem sie das gerade erstellte Programmgerüst abspeicherte, aus der Programmiersprachenanwendung herausging und den Rechner herunterfuhr. Als sie ihn nach Bestätigung, daß das Betriebssystem ordentlich heruntergefahren worden war abschaltete, wurde es ganz still im Arbeitszimmer. Martha hoffte, ein leises Brummen oder Rauschen hören zu müssen, wie es ein heimlich versteckter Lautsprecher von sich geben mußte, wenn sonst nichts zu hören war. Doch da war nichts!
"Erfülle deinen Auftrag, Martha! Gib Richard das Elixier der Fügsamkeit, morgen in seinen Tee!" Drang die geisterhaft klingende Stimme in ihre Ohren. Sie hatte nichts an sich, was auf einen technischen Ursprung deutete, schwebte förmlich um sie herum, nicht auszumachen, woher sie kam.
"Verdammt!" Fluchte Martha in Gedanken. Sie griff zum Telefon und rief ihren Mann an. Sie wollte wissen, wann er von seinem Büro zurückkehrte. Sie hörte, wie es im Hörer knackte, dann kam das Rufzeichen des Mobilfunknetzes. Offenbar hatte Richard Anrufe über seine Büronummer auf sein Handy weiterleiten lassen, erkannte Martha Andrews.
"Hallo!" Meldete sich Richard Andrews nachdem der Rufton drei mal erklungen war.
"Richard, bist du unterwegs nach Hause?" Fragte Martha. Richard sagte:
"Ich bin gerade von der Firma weg, Martha. Ich bin wohl in zehn Minuten zu Hause."
"Ich fürchte, irgendwer hat hier im Haus einen Casettenrekorder versteckt, der ...", setzte Martha an, als die unheimliche Geisterstimme wieder erklang.
"Erfülle deinen Auftrag, Martha! Gib deinem mann das Elixier der Fügsamkeit, Morgen!"
"Was ist Martha?" Fragte Richard Andrews mit besorgt klingender Stimme.
"Hast du das nicht gehört. Irgendwer spielt mir eine Gespensterbotschaft vor, wenngleich ich nicht weiß, wo das Abspielgerät sein soll."
"Ich habe nichts gehört, Martha", sagte Richard Andrews irritiert klingend. Dann kam die Stimme wieder:
"Erfülle deinen Auftrag, martha! Morgen früh gibst du deinem Mann das Elixier der Fügsamkeit!"
"Das mußt du doch gehört haben", wandte sich Martha Andrews an ihren Mann. Dieser sagte jedoch:
"Ich höre nur, daß du irgendwie aufgeregt bist, Martha. Ich sehe zu, daß ich nach Hause komme."
"Ja, mach das!" Sagte Mrs. Andrews schnell. Dann legte sie den Hörer auf. Sie begann, das ganze Arbeitszimmer gründlich abzusuchen. Wie konnte hier jemand etwas eingebaut haben? Außer ihr, Richard und Mrs. Summerbee, die gestern noch hier beim Putzen geholfen hatte, war niemand im Haus gewesen. Niemand? Was wäre, wenn die Zauberer, die Mrs. Stalker gesehen hatte, irgendwas hier verhext hatten? Sie erinnerte sich an den Anruf am 14. Juli, der von ihrer Nachbarin Mrs. Stalker gekommen war. Diese hatte merkwürdige Leute in Umhängen um das Haus herumschleichen gesehen, einer davon hatte wohl einen Zauberstab herumgewedelt. Catherine, die sie im Verlauf der restlichen Urlaubstage, bevor Richard aus Toulouse zurückgekehrt war, nach diesen Leuten gefragt hatte, hatte ihr erzählt, daß diese Zauberer lediglich sicherstellen wollten, daß keine ungebetenen Besucher aus der Zaubererwelt in dieses Haus eindringen konnten. Martha hatte darauf hin gefragt, ob für diese Maßnahme ein Grund bestehe und zur Antwort bekommen, daß es böse Hexen und Zauberer gab, die es auf die Eltern hochbegabter Zauberer abgesehen hatten. Einzelheiten, so Catherine, dürfe sie jedoch nicht verraten, weil dies in die Geheimhaltung fiele.
"Haben die mich verulkt? Versuchen die nicht eher, Richard und mich zu verunsichern und Catherine hängt da mit drin?" Fragte sich Martha Andrews. Sie hatte Richard nicht erzählt, daß Catherine und ihre Mutter Hexen waren. Das wollte sie für sich behalten, alleine um mit Julius Kontakt halten zu können.
"Martha, erfülle deinen Auftrag!" Drang wieder die Geisterstimme an ihre Ohren. Martha fiel nicht ein, sich die Ohren zuzuhalten, um festzustellen, ob sie sich diese Stimme nur einbildete oder tatsächlich hörte. Richard hätte sie ja dann auch hören müssen.
Draußen brummte der Motor eines herankommenden Autos. Das fernsteuerbare Garagentor fuhr surrend auf und ließ den Wagen durch. Martha Andrews atmete erleichtert durch. Sie lief und öffnete ihrem Mann die Zugangstür von der Garage zum Haus. Richard Andrews betrat das Haus und begrüßte seine Frau, wobei er ein erleichtertes Gesicht machte.
"Hast du diese Stimme oder was es war wieder hören können?" Fragte Richard Andrews besorgt.
"Noch ein paar mal. Aber seit einigen Minuten schweigt sie."
"Und, was sagt sie dir?"
"Das ich irgendeinen Auftrag erfüllen soll", sagte Martha Andrews, verschwieg jedoch, worum es sich genau handelte. Richard Andrews schüttelte den Kopf. Dann wollte er sich das Arbeitszimmer ansehen, wo seine Frau die merkwürdige Stimme gehört haben wollte.
Im Arbeitszimmer war nichts außergewöhnliches. Der Computer stand still unter dem Schreibtisch, der Bildschirm schimmerte mattgrau und leer auf dem Tisch. Nichts deutete auf eine unheimliche Gespensterstimme hin, die hier vor einigen Minuten zu hören gewesen war. Richard Andrews klopfte die Wände ab, stampfte auf dem dunkelbraunen Teppich herum und reckte sich mit in den Nacken geworfenen Kopf zur Decke hoch. Doch er fand nichts, was verdächtig genug gewesen wäre. Er und seine Frau wollten gerade hinausgehen, als die unheimliche Stimme erneut erklang, diesmal lauter, wenngleich immer noch als geisterhaftes Flüstern.
"Martha, erfülle deinen Auftrag! Gib deinem Mann vom Elixier der Fügsamkeit! Gib es ihm morgen beim Frühstück!"
Richard sagte etwas, warum Martha so merkwürdig dreinschaute. Als sie ihm erzählte, diese Stimme wieder gehört zu haben, sah er sie mit besorgter Miene an. Sein Körper verkrampfte sich leicht, wie gespannt zum schnellen Sprung zurück.
"Martha, da war keine Stimme zu hören. Vielleicht bist du nur überreizt. Du hast doch diesen Auftrag, diese Programme durchzuführen. Vielleicht ist es dein schlechtes Gewissen."
"Hmm, vielleicht ist es das", sagte Martha Andrews, klang dabei aber nicht sonderlich überzeugt.
"Dann gehen wir am besten schlafen, bevor ich auch noch anfange, Stimmen zu hören", erwiderte Richard mit leicht gehässigem Unterton.
Martha Andrews lag lange wach, lauschte in die Stille der Nacht. Auf der Winston-Churchill-Straße ebbte der Autoverkehr ab, und die Geräusche der großen londoner Straßen drangen wie fernes Meeresrauschen durch die wegen der Alarmanlage geschlossenen Fenster. Ab und zu meinte die Programmiererin, die unheimliche, nur von ihr vernehmbare Stimme wieder zu hören, doch es handelte sich stets um in der ferne schwatzende Nachtbummler. Dann sirrte es irgendwo über ihr. Sie schrak hoch, lauschte und erkannte, daß eine Mücke durch eines der Fenster hereingekommen sein mußte und nun, wo alle Fenster zu und die Hauseigentümer ruhig dalagen, auf Blut ausging. Martha Andrews nahm eine neben dem Bett bereitliegende Illustrierte, wartete, bis sie die Mücke genau an einer Wand hinter dem Kopfende hören konnte, zielte im dunkeln und schlug zu. Klatsch! Richard Andrews fuhr aus der ersten Tiefschlafphase hoch und wandte sich seiner Frau zu.
"Was war denn jetzt los?" Fragte er schlaftrunken.
"Nur eine Mücke, Richard. Ich habe sie hoffentlich erwischt", sagte seine Frau, knipste das Licht an und stellte fest, daß sie immer noch ein sehr gutes Richtungsgehör besitzen mußte. Denn auf der Seite, mit der die Illustrierte die Wand getroffen hatte, klebte rot und schwarz eine ausgequetschte Insektenleiche. Richard sah angewidert von der Illustrierten ab. Er konnte schon immer kein Blut sehen, weder bei Menschen noch bei Tieren.
"Dann mach das Licht wieder aus, Martha. Deine Nachtgespenster haben jetzt wohl auch Sendepause", grummelte Richard, legte sich auf sein Kissen zurück und schloß die Augen. Martha Andrews schaltete das Licht aus, warf die Illustrierte mit der Mückentodseite nach oben auf den Nachttisch zurück und drehte sich in ihre bequemste Schlafstellung.
Am nächsten Morgen stand Martha etwas später auf als ihr Mann, der schon unter der Dusche stand, als sie sich aus dem Bett erhob. Sie suchte das Gästebad auf, um dort ihre morgentlichen Verrichtungen zu erledigen, sich anzuziehen und für die Arbeit im Büro ein wenig Schminke und Lippenstift aufzutragen. Als sie soweit angezogen in die Küche hinunterstieg, hatte sie die unheimliche Stimme vom Vorabend wieder vergessen. Selbst dann, wenn es wirklich nur eine Einbildung von ihr gewesen war, war ja an dieser Botschaft nichts so schreckenerregendes außer dem Umstand, daß sie erst nicht gewußt hatte, ob sie sie wirklich hörte oder nicht. Aber was war das dann mit dem Elixier der Fügsamkeit? Unvermittelt kamen die Worte der wiederholten Botschaften wieder in ihrem Bewußtsein hoch wie große Luftblasen aus tiefem Wasser.
"Erfülle deinen Auftrag! Gib deinem Mann vom Elixier der Fügsamkeit! Gib es ihm beim Frühstück!" Wisperte die Erinnerung an diese Stimme in Marthas Bewußtsein. Dann schrak sie heftig zusammen. Denn unvermittelt drang diese Geisterstimme wieder klar vernehmlich zu ihr durch.
"Gib deinem Mann vom Elixier der Fügsamkeit!" Martha Andrews stand starr da, wie von einem Blitz getroffen. Sie starrte mit weit geöffneten Augen durch das mit einer frischen weißen Gardine verhangene Fenster hinaus auf die Winston-Churchill-Straße, wo gerade Mr. Stalker, einer ihrer Nachbarn, mit seinem grauen Rover aus der Garage setzte und mit vielfach geübter Geschicklichkeit fast übergangslos auf der Straße davonfuhr.
"Verdammt noch mal!" Fluchte Mrs. Andrews leise. Dann fing sie sich wieder. Für diese Vorkommnisse mußte es eine logische Erklärung geben. Ja, die Logik würde ihr helfen, damit fertig zu werden. Sie überlegte, während sie den Teeschrank öffnete, um frischen Tee und Zucker herauszuholen, was denn dahinterstecken konnte. Sie faßte zusammen:
"Die Stimme flüstert immer. Ich kann nicht hören, ob sie männlich oder weiblich ist. Sie scheint wie umgekehrter Widerhall aus dem Nichts anzufliegen und sofort wieder darin zu verschwinden. Ich hörte sie im Arbeitszimmer und nun hier in der Küche. Richard sagt, daß er sie nicht gehört hat, weder als er mit mir telefoniert hat noch direkt im Arbeitszimmer. Dies läßt zwei Schlüsse zu. Entweder ignoriert er die Stimme, obwohl er sie auch hört. Oder ich kann sie nur alleine hören. Dann ..."
Marthas Gedankengang brach jäh ab, als sie hinter dem Tee ein kleines Fläschchen, eine Phiole mit Korken vorfand. Sie starrte wie das Kaninchen vor der Schlange auf das kleine Glasgefäß ohne Etikett. Sie zog es mit einer mechanisch wirkenden Armbewegung hervor und sah eine klare Flüssigkeit darin schimmern. Unvermittelt kam wieder die geisterhafte Stimme zu ihr:
"Erfülle deinen Auftrag, Martha!"
"Martha, was ist das?" Fragte Richards Stimme von der Küchentür her. Martha hätte die Phiole fast zu Boden fallen lassen. Sie drehte sich um und fragte:
"Was meinst du?"
"Dieses Fläschchen", sagte ihr Mann und nahm ihr einfach die Phiole aus der Hand.
"Das weiß ich nicht", erwiderte Martha, zu jeder vernünftigen Denkarbeit unfähig.
"Du willst mir doch nicht erzählen, daß du nicht weißt, was dieses Fläschchen enthält, Martha. Könnte es nicht eher sein, daß jemand es hier deponiert hat?"
"Wer?" Fragte Martha sich und ihren Mann. Dieser kam sogleich mit einer Antwort.
"Vielleicht Leute aus dieser vermaledeiten Zaubererwelt. Die wollen vielleicht haben, daß wir das schlucken, damit wir draufgehen oder ähnliches."
"Warum sollten die Hexen und Zauberer uns sowas antun?" Fragte Mrs. Andrews, die langsam ein ungewohntes und gleichermaßen unerfreuliches Gefühl empfand: Angst!
"Weil wir denen in die Suppe spucken könnten, Martha. Weil die Julius komplett für sich haben wollen, Martha", sagte Richard mit beschwörender Stimme und fuchtelte mit dem linken Arm vor dem Gesicht seiner Frau herum.
"Das glaube ich nicht", sagte Martha Andrews überhastet. Ihre sonst so gute Selbstbeherrschung wankte, und Richard Andrews sah die aufkommende Angst in den Augen seiner Frau.
"Wieso glaubst du das nicht? Hast du etwa mit denen ausgehandelt, daß die uns in Ruhe lassen sollen?"
"Wie kommst du darauf, daß ich mit Dumbledore oder McGonagall ..." setzte Martha an. Doch ihre sonst so gut beherrschbaren Gesichtszüge gerieten aus ihrer Kontrolle und die in ihrem Kopf herumschwirrenden Gedanken verknäuelten sich, surrten wie aufgescheuchte Hornissen herum oder torkelten ungerichtet von einem Augenblick zum nächsten.
"Ich habe mit denen nichts mehr zu schaffen haben wollen, Martha. Aber du warst ja noch für die empfänglich. Weiß ich, ob die dich nicht noch anschreiben, oder ob die dich nicht sogar zu sich eingeladen haben? Vielleicht hat Snape oder ein anderer Giftmischer von denen dieses nette Andenken hier untergestellt, damit du dich und mich damit umbringen kannst, wenn ... Oh verdammt! Deshalb hörtest du Stimmen", brach es aus Richard heraus. Martha vollzog den Gedankengang mit brutaler Klarheit nach. Ja, so mußte es wirklich gewesen sein. Die Zauberer hatten dieses Haus verhext, sie in Millemerveilles mit diesem Trank gegen den Drang, das Magierdorf zu verlassen behext, sodaß sie für diesen Zauber empfänglich war. Wenn das stimmte, dann war sie in eine geschickte Falle gelaufen. Doch das paßte nicht zusammen. Wieso sollten die Hexen und Zauberer, allen voran Catherine Brickston sich ihr offenbaren. Dies war doch nicht nötig. Daß sie es getan hatten, zu diesem Schluß war sie an Julius' Geburtstag gelangt, mußte einen sehr dringlichen Grund haben. Wenn es nur darum ging, Richard und sie gefügig zu machen, so waren sie Catherine vorher und nachher doch wesentlich mehr ausgeliefert gewesen. Wieso sollte sie dann hier, getrieben von einer unirdischen Stimme, gegen Richard vorgehen? Doch Richard wollte nicht denken. Er schien sich seiner Sache klar zu sein.
"Also haben sie dich tatsächlich bekniet, mit ihnen gemeinsame Sache zu machen. Verdammt noch mal, Martha!" Offenbar mußte Martha Andrews ihr ganzes Gefühlsunterdrückungstraining vergessen haben, denn sie stand mit angstgeweiteten Augen und dem vor schuldbewußter Scham rotem Gesicht vor ihrem Mann, wie ein Angeklagter vor dem Richter, der ihn gerade eines schlimmen Verbrechens überführt hat und gleich sein Urteil fällen würde.
"Ich habe dir doch gesagt, daß diese Leute gefährlich sind, Martha! - Bleib mir vom Leib!" Schnaubte Richard. Martha, die versuchte, auf ihren Mann zuzugehen, schrak vor den ihr abwehrend entgegenfliegenden Armen ihres Mannes zurück. Richard wirkte nun so, als müsse er sich hier und jetzt entscheiden, ob er sie angreifen oder vor ihr davonlaufen sollte. Er trat von einem Fuß auf den anderen, behielt seine Frau im Auge. Und in diese hochgespannte Stimmung flüsterte die unheimliche Gespensterstimme hinein, Martha möge ihrem Mann das Elixier der Fügsamkeit geben. Martha rief ihrem Mann ins Gesicht:
"Diese Stimme ist wieder da, Richard. Hörst du sie auch?!"
"Nein!" Rief Richard aggressiv klingend zurück. Dann sagte er:
"Wir müssen hier raus! Die wollen uns fertig machen!"Er packte seine Frau am Arm und zerrte sie wie besessen hinter sich her. Zurück blieb ein geöffneter Teeschrank und ein auf eine noch nicht eingeschaltete Herdplatte gesetzter Kessel voll Wasser.
Richard schnappte sich die Haus- und Wagenschlüssel vom Schlüsselbrett neben der Dielentür und zog seine Frau mit aller Kraft, die er anwenden konnte hinter sich her. Sie ließ es ruhig geschehen, wie Richard die Zugangstür zwischen Garage und Haus aufschloß und seine Frau hinüberzerrte. Als er sich an der Wagentür des grauen Bentleys zu schaffen machte, stand sie nur da, als habe jemand sie erstarren lassen. Mit einem Wink ohne Worte gebot Richard ihr, einzusteigen und zwar auf den Rücksitz. Da Martha im Moment Ruhe zum denken finden wollte, ließ sie sich auf keine Auseinandersetzung ein, wieso sie auf einmal nicht mehr vorne sitzen durfte und schlüpfte durch die linke Hintertür auf die Rückbank. Sie wollte zwar durchrutschen, um hinter ihrem Mann zu sitzen, doch dieser wies dieses Vorhaben mit einer schnellen Geste zurück.
Martha sah die Entschlossenheit in den Augen ihres Mannes, als dieser sich zu ihr umwandte und sagte:
"Ich fahre dich zu Dr. Collins. Da können wir über alles in Ruhe reden."
"Collins, dieser Nervenarzt?" Fragte seine Frau verunsichert und sah Richard mißtrauisch an.
"Denkst du, ich ignoriere das, wenn du Stimmen hörst, die ich nicht hören kann und mit mir unbekannten Flüssigkeiten hantierst. Nachher hast du noch den posthypnotischen Auftrag, dich und mich zu vergiften oder in eine fügsame Stimmung zu versetzen."
"Wie kommst du auf sowas?" Fragte Martha, während Richard den kraftvollen Motor anließ, mit der Fernsteuerung das Garagentor aufschwingen ließ und den Wagen heraussetzte, um dann mit einem kräftigen Tritt auf das Gaspedal dem großen Auto einen solchen Schwung zu versetzen, daß es förmlich auf die freie Straße sprang und dann in Richtung Norden davonfuhr. Surrend klappte hinter ihm das Garagentor wieder zu und verriegelte sich.
Mrs. Stalker, die Nachbarin vom Haus gegenüber, runzelte die Stirn und warf dem davonbrummenden Bentley einen verstörten Blick nach. Was war passiert? Sie hatte vorhin im Andrews'schen Haus lautes Geschrei, einen heftigen Wortwechsel gehört. Dann hatte Richard Andrews mit seiner Frau das Haus verlassen, wobei Martha auf dem Rücksitz saß und nicht vorne, wie üblich. Das war sehr ungewöhnlich. Stimmte irgendwas nicht mehr in der Ehe der beiden? War ihnen der lange Urlaub in Frankreich nicht bekommen? Sie konnte sich das sehr gut vorstellen, denn die Andrews' arbeiteten beide, hatten, wenn sie das richtig im Gedächtnis hatte, wichtige Anstellungen und sahen sich nur morgens und abends. Eine Freundin von ihr, Amanda Chataway, hatte das ja selbst erlebt, wie sich durch eine Urlaubsreise zum zwanzigsten Hochzeitstag die Ehe unrettbar zerrüttet hatte. Offenbar bekam es arbeitenden Paaren nicht, wenn sie ohne Arbeit für längere Zeit zusammen waren, vermutete die leicht angegraute Mittfünfzigerin und wandte sich wieder der morgentlichen Hausarbeit zu.
Sie war gerade dabei, die Überreste des Frühstücks von Tisch und Fußboden zu wischen, als es an der Tür klingelte. Sie warf den nassen Spüllappen in das Edelstahlspülbecken, lehnte den Schrubber mit dem aufgesteckten Aufnehmer an den Küchenschrank und schlurfte zur Haustür. Durch den runden Türspion betrachtete sie, wer da vor ihrer Tür stand.
Sie sah eine Frau, etwas jünger als sie selbst, die dunkelblondes Haar besaß und in ein kurzärmeliges helles Kleid mit knielangem Saum gehüllt war. Mrs. Stalker legte eine kurze Kette vor die Tür, um zu verhindern, daß die Fremde unvermittelt in ihr Haus hereinstürmen würde, wenn sie die Tür öffnete. Sie schloß die Tür auf und öffnete sie so weit, bis die kräftige kurze Kette straff gespannt war.
"Ja, bitte?" Fragte Mrs. Stalker.
"Mrs. Gladys Stalker, mein Name ist Rosemarie Saunders. Ich bin von Scotland Yard." Sie schob einen Ausweis durch den Türspalt und wartete darauf, daß Mrs. Stalker sich das Dokument genau ansah. Sie nahm es und prüfte es sorgfältig. Ihr Mann Norman hatte ihr einmal einen solchen Ausweis gezeigt, weil dessen Freund Inspektor beim Yard, der Londoner Kriminalpolizei, war. Sie kannte also jedes Merkmal, daß einen echten Polizeiausweis kenntnlich machte und nickte nach einer Minute. Dann löste sie die Türkette, machte die Tür ganz auf und fragte die Fremde:
"Weswegen kommen Sie zu mir, Mrs. Saunders?"
"Möchten Sie das wirklich zwischen Tür und Angeln besprechen, Mrs. Stalker?" Fragte die Fremde zurück. Mrs. Stalker schüttelte verunsichert den Kopf und ließ die Besucherin ein.
Nachdem sie der Besucherin Tee aufgeschüttet hatte, ließ sie sich berichten, was diese wollte.
"Wir beobachten seit geraumer Zeit eine Person, die im Verdacht steht, gegen die Familie Andrews' ein Verbrechen zu planen, eine Entführung um genau zu sein. Wir haben ihn gestern abend hier um das Andrews'sche Haus herumschleichen sehen können. Er gewahrte uns jedoch und verschwand. Die Fahndung nach ihm läuft schon. Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?" Die Frau, die sich als Sergeant Saunders ausgewiesen hatte, holte aus einer kleinen Handtasche ein Foto heraus, auf dem ein Mann um die vierzig mit braunem Haar und braunen Augen zu sehen war. Mrs. Stalker starrte verblüfft auf das Foto und blickte dann verdutzt die Kriminalbeamtin an.
"Den kenne ich. Der ist angeblich ein Freund von Mr. Andrews", sprudelte es ungebremst aus ihr heraus. Sergeant Saunders sah sie erstaunt und dann sehr ernst an.
"Sie kennen diesen Mann?" Forschte sie nach.
"Ja, den habe ich schon ein paar mal gesehen. Der kommt meistens, wenn Mrs. Andrews nicht im Haus ist oder dann, wenn Dr. Andrews irgendwo hingefahren ist. Ich habe nicht gefragt, wer das sein soll, aber von dem, was ich sehen konnte, müssen die beiden gut befreundet sein."
"Haben die beiden Männer Sie einmal gesehen, wie Sie sie beobachtet haben?" Fragte Sergeant Saunders.
"Nein, haben sie nicht. Auch wenn der Mann auf dem Bild hier öfter zu meinem Fenster hochgesehen hat konnte er mich nicht erkennen. Ich habe Gardinen, die bei Tag alles was hier drinnen los ist verbergen, aber einfallendes Licht gut durchlassen."
"Ja, das konnte ich schon sehen, Mrs. Stalker. Der Mann auf diesem Bild hat also nachgesehen, ob man ihn und Dr. Andrews beobachtete. Haben Sie eine Vermutung, wieso er das tat?"
"Hmm, wahrscheinlich deshalb, weil er nicht gesehen werden wollte", antwortete Mrs. Stalker. Die Polizistin nickte und holte ein weiteres Foto aus ihrer Tasche. Es zeigte einen blondhaarigen Mann mit grauen Augen und einem ebenso blonden Oberlippenbart.
"Wer soll das sein?" Fragte Gladys Stalker.
"Kennen Sie ihn nicht?" Kam eine Gegenfrage der Polizeibeamtin. Mrs. Stalker schüttelte verneinend den Kopf.
"Das ist ein und derselbe Mann, Mrs. Stalker. Wir haben ermitteln können, daß er unter mindestens drei Identitäten, also drei verschiedenen Namen und Beschreibungen auftritt. Die beiden Bilder zeigen zwei davon. Über die dritte Identität wissen wir nur, welchen Namen und welche Hintergrundgeschichte er verwendet, haben aber noch kein Foto von seinem für diese Identität benutzten Äußeren Erscheinungsbild."
"Das kann doch nicht derselbe Mann sein. Die Gesichtszüge sind doch anders", bestritt Mrs. Stalker, daß der fotografierte Mann auf dem ersten derselbe Mann wie der auf dem ersten Bild war.
"Nicht ganz. Einige Merkmale lassen sich auch durch bewegliche Masken nicht verändern, wie Augenabstand, Nasen-Mund-Abstand oder der Abstand zwischen Kinn und Ohren. Insofern konnten wir eindeutig bestätigen, es mit derselben Person zu tun zu haben."
"Und wie heißt dieser Mensch?" Fragte Mrs. Stalker nun neugierig auf das zweite Bild blickend.
"Mal abgesehen davon, daß jeder Name nicht sein echter Name sein kann, dürfen wir Ihnen darüber keine Auskunft geben. solange er hier nicht kriminell aufgefallen ist, behalten wir den Namen für uns, unter dem er zurzeit auftritt."
"Ja, aber wenn er doch versucht, die Andrews' auszuspionieren und vielleicht was anstellen will ...", warf Mrs. Stalker ein. Ihr paßte es nicht, daß die Polizistin nichts verraten wollte. Immerhin sollte ja ein echter Verbrecher in dieser Gegend herumlaufen, vielleicht sogar immer noch in der Nähe sein.
"Wie gesagt vermuten wir nur, daß er etwas vorhat, was mit Ihren Nachbarn zu tun hat. Wenn er wieder hier auftaucht wissen wir es ja. Sie sagten, der Mann gebe sich als Freund von Dr. Andrews aus?"
"Zumindest wirkten die beiden so auf mich, Sergeant. Vielleicht ist es auch ein Mitarbeiter von Dr. Andrews."
"Das prüfen wir im Augenblick nach", rückte die Polizeibeamtin heraus.
"Kann ich Sie anrufen, wenn dieser Mensch sich wieder hier herumdrückt?" Fragte Mrs. Stalker aufgeregt.
"Das ist nicht nötig. Wir beobachten dieses Haus eh schon seit einiger Zeit."
Mrs. Stalker fiel ein, was in den letzten Wochen abgelaufen war und wies die Polizistin darauf hin, daß um das Haus der Andrews' merkwürdige Sachen zu sehen gewesen waren. Sie berichtete von den Leuten in den schwarzen Umhängen, von denen Mrs. Andrews sagte, es seien wohl frühere Schulfreunde von Julius gewesen, die sich einen gruseligen Scherz erlaubt hatten. Sie erzählte auch davon, daß Julius wohl auf eine unbekannte Schule ginge, weil ihn das Nobelinternat Eton nicht hatte unterbringen wollen. Sergeant Saunders notierte sich einige Angaben und schloß dann die kurze Befragung ab.
"Wahrscheinlich hatte Mrs. Andrews recht. Diese Leute in den Umhängen könnten nur geprüft haben, ob man ungesehen an das Haus der Andrews' herankommen und dort wichtige Vorbereitungen für Straftaten ausführen kann. Wissen Sie eigentlich, wo sich der Sohn der Familie Andrews derzeit aufhält?"
"Nachdem, was Mrs. Andrews mir erzählt hat ist er in einem Ferienlager in Frankreich, offenbar im Süden."
"Danke, Mrs. Stalker", beschloß die Polizistin diese Befragung und verabschiedete sich von der Nachbarin der Andrews'. Als sie durch die Haustür ging, steuerte sie einen versetzt geparkten grauen Rover an, öffnete die Beifahrertür und stieg ein. Der Wagen startete und verschwand nach wenigen Metern um die Ecke zur nächsten Querstraße links vom Andrews'schen Haus.
"Und, hat diese Mrs. Stalker den netten Herrn gesehen, Alecto?" Fragte eine Frauenstimme von der Rückbank des Wagens her. Die Frau, die sich Mrs. Stalker gegenüber als Sergeant Saunders von Scotland Yard ausgegeben hatte, nickte. Obwohl es so aussah, als säße sie alleine im Wagen, war es ihr weder unheimlich noch unerwartet, daß sie von der Rückbank her angesprochen worden war. Als der Wagen um die nächste Straßenecke bog, tauchte ein über der Rückbank schwebender Kopf mit rotbraunem Haar und graublauen Augen auf, dem ein Hals, ein in hellgrünen Stoff gehüllter Frauenoberkörper und schließlich ein Unterleib mit hellgrünem Rock und halbhohen weißen Schuhen folgte.
"Es ist gut, daß sie mich informiert haben, daß dieser Freund von Richard Andrews sich in dieser Straße herumtreibt, Alecto", sagte die auf wundersame Weise aufgetauchte Frau auf dem Rücksitz. "Ich fürchte, der nette herr Doktor der Naturwissenschaften hat es noch nicht verwunden, daß wir uns gegen seine ignorante Einstellung durchgesetzt haben."
"Wenn meine Leute das richtig rausgekriegt haben, dann ist Rodney Underhill wieder im Auftrag von Mr. Andrews tätig."
"Interessant. Offenbar hat das was mit der Angelegenheit zu tun, weswegen Ronin mich angesprochen hat. Er hat ja die Angelegenheit Hardbrick zugeteilt bekommen, wie Sie wissen."
"Ja, dies ist mir bekannt, zumal ja auch von dieser Familie Unternehmungen betrieben wurden und werden, die gegen unsere Geheimhaltungsgesetze verstoßen", erwiderte die Frau, die sich vorhin noch als Polizistin ausgegeben hatte.
"Ronin hat mir geschrieben, daß Hardbrick sich mit Mr. Andrews getroffen hat. Die beiden machten es geheimnisvoll. Doch wegen des erbitterten Widerstandes der Hardbricks stehen Vater, Mutter und Bruder von Henry Hardbrick ja unter Beobachtung. Ich fürchte, wir müssen drastischere Maßnahmen ergreifen, wenn das so weiter geht", sagte die Frau in hellem Grün.
"Hmm, dann befürchte ich, daß es demnächst zu einer Aktion gegen Mrs. Andrews kommen kann, June. Wenn dieser Dr. Hardbrick sich mit Dr. Andrews getroffen hat, ist zu vermuten, daß Hardbrick Richard Andrews berichtet hat, daß Mrs. Andrews in Hogwarts war. Die Animositäten von Richard Andrews gegen unsere Welt füllen ja schon einen großen Aktenordner."
"Das befürchte ich auch, Alecto. Wir sollten in allernächster Zeit mit Mrs. Andrews Kontakt aufnehmen, am besten warnen wir sie heute noch", sagte die mit June angesprochene Frau auf der Rückbank.
"Das fällt in Ihren Zuständigkeitsbereich, June. Ich bin beauftragt, zu prüfen, ob dieser Rodney Underhill oder Herbert Freemont neuerlich versucht, gegen uns zu arbeiten."
"Das verstehe ich, Alecto. Fahren wir zunächst ins Ministerium."
Der Rover bog in eine weitere Querstraße ein, die zurzeit nicht befahren wurde und verschwand unvermittelt, als habe er sich unsichtbar gemacht oder in Luft aufgelöst.
Martha Andrews überlegte während der Autofahrt, was passiert war und warum sie in dieser Situation war. Hatte es wirklich mit dieser unheimlichen Stimme angefangen, die ihr einzureden versucht hatte, Richard ein Fügsamkeitselixier zu geben? Was war in der kleinen Phiole, die im Teeschrank aufbewahrt worden war? Hatten die Zauberer sie tatsächlich zu einer Marionette gemacht? - Nein! Dies konnte und wollte sie nicht als Lösung hinnehmen. Sie begann, wieder die Logik zu bemühen, der sie ihren Erfolg bei Arbeit und Freizeit verdankte. Sie erinnerte sich daran, was sie Julius schon früh beigebracht hatte. Alle Vorkommnisse konnten durch die Beantwortung von sechs Fragen ergründet werden. Wer? Wo? Was? Wie? Wann? Warum? So legte sie sich die Geschichte noch mal vor und ging sie mit diesen sechs Fragen an.
Was war passiert? Sie hatte nach ihrer Rückkehr aus Frankreich wieder zu arbeiten begonnen, ihr Mann auch. Dann hatte sie gestern abend diese Geisterbotschaft, vielleicht auch eine nachhaltige Hypnoseanweisung gehört, in der sie beauftragt wurde, ihrem Mann ein Elixier zu geben, das sie augenscheinlich im Teeschrank aufbewahrt hatte.
Wo war dies alles Passiert? Die Stimme hatte sie im Arbeitszimmer und in der Küche gehört. Nur dort hatte sie sie gehört. Diesen Umstand wollte sie sich für eine weitere Gedankenrunde vorbehalten.
Wann hatte sie diese Stimme zuerst gehört? Es war so nach elf Uhr abends gewesen. Sie hatte sie nur vier oder fünfmal gehört. Halt! Da war noch das erste Geräusch gewesen, daß sie für Windsäuseln hätte halten wollen, wenn das Fenster geöffnet gewesen wäre. Dann am Morgen hatte sie diese Stimme wieder gehört, gerade als sie dieses Fläschchen aus dem Schrank geholt hatte.
Wie lief das alles ab? Das konnte einerseits ein Casetten- oder CD-Abspielgerät sein, welches gut versteckt worden war oder eben eine Stimme aus dem Nichts oder ihrem eigenen Bewußtsein. Doch sie hatte diese Stimme deutlich gehört, wenn sie sie auch nicht räumlich orten konnte.
Warum hatte nur sie diese Stimme gehört? Dies ließ nur den Schluß zu, daß diese Botschaft wirklich nur für sie bestimmt war also nur in ihren Geist hinein geflüstert wurde. Doch konnte das der einzige Schluß sein? Sie nahm sich noch mal die Frage vor: Warum war diese Stimme nicht überall zu hören und ständig?
Wenn es tatsächlich eine geistige Beeinflussung oder Halluzination, eine Sinnestäuschung, gewesen wäre, hätte sie diese Stimme doch überall immer wieder hören müssen, denn im Arbeitszimmer war sie ja immer lauter und eindringlicher erklungen. Außerdem, so führte sie den Gedanken fort, hatte diese Stimme immer geflüstert, nie laut betont gesprochen. Warum sollte sie nur geflüsterte Botschaften hören? Eine Antwort darauf konnte heißen: Jemand wollte verbergen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Aber warum dies schon wieder? Weil, so Martha, sie die Person oder Personen kannte.
"Was grübelst du, Martha?" Rief Richard Andrews seine Frau in die Gegenwart zurück. Doch diese sagte nur:
"Ich frage mich, ob ich irgendwas verkehrtes gemacht habe, Richard."
"Was hast du verkehrt gemacht? Hast du dich mit diesen gefährlichen Leuten eingelassen?"
"Welchen gefährlichen Leuten, Richard?" Fragte Martha zurück.
"Diesen Hexen und Zauberern", stieß Richard aus und verzog kurz das Lenkrad. Die Servolenkung des Bentleys sprach darauf sehr empfindlich an und ließ den Luxuswagen einen Schlenker nach links und rechts ausführen.
"Du hast dich auch mit diesen Leuten eingelassen, Richard. Du hast versucht, Julius von uns fernzuhalten, indem du sie provoziert hast. Könnte es nicht sein, daß du mehr Angst vor denen hast, als nötig gewesen wäre?"
"Ich habe keine Angst vor denen. Sicher die sind übermächtig, könnten mit dir oder mir was merkwürdiges anstellen. Aber die wollen ja geheim bleiben. Also werden sie mir schon nichts tun. Es sei denn, sie machen sich wen Untertan und lassen ihn oder sie gegen mich vorgehen."
"Du unterstellst mir also, eine Marionette zu sein, eine magisch versklavte Frau?"
"Nachdem, wie du dich aufgeführt hast muß ich das annehmen. Bleib bloß ruhig sitzen, Martha! Ich will nicht gezwungen sein, mich zu wehren", sagte Richard und ließ das Handschuhfach aufspringen. Martha erkannte eine kleine Pistole, die darin lag. Richard konnte sie mit einem schnellen Griff in die Hand bekommen.
"Das glaubst du im ernst, daß ich von denen beeinflußt worden bin", keuchte Martha, der ein immer dickerer Kloß im Hals saß.
"Ich sage dazu nichts mehr", erwiderte Richard Andrews und beschleunigte den Wagen, sodaß Martha zurück in den Sitz geworfen wurde.
"Er hat es rausgekriegt", fuhr es ihr durch den Kopf. "Irgendwas habe ich nicht richtig verbergen können. Aber vielleicht hat ihm auch jemand verraten, daß ich mit der Zaubererwelt in Kontakt stehe. Joe kann es nicht gewesen sein, weil Catherine ihm bestimmt nichts erzählt hat, daß ich in Millemerveilles war. Also kann es nur ein anderer Zauberer gewesen sein, oder vielleicht ... Natürlich, die Hardbricks!" Vollendete Martha ihren Gedankengang. Dann wollte sie noch mal an die Fragen herangehen. Doch Richard bremste scharf und lenkte den Bentley auf einen Parkplatz. Er fischte die Pistole aus dem Handschuhfach, steckte sie so gut fort, daß sie unter dem Jacket nicht so leicht zu erkennen war und wies seine Frau an, auszusteigen.
"Wenn die was mit dir angestellt haben, Martha, dann kriegt Collins das sicher raus und kann es behandeln", sagte er mit einer gefühllosen Stimme wie ein elektronischer Anrufbeantworter.
Das Haus, in dem Dr. Collins seine Praxis betrieb, war ein kleines rotes Backsteinhaus in einem der besseren Viertel der Londoner Weststadt. Martha kannte es nur von kurzen Erzählungen ihres Mannes und eben dieses Arztes, der auf Gemüts- und Stresserkrankungen spezialisiert war und einige prominente Patienten in seiner Kartei führte. Martha, die zu der logischen Erkenntnis gelangt war, das Spiel erst einmal mitzuspielen, um zu sehen, wer nach welchen Regeln spielte, ließ sich von Richard ohne Widerstand in die Praxis führen. Sie fragte sich, ob der berühmte Arzt auch Zeit hatte. Es war ja gerade erst Sprechstundenbeginn.
"Guten Morgen, die Dame und der Herr! Haben Sie einen Termin bei Dr. Collins?" Fragte eine junge Frau in Schwesterntracht an der Rezeption der mit edlen Tropenholzmöbeln und Kopien berühmter Gemälde geschmückten Praxis.
"Ich bin Dr. Richard Andrews, Forschungsdirektor bei Omniplast. Dies ist meine Frau Martha, Programmiererin bei der International Trading Logistics Company. Es ist sehr dringend", sprach Dr. Richard Andrews auf die junge Frau ein. Diese drückte einige Tasten an ihrem Computer, las was vom Bildschirm ab und sah Richard etwas ungehalten an.
"Der Terminplan ist voll, ich wüßte nicht, Sie jetzt unterzubringen. Was wollen Sie überhaupt bei uns?"
"Kommen Sie mir bitte nicht unhöflich, junge Dame!" Maßregelte Dr. Andrews die Arzthelferin. "Meine Frau leidet unter einer Art Streß, erfüllungsstreß, wenn ich das so beschreiben darf. Es könnte sogar schlimmer sein."
"Schlimmeres ist im Laufe des Tages schon im Programm, Sir. Sie hätten einen Termin machen müssen. Wenn es wirklich so drastisch eilig ist, müssen Sie sich an die psychiatrische Ambulanz im Zentralkrankenhaus wenden."
"Nancy, was geht bei Ihnen vor?" fragte die sonore Baritonstimme eines Mannes durch eine angelehnte Tür, die wohl ins Sprech- und Behandlungszimmer führte.
"Ein Ehepaar Andrews ist da. Der Mann behauptet, mit seiner Frau sei etwas nicht in Ordnung, Doktor", erwiderte die Arzthelferin.
"Andrews? Schicken Sie die beiden kurz zu mir! Aber sagen Sie mir bitte bescheid, wenn der erste Patient eintrifft!"
"Wie Sie wünschen, Doktor", erwiderte die Arzthelferin mit unterwürfiger Körperhaltung und Stimmlage. Richard griff sanft den Arm seiner Frau und zog sie hinter sich her. Sie fügte sich und folgte ihm in das Sprechzimmer.
Dr. Collins war ein sportlich wirkender, wohl an die vierzig Jahre zählender Mann mit dunkelbraunem Haar und hellgrauen Augen, die Stärke und Beharrlichkeit ausstrahlten. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug mit weißem Hemd und einer dunkelblauen Fliege und saß auf einem Bürostuhl mit breiter Rückenlehne und leicht nach unten gebogenen Armlehnen. martha sah, daß er zum eindeutig englischen Anzug italienische Schuhe trug und warf kurz einen Blick auf Richard. Da fiel ihr auf, daß dieser gegen seine übliche Gewohnheit, zum Frühstück nur in Hauspantoffeln zu erscheinen, seine für die Büroarbeit bevorzugten schwarzen Halbschuhe trug. Sie selbst hatte keine Zeit gehabt, ihre Hausschuhe gegen Straßenschuhe zu tauschen. Das kam ihr merkwürdig vor, paßte jedoch merkwürdigerweise aber auch in ein Bild, das sie noch nicht klar umrissen sehen konnte.
"Hallo, Richard! Lange nicht mehr gesehen", begrüßte Dr. Collins Richard Andrews. Richard lief leicht rot an. Offenbar war ihm diese direkte, ja kumpelhafte Begrüßung in diesem Moment peinlich. Doch er fing sich schnell wieder und sagte:
"Hallo, Vergil. Ich komme ja auch nur zu dir, weil ich ein Problem habe."
"Hat der Job dich doch noch überfordert?" Fragte Dr. Collins mit leicht unpassendem Grinsen auf dem Gesicht.
"Mich nicht, aber Martha", sagte Richard und deutete auf seine Frau. Diese sah ihren Mann mit einer Maske fehlender Gefühle an und blickte dann in die Stärke und Beharrlichkeit ausstrahlenden Augen des Arztes für Streß- und Gemütskrankheiten.
"Mein Mann glaubt, ich leide unter Halluzinationen, weil ich gestern abend meinte, irgendwelche Stimmen gehört zu haben, Dr. Collins", sagte sie ohne Anflug von Aufregung.
"Moment, Martha! Du hast diese Stimmen mehrmals gehört, hast du mir erzählt", warf Richard Andrews ein. Dann sah er den Arzt an. Dieser sah ihn an und wandte sich dann an Martha Andrews.
"Sie glauben also, daß Sie keine Halluzinationen erlebt haben?"
"Ich schließe nicht aus, mich getäuscht zu haben. Aber regelmäßige Halluzinationen habe ich nicht", erwiderte Martha.
"Richard, ich denke, wenn wir schnell auf den Punkt kommen wollen, muß ich mit deiner Frau alleine sprechen. Warte bitte im Wartezimmer!"
"Das kannst du nicht von mir erwarten, Vergil", zischte Richard Andrews und machte hektische Handbewegungen vor dem Arzt.
"Was heißt hier antun? Ich möchte mit deiner Frau in Ruhe und alleine sprechen, wenn ihr schon meinen Terminplan durcheinanderbringt. Oder glaubst du, ich setze es in die Zeitung, daß du mich aufgesucht hast?"
"Du nicht, aber vielleicht welche von den anderen ... Patienten", zischte Richard Andrews gereizt zurück. Doch dann nickte er und verließ das Sprechzimmer. Er schloß die Tür hinter sich.
"Ich habe ihn rausgeschickt, weil ich möchte, daß Sie mir erzählen, was wirklich vorgefallen ist, Martha. Leute, die andere Leute zu mir bringen, stehen meistens so sehr unter eigenem Streß, daß sie nicht gerade förderlich für eine fehlerfreie Anamnese sind."
"Bitte was?" Fragte Martha Andrews, die den Fachbegriff nicht einordnen konnte.
"Das bedeutet, daß ich durch ein Gespräch ergründen möchte, ob jemand tatsächlich unter einer Erkrankung leidet oder es nur den Anschein hat. Woher solch eine Erkrankung rühren kann und ob es früher ähnliche Vorkommnisse gegeben hat. Ich denke mal, Sie können mir und vielleicht auch sich selbst helfen."
"Sicher, was ich gestern und heute früh erlebt habe, könnte auf eine Störung schließen lassen, aber auch ein geschickter Trick von jemandem sein", sagte Martha Andrews.
"Dann erzählen Sie mal", sagte der Doktor aufmunternd. Er holte ein Tonbandgerät hervor und schaltete es auf Aufnahme. Er sprach wenige Sätze mit datum und am Gespräch beteiligter Personen und fragte Martha dann nach ihrem Beruf, wie sie sich dabei fühlte und ob der in die Familie hineinwirken würde. Dann fragte er ohne Übergang, wie sie mit ihrem Sohn Julius klarkäme. Sie sagte fast ohne jede körperliche Regung, daß sie an Julius nichts mehr auszusetzen habe, seitdem er in die Oberschule gekommen sei. Vorher hätte es den einen oder anderen Vorfall gegeben, wo Julius Streiche gespielt oder sich danebenbenommen habe, aber das habe sich gelegt, als er in die Theodor-C.-Beaufort-Schule gegangen sei. Ohne Vorwarnung fragte der Arzt:
"Ach, ich dachte, die Schule hieße Hogwarts. Richard hat das vor anderthalb Jahren mal auf unserem Univeteranentreffen erwähnt."
"Interessant! Wie kommen Sie denn darauf?" Fragte Martha Andrews, die schnell genug geschaltet hatte, um nicht der aufgekommenen Ertapptheit und Bedrängnis nachzugeben. Sie sah den Arzt ruhig an, ließ dabei ihre Hände ruhig auf der haselnußbraunen Schreibtischplatte ruhen und wartete, was der Arzt nun fragen würde. Denn nun wurde es ihr klar, daß sie unmittelbar in ein psychologisches Schachspiel verwickelt war, bei dem sie nicht wußte, wer König, Dame oder Bauer war.
"Merkwürdig. Ihr Mann erzählte vor anderthalb Jahren, daß Julius in eine Eliteschule ginge, die ohne technische Hilfsmittel auskäme, weil die Schüler ihrer hohen Begabung nach gefördert werden sollten und nicht nur auf technische Hilfen zurückgreifen sollten. Diese Schule soll Hogwarts geheißen haben."
"Studenten, vor allem solche, die ihre Schäfchen im Trockenen haben, machen sich übereinander lustig, Dr. Collins", bemerkte Martha Andrews ruhig. Dann wurde sie gefragt, wo diese Schule sei, ob sie mit den Lehrern dort guten Kontakt hätte und wo Julius gerade sei, da ja wohl noch Ferien wären. Martha sprach ruhig und beherrscht über alle die Dinge, die sie für unverbindlich genug hielt, um sie zu Tonbandprotokoll zu geben. Doch als Dr. Collins sie fragte:
"Wieso haben Sie besseren Kontakt zu den Lehrern als Ihr Mann, Martha? Richard nach haben Sie beide Ihren Sohn nicht dort einschulen wollen und suchen nach einer Alternative, weil er angeblich nicht nach Eton könne."
"Geht es um mich oder um meinen Sohn?" Fragte Martha Andrews kalt.
"Ich berücksichtige alle relevanten Faktoren, Martha. Ich kann ja nicht nur von einer Person ausgehen, da sich Menschen in einer Lebens- oder Arbeitsgemeinschaft wechselseitig beeinflussen. Also beantworten Sie bitte meine Frage."
"Richard ist die Schule zu teuer und der Lehrstoff zu oberflächlich. Er hätte es am liebsten gehabt, wenn Julius naturwissenschaftlich gefördert würde."
"Also lernt er dort keine Naturwissenschaften?" Fragte der Arzt und sah Martha sehr genau in die Augen.
"Selbstverständlich lernt er dort Naturwissenschaften."
"Ich fürchte, Sie lügen mich nun an, Martha", trug Dr. Collins einen weiteren Wortangriff gegen die von Martha Andrews bislang so gut behüteten Gefühle vor.
"Was soll er in einer Oberschule denn sonst lernen? Hexerei oder druidische Rituale?" Erwiderte Martha, die sich noch in der Gewalt hatte.
"Interessante Frage. Ich ging eher von anderen Schwerpunkten aus wie Philosophie, Musik, Sozialkunde oder Sprachen. Aber Sie haben natürlich recht. In einer guten Oberschule lernt man natürlich auch die Grundlagen der modernen Naturwissenschaften."
Martha nahm dies als ernste Warnung, sich noch besser zu überlegen, was sie antworten sollte. Sie war froh, als das Gespräch auf die Ereignisse von gestern kam. Sie berichtete, ohne auf Einzelheiten einzugehen, was sie gerade zu tun hatte, daß sie heute an und für sich an ihrem Arbeitsplatz damit fortfahren müsse und dies auch gerne noch erledigen würde. Die Stimme, die sie gestern abend gehört hatte, erwähnte sie nur beiläufig. Doch Dr. Collins fragte gezielt danach, was sie gehört zu haben glaubte. Weil Martha nur Bruchstücke der angeblichen Botschaft widergab, bohrte er nach, wurde immer drängender. Schließlich erzählte Martha Andrews ihm, wo sie diese Stimme genau gehört hatte und wiederholte nur, daß sie gesagt hatte, daß sie ihren Auftrag erfüllen möge. Als sie gefragt wurde, welchen Auftrag, sagte sie nur, daß es wohl um den Auftrag für die Firma gehen könne. Als sie dann gefragt wurde, ob sie sich vorstellen könne, daß jemand ihr ohne ihr wissen etwas suggeriert haben könnte, schüttelte sie nur den Kopf und sagte:
"Wenn Sie meinen, jemand habe mich irgendwann unter Hypnose gesetzt und mir irgendwelche Aufträge eingegeben, kann ich nur sagen, daß ich mich an derlei Dinge nicht erinnern kann."
"Welche Ursache könnten Sie sonst für eine solche akustische Halluzination anführen?"
"Versteckte Abspielgeräte, Doktor. Jemand könnte mir durch ein verstecktes Abspielgerät den Eindruck vermittelt haben, ich müsse langsam verrückt werden. ich kenne mich mit Technik einigermaßen aus und weiß, welche elektronischen Möglichkeiten es gibt, um fremde Stimmen zu erzeugen."
"Nun, aber solch ein Gerät muß ja dann irgendwer in Ihr Arbeitszimmer geschmuggelt haben. Wer käme denn dafür in Frage?" Wollte der Arzt wissen.
"Jemand, der mir einen Streich spielen will oder meint, mich aus dem Tritt bringen zu müssen. Da könnten von Richard bis zu alten Freunden von Julius viele in Frage kommen, denen ich in letzter Zeit vielleicht auf die Füße getreten habe."
"Ja, aber wenn ich das richtig mitbekommen habe haben Sie Ihr haus doch mit einer Alarmanlage abgesichert. Da wird ja wohl so schnell niemand eindringen, nur um ein Abspielgerät zu verstecken. Aber Sie sagten, daß Sie diese Stimme nur einmal gehört haben? Wieso spekulieren Sie dann auf ein Abspielgerät?"
"Weil Sie fragten, wie ich persönlich mir diese Wahrnehmung erklären könne", erwiderte Martha.
Es knackte in der Gegensprechanlage und blechern verkündete die Helferin Nancy, daß der erste Patient eingetroffen sei. Dr. Collins schnaubte kurz, weil er nun, mitten im Gespräch, genaueres wissen wollte. Doch da er dafür bekannt war, seine Termine genau einzuhalten, bat er nur darum, Martha möge am Nachmittag wiederkommen. Diese nickte zwar, schien jedoch nicht besonders davon begeistert zu sein.
Richard Andrews kam aus dem Wartezimmer und sah den Arzt fragend an. Dieser meinte nur:
"Wir machen die Sitzung heute nachmittag weiter, Richard. Im Moment kann ich nichts sagen."
Richard führte seine Frau zurück zum Bentley, neben dem ein seegrüner Mercedes geparkt worden war.
"Hast du dem von dieser merkwürdigen Stimme erzählt, Martha?" Fragte Richard seine Frau, als sie unterwegs waren. Martha saß wieder auf dem Rücksitz. Sie wußte, daß ihr Mann immer noch die Waffe bei sich hatte.
"Er hat alles, was ich gesagt habe auf band. Wenn ich wirklich heute Nachmittag mit dem noch mal reden soll, und der sagt, daß alles in Ordnung ist, kann ich dir gerne erzählen, was genau er wissen wollte. Im Moment möchte ich in Ruhe darüber nachdenken, was ich dem erzählen darf. Oder liegt dir was daran, daß ich dem erzähle, daß wir einen jungen Zauberer als Sohn haben, Richard?"
"Öhm, nein, Martha", gab Richard verlegen zur Antwort. Dann schwieg er. Offenbar, so dachte seine Frau, wußte er nicht, was er nun tun sollte. Er wußte nicht, was sie diesem Nervenarzt aufgetischt hatte und was der ihr gegenüber hatte durchblicken lassen, nämlich, daß Richard ihm gegen die selbst verkündete Anordnung den Namen von Julius. wirklicher Schule erwähnt hatte. Das mochte ein Fehler des Arztes gewesen sein oder ein taktischer Zug, den der und vielleicht Richard machen wollten, um sie aus der Reserve zu locken. Vielleicht arbeitete dieser Psychiater oder Gemütsheiler oder was auch immer schon daran, ihre Aussagen so zu verdrehen, daß es den Anschein hatte, daß sie nicht mehr normal sei. Falls dem so war, und Richards Auftritt mit Pistole und allem deutete darauf hin, erklärte sich auch, wieso Richard die geisterhafte Stimme nicht gehört hatte. Doch im Moment wollte Martha nichts unternehmen, um endgültige Klarheit in die Angelegenheit zu bringen.
Das Autotelefon verlangte trällernd nach Aufmerksamkeit. Richard fuhr links heran und nahm den Hörer ab, während er seine freie Hand so hielt, daß er schnell an die Pistole gelangen konnte.
"Andrews! - Ja, verstanden. Dann ist das Ergebnis nicht so verlaufen, wie Donaldson es vorhergesagt hat? - Dann müssen wir die Versuchsreihe umgestalten. - Ja, ist gut. Ich melde mich vom Büro aus bei Ihnen."
Richard legte den Hörer wieder auf und sagte: "Ausgerechnet jetzt haben wir einen Rückschlag in der Testreihe. Eine giftige Chlorsäureverbindung ist freigesetzt worden, als wir eine Temperaturprüfung durchgeführt haben. Irgendwas ist da nicht richtig vorherberechnet worden. Ich muß ins Büro."
"Dann bring mich bitte nach Hause, damit ich meine Arbeitsunterlagen holen kann. Ich komme eh schon zwei Stunden zu spät. Ich hoffe, ich kriege das durch Überstunden wieder rein", sagte Martha.
"Moment, du sagst deinem Chef, daß du krank bist und heute nicht arbeiten kannst!"
"Ohne Atest kauft er mir das nicht mehr ab, Richard. Willst du, daß ich meinen Job verliere? - Offenbar legst du es im Moment darauf an", gab Martha ungehalten zur Antwort und beobachtete genau, wie ihr Mann reagierte. Er sah zunächst mit starrem Blick auf das Armaturenbrett. Doch in seinem Gesicht ruckten und zuckten sämtliche Muskeln, als müsse es zwanzigmal in der Sekunde neue Züge annehmen. Dann sah er wieder klar und entspannt auf das Armaturenbrett. Das Martha ihm im Rückspiegel genau zugeschaut hatte, bedachte er offenbar nicht. Er fuhr an und brachte Martha nach Hause. Dann fuhr er ins Büro, ohne weitere Worte zu verlieren. Das er eine Pistole dabei hatte, schien ihm völlig entgangen zu sein oder im Moment nicht wichtig zu sein. Martha holte aus ihrem Arbeitszimmer die Diskette mit den neusten Programmentwürfen und ffuhr mit ihrem eigenen Wagen zur Arbeit. Ihr Chef war zwar etwas ungehalten, doch als Martha ihm erzählte, sie hätte einen Übelkeitsanfall erlebt und wäre beim Arzt gewesen, rümpfte er zwar die Nase, mußte dann aber nicken.
"Die Franzosen kochen merkwürdig. Manche Sachen sind zu scharf gewürzt, andere zu lange gebraten oder dergleichen", sagte er und ließ seine Mitarbeiterin an ihren Rechner, von dem aus sie sich ins firmeneigene Netzwerk einwählte, anmeldete und dann da weitermachte, wo die fremde Stimme sie gestern abend unterbrochen hatte.
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Rodney Underhill drückte an seinem Handy die Taste, um den Anruf an Richard zu beenden. Er sah etwas bedrückt aus, wenngleich die Nachricht, die er von Richard bekommen hatte, eher erleichternd für ihn war. Martha war nicht von diesem Psychiater Collins für gestört oder gar wahnsinnig erklärt worden. Der Versuch Nummer eins war negativ verlaufen. Diese als Frage formulierte Mitteilung bedeutete für Rodney, daß er nun den zweiten Plan ausführen sollte, den er mit Richard beratschlagt hatte. Er wußte, daß er sich damit todsicher strafbar machte, doch Richard hatte ihm durch einen bunten Strauß Blumen verständlich gemacht, daß er, Rodney, nun in dessen Hand sei. Rodney verfluchte diesen Umstand und ärgerte sich, daß er solch einen "tollen Freund" hatte. Doch nun, wo er zu tief in der Sache drinsteckte, mußte er es zu Ende bringen.
Er fuhr mit seinem Privatwagen zum Bürogebäude, wo Martha Andrews arbeitete und wartete, bis ihr eigener Wagen den Angestelltenparkplatz erreichte. Dann suchte er mit einem Apparat, der wie ein verlängertes Megaphon aussah die Fensterreihen ab, fand das, was er sich mit Richard am Vortag angesehen hatte und betätigte einen Schalter. Eine grüne Kontrollampe glühte auf und zeigte, daß das Gerät arbeitete. Doch zu sehen oder zu hören war für Rodney Underhill nichts. Eine Vorrichtung, die von seinem Freund stammte, den alle nur Sparky nannten, weil er so häufig mit elektronischen Bauteilen herumwerkelte, bündelte Schallwellen so stark, daß zum einen ein Geräusch mit geringer Lautstärke mehrere dutzend Meter, sogar durch geschlossene Fensterscheiben dringen, aber nur im sehr engen Bereich von nur einem halben Meter pro zehn Meter Entfernung gehört werden konnte.
"Erfülle deinen Auftrag, Martha! Töte deinen Mann! Du kannst nicht dagegen ankämpfen. Töte Richard Andrews!" Schwebte unheilvoll flüsternd die bereits am Vortag erklungene Geisterstimme in Martha Andrews' Büro. Sie war allein und konnte niemanden fragen, ob er oder sie die Stimme auch gehört hatte. Doch sie empfand im Moment weder Angst noch Verzweiflung dabei. Dann jedoch traf es sie vollkommen heftig. Sie glaubte, ihr Kopf müsse platzen, so sehr schmerzte er. Sie wußte nicht, daß sie gerade mit einem extrem gebündelten Ultraschallstrahl beschossen wurde, der auf einer Liste militärischer Neuentwicklungen als geheime Waffe vermerkt war. Unter dem Einfluß des unhörbaren aber spürbaren Angriffs klang wieder die Gespensterstimme durch: "Du erfüllst deinen Auftrag, Martha! Töte Richard Andrews!"
Martha brach in Tränen aus. Sie wußte nicht, was mit ihr geschah. Sie dachte an das, was Catherine ihr erzählt hatte, was schwarze Magie anrichten konnte. Sie erinnerte sich auch an Worte, die sie von Madame Faucon gehört hatte. Auf Spanisch hatte diese ihr gesagt:
"Madame Andrews, in unserer Welt gibt es Dinge, die harmlos beginnen und tödlich ausufern. Das will ich ihrem Sohn zeigen, damit er es weiß."
Konnte es sein, daß sie nun genau das Opfer einer solchen dunklen Macht war, die sie zwingen sollte, ihren Mann umzubringen? Aber wer konnte daran ein Interesse haben? Wer über solche Zauberkraft verfügte, hätte es wesentlich einfacher, Richard selbst anzugreifen und zu töten. Dann fiel ihr noch ein, daß ... Wieder überkam sie ein höllischer Kopfschmerzanfall, wie eine schlimme Migräne, von der ihre Tante ihr schon die schlimmsten Geschichten erzählt hatte. Wieder wisperte die befehlende Geisterstimme:
"Töte deinen Mann, Martha Andrews! Töte Richard Andrews!"
"Nein!" Rief Martha über die sie peinigenden Schmerzen hinweg. "Ich werde es nicht tun!"
Die Bürotür flog auf und ihr Arbeitskollege Luke Norwich trat ein. Die Schmerzwelle wurde noch stärker, sodaß Martha glaubte, ihr Kopf würde von innen her mit glühenden Ziegelsteinen bearbeitet. Lichtblitze explodierten vor ihren Augen, ihr Gleichgewichtssinn versagte. Sie fiel hin, mit zuckenden Gliedmaßen. Dann konnte sie nur den Teppich sehen, auf dem sie langschlug. Norwich erschrak, rief etwas über die peinigende Woge des Kopfschmerzes hinweg und stürmte aus dem Büro. Martha keuchte und fand wieder zu sich. Der Schmerz ebbte ab, beinahe von einem Moment zum nächsten. Doch das durcheinandergerüttelte Gehirn mußte sich und alles, was es steuerte erst einmal wieder ordnen. Als Martha sich wieder aufrappeln wollte, kam ihr Chef herein. Er sah besorgt auf sie. Tränen standen ihr noch in den Augen, Schleim ronn ihr aus Nase und Mund. Dieses Bild erschütterte den Leiter der Systemprogrammierabteilung so sehr, daß er beinahe selbst den Halt verloren hätte. Er griff zum Telefon und wählte die Nummer neun neun neun. Wie durch Watte gefiltert hörte Martha ihren Chef durchgeben, daß er in seiner Firma wohl eine Frau mit einem epileptischen Anfall oder dergleichen hatte. Martha stemmte sich hoch und rief schnell:
"Das war kein Anfall, Sir. Bestellen Sie die Ambulanz wieder ab!"
Ihr Chef drehte sich um und sah sie an. Martha wußte, daß sie im Moment ein erschreckendes Bild bieten mußte. Sie holte ein Taschentuch hervor und wischte sich Tränen und Schleim aus dem Gesicht. Dann sah sie ihren Chef genauer an, mit festem Blick und sagte:
"Was immer es war, war wohl eine Folge der Übelkeit. Der Arzt hat mir geraten, nicht zu schnell zu arbeiten. Ich hätte auf ihn hören sollen, Sir."
"Norwich hat Sie unter Krämpfen wanken und hinfallen gesehen, Mrs. Andrews. Das können Sie doch nicht auf eine Übelkeit zurückführen. Sie wissen, daß gerade in der Computerbranche viele Menschen gefährdet sind, ähnliche Anfälle zu kriegen, weil die flimmernden Bildschirme die Nerven überreizen können. Wenn das bei Ihnen der Fall ist, sollten Sie das zugeben."
"Dann hätte ich das doch schon vor Jahren haben müssen, Dr. Peares. Glauben Sie mir, daß ich bestimmt keinen Job ausübe, der mich auf Dauer krank macht."
"Das haben schon andere gesagt, Mrs. Andrews", warf Dr. Peares, Marthas Chef, ein. Dann sagte er:
"Die Ambulanz kommt in wenigen Minuten. Ich befehle Ihnen, sich von denen gründlich durchchecken zu lassen! Wenn sich herausstellt, daß Sie zu schmerzhaften Anfällen tendieren, können Sie mir nicht weiter behilflich sein."
"Will sagen, Sie müssen mich entlassen, nur wegen dieser Übelkeit?" Bohrte Martha nach.
"Nur, wenn sich herausstellt, daß Sie in Gefahr sind, weitere und vielleicht schlimmere Attacken zu erleiden, Martha. Sie haben mir und der Firma in den letzten elf Jahren sehr wertvolle Dienste geleistet. Ich möchte Sie nicht verlieren", wiegelte Dr. Peares ab. Martha kaufte es ihm zwar nicht ab, weil sie wußte, daß bereits jüngere und umfangreicher ausgebildetere Fachleute bereitstanden und die Computerbranche nach dem Hoch in den ersten Jahren des laufenden Jahrzehntes viele karrierewütige Studenten hervorgebracht hatte, die sich beweisen und das große Geld verdienen wollten. Peares und die Buchhaltung ihrer Firma würden höchstens der hohen Abfindung nachweinen, die sie beanspruchen konnte. Immerhin hatte sie der Firma einige wichtige Patente für schnelle Datenverschlüsselungsprogramme verschafft, an denen sie vertraglich beteiligt wurde. Doch das sollte für sie im Moment nebensächlich sein. Die vordringliche Frage war doch: Wie paßte die Geisterstimme mit den heftigen Kopfschmerzen zusammen?
Mit Sirenengeheul und rotierendem rotlicht fuhr ein Krankenwagen vor. Ein Notarzt und eine Krankenschwester eilten in das Bürogebäude. Rodney Underhill, der seinen geheimnisvollen Apparat wieder fortgepackt hatte, zog sich vorsichtshalber vom Gelände zurück. Er hatte den schmutzigen Job erledigt, den er nun, wo er mit im Boot saß, auszuführen hatte. Wenn Martha im Krankenhaus erzählte, was sie erlebt hatte, würde sie für einige Zeit aus dem Verkehr gezogen werden, vielleicht sogar in eine geschlossene Abteilung verlegt. Richard wollte derweil durchsickern lassen, daß Martha schon früher Wahnvorstellungen gehabt hatte, von Hexen und Zauberern gefaselt und ihren Sohn Julius zu okkulten Handlungen angestiftet hatte. Rodney fuhr los, nachdem martha widerstandslos in den Krankenwagen eingestiegen war und fuhr durch die Stadt. Da er sich für heute von seiner eigenen Dienststelle hatte beurlauben lassen, gönnte er sich ein Mittagessen in einem indischen Restaurant. Er zwang sich dazu, ruhig und gelassen zu wirken, obwohl er wußte, daß er vor wenigen Stunden das Leben eines anderen Menschen, der Frau eines angeblich guten Freundes, zerstört hatte. Denn er wußte, daß diese Ultraschallstrahlen bei Überdosierung zu heftigen Kopfschmerzen führen konnten, was für einen Computerexperten so schlimm war, wie ein steifes Bein für einen Profi-Sportler. Er fragte sich nicht, wie dumm er gewesen war, sich auf dieses Manöver einzulassen, ob sich das nicht sehr bald grausam rächen mochte oder ob er morgen früh noch unbekümmert sein Spiegelbild anlächeln konnte. Ihm fiel ein, daß es ja um eine gerechte Sache gegangen war. Denn nachdem er echte Hexen und Zauberer erlebt hatte, konnte er sich ausmalen, wie bedrohlich es war, daß solche Leute in der Welt herumliefen, alles und jeden kontrollierten und wie bösartige Außerirdische aus den Weltraummärchen im Kino die Erde beherrschten. Wenn es gelang, Julius von diesen Leuten fortzuholen, war deren Überheblichkeit und Machtanspruch einstweilen gedämpft.
Nach dem Essen fuhr Rodney zu seinem Appartmenthaus, holte den Schallwerfer aus dem Kofferraum und trug ihn in einem großen Rucksack verborgen zu seiner Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche und Bad. Als er die Wohnung betrat, blinkte ihm sein Anrufbeantworter, daß er eine neue Nachricht für ihn aufgenommen hatte. Er drückte den großen Abrufknopf und hörte Richard Andrews' Stimme:
"Hallo, Rod, hier Richard. Die Versuchsreihe war erfolgreich. Danke für deine Mithilfe."
"Idiot!" Schimpfte Rodney Underhill und löschte die Nachricht sofort wieder. "Habe ich dem nicht hundertmal gesagt, daß über meine Privatnummer nur freundschaftliche Nachrichten gehen dürfen?" Dachte er mit wutverzerrtem Gesicht. Wenn Richard so nachlässig war, dann konnte das für ihn, Rodney Underhill, schnell böse Folgen haben. Aber wenn der sagte, daß alles geklappt hatte, also Martha wohl für einige Zeit nicht mehr aus einem Krankenhaus kommen durfte, war der Auftrag erledigt. Er packte den Schallwerfer aus und wollte ihn zerlegen, sodaß nur Bauteile für elektronische Geräte rumlagen, aber niemand mehr wußte, was damit zusammengebastelt worden war.
Martha wurde zunächst geröntgt, dann befragt. Ein Gehirnspezialist wollte von ihr wissen, ob sie schon früher solche Anfälle gehabt habe, wie der, wegen dem sie nun im Zentralkrankenhaus war genau abgelaufen war und ob da noch andere Sachen vorgefallen wären. Eine Blutprobe ergab, daß ihr kein Gift oder eine Droge verabreicht worden war. Dann kam ein Psychiater und befragte sie, ob sie irgendwelche ehelichen oder beruflichen Probleme hätte, wollte auch etwas über ihre Kindheit wissen und einiges aus ganz persönlichen Bereichen mehr. Sie weigerte sich jedoch, solche Fragen zu beantworten und betonte immer wieder ruhig, daß sie sich früher nicht schlecht gefühlt habe und dieser Kopfschmerzanfall bis dahin einmalig gewesen war. Dann jedoch fragte der Psychiater sie aus, ob es stimme, daß sie einer Sekte angehöre, die sich ihres Sohnes Julius bemächtigen wolle und ihn zu merkwürdigen Tätigkeiten anregen wolle. Sie verweigerte darauf die Antwort. Noch, so dachte sie, hatten sie es nicht raus, was wirklich mit Julius passierte. Sie dachte sich nun, daß diese Vorkommnisse Teil eines Planes waren, eines Schachspiels. Eines Schachspiels, das von einem Dilletanten gespielt wurde, der nicht auf ihre Logik und ihr taktisches Denkvermögen achtete. Denn die Fragen nach Julius warnten sie als sie aufzuregen. Sie wußte nun, daß jemand, womöglich Richard selbst, sie aus dem Weg räumen wollte. Wie das auch immer mit der Stimme aus dem Nichts und dem Schmerzanfall geregelt werden konnte, es war kein Zauber. Die Zaubererwelt würde nicht außenstehende mit der Nase darauf stoßen, daß es sie gab. Als der Psychiater erkannte, daß er im Moment nichts brauchbares aus ihr herausholen konnte, wurde Martha zur Beobachtung in ein Einzelzimmer verfrachtet, einen Raum mit weiß gestrichenen Wänden, einem Metallbett und einem Nachttisch, der merkwürdigerweise wie das Bett am Boden festgeschraubt war.
"Wir informieren Ihren Mann, daß er einige persönliche Sachen herbringen möchte", sagte die dunkelhäutige Krankenschwester mit betont freundlicher Stimme und verließ das Zimmer. Martha hörte, wie sie von außen einen Riegel vorschob. Offenbar galt sie noch als harmlos genug, nicht in einer sogenannten Gummizelle untergebracht zu werden, dachte Martha, aber man wollte sie auch nicht einfach so alleine lassen. Martha fragte sich, ob diese geisterhafte Stimme, beziehungsweise das, was sie hervorbrachte, auch hier gegen sie eingesetzt würde, um die Geschichte von der wahnsinnig werdenden Frau zu bekräftigen. Vielleicht war es dem, der für diese Phantomstimme zuständig war, aber nicht möglich auch hier im Krankenhaus gegen sie vorzugehen. Im Moment sah es so aus, als sei sie unrettbar verloren. Doch Martha wußte, daß die Zeit für sie arbeiten würde. Denn wo immer sie war, eine Posteule würde sie finden. Wenn man sie einsperrte, würde dies aktenkundig, was dann über verschlungene Pfade auch im englischen Zaubereiministerium landen würde. Was sie nun tun mußte war, sich selbst nicht verrückt zu machen, um nicht doch noch denen ausgeliefert zu sein, die sie unbedingt aus dem Weg räumen wollten. Siedendheiß fiel ihr ein, was Catherine ihr gestanden hatte. Ihr gemeinsames Wohnhaus war von Zauberern abgesichert worden, um es vor bösen Zauberern und Hexen zu schützen. Doch hier in diesem Krankenhaus wirkte dieser Schutzbann wohl nicht. Vielleicht könnte einer dieser finsteren Magier auf die Idee kommen, sie hier anzugreifen. Wieder überkam sie das ungewohnte und gleichzeitig unerwünschte Gefühl von Angst. Diese Angst wurde immer stärker, drohte, sie in Panik zu stürzen. Doch Martha Andrews dachte konzentriert einige Zeilen eines Gedichtes gegen unangenehme Gefühle, beschwor ihr Herz, wieder langsamer zu schlagen, zwang ihren Atem, sich wieder zu beruhigen und überlegte, was sie tun mußte, um bald wieder aus der Situation herauszukommen, in die sie jemand gebracht hatte.
Als Richard Andrews so um sechs Uhr abends ins Zentralkrankenhaus kam, um seine Frau zu besuchen, sah diese ihn ruhig und entspannt an, nicht so wie eine Gefangene oder in die Enge getriebene Frau. Richard fragte mit beunruhigt klingender Stimme, was denn geschehen sei. Martha sagte nur:
"Richard, die haben mich hier eingeliefert, weil ich einen Kopfschmerzanfall hatte, der mich fast hätte ohnmächtig werden lassen. Deshalb bin ich hier. Ich gehe davon aus, daß ich in ein zwei Tagen wieder hier rauskomme und dann hoffentlich meine Arbeit wieder aufnehmen kann. Aber du bist in Gefahr, Richard." Die letzten Worte hatte sie mit einer Spur Unbehagen in der Stimme gesagt.
Wieso ich?" Fragte Richard Andrews, der das Unbehagen hörte und auch sah, daß Martha etwas ängstlicher dreinschaute.
"Weil Sie dich nun beseitigen können, wann immer sie wollen. Ja, du hast recht. Ich habe mit Mrs. Priestley und Professor Dumbledore Kontakt aufgenommen. Die haben mir erzählt, daß wir friedlich weiterleben sollen, solange wir uns nicht irgendwas zu Schulden kommen lassen."
"Wie, was?" Fragte Richard, nachdem er für eine Winzigkeit triumphierend dreingeschaut hatte, weil er nun endlich die Bestätigung für seinen Verdacht hatte. Doch nun sah er sehr besorgt aus.
"Mrs. Priestley hat mir erzählt, daß wir Julius wieder zu uns nehmen könnten, wenn wir beide uns zu seiner Schule und Ausbildung bekennen würden. Wenn aber einer von uns dem anderen nachweislich was antäte, um jede Mitarbeit mit denen zu verweigern, würde er spurlos verschwinden. Richard! Die haben mir offen gedroht."
"Das glaubt dir doch niemand, Martha", stieß Richard aus. Er zwang sich, seine Haltung zu bewahren. Doch irgendwie hatte Martha etwas in ihm ausgelöst.
"Glaub was du willst, Richard. Ich hoffe für dich, daß sie dir nichts tun werden. Vielleicht schließen sie dich wieder in diese Sperrhecke ein, von der du mir erzählt hast und lassen dich darin verhungern. Vielleicht verwandeln sie dich auch nur in eine Maus. Ich habe gesehen, wie Julius das schon jetzt kann, und Professor McGonagall ist Expertin darin", flüsterte Martha, obwohl das in diesem Raum vielleicht nicht nötig war. Aber sie wollte nicht irgendeinem Mithörer die Gelegenheit geben, sie tatsächlich für wahnsinnig zu erklären.
"Erhol dich!" Stieß Richard Andrews aus, legte eine Reisetasche mit Marthas Nachtzeug und Kleidung für zwei Tagen vors Bett. Dann verabschiedete er sich, jedoch ohne Abschiedskuß und Umarmung und eilte aus dem Zimmer. Er schloß die Tür und grinste. Jetzt hatte er was, womit er den hiesigen Psychiatern etwas liefern konnte, um Martha bis zum Beginn des neuen Schuljahres von Hogwarts sicher zu verwahren. Daß Martha hinter der nun geschlossenen und von der Krankenschwester verriegelten Tür ebenfalls triumphierend grinste, weil sie nun wußte, daß Richard ein schmutziges Spiel mit ihr trieb, konnte er nicht sehen. Und das war nicht das einzige, was er nicht mitbekam.
Die gräßlich summende Türklingel brach in Rodneys Gedanken ein. Er hielt den Schallwerfer immer noch in einem Stück in den Händen und dachte daran, was er zuerst zerlegen mußte. Schnell ließ er das teuflische Gerät unter das Sofa in seinem Wohnzimmer verschwinden und betätigte die Sprechanlage. Er fragte:
"Wer ist da bitte?"
"Hamilton und Saunders von Scotland Yard, Mr. Underhill. Bitte lassen Sie uns ein!" Kam eine blechern verzerrte Männerstimme aus dem Lautsprecher.
"Scotland Yard? Womit habe ich das Vergnügen verdient?" Fragte Rodney Underhill.
"Wir stehen hier vor Ihrer Haustür. Möchten Sie allen Ernstes, daß wir uns für die breite Öffentlichkeit hörbar über den Grund unseres Hierseins unterhalten?" Fragte die Männerstimme aus der Sprechanlage. Rodney schüttelte zwar den Kopf, doch er drückte den Türöffnungsknopf. Sein innerer Alarm war mit lautem Getöse losgegangen. Wieso wollten zwei Scotland-Yard-Beamten was von ihm? Er überlegte sich, ob er das Schallbündelungsgerät nicht besser aus dem Fenster werfen sollte, nachdem er es kurz unter den Wasserkran gehalten hatte. Doch dafür durfte es nun zu spät sein. Er prüfte schnell, ob es unter dem Sofa nicht so leicht zu sehen war, schob ein wenig mit dem Fuß nach, sodaß es tief unter dem samtbraunen Kunstlederpolster verschwand und ging an die Wohnungstür, vor der er bereits Schritte von zwei Leuten hören konnte. Er hörte sofort, daß ein stämmiger Mann und eine Frau zu ihm kommen wollten. Schrittgeräuschtraining war eine Paradedisziplin seines Ausbilders gewesen. "Wenn Sie den Gegner hören und am Schritt erkennen können, sind Sie ihm immer einen Schritt voraus", hatte dieser immer wieder gesagt.
Rodney wartete, bis es an die Tür Klopfte. Dann legte er eine kurze Kette vor und öffnete die Tür so weit, wie es die nun vorgelegte Kette erlaubte. Zunächst sah er einen dunkelblonden Männerkopf mit hoher Stirn und kantigem Gesicht, in dem blaue Augen prüfend durch den Türspalt blickten. Dann sah er den Kopf einer Frau, die einen Meter links hinter dem Mann bereitstand. Er erschrak. Das war doch ... nein! Das konnte nicht sein!
"Öffnen Sie bitte die Tür ganz, Mr. Underhill!" Verlangte der Mann, dessen Stimme mit der aus der Sprechanlage zusammenpaßte, wenngleich sie in unverfälschter Form bedeutend schöner klang. Der Fremde schob einen Ausweis durch die Türöffnung und wartete, bis Rodney ihn überprüft und für echt befunden hatte.
"Ihre Kollegin soll mir auch erst den Ausweis zeigen, bevor ich die Tür öffne."
"Wie Sie wünschen", sagte der Yard-Beamte und nickte seiner Kollegin zu, deren Aussehen Rodney einen heftigen Schreck beschert hatte. Er nahm den Ausweis und las, daß er es mit Sergeant Rosemarie Saunders zu tun hatte. Auch dieser Ausweis war echt. Rodney kannte sämtliche Dienstausweise großbritanniens, allein schon deshalb, weil er früher für bestimmte Recherchen gut nachgemachte, ja von der eigentlichen Behörde verfertigte Papiere benutzt hatte. Doch wie konnte es angehen, daß diese Sergeant Saunders so aussah, wie Alecto Hooks, eine Person, deren Aussehen und Namen er sich besser als alle anderen Namen zuvor gemerkt hatte?
Rodney überwand die unbändige Furcht, die ihn befallen hatte und löste die Türkette. Er ließ die beiden Polizeibeamten ein, falls es wirklich Polizeibeamte waren. Er hätte ja beim Yard anrufen und nachfragen können, ob man ihm wirklich zwei Beamte ins Haus geschickt hatte. Vielleicht war es aber auch eine Verwechslung, und die Frau sah nur so aus wie Alecto Hooks, eine Hexe aus dem englischen Ministerium für Zauberei, die er in Brüssel auf einem Balkon getroffen hatte, auf die er sogar geschossen hatte, ohne sie zu verletzen.
"Sie mögen die Unordnung verzeihen, aber ich hatte nicht mit Besuch gerechnet. Ich habe heute zwar einen freien Tag, den habe ich aber wegen des schönen Wetters draußen verbracht", sagte Rodney Underhill betont lässig klingend.
"Sie werden verstehen, daß uns nicht daran gelegen ist, daß man extra für uns eine Party feiert", sagte die Frau, die sich als Sergeant Saunders ausgewiesen hatte. Rodney lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er zwang sich wie antrainiert zur selbstbeherrschung. Das war genau dieselbe Frau, die er in Brüssel als Alecto Hooks kennengelernt hatte. Es konnte keinen Irrtum geben. Offenbar befand er sich im Fadenkreuz der Zaubererwelt. Wieder einmal.
"Nun, ich gehe davon aus, daß Sie wissen, warum Sie mich aufgesucht haben", erwiderte Rodney nach zwei Sekunden.
"Ach, Sie wissen es nicht?" Fragte Rosemarie Saunders erstaunt. Ihr Kollege sah sie achtungheischend an und wandte sich an Rodney.
"Wir wissen, daß Sie eigentlich als Innendienstmitarbeiter in der MI6-Zentrale arbeiten. War schon ein Stück Arbeit, Ihren wahren Beruf zu ermitteln, wo doch allüberall gemeldet ist, daß sie als freiberuflicher Finanzdienstleister arbeiten, mit Lebenslauf, Zeugnissen und allem. Aber der Yard hat auch so seine Kontakte, um alles zu ergründen. Allerdings bezahlt Sie der Auslandsgeheimdienst wohl nicht ausreichend. Wir haben Hinweise erhalten, daß Sie im Auftrag einer Verbrecherorganisation Geheimmaterialien an- und verkaufen, wichtige Personen auskundschaften oder zu erpressen suchen. Wir sind heute hier, weil wir herausbekommen haben, daß Sie einen Anschlag auf die Familie eines Dr. Andrews durchführen wollen. - Ich würde nicht versuchen, zur Tür zu gelangen. Unbemerkt von Ihnen stehen im ganzen Haus Leute von uns bereit, eine Flucht zu vereiteln."
"Wieso sollte ich fliehen? Ihre Anschuldigungen sind haltlos und obendrein unglaubwürdig. Ich bekomme genug Geld, gerade um Dinge für mich zu behalten. Ich wüßte auch nicht, weshalb ich Dr. Andrews' Familie angreifen sollte."
"Sie kennen Dr. Andrews?" Fragte Rosemarie Saunders. Rodney wollte schon loslegen, sie anzubrüllen, daß sie ihr Spiel gefälligst aufgeben solle. Doch ein innerer Druck legte sich auf sein Gemüt, als gelte es, den Gedanken unter einem großen Berg von Schuldgefühlen zu begraben.
"Wenn Sie mich wirklich für so gefährlich halten würden, Madam, dann hätten Sie nicht so geduldig vor meiner Tür gewartet. Ich weiß nicht, was Sie hier aufführen, aber ich bin daran nicht interessiert", gab Rodney cool zur Antwort.
"Wir wissen, daß Sie mit Dr. Andrews befreundet sind, Mister. Wir wissen auch, daß seine Frau heute unter merkwürdigen Umständen in ihrem Büro zusammengebrochen ist, nachdem ein Psychiater namens Collins im Zentralkrankenhaus angerufen hat und anmerkte, daß Mrs. Andrews wohl demnächst bei denen vorsprechen würde. Mrs. Andrews befindet sich derweil in der Beobachtungsstation für Schlaganfall- und Epilepsiepatienten, eine entwürdigende Wendung ihres Lebens, sofern jemand außenstehendes darauf hingearbeitet hat", sagte der als Inspektor Hamilton auftretende Mann. Rodney blieb äußerlich gelassen. Innerlich wußte er, daß er gerade auf einem schwankenden Seil über einen dunklen Abgrund balancierte und der Weg zurück bereits zu weit war, um noch umzukehren.
"Könnte es sein, daß Dr. Richard Andrews ebenfalls für Ihre außerberuflichen Geldgeber arbeitet und seine Frau aus dem Weg schaffen will?" Fragte Rosemarie Saunders.
"Diese Organisation besteht zurzeit wohl nur in Ihrem Kopf, Madam", erwiderte der Geheimdienstmitarbeiter. Doch diese schüttelte den Kopf.
"Nun, es ist schon richtig, daß wir Richard Andrews nichts beweisen können, da er offenbar sehr weit verzweigte Verbindungen besitzt. Immerhin hat er seinen Sohn Julius ja in eine exklusive Schule geschickt, wo nur Kinder von Eltern unterrichtet werden, die wohl auch dieser Organisation beigetreten sind."
"Oh, das klingt ja nach der neuesten Verschwörungstheorie, Madam. Wie lauten denn die Ziele dieser ominösen Organisation? Wenn ich schon polizeilich als Mitglied ermittelt worden sein soll, möchte ich schon wissen, für was und wen ich mein Leben verpfusche", gab Rodney mit überheblichem Tonfall und absolut arroganter Körperhaltung zum besten.
"Rosemarie, wir sollten uns nicht mit diesem Herrn zu lange aufhalten. Machen Sie die Wohnungsdurchsuchung?"
"Selbstverständlich, Inspektor Hamilton", bestätigte Sergeant Saunders. Der Inspektor hielt Rodney ein Papier unter die Nase, auf dem dieser groß und deutlich "Richterlicher Durchsuchungsbeschluß für die Appartmentwohnung 16 im Hause Parkallee 34" lesen konnte. Er besah sich das Dokument genau und erkannte die Unterschrift von Richter McKutchon, den er auch von früher her kannte.
"Verdammt, was soll denn das?" Fragte er sich. Rosemarie Saunders, oder vielleicht doch Alecto Hooks, durchstöberte die Schubladen und Schränke, wobei sie weiße Handschuhe trug, um keine eigenen Fingerabdrücke zu hinterlassen. Inspektor Hamilton stand wachsam neben Rodney Underhill. Der Geheimdienstler überlegte fieberhaft, ob er dem Polizisten erzählen sollte, daß er wohl das Opfer einer Intrige seitens einer anderen Geheimorganisation sei. Doch wieder wälzte eine Woge von Schuldgefühlen und Ablehnung diesen Gedanken nieder. Diese verdammten Hexen und Zauberer hatten ihn auf einen verzauberten Steinblock schwören lassen, nichts zu verraten, was er über die Zaubererwelt gehört hatte. Er hatte geglaubt, sich darüber hinwegsetzen zu können. Doch immer wieder hatte ihn eine ähnliche Flut von unterdrückenden Gedanken davon abgehalten, wie ein Keil der zwischen zwei sich drehende Räder geschoben wird.
"Ach nein! Was liegt denn unter dem Sofa?" Fragte Sergeant Saunders und holte Rodney mit Lichtgeschwindigkeit in die unmittelbare Gegenwart zurück. Die Frau, die er damals als Alecto Hooks kennengelernt hatte, hob das Sofa an und bugsierte mit den Füßen das rohrförmige Schallbündelungsgerät hervor, bis es vom Sofa fortkullerte. Was immer diese Leute Rodney bislang unterstellt hatten. Hier hatten sie nun einen handfesten Beweis, daß er Dreck am Stecken hatte. Die mühsam aufrecht gehaltene Fassade der Unbekümmertheit und Coolness begann zu bröckeln.
"Hmm, was soll das darstellen, Mr. Underhill?" Fragte Inspektor Hamilton, als das geheimnisvolle Gerät auf dem Couchtisch lag. Rodney dachte daran, diesen Augenblick zur schnellen Flucht zu nutzen, doch Sergeant Saunders hatte eine Pistole gezogen und richtete sie auf den Geheimdienstmitarbeiter. Wenn er es nicht auf einen Selbstmord mit Hilfe einer Polizeibeamtin anlegte, mußte er stillstehen. Ohne Aufforderung hob er die Hände hinter den Nacken.
"Es sieht wie ein elektronisches Gerät aus. Ich hoffe, ich erwische nicht aus Versehen einen Selbstvernichtungsknopf", sagte Hamilton und untersuchte den Apparat genau.
"Interessante Konstruktion. Könnte eine Art Empfänger oder Sender für elektrische Impulse oder Schallwellen sein. Immerhin hat es eine Auslaßöffnung. Allerdings vermisse ich ein Lautsprechergitter oder ähnliches, durch das Schall ein- oder austreten kann."
"Die Experten werden schon herausfinden, was es ist. Ich fürchte allerdings, daß sich unser Gastgeber damit einige Jahre Staatspension eingehandelt hat", sagte Sergeant Saunders und hielt die Waffe auf Rodney gerichtet. Er sagte nichts. Denn gleich würden sie ihm vorbeten, daß alles was er sagte vor Gericht gegen ihn verwendet werden konnte. Tatsächlich sprach Inspektor Hamilton zu ihm:
"Mr. Rodney Underhill, ich nehme Sie fest unter dem dringenden Tatverdacht, geheime Ausrüstung entwendet zu haben, sie verbotenerweise eingesetzt zu haben, sowie mit verbrecherischen Gruppen zu konspirieren, wie auch einen Anschlag auf das Leben von Mrs. Martha Andrews geplant und / oder verübt zu haben. Ich weise Sie darauf hin, daß Sie das Recht haben, zu schweigen oder nur in der Gegenwart eines von Ihnen benannten oder vom Gericht gestellten Anwaltes auszusagen. Wenn Sie aussagen kann und wird alles von Ihnen gesagte vor Gericht verwendet werden."
Klickend rasteten zwei kalte Handschellen um die Handgelenke des Geheimdienstlers ein. Rodney war nun am Ende. Der Pakt mit Richard Andrews hatte sich für ihn als Pakt mit dem Teufel, na vielleicht auch nur eines dunklen Schicksals, erwiesen. Denn er würde nun tatsächlich im Gefängnis landen, wenn die Experten des Yard herausbekamen, wozu dieses Gerät diente, daß es an und für sich eine geheime Waffe sein sollte und daß ein guter Bekannter von Rodney nach Plänen, die wie zufällig kopiert worden waren, dieses Teufelsding zusammengebaut hatte. Landesverrat, Waffenschmuggel, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Betrug ... Rodney zählte immer mehr Straftaten auf, die er schon begangen hatte, und zwar ohne staatlichen Auftrag. Er war nur froh, daß man ihn nicht wie früher üblich am Galgen aufhängen würde. Doch die Aussicht, für Jahrzehnte in einem Gefängnis zu landen, war auch nicht gerade eine gute Aussicht für die Zukunft. Was nun zu tun war, mußte er noch überlegen. Wollte er Richard Andrews in die Sache mit hineinziehen oder die Dummheiten, die er selbst begangen hatte, alleine ausbaden. Aber die Polizisten, die ihn zusammen mit dem Schallwerfer, Unterlagen und Notizbüchern fortbrachten, hatten Richard ja schon auf ihrer Liste.
Der Wagen, in dem Rodney von den beiden Yard-Beamten fortgebracht wurde, war ein ziviler Wagen, ein Ford aus den 80er Jahren. Offenbar legte man keinen Wert auf Aufsehen. Auf der Borduhr des Wagens rückten die Zeiger gerade auf halb sieben am Abend, als das Auto in eine Tiefgarage einfuhr und über im Kreis angeordnete Rampen mehrere Parkdecks nach unten fuhr. Rodney kannte das New Scotland Yard gut genug. Er war hier einige Male gewesen, um mit Kriminalbeamten über gesuchte Personen zu sprechen. Soweit stimmte alles noch, wenngleich er nun auf der anderen Seite des Gesetzes stand. Immer noch in Handschellen wurde er zu einem Aufzug gebracht, mit dem es fühlbar aufwärts ging. Die Lichter, die jedes passierte Stockwerk anzeigten, glitten von -1 über 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6. Sechs Etagen? Rodney hatte immer nur von fünf Etagen gehört. Außerdem wirkte das Yard-Gebäude breiter als hoch. Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen!
Die Türen glitten auf und gaben den Blick auf einen Flur mit dicken Teppichen frei. Rodney wurde von den beiden Beamten hinausgeführt, auf dem schallschluckenden Teppich zu einer Bürotür geführt, wo der Name "Inspektor Curtis Hamilton" zu lesen stand. Der vom Türschild her berechtigte Benutzer dieses Büros schloß die Tür auf, öffnete sie nach außen und ließ Rosemarie Saunders und Rodney Underhill hinein. Dann schloß er die Tür von außen und drehte den Schlüssel im Schloß wieder um.
"Setzen Sie sich, Mr. Underhill!!" Befahl Rosemarie Saunders. Rodney, der seine auf den Rücken gefesselten Hände langsam schmerzhaft spürte, ging auf einen Schreibtischstuhl zu, während sich die Sergeantin in den bequemen Bürosessel des Inhabers setzte. Rodney war sich sicher, daß er tatsächlich den Leuten aus der Zaubererwelt in die Fänge geraten war und hier nun erfahren würde, was eigentlich gespielt wurde.
"Haben Sie es nötig, mich in Handschellen zu verhören, Madame?" Fragte Rodney, der versuchte, nicht unterlegen zu wirken.
"Nachdem unsere letzte Begegnung mich gelehrt hat, bei Ihnen auf merkwürdige Selbstrettungsversuche gefaßt zu sein hielt ich es für geboten, diesmal alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, Mr. Underhill. Oder sollte ich Sie doch Mr. Freemont nennen. Wie ich erfuhr operieren Sie auch unter dem Decknamen Heisenberg, was an und für sich witzig ist, da dies ja der Name eines Muggelwissenschaftlers ist, der beschrieb, daß man kleinste Grundteilchen nie genau vermessen könne, weil jede Messung ihren Lauf störe. Sie sehen, ich bin über die Physik und ihre Theorien umfassend unterrichtet."
"Dann habe ich Sie doch richtig erkannt, Sie Hexe!" Schnaubte Rodney Underhill und wollte vom Stuhl aufspringen. Doch die Handschellen waren irgendwie mit der Lehne verschmolzen. Vielleicht war in dieser ein starker Magnet, vielleicht war es auch wieder Zauberei. Jedenfalls hing Rodney auf dem Stuhl fest.
"Es ist immer wieder merkwürdig, daß die Bezeichnung meiner Natur von Leuten wie Ihnen als Schimpfwort gedeutet und benutzt wird. Aber wir wollen uns nicht mit Nebensächlichkeiten aufhalten. Haben Sie und Ihr werter Freund Richard Andrews sich eingebildet, eine unbescholtene Frau in bester körperlicher, geistiger und seelischer Verfassung an den Rand des Wahnsinns treiben zu können, nur weil sie längst eingesehen hat, was Ihr Freund nicht begreifen will, trotz höchster Auszeichnungen in den Naturwissenschaften? Sicher, wenn es nicht mittelbar mit uns zu tun hätte, dürften wir uns nicht darum kümmern und hätten Ihr Geschick in den Händen nichtmagischer Ermittler belassen. Aber daß zum einen jemand dafür angegriffen wurde, weil sie eine gedeihliche Zusammenarbeit mit uns bevorzugt, als auch die Gefahr besteht, daß sie oder ihr Mann auf die Idee kommen könnte, nun doch alles über uns auszuplaudern, und zwar so, daß wir es schwer haben könnten, alles unter Verschluß zu halten, nehmen wir nicht tatenlos hin, Mr. Underhill alias Freemont."
"Wie kommen Sie auf die wahnwitzige Idee, ich hätte mit Richard Andrews zusammen seine Frau angegriffen. Wie soll denn das funktionieren?"
"Nun, ich denke, dieses geheimnisvolle Gerät unter Ihrem Sofa ist der Schlüssel zur Lösung. Mein Kollege, der sowohl für unser Ministerium als auch für Scotland Yard arbeitet, wird in diesen Minuten herausbekommen, womit wir es zu tun haben. Wie ich Ihnen sagte kenne ich die Lehren Ihrer Physiker und weiß auch, daß bestimmte Klänge und Tonhöhen anders auf einen Menschen wirken, als nur zu klingen. Wenn meine Vermutung sich bestätigt haben Sie mit einer Art Schallkanone auf Mrs. Andrews geschossen, mit einem überlauten Ton auf einer Tonhöhe unterhalb oder oberhalb der menschlichen Hörgrenzen. Natürlich kann man mit solch einem Gerät auch unheimliche Stimmen durch einen Raum erklingen lassen, ohne ein verräterisches Abspielgerät oder einen Lautsprecher verstecken zu müssen. Wenn, wovon ich im Moment ausgehe, dieses Gerät seinen Schallstrahl so gut bündeln kann, daß nur ein damit genau anvisierter Bereich getroffen wird, können solche Botschaften nicht überall in unmittelbarer Umgebung gehört werden. Ich könnte Sie jetzt wie vor einigen Wochen in Brüssel zielsicher verhören und wahrheitsgemäße Antworten erlangen. Aber das würde Sie wohl langweilen. Deshalb werden wir warten, ob sich bestätigt, was ich vermute. Dann können wir beratschlagen, ob Sie besser den Kriminalbeamten Ihrer Welt übergeben werden, was für Sie wohl nicht gerade verheißungsvoll ausgehen dürfte, oder Sie schwören Dr. Andrews ab, kooperieren mit uns und erhalten die Chance, sich in Ihrer Welt zu rehabilitieren, also wieder ein geordnetes, gesetzestreues Leben zu führen. Nicht mehr und nicht weniger bieten wir Ihnen an."
"Und wenn ich die erste Möglichkeit nehme?" Fragte Rodney trotzig.
"Der Durchsuchungsbefehl ist von einem Ihrer zugelassenen Richter unterschrieben worden. Wenn wir bestätigen, in Ihrer Wohnung einen verdächtigen Gegenstand und verräterische Unterlagen gefunden zu haben, können Sie sich ausrechnen, welche Strafe Ihnen droht. Falls Sie meinen, uns dadurch loszuwerden, steht es Ihnen frei, diese Möglichkeit zu nutzen. Wenn Sie Ihrem Freund Richard Andrews damit einen letzten Dienst erweisen wollen, daß Sie diese Strafen ganz alleine auf sich nehmen, tun Sie dies ruhig! Es besteht nur die Gefahr, daß Mr. Andrews Ihnen das nicht dankt, weil ja dann geklärt wird, weshalb Sie gegen seine Frau vorgegangen sind. Sein Ziel wird dann so oder so nicht erreicht."
"Wer glaubt schon einer Frau, wenn sie von Hexen und Zauberern erzählt, vor allem, wenn sie nach einem Kopfschmerzanfall in einem Krankenhaus landet?" Fragte Rodney Underhill.
"Außer mir noch einige andere. Wenn dann noch der Beweis erbracht ist, daß mit technischen Tricks gearbeitet wurde, wird es einfach sein, Mrs. Andrews zu entlasten und ihr ihre Würde zurückzugeben. Oder glauben Sie, es macht jemandem Spaß, sich als geisteskrank behandeln zu lassen und möglicherweise ein Leben in Verwahrung verbringen zu müssen? Haben Sie sich das schon einmal gefragt, bevor Sie sich auf diesen Plan eingelassen haben."
"Sie reden mit mir, als hätten Sie mich auf frischer Tat ertappt, Mylady. Aber dem ist nicht so. Ich streite jedes Wort von Ihnen ab."
"Seit wir erfuhren, daß Mr. Andrews sich mit Mr. Hardbrick traf, was von unseren Leuten beobachtet wurde, wußten wir, daß er nicht lange warten würde, um etwas zu unternehmen. Diese Form von Sturheit ist sowohl bei den Hardbricks als auch bei Mr. Andrews beispiellos. Aber zu Ihnen. Wir haben Sie natürlich beobachtet, als Sie sich mit Mr. Andrews trafen, als sie um dessen Haus herumschlichen. Das reicht uns aus. Wenn wir nun ergründen, wie Sie den Angriff auf Mrs. Andrews vollzogen haben, ist das so gut wie eine direkte Beobachtung der Tat."
"Klingt das zu platt, wenn ich sage, daß ich das nicht wollte?" Erwiderte Rodney Underhill.
"Wenn Sie es nicht wollten, wieso taten Sie es dann?" Entgegnete Sergeant Saunders alias Alecto Hooks mit einer Gegenfrage.
"Sie kennen das vielleicht. Wenn du einem Mann den kleinen Finger reichst, kann es passieren, daß er die ganze Hand, ja den ganzen Arm nimmt", sagte der Geheimdienstmitarbeiter.
"Will sagen, Sie haben sich von Dr. Andrews unter Druck setzen lassen, weil Sie ihm schon einmal, zumindest von uns aus gesehen, behilflich waren und dabei nicht gerade rühmlich gehandelt haben. Dennoch hätten Sie sich gerade bei soetwas verweigern müssen", sagte die Hexe aus dem Ministerium schulmeisterisch und legte nach: "Oder hätten Sie für Ihren glorreichen Freund und Studienkameraden auch einen Mord begangen?"
"N-nein, natürlich nicht!!" Entfuhr es Rodney unvermittelt heftig. Er zerrte an den magisch mit dem Schreibtischstuhl verbundenen Handschellen und starrte Alecto Hooks zornig an.
"Er hätte Sie doch genauso dazu zwingen können, seine Frau zu ermorden und ..."
Inspektor Hamilton trat ohne Anklopfen in das Büro. Offenbar war das auf dieser Etage üblich. Er brachte das beschlagnahmte Schallbündelungsgerät und einige Papierzettel.
"Das Ding ist gefährlich und heimtückisch, Alecto", sagte er aufgeregt und wedelte hektisch mit den Zetteln vor der Nase der Ministeriumshexe herum. Diese nahm den obersten Zettel, las und nickte, weil sie dort wohl eine Bestätigung für eine Vermutung fand. Dann las sie den zweiten Zettel und sah Rodney sehr aufmerksam an. Dann legte sich ein bedauernder Ausdruck auf ihr Gesicht.
"Mr. Underhill, ich fürchte, wenn Sie es tatsächlich vorziehen, unser Angebot abzulehnen, werden Ihre Vorgesetzten Sie als gemeingefährlich einstufen und auf Lebenszeit in einem Hochsicherheitsgefängnis unterbringen. Was Sie da an sich genommen und verwendet haben, ist in einer Geheimakte Ihrer Streitkräfte als Prototyp einer neuartigen Kriegswaffe aufgeführt, die noch nicht komplett entwickelt ist. Offenbar wird versucht, mit diesem Gerät eine größere Strecke zu überwinden, um damit betäubende oder irritierende Ultraschallangriffe auszuführen. Man hat auch die Botschaft aus dem Nichts entschlüsselt, die Sie mit dieser Waffe ausgesandt haben. Wie gesagt, Sie können mit uns zusammenarbeiten oder gleich von einem nichtmagischen Kollegen übernommen werden. Für Ihren hochangesehenen Freund dürfte sich auch ohne Ihre Aussage kein Ausweg mehr finden lassen. Sicher ist auf jeden Fall, daß wir das Opfer Ihres heimtückischen Angriffs so schnell wie unauffällig aus dem medizinischen Gewahrsam herausbekommen werden, in dem sie sich derzeit befindet."
"An und für sich wechsel ich doch lediglich von einem Erpresser zum anderen", erwiderte Rodney Underhill trotzig. "Wenn ich mich auf Ihr Spiel einlasse, haben Sie mich doch in der Hand."
"Nur mit dem Unterschied, daß wir Sie nicht weiter behelligen werden, da wir auch ohne Sie klarkommen. Wir wollen lediglich die Einhaltung Ihres Schwures und die Sicherheit, daß Sie nicht noch mal für jemanden gegen uns oder von uns betreute Personen arbeiten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger wollen wir von Ihnen haben. Wenn Ihnen das jedoch zu viel ist, übergeben wir Sie gerne an unsere nichtmagischen Kollegen", sagte Alecto Hooks mit ruhiger Stimme und sah Rodney ganz friedlich an.
"Es wäre ein merkwürdiger Vertrag, den Sie nicht einhalten müßten und ich Sie ja nicht zur Einhaltung zwingen kann", stellte der Freund von Richard Andrews betroffen fest.
"Wie gesagt, wenn Sie sich besser fühlen, wenn wir Sie mit der ganzen Härte Ihrer Gesetze konfrontieren, kann dies in wenigen Minuten vollzogen sein. Bislang wissen von Ihrem Angriff nur vier Personen aus unserem Ministerium. Entscheiden Sie sich innerhalb der nächsten Minute!"
Für Rodney Underhill war dies natürlich keine Frage. Er wußte, daß er auf der ganzen Linie verloren hatte und keine Wahl hatte. Ihm schwebte nicht vor, sich wegen der ganzen, selbst ohne Erklärung der Hexe erkennbaren Straftaten im Gefängnis wiederzufinden, womöglich lebenslänglich. Deshalb ließ er nur dreißig Sekunden verstreichen und sagte zu, den Hexen und Zauberern zukünftig nicht mehr im Wege zu stehen, ihnen sogar zu helfen, wenn sein Gewissen das zuließ. Alecto Hooks oder Sergeant Rosemarie Saunders nickte einverstanden und schrieb sich etwas auf. Dann sagte sie:
"Sie bleiben noch eine halbe Stunde hier. Wir müssen den von Ihnen angerichteten Schaden beheben, möglichst ohne Aufsehen. Sie verstehen, daß Sie uns dabei nicht in die Quere kommen dürfen. Aber dann können Sie als freier Mann aus diesem Büro gehen und in ihrer Wohnung mit Ihrem Gewissen abklären, welche Dummheiten Sie begangen haben und was Sie daraus lernen. Ich bedanke mich für Ihre konstruktive Mitarbeit."
"Sie wollen nicht von mir wissen, wie das genau abgelaufen ist?" Fragte Rodney Underhill.
"Das ist nicht nötig. Durch dieses Gerät wissen wir, wie es abgelaufen ist. Das einzige, was wir noch erfahren müssen, ist die Adresse der Person, die es Ihnen überlassen hat. Aber da wir in weiser Voraussicht jeden Ihrer Schritte außerhalb der eigenen Wohnung beobachten ließen, besteht kein Zweifel, daß wir diese Information in den nächsten dreißig Minuten auch haben werden", sagte der mann, der sich als Inspektor Hamilton ausgegeben hatte. Dann verließ er den Raum und nahm das Schallbündelungsgerät wieder mit.
Tatsächlich blieb Rodney diesmal unbehelligt sitzen, bis eine halbe Stunde verstrichen war. Dann lösten sich die magischen Handschellen von ganz alleine und gaben den Geheimdienstler frei. Alecto Hooks brachte ihn persönlich mit dem Fahrstuhl zurück in die Tiefgarage, wo ein gewöhnliches londoner Taxi auf ihn wartete. Rodney fragte den Fahrer nicht, ob er auch ein Zauberer sei. Es war ihm im Moment sehr unwichtig. Zumindest kannte der Fahrer das Ziel der Tour und brachte Rodney ohne Geld zu verlangen zu seinem Appartmentwohnhaus zurück, wo er schnell seine Wohnung aufsuchte und sah, daß drei neue Nachrichten im Anrufbeantworter gespeichert worden waren. Er drückte den Abspielknopf.
"Hallo, Mr. Freemont! Hier spricht Richard Andrews. Unsere Transaktion läuft wie geplant. Danke für die prompte und zuverlässige Hilfe!" Kam Dr. Andrews' Stimme leicht verzerrt aus dem Lautsprecher. Diese Nachricht, so die künstliche Stimme des Anrufbeantworters, war um 18.20 Uhr eingegangen. Die zweite Nachricht stammte auch von Richard Andrews. Diesmal klang der Chemiker etwas aufgeregter.
"Hallo, Mr. Freemont. Offenbar haben wir ein Problem. die Konkurrenz hat Lunte gerochen und interveniert. Bitte um schnellstmöglichen Rückruf."
"Offenbar haben diese Magier Richard schon am Hintern", dachte Rodney Underhill und konnte sich eines schadenfrohen Grinsens nicht erwehren, was ihm eh gleichgültig war, da er hier wohl unbeobachtet war. Der Anrufbeantworter teilte mit, daß dieser Anruf um 18.35 Uhr aufgenommen worden war.
"Nachricht Nummer drei", kündigte das Aufzeichnungsgerät an und spielte die letzte neue Nachricht ab. Wieder war es Richard Andrews, diesmal mit sich leicht überschlagender Stimme, fast wie in Panik:
"Mann, Rodney, diese Hexenbrut ist hinter mir her! Ich konnte gerade noch weg. Wo bist du denn, verdammt noch mal?!"
"Das war's", kommentierte Rodney laut sprechend und mit kalter Stimme. Er löschte alle Nachrichten, Sodaß auf dem kleinen Tonband nichts mehr übrigblieb, was ihn in irgendeiner Weise mit Richard Andrews in Verbindung brachte. Er entsann sich, daß zwischen Nachricht zwei und drei nur zehn Minuten vergangen waren und hoffte, nun Zeit für sich zu finden, um über den Schlamassel nachzudenken, in den er sich hineingeritten hatte. Denn ihm war klar, daß die Leute aus der Zaubererwelt Richard nicht mehr vom Haken lassen würden. Es würde ihm nicht gelingen, zu ihm, Rodney Underhill, zu kommen, zumal der Geheimdienstler selbst ihm, einem alten Freund, nie die persönliche Anschrift mitgeteilt hatte. Die Telefonnummer stand zwar unter "R. Underhill" im londoner Telefonbuch, doch ohne Straße und Hausnummer. So setzte sich Rodney Underhill hin und dachte ruhig über die Ereignisse der letzten fünf Wochen nach.
Richard Andrews fühlte sich überlegen. Sicher, er war gerade dabei, vierzehn Jahre seines Lebens auszustreichen, seine eigene Frau für Unzurechnungsfähig erklären zu lassen, sie per Aussage für geraume Zeit in der Verwahrung eines Krankenhauses festzusetzen. Sicher, er würde einen Gerichtsbeschluß benötigen, um sich endgültig von ihr freizumachen, vielleicht per Gesetz das alleinige Sorgerecht für Julius zugesprochen zu bekommen. Doch im Moment war ihm wichtiger, daß er das Vorhaben der Zaubererwelt, seine Familie zu unterwandern, vereitelt hatte. Was er nicht wußte: Jemand hatte sich bereits an seine Fersen geheftet und damit begonnen, den Spieß umzudrehen.
Dr. Morton, Leiter der psychotherapeutischen Abteilung des Zentralkrankenhauses, sah auf seine vergoldete Armbanduhr, die als technische Neuheit einen Empfänger für die Zeitsignale einer weit entfernt stehenden Atomuhr besaß und daher immer auf die Sekunde genau ging. Sie zeigte 18.21 Uhr und zehn Sekunden, als sich Dr. Richard Andrews, der Ehemann einer erst am Vormittag eingelieferten Patientin mit Verdacht auf Überarbeitung und eventueller Gehirnerkrankung melden ließ. Er ließ ihn hereinbitten und hörte sich an, was er zu berichten hatte.
"Doktor, ich fürchte, meine Frau verliert den Verstand. Sie erzählte was, daß sie seit gestern Stimmen gehört hat, die ihr angeblich den Auftrag gegeben haben sollen, sich und mich umzubringen, weil irgendwelche Magier sie dazu verpflichtet hätten."
"Bitte was?" Fragte Dr. Morton äußerlich ruhig klingend.
"Ja, sie sagte wörtlich: "Die Zauberer, die unseren Sohn haben, wollen, daß ich dich und mich umbringe, damit sie ihn endgültig für sich behalten können."", sagte Richard Andrews mit hektischer Betonung und bemühte sich dabei um einen verunsicherten, ja besorgten Gesichtsausdruck. Dr. Morton sah dem Mann seiner Patientin genau in die Augen. Sie ruckten leicht hin und her, als scheuten sie den längeren Blick auf einen festen Punkt. Er kannte diese Reaktion von Leuten, die mit einer ungewohnten Lage fertig werden mußten, aber noch darum rangen, sie überhaupt zu erkennen.
"Erzählen Sie mir bitte alles, was Sie gehört haben, Sir!" Ordnete der Arzt an und deutete auf einen freien Besucherstuhl. Richard nahm die Einladung an, setzte sich und erzählte, daß seine Frau offenbar geplant habe, Julius in eine mit Magie herumlaborierenden Sekte unterzubringen, die wohl in der Theodor-C.-Beaufort-Schule nach neuen Mitgliedern suche, daß Martha mit diesen Leuten vereinbart habe, Julius komplett in ihre Obhut zu geben und von Hypnose, die benutzt wurde, um Befehle zu übermitteln oder unechte Sinneseindrücke für echt zu erklären, um den Anschein von wirklicher Zauberei zu vermitteln. Er war so in Fahrt, daß er nicht bemerkte, wie die Sprechzimmertür aufschwang und ein Mann in dunklem Anzug mit weißem Hemd und einer mit Winsorknoten gebundenen Krawatte hereinkam. Morton warf dem Eindringling einen tadelnden Blick zu. Doch dieser stand ruhig im Türrahmen und wartete, bis Richard seinen Redefluß abwürgte.
"Entschuldigung, Sir, aber dies ist ein Sprechzimmer für einen Arzt, ein vertraulicher Ort für vertrauliche Gespräche. Sie können doch nicht einfach unangemeldet hereinkommen", wies Dr. Morton den Fremden zurecht. Dieser hob seine rechte Hand, in der er eine Aktentasche hielt und sagte:
"Entschuldigung, Dr. Morton, aber ich hielt es für dringend geboten, Sie hier und jetzt aufzusuchen. Mein Name ist Horatio Riverside, Doktor der Rechte, eingetragener Anwalt, Teilhaber von Riverside, Grey & Rush. Sie kennen ja unsere Kanzlei, da Sie letztes Jahr mit meinem Partner Donald Grey zu tun hatten. Ich wurde von Mrs. Andrews vor zwei Monaten beauftragt, zu prüfen, ob seitens ihres Ehemannes versucht werden könnte, sie um das Sorgerecht für den nun dreizehnn Jahre alten Sohn Julius Andrews zu bringen, indem er fadenscheinige Behauptungen in die Welt setze, sie habe besagten Sohn in einer merkwürdigen Lehranstalt untergebracht, deren Ziel es sei, den anvertrauten Schülern den Umgang mit übernatürlichen Dingen beizubringen. Ich denke, ich bin gerade noch rechtzeitig zur Stelle, um den letzten Akt einer solchen Kampagne zu verhindern", sagte der Eindringling mit redegewohnter Stimme und klappte die Aktentasche auf. Richard Andrews blickte mit funkelnden Augen den Störenfried an, der mit wenigen Sätzen seinen ganzen Plan ins wanken gebracht hatte.
"Ich weiß weder was von einer Schule für übernatürliche Absonderlichkeiten, wo mein Sohn angeblich untergebracht worden sein soll, Mister, noch habe ich je vorgehabt, meiner Frau das Sorgerecht für unseren gemeinsamen Sohn streitig zu machen. Was bilden Sie sich eigentlich ein?"
"Moment, Dr. Andrews. Ich fürchte, hier steht Aussage gegen Aussage. Als Arzt kann ich nur medizinische Faktoren bewerten, aber nicht rechtliche Verflechtungen. Ich möchte die Angaben dieses Herrn prüfen und werde mir dann den Rest Ihrer zweifelsohne interessanten Geschichte anhören."
"Dr. Morton, ich bezweifle, daß Sie dafür bezahlt werden, sich ein Märchen von einem Mann in hoher Stellung anzuhören, der sich durch einen zugegeben interessanten Plan aus der wohl gescheiterten Ehe mit seiner Frau lösen möchte, ohne lange um Unterhalt und Abfindung zu streiten", warf Horatio Riverside ein und legte dem Arzt zwei Dokumente auf den Schreibtisch. Richard wollte danach greifen, doch Morton sah ihn äußerst bedrohlich an und griff selbst nach den Papieren. Er las sie halbgründlich, schüttelte mißbilligend den Kopf, las sie noch mal gründlich und sah dann erst den Anwalt, dann den Ehemann seiner Patientin an.
"Können Sie diese Vorwürfe tatsächlich beweisen, Dr. Riverside?" Fragte Dr. Morton und machte einen Gesichtsausdruck wie ein Vater, der seinen Sohn bei einer Missetat erwischt hatte, von der er nicht glaubte, daß dieser sowas anstellen könnte.
"Falls Sie möchten, können wir Scotland Yard um die Prüfung der vorgebrachten Anschuldigungen ersuchen, Dr. Morton. Was meine Kanzlei und unsere Ermittlungsabteilung angeht, sind wir alle uns zu 100 % sicher, daß Sie zum Handlanger eines heimtückischen Plans werden sollten, dessen Kern die Entmündigung von Mrs. Martha Andrews ist."
"Sie schreiben hier, daß Mrs. Andrews laut Ihren Recherchen mit Hilfe eines technischen Tricks in den Glauben versetzt wurde, unerklärliche Stimmen zu hören. Sie führen sogar aus, wie dieser Trick funktioniert, mit einem elektronischen Schallbündelungs- und Verstärkungsapparat. Klingt mir zwar nach wissenschaftlicher Dichtung oder Agentengeschichte à la "Kobra, übernehmen Sie", doch von den Angaben zum technischen Trick abgesehen schildern Sie hier, daß Dr. Andrews seine Frau in den Glauben versetzen wollte, sie sei maßgeblich Schuld daran, daß der gemeinsame Sohn in die Hände von Anhängern eines Hexenkultes geraten sei. Offenbar drängte die Zeit, so lese ich das aus Ihren Angaben, denn eigentlich sei es geplant gewesen, sie langsam aber sicher in unerträgliche Schuldgefühle zu treiben, sie wäre für Julius' Schicksal verantwortlich. Diese Angabe deckt sich mit dem, was Sie mir gerade erzählt haben, Dr. Andrews. Offenbar haben wir hier ein Problem."
"Welches Problem? Ich weiß nichts davon, daß meine Frau einen Rechtsanwalt beauftragt hat, gegen mich zu ermitteln. Es wäre unlogisch gewesen, mit mir eine längere Urlaubsreise anzutreten, in deren Verlauf mir dutzende von Möglichkeiten offengestanden haben, sie loszuwerden. Meine Frau tat bis zu diesem Tage nichts, ohne es logisch zu durchdenken und unlogische Handlungen zu vermeiden, Dr. Morton. Insofern zerplatzt die Seifenblase dieses Herrn", er deutete auf Riverside, "und hinterläßt nur ein Vakuum. Nichts stimmt, was dieser Mensch dort erzählt. Es ist geradezu unverschämt, mir zu unterstellen, ich betreibe die Entmündigung meiner Frau. Dazu sehe ich keinen Anlaß. Ich habe damals der Einschulung unseres Sohnes in die Theodor-C.-Beaufort-Schule zugestimmt, weil ich eine akzeptable Alternative für Eton suchte und fand. Warum sollte ich jetzt darauf hinarbeiten, meine Frau für unzurechnungsfähig, gar geisteskrank erklären zu lassen, Sir?"
"Weil Ihnen daran gelegen ist, die Kontrolle über Ihren Sohn zurückzugewinnen, da seine Ausbildung nicht im Rahmen des von Ihnen erwünschten verläuft", erwiderte der Anwalt schlagfertig und legte nach einer Sekunde Atempause nach: "Sie haben sich im letzten Jahr mit den Lehrern der Theodor-C.-Beaufort-Schule überworfen, da diese Ihren Sohn nicht in dem von Ihnen erwünschten Rahmen auf rein naturwissenschaftliche Tätigkeiten vorbereiten wollten. Sie lehnten eine von der Schule angebotene Eltern-Lehrer-Austausch-Besprechung mit der Begründung ab, daß nur Ihr Wille zu berücksichtigen sei und unterstellten den Lehrern der besagten Schule auch, daß sie Julius mit gesellschaftsfeindlichen Denkstrukturen vertraut machten. Mrs. Andrews hat uns die schriftliche Korrespondenz im Original überlassen. Ich denke, das genügt als Motiv. Dr. Morton ist im Gegensatz zu mir ein Experte der Psychologie. Wie wahrscheinlich ist es, daß Mr. Andrews auf Grund seiner beruflichen Autorität und Karriere unter der Zwangsvorstellung leidet, daß nur seine Wünsche zählen und alles, was dem entgegenwirkt, zu eliminieren sei?"
"Jetzt reicht's!" Rief Richard Andrews und stand plötzlich neben seinem Stuhl. Er funkelte den Anwalt an, wie einen Feind, den er gleich angreifen würde. Doch der Rechtsvertreter blieb immer noch ruhig.
"Nun, dies wäre Ihrerseits eine schwer zu beweisende Unterstellung, Dr. Riverside", wandte Dr. Morton ein und verfiel in nachdenkliches Grübeln. Dann sagte er: "Jedoch kann ich auch beim besten Willen die Richtigkeit Ihrer Hypothese nicht grundweg ausschließen, da es in unserer Gesellschaft leider immer mehr zu profilneurotischen Auffälligkeiten kommt, die im schlimmsten Fall zu gewalttätigen Auseinandersetzungen geführt haben. Jedoch möchte ich betonen, daß ich als zuständiger Facharzt in erster Linie auf das Wohl der mir anvertrauten Patienten zu achten und es zu erhalten habe. Über die seelischen Probleme von Außenstehenden oder Angehörigen darf ich mich nur dann orientieren, wenn ich berechtigte Gründe habe, mich damit zu befassen, sei es, um das Umfeld eines Patienten zu erforschen oder seine sozialen Kontakte in eine Diagnose einzubeziehen. Wie gesagt steht hier Aussage gegen Aussage."
"Dann holen Sie meine Frau her und fragen Sie doch nach diesen Zauberern und Hexen, von denen sie mir erzählt hat!" Verlangte Richard Andrews, immer noch stehend.
"Dies ist doch ein brauchbarer Vorschlag", willigte der Anwalt ein. Doch Morton las die zwei Dokumente, die Riverside ihm gegeben hatte. Dann fragte er:
"In diesen Schriftstücken verweisen Sie auf andere Unterlagen. Führen Sie diese auch mit sich?"
"So ist es", bestätigte der Anwalt, ging schnell um Richard Andrews herum und legte dem Arzt den Inhalt seiner Aktentasche auf den Schreibtisch. Richard Andrews fragte sich, was hier nun ablief. Sicher war eines: Martha mußte bis zu diesem Tag arglos gewesen sein, sodaß sie niemals hinter seinem Rücken einen Anwalt engagiert hätte. Da dieser Mensch sich jedoch offenbar mit einigen Dingen zu gut auskannte und dem Arzt wohl glaubhaftere Argumente geliefert hatte, mußte dieser sogenannte Anwalt von der Zaubererwelt in Marsch gesetzt worden sein. Aber wieso waren die so schnell darauf gekommen, daß Dr. Andrews seine Frau durch ein sehr unfeines Manöver aus dem Weg schaffen würde? Hatte Rodney Underhill vielleicht geplaudert? Aber wie waren diese Leute auf ihn verfallen, wenn dies so war?
"Lesen Sie sich das haltlose Zeug dieses impertinenten Wichtigtuers ruhig durch und erkennen Sie, wie unglaubhaft es ist, Dr. Morton. Ich lasse Sie für einige Minuten alleine", sagte Richard. Er ging unbehelligt aus dem Sprechzimmer, an der Krankenschwester, die die Büroarbeit erledigte vorbei und suchte die Besuchertoilette für Herren auf. Dort rief er per Handy bei Rodney Underhill an, erwischte jedoch wie kurz vor seinem Gespräch mit Dr. Morton nur den Anrufbeantworter. Hektisch sprach er eine weitere Nachricht auf das Band und legte wieder auf. Sich gerade haltend und den Kopf hoch erhoben, kehrte er in das Sprechzimmer zurück. Dr. Morton studierte immer noch die Unterlagen Riversides, welcher auf dem freien Besucherstuhl saß und die Arme verschränkt und die Beine übereinandergeschlagen hatte, als könne ihn hier und jetzt niemand aus der Ruhe bringen.
"Dr. Andrews, die Korrespondenz liest sich wie die Vorlage eines Gerichtsprozesses, der nur deswegen nicht geführt wurde, weil das Renomme der beiden streitenden Parteien dadurch gefährdet worden wäre. Ich muß leider erkennen, daß ich tatsächlich zum unfreiwilligen Erfüllungsgehilfen einer Verleumdungskampagne gemacht werden sollte. Immerhin wurde mir von Dr. Collins ein kurzer Bericht zugefaxt, der sich mit dem deckt, was Sie sagen. hierin wird sogar behauptet, daß es sich bei der Theodor-C.-Beaufort-Schule um ein Zaubererinternat handeln solle, eine höchst abstruse Behauptung, die, so Collins durch Aussagen von Ihnen, welche Ihre Frau getätigt haben soll, zur Kenntnis des Kollegen Collins gelangten. Er bezog sich auf ein kurzes Gespräch mit Ihnen vor etwas über einem Jahr, wo Sie dergleichen angedeutet haben sollen. Offenbar intrigieren Sie in dieser Weise schon länger, was ein ausgezeichneter Anlaß für Mrs. Andrews war, sich um einen Rechtsbeistand zu bemühen. Ich muß Ihnen sagen, daß ich mich für derartige Scherze zu alt finde und auch deshalb keinen Spaß verstehe, weil ich tagtäglich mit echten, ernsthaften Erkrankungen und den damit verknüpften Problemen beschäftigt bin und weiß, daß niemand solch ein niederes Spiel treiben soll. Was bilden Sie sich ein, wer Sie sind, Dr. Andrews? In Ihrer Firma mögen Sie sich einen gewissen Status erarbeitet haben. Dieser berechtigt Sie jedoch nicht, sich als Alleinherrscher und oberster Richter zu versuchen."
"Mal abgesehen davon, daß ich Ihnen morgen mit meinem Anwalt einen Besuch abstatten und Sie wegen Verleumdung verklagen werde, Dr. Morton, bin ich empört, wie leichtgläubig Sie Zeilen auf Papier eine größere Beachtung schenken, als einem direkten Gespräch. Ich fürchte, das Wohl der Ihnen anvertrauten Patienten, zu denen zurzeit auch meine Frau gehört, ist ernsthaft gefährdet, wenn ein an und für sich objektiv handelnder Facharzt sich von geschriebenen Aussagen ihm wildfremder Leute beeindrucken läßt. Dann, Herr Doktor, kann es natürlich vorkommen, daß menschenverachtende Zeitgenossen in der Tat ein solch derbes Spiel treiben können, wie Sie es mir hier unverhohlen unterstellen. Denn Sie und dieser ungehobelte Mensch hier bezichtigen mich eines Verbrechens, ohne auch nur einen Moment hinterfragt zu haben, was diese angeblichen Ermittlungsergebnisse wert sind. Außerdem möchte ich diesen Humbug selbst lesen. Falls mir dies verweigert wird, sehe ich mich in meiner Vermutung bestätigt, daß meine Frau Opfer einer gesellschaftsfeindlichen Verschwörerbande geworden ist."
"Lesen Sie die Unterlagen!" Bot Dr. Riverside, falls er wirklich so hieß, dem Chemiker an und reichte ihm das oberste Blatt der auf dem Tisch liegenden Papiere. Richard hielt das Blatt vor seine Augen und erschrak. Übergangslos wirbelten die Buchstaben auf dem Papier durcheinander, als schwämmen sie in einer dünnflüssigen Substanz, bis sie sich zu neuen Wörtern, Sätzen und Absätzen gruppierten:
Dr. Richard Andrews,
ihr böswilliges Vorhaben, Ihre Ehefrau durch gezielte Aktionen zur Untätigkeit zu verdammen, wurde durchschaut. Ich bedauere, daß Sie derartig feindselig auf unser kooperatives Angebot reagieren und selbst nicht davor zurückschrecken, eine anständige, vernünftige und Ihnen absolut gutmütig und bis heute auch loyale Frau, mit der Sie viele wichtige Lebensabschnitte teilen, für krank und unmündig erklären. Ich habe daher unseren Mitarbeiter Dr. Riverside beauftragt, den von Ihnen angerichteten Schaden zu korrigieren. Wir sind nicht daran interessiert, uns länger als nötig mit einem derartig feindseligen Muggel wie Ihnen herumzuschlagen, da es wesentlich wichtigere Probleme gibt, die wir lösen müssen.
Vertrauen Sie auch nicht auf die Mitarbeit des Ehepaares Hardbrick. Dieses hat sich zurzeit einem gesonderten Verfahren zu stellen, weil es ebenfalls gegen die auch für Familienangehörige von Zauberern gültigen Gesetze verstoßen hat.
Ich teile Ihnen hiermit klar und deutlich mit, daß Sie ab sofort unter strickter Beobachtung stehen, um jeden weiteren Versuch, Ihre Frau wider jede Vernunft zu schädigen, augenblicklich zu vereiteln. An und für sich ging ich davon aus, daß wenn nicht Respekt, dann zumindest Angst Sie von derlei Dummheiten abhalten würde. Doch wenn Sie sich einen ähnlichen Fehltritt noch einmal erlauben, werde ich bei unserem Minister die Ausführung drastischer Strafen gegen Sie beantragen. Machen Sie sich also nicht unglücklich! Stellen Sie Ihre Feindseligkeiten gegen uns ein und arbeiten Sie mit uns zusammen!
Dr. June Priestley
P.S. Wir haben das von Ihrem Handlanger Rodney Underhill verwendete Schallstrahlsendegerät beschlagnahmt und behalten uns vor, ihn und damit Sie gemäß der für Ihre Zivilisation gültigen Strafgesetze verfolgen zu lassen, falls Sie sich weiterer Anfeindungen schuldig machen.
"Das Ding behalte ich", sagte Dr. Andrews laut. Dr. Riverside nickte zustimmend. Doch als der Chemiker und Direktor der Forschungsabteilung von Omniplast den Zettel zusammenfalten wollte, lösten sich die Buchstabengruppen wieder in herumschwimmende Einzelbuchstaben auf und setzten sich zu neuen Gruppen zusammen, die, wie der Vater von Julius Andrews enttäuscht erkannte, belangloses Zeug darstellten, einen Einkaufszettel mit mehreren zu beschaffenden Lebensmitteln.
"Wenn Sie der Meinung sind, das meine Frau zu unrecht in diesem Krankenhaus liegt, können Sie sie ja entlassen, Dr. Morton. Aber wie erklären Sie die von mehreren Zeugen beobachteten Symptome von Krämpfen und anderen Schmerzen?"
"Schallwellen jenseits des menschlichen Hörvermögens", erwiderte Dr. Morton und sah dabei mißmutig auf den Chemiker. Dieser schluckte. Offenbar hatte dieser Anwalt aus der Zaubererwelt doch etwas vorgelegt, daß dem Psychotherapeuten eine plausible Erklärung liefern konnte. "Ein bislang unbekanntes aber praktikables Verfahren, das Schallwellen ähnlich präzise auf engem Raum bündelt, wie es im Tierreich die Meeressäugetiere vermögen. Faszinierend und erschreckend gleichermaßen, Dr. Andrews. Denn nun besteht die Gefahr, daß arglose Menschen zu Opfern derartiger Angriffe werden. Ich fürchte, Sie haben Geister heraufbeschworen, die nur schwer wieder auszutreiben sind. Aber das obliegt nicht mehr meiner Verantwortung. Ich lasse Mrs. Andrews noch etwas ausruhen. Ihr Anwalt wird Sie dann zu einem Ihnen nicht bekannt gemachten Zeitpunkt hier abholen. Ich werde die Polizei verständigen müssen, um Ihrem Treiben ein Ende zu machen", sagte Dr. Morton und griff nach einem Telefonhörer. Dr. Andrews zog ohne Vorwarnung und mit ihm kaum zugetrauter Schnelle seine Pistole aus dem Anzug hervor und richtete sie auf Dr. Morton. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Riverside drehte sich um und fischte unter das Jacket seines Anzuges. Sofort schwenkte Richard Andrews die Waffe auf den sogenannten Rechtsanwalt und feuerte. Laut krachte der Schuß und hallte ohrenbetäubend hell und scharf von den Wänden wider. Im selben Augenblick sauste eine Pistolenkugel knapp an Mr. Andrews' Kopf vorbei und schlug ins Holz des Türrahmens. Dr. Morton ließ den Hörer fallen. Riverside drehte sich zu dem Arzt, holte einen etwa fünf Zoll messenden Zauberstab hervor, deutete auf den Arzt und murmelte "Stupor!" Ein roter Blitz aus dem Stab fuhr in den Leib des Arztes und warf diesen entkräftet auf den bequemen Bürostuhl, der auf der anderen Seite des Schreibtisches stand. Richard nutzte diesen winzigen Augenblick, in dem der Zauberer sich auf Morton konzentrieren mußte, um aus dem Sprechzimmer zu flüchten. Er steckte die Handfeuerwaffe schnell in seinen Anzug zurück und wetzte wie von einer wilden Hundemeute gejagt durch die Korridore. Den lauten Schrei der erschreckten Vorzimmerschwester, der sich an den Wänden und der Decke des Korridors brach, nahm Richard Andrews nur unbewußt in sein Bewußtsein auf. Er lief und lief, rannte um sein Leben, obwohl er nicht wußte, ob dieses wirklich in Gefahr war. Wenn er nämlich genau überlegt hätte, so wäre er darauf gekommen, daß es dem Anwalt, der eindeutig ein Zauberer war, nie darum gegangen sein konnte, Dr. Andrews den Muggelbehörden auszuliefern. Denn dieses hätte eine langwierige Untersuchung ausgelöst, die unliebsame Fragen und Erkundigungen nach sich gezogen hätte. Denn dadurch, daß Riverside Dr. Morton mit einem Zauber angegriffen hatte, hätte Richard Andrews erkennen müssen, daß es dem Anwalt nicht recht war, die Polizei ins Spiel zu bringen. Doch wie konnte der Zauberer eine Pistolenkugel auf ihn abfeuern, ohne das Richard eine Waffe gesehen hatte. Die erschreckende Erkenntnis trieb ihn noch mehr zur Eile an. Er hätte fast sich selbst erschossen. Die Kugel war diejenige, die er, Richard, abgefeuert hatte. Sie war wohl von einer Art Schutzschild um den Anwalt abgeprallt und wegen der kurzen Distanz mit großer Wucht zu ihm zurückgekehrt. Der beim Rückprall entgegengesetzte Flugwinkel hatte Richard davor bewahrt, das Geschoß in den eigenen Kopf zu bekommen. Offenbar, so mußte er hier und jetzt erkennen, taugten die gewöhnlichen Waffen gegen Zauberer nichts, konnten sogar gegen ihre Anwender wirken.
Der graue Bentley flog förmlich auf Richard zu, der wegen der ungewohnten körperlichen Anstrengung schnaufte wie eine Dampflokomotive. Doch dies war ja nur eine Sinnestäuschung. Nicht der Wagen kam auf seinen Besitzer zu, sondern dieser auf den Wagen und zwar mit ungewohnter Schnelligkeit. Hastig fummelte Richard Andrews in seiner Jackentasche, bekam die Schlüssel zu fassen und fingerte daran herum, bis er den Türschlüssel bereithielt. Er schloß die Fahrertür auf, warf sich hinter das griffsicher überspannte Lenkrad, warf die Tür mit lautem Knall zu und bohrte den Zündschlüssel in das dafür vorgesehene Schlüsselloch. Keine Zehntelsekunde später sprang der PS-starke Motor des Bentleys an. Erst jetzt zwang sich Richard Andrews zur Selbstbeherrschung. Einen Autounfall durfte er sich nicht leisten. Er durfte auch nicht mit überhöhter Geschwindigkeit fahren, um nicht einer zufälligen Polizeikontrolle aufzufallen. Also setzte er mit der Routine des langjährigen Autofahrers seinen Wagen vom Parkplatz zurück, wendete ihn und fädelte sich in den Strom der abendlichen Blechlawine ein, die alle heimkehrenden Londoner vereinigte, Bankleute, Putzfrauen, Lehrer, Metzger und Ärzte. Auf die Einhaltung der Geschwindigkeitsobergrenze bedacht und die aufgestellten Ampeln und Verkehrszeichen peinlich beachtend, suchte sich Richard Andrews seinen Weg aus der Stadt, nicht zu sich nach Hause, verstand sich. Er rief von unterwegs noch mal bei Rodney Underhill an, war sehr aufgeregt, daß er wieder nur den Automaten dranhatte und sprach aufgeregt davon, daß man ihn nun wohl verfolgte.
Eine halbe Stunde fuhr er so aus London heraus und die Themse entlang, die sich zäh und schmutzigbraun durch die britische Millionen- und Hauptstadt wand. Vereinzelt tuckerten Frachter auf dem Fluß entlang und machten weiß schäumende Wellen, deren Ausläufer gegen die Ufer plätscherten. Zwei Dinge mußte Richard nun erledigen. Zum einen mußte er diese vermaledeite und wirkungslose Pistole loswerden. Dann mußte er sich ein Versteck für die Nacht suchen. Offenbar würde einer der Zauberer auf ihn warten, wenn er nach Hause kam. Vielleicht suchte auch die gewöhnliche Polizei nach ihm. Doch zunächst galt es, die Waffe zu beseitigen.
Ungefähr fünfzig Meilen außerhalb von London parkte Richard den Bentley an einer schwer einsehbaren Einbuchtung in der Landstraße, holte aus dem Kofferraum einen halbvollen Benzinkanister, füllte dessen Inhalt in den Tank des Bentleys um und legte die noch leicht rauchende Pistole hinein. Er hätte zu gerne seinen Bestand an hochwirksamen Säuren dagehabt. Doch er hatte ja am Morgen nicht damit gerechnet, daß seine Pläne sich wie ein zu schwungvoll geworfener Bumerang so heftig gegen ihn wendeten. Er war davon ausgegangen, mit Hilfe eines an und für sich spurlosen Mittels seine Frau für einige Zeit aus dem Verkehr ziehen zu können. Doch offenbar hatte er nie damit gerechnet, daß seine Sturheit und Feindseligkeit gegenüber den Zauberern von denen nicht vergessen worden war, ja daß auch die Hardbricks von diesen beobachtet wurden, wohl aus demselben Grund. Hardbrick! Er wollte Dr. Hardbrick anrufen und warnen. Doch er vergaß dies sofort wieder. Erstens ging ihn dieser Dr. Paul Hardbrick nichts mehr an, weil er ja eh mit den Angelegenheiten von Hogwarts nichts mehr zu tun haben wollte. Zweitens hatte diese June Priestley im Brief der tanzenden Buchstaben ja angekündigt, daß diese bereits mit Aktionen der Zaubererwelt konfrontiert wurden, also jede Warnung zu spät eintreffen mußte. Er trug also den Kanister mit der Pistole zum Themseufer, kauerte sich auf Hände und Füße und hielt den offenen Kanister so, daß er voll Wasser laufen mußte. Plätschernd lief die faulig und ölig riechende Flußbrühe in den Benzinkanister, überflutete die Pistole und stieg bis zum oberen Rand. Schnell klappte Richard den Deckel zu, drehte den Schraubverschluß auf den Ausguß und zog den nun randvollen und mehrere Kilogramm schweren Kanister zurück. Er trat auf das wild wuchernde Grünzeug am Ufer, holte mit aller Kraft, die sein unsportlicher Körper nach der wilden Flucht noch aufbringen konnte aus und schleuderte mit einer wilden Drehung den Kanister in den Fluß. Laut platschend schlug der Behälter in die Fluten und versank sofort. Da er voll Flußwasser und einer Pistole war, würde er auf den Grund absinken, womöglich jahrelang dort liegen, ohne aufzufallen. Schnell prüfte Richard, ob er sich bei dieser Arbeit schmutzig gemacht hatte, klopfte Grasbüschel von seiner Kleidung und war heilfroh, keinen Spritzer des verschmutzten wassers abbekommen zu haben und eilte zu seinem Wagen zurück. Das Gefühl, von einer Horde unsichtbarer Wesen verfolgt zu werden, überkam ihn ohne Vorwarnung. Er erkannte, daß er ein gehetztes Tier war, gejagt von Mächten, gegen die Schußwaffen nichts erreichten, die in Lidschlagmomenten den Standort wechseln konnten und Dinge wie Lebewesen verwandeln konnten. Ihm fiel ein, was Dr. Hardbrick erzählt hatte. Dessen Sohn Henry hatte von der Wiederkehr eines dunklen Lords gesprochen, den die Zauberer wohl sehr fürchteten. Hardbrick und er, Richard, hatten jedoch angenommen, es könne auch eine Finte Dumbledores sein, um allzu mächtige Schüler vorzeitig zu töten. Wie immer dies auch wirklich zuging, Richard Andrews war in Gefahr. Er wußte zu viel, und er hatte sich als unbezähmbar gezeigt und damit die Feindschaft mit diesen Leuten gesucht. Nein! Angst durfte er nun nicht in seinen Verstand eindringen lassen. Er mußte erst einen Unterschlupf finden, wo ihn niemand, der ihn kannte, suchen und finden würde. So fuhr er eine weitere Stunde in Richtung süden, nutzte sogar die Schnellstraße in richtung Dover, bis ihm einfiel, daß er in der stillgelegten Fabrik von Agrochemicals unterkommen konnte. Die Gebäude standen noch und waren nicht baufällig. Niemand würde dort einen Wachposten einrichten. Denn wem nützte diese Anlage noch, wo weder Substanzen noch Fertigungsanlagen zurückgelassen worden waren. So fuhr Richard Andrews zu einem großen Feld in der Nähe der Hafenstadt Dover. Er fand die alte Fabrik, stellte fest, daß dort zurzeit niemand herumlungerte und parkte seinen Wagen im Sichtschutz des Betonbaus, in dem die Wasserkühlung betrieben worden war. Dann holte er aus dem Kofferraum zwei Wolldecken, ein Kissen und eine Flasche Mineralwasser. Zwar hatte er Hunger. Doch den mußte er einstweilen unterdrücken, bis er wußte, ob er sich wieder in sein Haus wagen konnte. Denn eines war ihm klar. wenn niemand ihn suchte und vorher erwischte, mußte er zu seiner Arbeit zurück, oder er hätte mit einem Schlag alles verloren, worauf er sein gesamtes Leben hingearbeitet hätte. Wenn ihn weder Polizei noch Zauberer jagten, konnte er vielleicht so tun, als sei alles wie gehabt. Wenn diese Zauberer meinten, seine Frau vor ihm in Sicherheit bringen zu müssen, um so besser. Dann war er sie auch so los. Denn dieser tolldreiste Anwalt, den diese Priestley losgeschickt hatte, würde wohl kaum für einen Scheidungsprozess bereitstehen, denn dann würde Richard ihn eiskalt entlarven, und dann würde sich der Hexenmeister im schnieken Anzug nicht mit seinem Zauberstab wehren können.
Auf der breiten Rückbank seines Wagens bereitete sich Richard ein bequemes Ruhelager. Er ging davon aus, daß hier keine Polizeikontrollen stattfinden würden. Solange er keines der Fabrikgebäude direkt betrat, bestand auch keine Gefahr, Alarmanlagen auszulösen. Videoüberwachung war auch nicht zu befürchten, da diese zu kostspielig war. Er wußte auch, daß diese alten Betonbauten erst in einem Monat durch Sprengung abgerissen werden würden und die damit beauftragte Firma die Ladungen und Zündkabel wohl erst eine Woche vorher anbrachte. Deshalb war dieser Ort für eine Nacht so sicher, als wenn er in einer bewachten Festung übernachtet hätte.
Als Richard so auf der Rückbank lag, fiel ihm merkwürdigerweise ein, wie er sich mit Rodney und anderen Jungen aus seiner wilden Zeit in Eton darüber amüsiert hatte, wie schnell sie doch alle ein eigenes Auto haben wollten. Die größeren Jungen, die von ihren Eltern zum erfolgreichen Abschluß ein eigenes Auto geschenkt bekommen hatten, gaben gerne damit an, daß sie damit gut gesellige junge Damen einladen konnten, mit denen sie dann ihre leidenschaftlichen Spielchen auf der Rückbank getrieben hätten. Ein amüsiertes Schmunzeln legte sich auf die Züge des Flüchtlings, als er daran dachte, wi oft er sich genau soetwas vorgestellt hatte. Darüber versank er in tiefen Schlaf.
Wie mit einer phantastischen Zeitmaschine glaubte sich Richard in die guten alten Tage der letzten Klasse zurückversetzt. Er lief mit dem hoch aufgeschossenen Bill Huxley und Rodney Underhill über den Schulhof des altehrwürdigen Internats Eton. Die drei hatten damals eine verschworene Gemeinschaft gebildet, die sich "die Triangel-Bande" genannt hatte und für einige Streiche in Eton verantwortlich gemacht wurde, wenngleich die strengen Lehrer und der noch strengere Schuldirektor keinem der drei etwas hatten nachweisen können. Obwohl Richard, der sich damals noch hatte Dick nennen lassen, ein As in Chemie war, konnte er schlüssig beweisen, daß er nicht für den Schaumteppich im Lehrerzimmer verantwortlich war. Obwohl Rodney und Bill berüchtigte Bastler mit elektronischen Bauteilen waren, war ihnen die Manipulation der schuleigenen Telefonanlage nicht zu beweisen gewesen, die für zwei Tage ein heilloses Durcheinander verursacht hatte, wenn der Direktor angerufen werden sollte und es beim Hausmeister geklingelt hatte, dessen Durchwahl das Telefon des Fachbereichsleiters für Bewegungserziehung zum läuten gebracht hatte und so weiter. Trotz allen angedrohter Schulverweise und Notenabwertungen hielten die Schüler dicht und amüsierten sich über die Triangel-Tricks.
Richard sah Ryan Sterling, einen älteren Schulkameraden, wie er mit dem gebrauchten Eston Martin DB5 vorfuhr, ein Mädchen so hellblond wie Sterling selbst auf dem Rücksitz. Es waren gerade die Sommerferien angebrochen, und die Klasse der Triangel-Bande hatte bis auf Rupert Billings sehr gute Noten bekommen. Richard hatte in Chemie und Physik die bestnoten der Jahrgangsstufe abgeräumt, knapp vor Bill, der neben Physik noch gut in Mathe war und schon tönte, er wolle Maschinenbau studieren und dann Tankermotoren bauen, wenn nicht sogar Treibsätze für Mondraketen. Rodneys überragende Fächer waren Englisch und Geschichte gewesen, etwas, daß Bill Huxley und Dick Andrews nur der nötigen Note wegen beachtet hatten.
Als Richard das Mädchen auf Ryans Rücksitz sah, fragte er:
"Na, Ryan, hast du mit dem Auto auch die junge Lady probe gefahren?"
"Hey, Dicky, wie redest du denn von mir und meiner Schwester?" Fragte Ryan Sterling lachend. Das Mädchen auf dem Rücksitz lief rot an. Offenbar war ihr dieser Ausruf peinlich gewesen.
"Ach, das soll deine Schwester sein, Ryan?" Fragte Bill Huxley. "Du Pflaumenaugust, das ist wirklich meine Schwester", raunzte Ryan den Abschlußklässler Bill Huxley an. "Tenny, der Lauser will nicht wahrhaben, daß du meine Schwester bist. Steig doch mal bitte aus!"
Das Mädchen stieg aus dem Wagen aus und zeigte sich in einem wasserblauen kleid, das sehr schön zu ihren wasserblauen Augen paßte. Jetzt konnten die drei Triangel-Banditen erkennen, daß sie vom Gesicht her dem selbst für Eton-Verhältnisse Streberhaften Ryan zu ähnlich sah, um eine Freundin und Spielkameradin für besondere Anlässe zu sein.
"Ou, Mr. Sterling hat uns ja verheimlicht, daß er so'ne schöne Schwester hat. Da frage ich mich doch glatt, ob du nicht der noch nicht durchgetestete Prototyp bist und sie die absolute Verbesserung?" Feixte Rodney Underhill und bewunderte das junge Fräulein.
"Öh, Roddy! Nur weil du heute mit Eton durch bist und ich schon ein ganzes Jahr aus dem Laden raus bin, hast du gefälligst noch genug Respekt vor mir zu haben, klar? Hortensia ist vier Jahre älter als ich, also der Prototyp und nicht ein Nachfolgemodell", sagte Ryan Sterling leicht verärgert. Offenbar hatte Rodney ihn ohne es zu wissen oder zu wollen an einem empfindlichen Punkt getroffen.
"Hups, dann hat wer beim Nachfolgemodell einen Fehler gemacht", hakte Bill dort nach, wo Rodney angefangen hatte. Ryan trat auf den hochgewachsenen Jungen zu und meinte:
"Wenn du vom Gelände runter bist, hüte deine Zunge, Bursche! Ich lasse weder mich noch meine Schwester beleidigen, klar?"
"Yep!" Machten Bill und Rodney. Richard, der im Triangel immer der ruhigere, manchmal auch spaßtötende Pol war, sah nur zu, wie Ryan seiner Schwester den Schulhof und das erhabene Schulgebäude, sowie die Unterbringungsmöglichkeiten für die Schüler zeigte. Dann fuhr er wieder mit seinem Wagen davon.
"Toll gemacht, Roddy Baby!" Sagte Bill. "Wahrscheinlich hast du Mr. Superkracher richtig heftig geärgert."
"Mann, ich wußte doch nichts davon, daß der 'ne Schwester hat. Der hat doch nie was über seine Familie rausgelassen, Billyboy. Hätte ja sein können, das der von der Chemie der unbelebten Natur zur interessanteren Chemie der Zweisamkeit übergewechselt ist und das Autochen als Versuchslabor benutzt."
"Leute, ihr benehmt euch wie Dreizehnjährige!" Warf Dick Andrews ein. Darauf bekam er ein "Is' schon gut, Daddy" zurück, das er murrend hinnahm.
Dann war der Abschluß perfekt und die Eltern holten ihre "braven" Kinder ab. Richard sah seltsamerweise einen grauen Bentley an Stelle des alten Rovers seiner Eltern. Seine Eltern saßen zwar darin, doch irgendwie war das nicht das übliche Auto. Doch Richard dachte nicht daran. In diesem Moment war das schon das richtige Auto, weil ja sonst auch alles stimmte. Er fuhr mit seinen Eltern einen ganzen langen Weg schweigend über die Straßen, bis sein Vater sagte:
"Der gehört dir, Dick. Der Wagen ist unser Abschlußgeschenk."
"Aber ich habe doch noch keinen Führerschein!" Rief Richard. Doch damit erreichte er nur, daß seine Eltern unvermittelt aus dem Wagen verschwanden. Doch irgendwie störte ihn das nicht. Er fuhr einfach mit dem neuen Bentley, der gar nicht zu den Autos mit den breiten Schutzblechen über den Rädern und den großen Scheinwerfern passen wollte. Er fuhr damit, bis er an einem Wald ankam. Ein leichter Bodennebel wehte über den Weg und brachte Dick dazu, anzuhalten. Der Nebelstreifen verschwand hinter einem Baum. Dann bewegte sich etwas im Unterholz.
Eine junge Frau, schlank, aber nicht zu dünn, mit üppiger Oberweite und breitem Becken, gehüllt in ein langes weißes Kleid, den Kopf mit dem hochwangigem weißen Gesicht wie chinesisches Porzellan umweht von einer ungebändigten Mähne feuerroten Haares, trat auf den Bentley zu. Goldbraune Augen schimmerten lebenslustig aus dem Gesicht der Frau und suchten direkten Blickkontakt mit ihm, dem gerade achtzehn Jahre alten Eton-Absolventen, der nun, wo er die Oberschule zur vollsten Zufriedenheit seiner Eltern geschafft hatte, in Oxford Chemie studieren würde. Er spürte, wie der Blick dieser goldbraunen Augen in ihn eindrang, ihn wie mit elektrischem Strom durchkribbelte, seinen Körper erwärmte und seinen Pulsschlag beschleunigte.
"Hallo, du!" Rief ihn dieses Wesen aus dem Wald an, das in ihm etwas angeworfen hatte, das er bis dahin noch nicht gekannt hatte. Ihm wurde beim Klang dieser Stimme, beim Blick dieser Augen und bei den perfekt zusammenfließenden Bewegungen von Körper und Haarschopf der Frau, als habe er drei große Guiness in Shanons Pub auf einen Schluck hinuntergestürzt. Die Stimme war wie das wohlige Schnurren einer großen zufriedenen Katze an seine Ohren gedrungen, klang weich und tief, warm und doch kraftvoll in seinem Bewußtsein nach. Diese beiden Worte "Hallo, Du!"
"Ja, bitte?" Brachte Dick Andrews schüchtern heraus.
"Gehört der Wagen dir?" Fragte die fremde Frau und trat näher an den grauen Bentley heran. Sie streckte behutsam ihre rechte weiße Hand aus, die schlank und fein beschaffen war, ebenfalls wie aus teurem Chinaporzellan. Die Fingernägel waren so geschnitten, daß sie einen Zentimeter über die Kuppen hinausragten und rund gefeilt und rosa, wie lackiert. Doch es glänzte kein Widerschein auf diesen Nägeln, sodaß Dick Andrews glaubte, daß dieses die natürliche Farbe sein mußte. Vorsichtig strich die Fremde mit der ausgestreckten Hand über die warme Motorhaube des großen Autos, tätschelte sie wie den Rücken einer großen grauen Katze.
"Öhm, der wagen gehört mir, ja. meine Eltern ... meine Eltern haben .... mir den geschenkt", quälte sich Richard die Antwort auf die ihm gestellte Frage ab. Er sah wieder in das Gesicht der jungen Frau. Sie lächelte ihm mit strahlendweißen ebenmäßigen Zähnen an und trat so nahe an den Wagen, daß sie sich mit dem Oberkörper mühelos und sehr grazil über die Motorhaube legte und Richard durch die Windschutzscheibe anstrahlte.
"Hast du damit denn schon alles ausprobiert?" Säuselte sie mit tiefer Stimme eine Frage. Richard war sich sicher, daß er knallrot angelaufen war, denn sein Gesicht brannte wie auf eine sich erhitzende Herdplatte gelegt.
"Ich wollte ihn probe fahren", sprach er schnell, um den dicken Kloß nicht zu sehr in seinem Hals festkleben zu lassen, der ihm auf wundersame Weise dort hingeraten war. Er vermochte nicht, der Fremden zu befehlen, von seiner Motorhaube herunterzugehen, damit er weiterfahren konnte. Denn er hatte ja nur gehalten, weil ihn der Nebel am Boden irritiert hatte.
"Wo wohnst du denn, junger Mann?" Hörte er die warme Stimme wieder fragen. Ihm fiel ein, daß seine Eltern ihn immer gewarnt hatten, mit fremden Leuten so ungezwungen zu plaudern. Es sollten einige darunter sein, die es nicht gut mit ihm meinen mochten. So versuchte er, sich umzuschauen, ob diese traumhaft schöne Frau vielleicht ein Köder war, um ihn in einen Hinterhalt von Räubern zu locken, die ihm Wagen und Geld abjagen wollten.
"Da ist niemand außer dir und mir", sagte das weibliche Wesen auf der Motorhaube, wand sich biegsam wie eine Schlange und rutschte sacht von der noch warmen Haube zurück in die aufrechte Haltung. Sie suchte und fand den Blick des Eton-Abschlußschülers und versetzte diesem wieder jenen prickelnden Schauer wie einen sanften, nicht schmerzhaften Stromstoß.
"Ich muß jetzt wieder fort, Miss oder Misses", wollte er sagen. Doch der anregende, merkwürdig berauschende Blick der Fremden spülte jedes Wort aus seinem Mund, bevor es ihm über die Zunge gleiten konnte. Sie trat zu ihm an die Fahrerseite. Er drückte einen Knopf, und wie von Zauberhand surrte das Fenster hinunter. Das war toll. Dieser Wagen besaß elektrische Fensterheber. Warum ließ er das Fenster herunter? Wohl doch nicht, damit die Fremde sich zu ihm hineinbeugte, ihn dabei sanft mit ihrem Haar berührte und ihm die schlanke rechte Hand warm und zärtlich über die rechte Wange führte. Doch all dies geschah, und Richard war hin und weg, weil er sowas bisher noch nie selbst erlebt hatte. Dann sagte er unüberlegt aber klar und deutlich:
"Ich könnte Sie ein Stück mitnehmen, bis in die nächste Stadt. Ich muß nach London. Aber meine Eltern wollen bestimmt nicht haben, daß ich eine Fremde Frau..."
"Entschuldige! Ich vergaß, mich vorzustellen. Ich bin Roxana, Roxana Hallitti", sprach sie mit tiefer, samtweicher Stimme. Dann klappte sie die rechte Hintertür auf und schlüpfte auf die Rückbank. Richard startete den Motor und fuhr den Bentley aus dem Wald hinaus und bis zu einem großen Feld, auf dem wilde Blumen blühten. Ihm war zwar nicht klar, wieso es von einer Minute zur anderen Abend geworden war, doch in diesem Zustand dachte er an nichts. Die Fremde, Roxana Halliti, saß mit leicht übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Rücksitz und lächelte Richard an. Irgendwann gebot sie, anzuhalten. Richard hielt und stellte den Motor aus.
"Es wird dunkel, und du hast sicher noch einen weiten Weg vor dir, junger Freund", stellte die unbekannte Frau mit ihrer bezaubernden Stimme fest. Richard nickte nur. Dann sagte er:
"Meine Eltern könnten sich Sorgen machen, wenn ich zu spät ..."
"... noch über fremde Straßen fährst, mit einem Auto, daß du erst heute bekommen hast und noch nicht richtig zu führen gelernt hast? Dann sollten wir hier schlafen. Ich habe auch noch einen langen Weg vor mir, bei dem es nicht auf acht Stunden mehr oder weniger ankommt. Du hast doch Decken im Auto. Bereiten wir uns daraus ein Ruhelager!" Bestimmte die Mitfahrerin von Richard.
Richard gehorchte. Er stieg aus, holte zwei Wolldecken aus dem Wagen und breitete eine über die Rückbank aus, die andere wollte er als Zudecke für die Fremde anbieten, während er sich auf die Vordersitze legen und sich mit seinem Mantel gegen Wind und Wetter zudecken wollte. Doch die Fremde zog ihn erst mit den Augen, dann mit ihren Armen zu sich hin, schloß die Tür und kuschelte sich an ihn.
"Zu kalt, wenn du da vorne auf den Sitzen liegst. Viel zu unbequem, wo dieses schöne Auto doch solch eine breite Rückbank hat", säuselte die Fremde. Richards eigener Wille ertrank in einem nie gefühlten Strudel aus Glücksgefühlen, Aufregung und einem unbekannten Verlangen, von dem er zwar gehört, es aber nie für so mächtig gehalten hatte. Er gab sich der Fremden hin, die genau wußte, wie sie was mit ihm anstellen mußte, um diese Woge der übermächtig schönen Gefühle zu verstärken, ihn zu nehmen, zu halten, sich und ihn zusammen in diesen Rausch hinüberzuziehen, in dem sie sich einander ganz nahe kamen, immer näher, bis es näher nicht mehr ging. Hitze, Leidenschaft, Glück und übermächtige Leidenschaft wurden geschürt von der Woge der unbekannten, übermächtigen Ereignisse, bis Richard mit den Füßen heftig gegen die rechte Hintertür trat und die Wolldecke über sich abwarf. - Er war alleine im Auto. ganz allein in seinem grauen Bentley, geparkt auf einem Platz hinter einem nicht mehr benutzten Betonbau einer nicht mehr benötigten Fabrik für Landwirtschaftliche Chemikalien. Zartes Morgenrot fiel durch die Heckscheibe, Vögel, die in einiger Entfernung nisteten sangen.
Langsam fand Richard Andrews wieder zu sich. Er war am Vortag in der Stadt gewesen. Er war Doktor der Naturwissenschaften und Direktor der Forschungsabteilung einer Kunststofffabrik, kein Schulabgänger von Eton. Das war bereits siebzehn Jahre her. Aber warum schlief er in seinem Auto fern von London, wo er doch ein großes Haus besaß, in dem er mit seiner Frau wohnte? Dann überkamen ihn die Erinnerungen und die mit ihnen verbundenen Gefühle und spülten die Reste jenes leidenschaftlichen Traumes fort, die gerade noch in seinem Bewußtsein herumgetrieben waren. Er hatte versucht, seine Frau durch einen Schallbündelwerfer in den Wahnsinn treiben zu lassen, weil er nicht wollte, daß sie mit den Leuten aus der Zaubererwelt Kontakt hielt. Das war jedoch aufgeflogen, und so war er geflüchtet, davongelaufen wie ein gejagtes Stück wild, wie ein Kaninchen, das den Hund hinter sich weiß. Doch war dies richtig gewesen? Hätte er sein >Haus, seinen Beruf, sein ganzes Leben nach Eton so einfach wegwerfen sollen, wie ein beim Äpfelklauen ertappter Lausbube seine Beute? Nein! Das war ein Fehler. Ob es der entscheidende war, wußte er nicht. Sicherlich war es auch ein Leichtsinnsfehler gewesen, seine Frau anzugreifen und damit die mit ihr zusammenarbeitenden Zauberer und Hexen gegen sich aufzubringen? Er hätte es in dem Moment wissen müssen, als Dr. Paul Hardbrick ihm erzählt hatte, daß Martha und diese Mrs. Priestley gemeinsam mit diesem und seiner Frau in Hogwarts waren. Er hatte tatsächlich alles aus der Hand gegeben, was ihn dazu berechtigte, über das Leben seines Sohnes informiert zu bleiben. Nicht nur das! Er hatte sich selbst zur Gefahr für diese Leute gemacht, die die Geheimhaltung schätzten. Jetzt, wo er eine Nacht im Auto zugebracht hatte, erschien es ihm auch widersinnig, daß ihn die Polizei suchen würde, weil ja dieses zu gründlicheren Recherchen führen und auch eine heftige Aufregung in den Zeitungen beschwören mußte. Wenn er es schaffte, noch vor dem Dienstbeginn in seiner Firma nach London zurückzukehren, konnte er zumindest Haus und Anstellung retten. Wenn die Hexenmeister wollten, daß er von der Bildfläche verschwand, würden sie ihn auf der Flucht leichter beseitigen können als an festen und allerseits bekannten Plätzen. So setzte er sich auf, bewegte seine durch die etwas beengte Ruhestatt leicht steifen Gliedmaßen, öffnete die Hintertür auf der Fahrerseite und stieg aus.
Frische Luft umwehte ihn und weckte seine Lebensgeister vollständig auf. Er lief im leichten Trab einige Runden um den Bentley, um seinen Körper wieder gebrauchsfähig zu bekommen. Es war noch früh, wohl halb fünf. Im Sommer schien die Sonne schon früher. Das würde ihm helfen, schnell zurückzukehren, wohl in weniger als zwei Stunden. Er trank einen großen Schluck aus der Mineralwasserflasche, deren Inhalt schon keine Kohlensäure mehr besaß, dann schlug er die beiden Wolldecken aus, um sie ordentlich zusammenzulegen und in den Kofferraum zurückzulegen. Als er den Kofferraum aufklappte, warf er einen trübseligen Blick zu den ausgedienten, aber noch unverfallenen Betonbauten der Agrochemicals-Fabrik hinüber. Er sinnierte darüber, ob seine Firma nicht in einigen Jahren ebenso Eigentümerin einer ausgedienten, ausgeschlachteten und von Altlasten befreiten Fabrik sein würde. Er ließ seinen Blick über die von der rosagoldenen Morgenröte in schmutzigrotem Schimmer glühenden Bauten schweifen. Mechanisch ohne hinsehen zu müssen, legte er die zweite Wolldecke zusammen und hielt sie über den Kofferraum. Weil er die trübsinnige, aus Ausgedientheit und Einsamkeit und Morgenröte zusammengefügte Stimmung der leeren Betongebäude auf sich wirken ließ, sah er nicht, wie von der Wolldecke eine hauchdünne lange Strähne feuerroten Haares herabsank und leicht wie eine Feder und lautlos wie ein fallendes Blatt im Herbst auf den Boden des Kofferraums segelte und dort ungesehen unter der ihr folgenden, von Richard Andrews' Armen abgesenkten Wolldecke begraben wurde.
Der Chemiker schloß den Kofferraum und stieg in seinen Wagen. Die Sonne ließ den Frühtau glitzern, als sie die ersten roten Strahlen über den östlichen Horizont schickte. Luftig weiße Streifen von Bodennebel krochen über das vor Zeiten planierte und nun wieder von den ersten wilden Pflanzen zurückeroberte Gelände, als der starke Motor des Bentleys zu neuem Leben erwachte und mit kräftigem Brummen seine Einsatzbereitschaft hinaustönen ließ, in die Stimmung aus Einsamkeit und Nutzlosigkeit, die in Beton gegossen auf vier große Gebäude verteilt worden war.
Richard fuhr los, erreichte die Schnellstraße nach London und tastete sich knapp unter einer Geschwindigkeitsübertretung über die Fahrbahn, bis er genau in den Autoverkehr der Pendler hineingeriet, lebendige, wenngleich lästige Alltäglichkeit für einen londoner Bürger. Er kannte die Abkürzungen, die zwar nicht räumlich aber zeitlich zu verstehen waren. Zwar fuhr Richard mehrere dutzend Kilometer über Nebenstraßen und im Vergleich zu den Hauptverkehrswegen verlassene Plätze, kam dadurch jedoch noch vor acht Uhr zu seinem Haus in der Winston-Churchill-Straße. Er holte die Fernbedienung für die Garage aus dem Handschuhfach, tippte die Zahlenkombination für den Öffnungsimpuls ein und wartete, bis sich das Tor vor ihm auftat. Er fuhr an, um den Bentley hineinzusteuern, als ihn übergangslos ein kurzer Schauer von Kopf- und Muskelschmerzen überkam. Er glaubte für einen Sekundenbruchteil, etwas in seinem ganzen Körper dränge mit Gewalt nach außen, explodiere förmlich. Doch so blitzartig der Schmerzanfall auftrat, ließ er auch wieder nach. Richard dachte, wohl durch die Nacht auf der Rückbank einen Nerv im Nacken eingeklemmt zu haben, der sich nun schmerzhaft wieder entspannt hatte. Er fuhr den Wagen in die Garage hinein und sah sofort, daß der Wagen seiner Frau bereits wieder dort stand. Da er wußte, daß sie von der Arbeit aus ins Krankenhaus gebracht worden war, mußte sie oder jemand anderes den Wagen wieder in seinen Heimathafen gesteuert haben, dachte Richard und schluckte. Er mußte damit rechnen, daß Martha wieder zu Hause war. Was sollte er ihr sagen? Eine einfache Entschuldigung wäre wohl zu wenig. Wußte sie überhaupt, was er mit ihr angestellt hatte? Wenn sie dies wußte, warum hatte sie nicht die Polizei vor dem Haus auffahren lassen, um ihn verhaften zu lassen? Er stieg aus, glättete die Falten seiner Hosen und Anzugjacke und schloß die Verbindungstür zwischen Garage und Haus auf. Zumindest hatte sie nicht das Schloß auswechseln lassen.
Als er in der Diele war, hörte er vom Wohnzimmer her Frauenstimmen miteinander sprechen. Die eine kannte er sehr gut. Es war Marthas Stimme. Die andere hätte er am liebsten nie in seinem Leben gehört. Es war die Stimme von Mrs. Priestley, die von irgendwem der Vollständigkeit halber einen Doktortitel zugedacht bekommen hatte.
"Richard, bist du das?" Fragte Martha Andrews vom Wohnzimmer her. Ihre Stimme klang vertraut freundlich, als habe er nur eine Nachtschicht in der Firma eingelegt und sei noch rechtzeitig heimgekehrt, um mit ihr zu frühstücken.
"Ja, Martha, ich bin es", erwiderte der Hausherr, der um eine ruhige, aber klare Stimme ringen mußte.
"Mrs. Priestley und ich sind im Wohnzimmer. Wir frühstücken gerade."
"Was für ein Spiel treiben die jetzt mit mir?" Fragte sich der Chemiker. Er hatte erwartet, daß Martha ihn anfahren, verächtlich anpöbeln oder gleich im hohen Bogen aus dem Haus werfen würde. Doch zum einen war Martha nie übermäßig aggressiv geworden, egal gegen wen oder warum auch immer. Zum anderen gehörte ihm die Hälfte des Hauses und sie wußte das. Da sie in einer ehelichen Gütergemeinschaft mit Zugewinn lebten, so wollte es die rechtliche Grundlage, auf die er und Martha ihr gemeinschaftliches Leben errichtet hatten, konnte sie ihn nicht einfach aus dem Haus werfen. Doch daß sie so ruhig blieb, ja vertraut klang, beunruhigte ihn mehr als ein lautstarker Wutausbruch.
"Im Wohnzimmer begrüßte er Martha. Hier zeigte sich ihm erst, daß es nicht mehr wie früher war. Denn die kurze innige Umarmung und der hingehauchte Kuß fanden nicht statt. Martha grüßte nur durch eine winkende Armbewegung und deutete auf einen freien Stuhl am Esstisch, wo ein sauberer Teller, komplett mit Untertasse, Tasse, Löffelchen und Gabel bereitstand. Dr. Andrews sah Mrs. Priestley, die er letzten Ostern das letzte Mal gesehen hatte, als sie Julius gegen seinen Willen aus dem Haus mitnahm, was auch bedeutete, daß er Julius von da an nicht mehr zu sehen bekommen hatte und dies nun wohl auch so schnell nicht mehr schaffen würde. Mrs. Priestley trug eine taubenblaue Seidenrobe, die gut mit ihren graublauen Augen zusammenpaßte. Sie hatte eine halbvolle Teetasse und einen Teller mit Rührei und Schinken vor sich stehen. Richard roch den verheißungsvollen duft chinesischen Tees und gebratenen Specks und Rühreis. Er setzte sich ohne Grußwort an Mrs. Priestley und ließ sich von seiner Frau ein Frühstück servieren. Für einen winzigen Moment dachte er daran, daß die beiden Frauen, seine eigene und die Hexe, ihn vielleicht vergiften könnten. Doch wenn die Zauberer und Hexen es wirklich auf seine Beseitigung angelegt hätten, wäre eine Verwandlung wohl eleganter gewesen. Wer würde schon einer Maus oder Ratte ansehen, daß sie eigentlich ein Forschungsdirektor war? So ließ er sich das Frühstück schmecken, während Mrs. Priestley erzählte, wie sie gestern abend um acht Uhr mit einer auch bei den sogenannten Muggeln gültigen Verfügung ins Zentralkrankenhaus gekommen sei und Martha von dort abgeholt habe.
"Ihre überstürzte Flucht gab Martha und mir die gelegenheit", fuhr die Hexe fort, "zu besprechen, wie wir und auch Ihre Frau, künftig mit Ihnen auskommen können. Offenbar liegt Ihnen ja nichts daran, Ihr Ehe- und Familienleben zu erhalten."
"So, tut es dies nicht?" Fragte Richard aufgebracht. Er sah seine Frau an, die sich dadurch angesprochen fühlte und das Wort ergriff.
"Du wirst wohl verstehen, Richard, daß mir dieses gemeine Spiel, welches du mit mir getrieben hast erstens keinen Spaß gemacht hat und mich zweitens zum nachdenken gezwungen hat. Dein Plan ist nur deshalb nicht gelungen, weil ich immer noch und das wie schon zu vor, nachdenke, bevor ich mich zu irgendwelchen Handlungen entschließe, wenn ich in einer ungewohnten Situation stecke. Damit bin ich früher gut gefahren und habe bemerkt, daß ich das heute immer noch kann. Ich habe ergründet, daß du durch die Hardbricks erfahren haben mußt, daß ich ohne dein Wissen und Einverständnis in Hogwarts war. Ich hätte mich für diesen Fall vorbereiten sollen. Aber unsere Frankreichreise hat das ja erst einmal verschoben. Wie genau der Trick ging, mit dem mir dein Gefolgsmann diese Geisterstimme zugeflüstert hat, die du ja nie gehört haben wolltest und auch diese höllischen Kopfschmerzen beschert hat, hat mir Mrs. Priestley dankenswerterweise erklärt. Ich dachte, du wärest kein Fan von reißerischen Agentengeschichten, wie diese Serie "Kobra, übernehmen Sie", wo ständig gezeigt wird, wie zum angeblichen Wohl des Weltfriedens Menschen mit teils billigen, teils aufwändigen Tricks manipuliert werden. Aber offenbar war die Versuchung zu groß, einen spurlosen Angriff am Menschen auszuprobieren. June und dieser kompetente Herr, Mr. Riverside, der tatsächlich als gewöhnlicher Rechtsanwalt tätig ist, sind dann mit mir hier zusammen über nacht geblieben. Wir gingen davon aus, daß du dich wohl wie ein Dieb in dein eigenes Haus schleichen würdest. Aber offenbar konntest du anderswo gut schlafen. Das soll mir jetzt jedoch egal sein.
Jedenfalls habe ich einen Entschluß gefaßt, den Mr. Riverside als rechtskräftiges Dokument verfaßt hat."
"Du willst also einen Scheidungsprozess haben?" Fragte Richard Andrews lauernd, weil er sich schon freute, vor Gericht über Hogwarts und Julius auszupacken.
"Eben nicht", sagte Martha Andrews. Mrs. Priestley warf ein:
"Um Ihnen womöglich noch ein Forum zu bieten, auf dem Sie neuerlich unser Geheimhaltungsgebot aushebeln könnten? Ich habe ihr davon abgeraten, und Mr. Riverside hat auch eine für alle Seiten brauchbare Alternative angeboten, die einen Prozess sofern er rechtlich nötig ist, auf nur wenige Minuten verkürzt. Kommen Sie mir bitte nicht mit Dingen wie Trennungsjahr oder langwierige Erörterungen über Eigentumsaufteilungen. Diese Dinge sind alle schon bedacht worden. Es ist doch von Vorteil, daß muggelstämmige Hogwarts-Veteranen in der Welt ihrer Eltern weiterleben, wobei sie natürlich nicht das erlernte vergessen, aber einen in Ihrer Welt angesehenen und einträglichen Beruf erlernen und ausüben. Mag wohl auch daran liegen, daß Horatios Vater bereits Richter ist und ihm einige wichtige Wege geebnet hat. Aber zum Kern!
Dr. Riverside hat, nachdem er offiziell das Mandat von Mrs. Andrews erhalten hat, also ihre Rechte zu wahren hat, ein mehrseitiges Dokument verfertigt, was ihn die ganze Nacht wachhalten mußte. Zum Glück gibt es dafür einen probaten Trank, um ohne Nachwirkungen und Beeinträchtigung von Sinn und Geist eine längere Zeit ohne Schlaf auszuhalten. Heute morgen kam die Eule mit dem Produkt seiner Arbeit. Martha, möchten Sie Ihrem Mann den Eheauflösungsvertrag in Einvernehmlichkeit vorlegen?"
"Natürlich. Mich hält hier nichts mehr."
"Moment! Dich hält hier nichts mehr? Dann verschwinde doch! Meinetwegen kannst du zu deiner Mutter zurückkehren und hoffen, noch mal einen wohlstandverheißenden Partner zu bekommen. Aber ohne einen ordentlichen Scheidungsprozess kriegst du von mir keinen Penny Unterhalt, nicht bevor eines Richters Hammer auf den Tisch geklopft hat."
"Lies dir das erst einmal durch, meinetwegen in Ruhe. Zerreißen lohnt nicht. Wir haben davon zehn Kopien", sagte Martha und legte einen Schnellhefter mit mehreren Papierseiten auf den Tisch. Richard nahm den Hefter und las, daß es sich um einen einvernehmlichen Eheauflösungsvertrag handelte, der unter anderem beinhaltete, daß Martha Ihren Anteil an Haus und Grundstück Winston-Churchill-Straße 13 an Mr. Richard Andrews verkaufte, und zwar zum gegenwärtigen Verkaufswert, sowie dieses Geld in einen Ausbildungsfond für Julius Andrews einzahlte. Die gemeinsam angeschafften Sachen sollten so aufgeteilt werden, wie jeder der beiden sie bislang verwendet hatte. So würde Martha den kleineren Zweitwagen behalten, ihre privaten Gebrauchsgegenstände, Musik-CDs und einen der beiden Fernseher, die es im Haushalt gab. Dann war da noch ein Abschnitt, wo drinstand, daß die Eheleute sich schon seit einem Jahr nicht mehr "Tisch und Bett teilten", was das rechtlich vorgeschriebene Trennungsjahr erfüllte. Richard lachte darüber zwar und fragte, wem sie das wohl weismachen wolle, bekam jedoch die passende Antwort.
"Es hat von allen Gästen, die wir letztes Jahr hier hatten, niemand gesehen, daß wir am selben Tisch saßen oder gar in ein und demselben Bett schliefen. Wenn Julius in den Osterferien hier war, sah er entweder nur dich oder mich hier. Madame Faucon und die Brickstons, die ja vorletzte Ostern hier waren, sahen nur mich hier leben. Unsere Ehe ging die Gäste nichts an und hatte sie daher auch nicht zu interessieren. Außerdem spielen viele zerrüttete Ehepaare in der öffentlichkeit das heile Eheglück vor, weil ihr Ansehen dies erzwingt, bis das Trennungsjahr vollendet ist und offen eine Scheidung angestrebt werden kann."
"Ach, und du beschließt jetzt, daß wir uns trennen sollen. Was soll denn dann mit Julius werden? Immerhin hat die werte Dame neben dir", er deutete auf Mrs. Priestley, "behauptet, daß Julius zu uns zurückkehren soll. Ich denke nicht, Martha, daß ihm das gefällt. Keinem Kind gefällt es, wenn die Eltern sich trennen, aus welchem Grund auch immer."
"Lies dir diesen Vertrag weiter durch!" Verlangte Martha. Richard tat es und grinste über etwas, das er erwartet hatte.
"Das habt ihr euch ja schlau ausgedacht. Julius wird dir zugeschlagen, da meine arbeitsintensive, flexible und hochverantwortliche Stellung, die mir keinen geregelten Tagesablauf gewährt, mich zur Alleinerziehung unfähig macht. Schön schön! Wieviel Galleonen bekommt dieser Winkeladvokat dafür? Oder wird er in Pfund Sterling bezahlt?"
"Er hat sich noch nicht festgelegt. An und für sich wollte er das Mandat kostenlos ausüben. Doch weil die Anwaltskammer Honorare vorschreibt, muß er was nehmen", sagte Martha etwas bedauernd. Richard fragte:
"Wenn du tatsächlich deine aus unserer schnuckeligen Zugewinngemeinschaft erwachsene Hälfte unseres Hauses verkaufst, mußt du ausziehen. Wo soll es denn hingehen?" Fragte Richard sarkastisch.
"Das wird dich dann nicht betreffen, da Julius laut Vertrag die freie Wahl haben wird, wann er wen besucht, zumal Mrs. Priestley seine Fürsorgerin und damit Vermittlerin zwischen ihm und uns beiden bleibt, falls nichts anderes beschlossen wird", sagte Martha kühl. "Um dein Argument, daß du nur gebraucht hast, um eine Ablehnung zu begründen, zu entkräften: Durch deine sinnlosen Aktionen in den letzten beiden Jahren hast du nicht gerade den Eindruck vermittelt, als Vater für ihn bereit zu stehen, wenn er dich braucht. Du hast dich ja gegen seine Ausbildung, gegen seine Freunde und gegen seine neue Lebensweise ausgesprochen. Ich höre den Spruch von dir noch: "Wenn Julius diesen gefährlichen Unsinn aufgibt, werde ich ihm wieder helfen. Aber solange er das nicht ablegt, sehe ich nicht ein, dafür auch noch zu zahlen. Nun gut. Für diesen Fall ist ja schon länger eine Alternative in Anwendung. Eine gute Programmiererin verfaßt immer mehrere Auswege aus einer logisch schwierigen Situation, um nicht in einer Sackgasse zu enden."
"War mir klar", gab Richard trocken zur Antwort. Sicher wußte er, daß Julius ja schon längst von Hogwarts hätte abgehen müssen, wenn nicht irgendeine andere Geldquelle zu sprudeln begonnen hätte. Ihn interessierte das jetzt auch nicht mehr, woher dieses Geld kam.
"Wie gesagt, Julius kann entweder zu Ihnen zu Besuch kommen oder bei seiner Mutter bleiben. In jedem Falle überwache ich das", sagte Mrs. Priestley ruhig.
"Macht euch das nicht zu einfach, Mädels", sagte Richard ohne Achtung seiner sonstigen Spracherziehung und Würde. "Wenn diese Nummer bei Julius in diesem Millemerveilles bekannt wird, wird er Rotz und Wasser heulen, weil er das nie gewollt hat, daß seine Eltern sich scheiden lassen, nur weil ich nicht auf Jungen mit Spitzhüten auf fliegenden Besen stehe."
"Tun Sie uns und vor allem sich den Gefallen und mutieren Sie nicht zu einem sprachlich unausgegohrenen Rohling, Dr. Andrews!" Maßregelte Mrs. Priestley den Direktor, wie eine Lehrerin einen aufsässigen Schuljungen.
"Soll ich dir mal sagen, was passiert, wenn das in Millemerveilles rumgeht? Julius würde gefragt, ob er bei den Dusoleils oder einer gewissen Madame Delamontagne oder der Lehrerin, bei der er durch deine Genialität den Sommer im letzten Jahr verbracht hat wohnen möchte. Dann wäre das nämlich wesentlich einfacher für ihn. Die Dorfrätin Madame Delamontagne, mit der ich auf Empfehlung des englischen Zaubereiministeriums regelmäßigen Kontakt habe, meldete bereits ihre Bereitschaft an, sich als neue Fürsorgerin um Julius zu kümmern, falls wir in England die aufgekommenen Probleme nicht wie erwachsene Leute lösen könnten", fuhr Martha fort. Richard wurde immer blasser. Wie weit Martha den Kontakt mit der Zaubererwelt vertieft hatte, hatte er sich zwar vorstellen können, es jedoch nicht erwartet. Offenbar wußte Martha auch, wie die Person hieß, bei der Julius im letzten Jahr die Ferien zugebracht hatte. Wieder stellte er fest, daß er seine Teilnahme an Julius' Leben mutwillig verspielt hatte. Vielleicht hatte Martha diesen Namen nur erfahren, weil sie schwören mußte, ihn nicht weiterzusagen. Aber warum durfte sie das nicht? Diese Frage stellte er ihr auch.
"Weil diese Person gewisse Vorbehalte gegen nichtmagische Eltern hegt und nicht beliebig als Betreuerin herhalten will, Richard. Das hat mir Professor McGonagall erklärt", sagte die Hausherrin.
"Ach, und ich dachte schon, Catherine oder ihre Mutter wären die ominöse Lehrperson", schoß Richard einen Satz in den Raum und sah, wie er wirkte. Doch was er sah, enttäuschte ihn. Mrs. Priestley sah ruhig auf ihn, als wisse sie nicht, was er gemeint hatte, und Martha grinste amüsiert, etwas, daß sie nicht häufig tat und wenn dann nur, wenn sie es nicht unterdrücken konnte.
"Oh, das wäre dann ja echt toll. Dann hättest du ja einer Hexe geschrieben, gegen ihre Gesetze zu verstoßen. Höchst amüsant, Richard. Aber dann hätte sie Julius bestimmt nicht mit Joe ans Meer fahren lassen, sondern hätte ihn direkt bei ihrer Mutter abgeliefert, wenn diese denn auch eine Hexe sein soll, Richard."
"Verdammt, das ist logisch", schnaubte Richard, der sich vorstellen konnte, was los gewesen sei, wenn Madame Faucon wirklich eine Hexe war und Catherine ihr das irgendwie mitgeteilt hätte, daß Julius nicht nach Hogwarts zurückfahren dürfte.
"Wie es da geschrieben steht, können Sie alle vorgesehenen Passagen unterschreiben. Dr. Riverside hat sogar die Grundbuchauszüge beigefügt und den aktuellen Grundstückspreis ermittelt. Computer sind doch nützliche Maschinen, wenn man ihnen einfache Aufgaben zuweist", sagte Mrs. Priestley.
Dr. Andrews las den Eheauflösungsvertrag zu ende, fand jedoch keinen weiteren Punkt, wo er sich dran festbeißen konnte. Er überlegte, ob er den beiden Damen nicht doch einen Strich durch die Rechnung machen könnte.
"Wenn ich jetzt ablehne, Mrs. Priestley, müssen Martha und ich durch das volle Programm. Es könnte sich für sie sogar als nützlich erweisen, da ich von einem Scheidungsrichter gezwungen würde, einen Teil meines Einkommens abzutreten, wovon ja hier im Vertrag nicht die Rede ist. Da steht ja nur, daß ich Marthas Anteil von Haus und Grundstück kaufen soll, also das Haus rechtlich an mich alleine fällt. Da steigt kein Gericht drauf ein."
"Lesen Sie noch mal den Abschnitt, in dem die Einzelheiten der Eigentumsübertragung geregelt sind, Mr. Andrews!" Riet Mrs. Priestley, die offenbar den Text kannte oder eine Kopie davon zur Hand hatte. Richard las und stutzte. In einem Nebensatz stand:
"..., was bedeutet, daß eine aufgenommene Hypothek als vorausgezahlte Unterhaltszahlung verstanden wird. ..."
"Will sagen, wenn ich, um dir deine rechtlich zuerkannte Hälfte von Haus und Grundstück abzukaufen, einen Kredit aufnehmen muß, stottere ich deinen Unterhalt quasi bei der Bank ab?" Fragte Richard mit Blick auf seine Frau. Diese nickte.
"Ich habe die Ruhe, die deine Abwesenheit mir gegönnt hat, ausgenutzt, um die alten Kaufverträge rauszuholen und den damaligen Wert mit der Preisentwicklung für Grundstücke in den letzten dreizehn Jahren erweitert. ich weiß, daß du nicht gerade zweihunderttausend Pfund bar zur Verfügung hast. Zur nichtmagischen Volljährigkeit von Julius sind es noch fünf Jahre. Ich kenne die Konditionen nicht, die ein Kredit auf das Grundstück beinhaltet, aber ich denke, du zahlst grob geschätzt sechzigtausend Pfund im Jahr ab, vielleicht mehr, vielleicht weniger, wenn du eine kurze Laufzeit veranschlagst, was dich ziemlich heftig einengen dürfte. Gehen wir also von einer wesentlich längeren Rückzahlungsfrist aus, damit du auch noch leben kannst. Ich habe nicht vor, dich zu ruiinieren, selbst wenn ich eigentlich auch Strafantrag gegen dich stellen müßte, weil du dieses Schallwurfgerät als Waffe gegen mich eingesetzt hast. Meine Arbeit steht auf dem Spiel. So wie ich das sehe, kann ich womöglich nicht in London weiterarbeiten, muß also mit einer Zeit geringen, wenn nicht fehlenden Eigenverdienstes rechnen, bis ich einen neuen Beruf habe. Ich habe für heute ein Fotografenteam bestellt, daß Bilder von Haus und Grundstück macht. Kopien der Umbauten und Renovierungen liegen auch schon bereit. Ich habe meine alten Univerbindungen spielen lassen. Ein Gutachter wird heute noch mit dem Material eine korrekte Wertbestimmung machen. Morgen kannst du dann mit deinem Bankier reden. Das gemeinschaftliche Konto wird sowieso aufgelöst, wenn du und ich den Vertrag unterschrieben haben. In dem Fall bist du wohl mit fünfzig zu fünfzig einverstanden."
"Das war schon länger geplant, wie? Sowas umfassendes kann sich doch niemand in nur einer Nacht ausdenken!" Empörte sich Richard, der keinen Unterlassungsfehler aufspüren konnte. Er wußte, daß martha einige Sachverständige kannte, unter anderem auch einen, der sich mit Grundstücken und Häusern auskannte. Immerhin hatten sie durch diese gute Beziehung das Haus damals etwas günstiger bekommen können. Doch ihm fiel noch was ein.
"Moment, Martha! Wenn wir hier und jetzt alles durch einen Federstrich in den Müll werfen, was wir in den letzten vierzehn Jahren gemeinsam erlebt, erreicht oder erlitten haben, gestattest du mir sicherlich, daß ich das Gutachten durch einen eigenen Gutachter gegenprüfen lasse, allein um nicht über den Tisch gezogen zu werden. Das dauert jedoch, da ich erst einmal prüfen muß, wem ich vertrauen kann. Außerdem muß ich mich doch nicht zwingen lassen, dir etwas von unserem gemeinsamen Eigentum abzukaufen. Ich ziehe eine Gerichtsverhandlung vor. Wenn die ergibt, daßdu mir deine Haus- und Grundstückhälfte ..."
"Martha, ich bedauere, Sie dazu überredet zu haben, auf eine Strafanzeige zu verzichten. Es wäre vielleicht doch die bessere Alternative", fuhr Mrs. Priestley Richard ins wort und sah die Hausherrin bedauernd an. Diese sah jedoch sehr entschlossen aus.
"Ich habe dich immer für intelligent gehalten, für vorausschauend und stets die Übersicht behaltend. Offenbar haben die letzten beiden Jahre diese Fähigkeiten bei dir einrosten lassen. Wenn ich das richtig sehe, hast du nur die Alternative zwischen etwas weniger Geld und Freiheit oder Gefängnis und schlechten Ruf. Ich glaube nicht, daß du mir hier und heute noch neue Bedingungen diktieren kannst, die Karten hast du aus der Hand gegeben. Auch eine Schußwaffe würde mich jetzt nicht mehr einschüchtern. June und ich sind dagegen gewappnet. Wenn du meinst, einen eigenen Schätzer bestellen zu müssen, womöglich noch einen eigenen Anwalt, dann mach das heute. Grundstücksachverständige mit staatlicher Anerkennung und Scheidungs- wie Vermögensanwälte stehen im Branchentelefonbuch. Die Nummer von Scotland Yard habe ich mir schon rausgesucht. Dein werter Busenfreund Rodney Underhill, der, wie ich erfahren habe, auch unter Herbert Freemont auftritt, hat bereits eingewilligt, als Kronzeuge auszusagen, wenn es wider dem Wunsch aller Beteiligten doch zu einem Strafprozess kommen sollte. Dr. Morton und Dr. Collins können sich nur daran erinnern, daß du dich besorgt gezeigt hast, mir könne es nicht gut gehen. Was die Motive angeht, so hättest du keine Möglichkeit, über Julius' Ausbildung was zu erzählen, wenn du meinst, dadurch noch eine Gelegenheit zu kriegen, mit Mrs. Priestley und den anderen abzurechnen. Im Gegenteil. Du könntest selbst für geistesgestört oder gar wahnsinnig befunden werden. Ich denke nicht, daß du dahin willst, wo du mich fast hinbekommen hättest, wenn ich nicht so eine gute Selbstbeherrschung und Übersicht hätte", sprach sie mit fester Stimme ohne Aufregung.
"Wann sollen die Fotografen kommen?" Fragte Richard, der einsah, daß er nicht mehr viel entgegenhalten konnte. Für ihn stand viel zu viel auf dem Spiel, um jetzt noch zu pokern, zumal Martha offenbar innerhalb dieser Nacht, die er allein in seinem Luxusauto auf einem aufgegebenen Fabrikgrundstück zugebracht hatte, alle aufkommenden Rechtsfragen so gut wie es in der Zeit gehen konnte, abgeklärt hatte. Aber wieso, so fiel es ihm nun auf, sah sie alles andere als übernächtigt aus?"
"Marhtha, mir will nicht in den Kopf, daß du das alles in dieser einen Nacht hingebogen haben willst. Du siehst nicht aus, wie nach einer anstrengenden Nachtschicht."
"Mrs. Priestley hat mir einen Wachhaltetrank mit 48-Stunden-Wirkungsdauer gegeben, den sie und Dr. Riverside selbst getrunken haben. Ist ein interessantes Gefühl, munter zu bleiben, ohne die Hibbeligkeit von mehreren Tassen Kaffee oder die Erschöpfung wegen viel Konzentration zu spüren", antwortete Martha Andrews auf diese wohl erwartete Frage. Dann wollte sie wissen, ob Richard zumindest geschlafen habe, was dieser mit einem bejahenden Nicken beantwortete.
"Lesen Sie sich das ganze Vertragswerk nochmals durch und wägen Sie die Für- und Gegenargumente ab! Ich persönlich bin mir sicher, daß diese Einverständniserklärung die bessere Lösung ist", sagte Mrs. Priestley. Dann sagte Martha noch:
"Die Fotografen sind für zehn Uhr bestellt. Du kannst dir freinehmen oder arbeiten. Ich habe mich bei meinem Chef entschuldigt und den heutigen Tag als Krankentag angemeldet. Da du ja dafür gesorgt hast, daß mindestens zwei Ärzte bescheinigen konnten, daß ich mich unwohl gefühlt habe, geht das klar."
Richard Andrews rief seiner Abteilung an und stellte sicher, daß er an diesem Tag nicht benötigt würde, da gewisse Formalitäten zu erledigen seien. Dann las er sich das ganze Vertragswerk noch mal durch, fand keine weitere Schwachstelle darin und zog seinen Kugelschreiber. Martha holte ebenfalls Schreibzeug heraus und unterschrieb neben dem Namenszug ihres Mannes an allen wichtigen Stellen, wo eine Unterschrift gefordert war. Dann rief Richard bei der Bank an, bei der er und seine Nochehefrau mehrere gemeinschaftliche Konten unterhielten und verabredete sich mit dem Leiter der Kredit- und Darlehenabteilung für den nächsten Nachmittag. Er wolte den Dienstag Vormittag nutzen, um einige Dinge in der Firma zu erledigen.
Um zehn Uhr verließ Mrs. Priestley das Haus, kündigte jedoch an, am Abend wiederzukommen. Dr. Riverside kam dafür bei dem Haus der Andrews' an und überwachte mit den Andrews' die Arbeit des Fotografenteams, daß alles um das Haus und im Haus aufnahm. Richard weigerte sich nur, die Leute in sein privates Chemielabor zu lassen. Seine Frau stimmte dem zu.
"Es handelt sich um privat genutzte Arbeits- und Werkstatträume, wo feuergefährliche Flüssigkeiten gelagert werden. Ich lege es nicht darauf an, diese Räume genau zu fotografieren."
"Nun, für einen Gutachter wäre es jedoch wichtig", sagte der Leiter der Gruppe. Doch dann nickte er. "Wenn Sie da keinen reinlassen wollen, müssen wir das hinnehmen. Ist ja Ihr Privatbesitz."
Nach knapp zwei Stunden waren die Fotoleute wieder abgerückt. Dr. Riverside sagte noch zu Mr. Andrews:
"Falls Sie einen Anwalt bemühen wollen, mag er mir schreiben, wenn er das Mandat erhalten hat. Ich führe dann die Rechtsgeschäfte von Mrs. Andrews durch, wie mit ihr vereinbart."
"Zu denen, die dich ausgebrütet haben!" Schnaubte Richard Andrews. Riverside verzog das Gesicht und fragte:
"Haben Sie nur laut gedacht, Sir?"
"Ja, ich habe nur laut gedacht", bestätigte Richard Andrews, dem einfiel, sich nicht noch eine Beleidigungsklage einzuhandeln, weil dann ja alles umsonst gewesen wäre.
Gegen halb fünf surrte der Faxapparat der Andrews' und schob mehrere Seiten Papier aus, auf denen das Gutachten des Schätzers, Dr. Suzan Claimer, geschrieben stand. Offenbar waren die Fotos per Kurier in ihre Amtsräume gebracht worden und mit den schriftlichen Unterlagen verglichen worden. Das Endresultat lautete, daß das Haus und Grundstück Winston-Churchill-Straße 13, gefolgt von der korrekten Grundbucheintragung, einen derzeitigen Verkaufswert von 429187,22 Pfund Besaß. Dies hieß für ihn, daß er sich von seiner Bank 214593,61 Pfund leihen mußte, kein Pappenstiel, wenn er bedachte, daß er mit Martha schon zehn Jahre den Kaufpreis für dieses Haus bezahlt hatte. Jetzt sollte er noch mal eine große Summe aufnehmen? Wieder ärgerte ihn diese an und für sich überteuerte Reise nach Australien im Sommer vor zwei Jahren, die nichts aber auch gar nichts gebracht hatte, weil es nicht gelungen war, vor den Hexen und Zauberern davonzulaufen. Doch nun hatte er diesen Eheauflösungsvertrag unterschrieben, der ihm zumindest das komplette Haus zusicherte, wenngleich er es dann allein bewohnen mußte. Schon für zwei Leute war es zu groß. Doch nun würde er sein eigenes Reich haben.
"Wie stellt ihr euch das nun vor, Martha. Du kannst das Geld wohl erst in einer Woche haben. soll ich es an diesen Anwalt schicken, dem ich keinen Zoll über den Weg traue?" Fragte Richard mit verschmitztem Lächeln.
"Das brauchst du nicht. Ich gehe mit dir zur Bank und hole mit dir das Geld und lasse es als Zahlungsanweisung aushändigen, die ich in jeder Bank der Welt Anlegen kann. Glaube mir, ich werde jetzt, wo du mich derartig hintergangen hast, keine Unterlassungssünde begehen", sagte Martha.
Mrs. Priestley traf gegen sechs Uhr ein. Sie las das Gutachten und kopierte es mit dem Multiplicus-Zauber viermal. Eine Kopie behielt Mrs. Andrews, eine Dr. Riverside, eine Kopie konnte Richards Anwalt oder Vermögensberater haben und eine Kopie übernahm sie. Das gefaxte Dokument behielt Richard persönlich. Dann verließ Mrs. Andrews mit zwei großen Koffern und ihrem Privatwagen das Grundstück und fuhr davon. Mrs. Priestley und Dr. Riverside verließen ebenfalls das Haus mit einem Auto des Zaubereiministeriums. Richard griff zum Telefon und wollte den Freund Rodney Underhill anrufen. Doch dieser war nicht mehr unter dieser Nummer zu erreichen. Offenbar hatte der Geheimdienstler nach diesem lauten Schuß vor seinen Bug, der Androhung, ihn ins Gefängnis zu bringen, alle Fäden durchtrennt, die ihn mit Richard Andrews verbanden. Denn auch unter der Handy-Nummer bekam er nur eine Ansage, daß diese Mobilfunknummer ungültig sei.
"Feiges Aas!" Schimpfte Richard. "Und mit soeinem haben Bill und ich damals Eton in Schwung gehalten."
Bei diesen Worten, als bildeten sie einen Zauberspruch, kamen ihm die Erinnerungen an den Abschlußtag ins Bewußtsein zurück. Der Traum von gestern schälte sich aus den aufgehäuften Schichten der Tageserlebnisse hindurch und brachte seine Bilder, Geräusche und Gefühle zurück ins Bewußtsein des Naturwissenschaftlers. Wieder erschienen Ryan Sterling und seine Schwester Hortensia. Wieder fuhr er mit dem grauen Bentley alleine durch den Wald. Wieder begegnete ihm diese überdeutlich erkennbare Frau mit dem roten Haar und den merkwürdig stark auf ihn wirkenden goldbraunen Augen und nahm ihn mit sich in einen Rausch der Sinne. Wieso träumte er nach einem Tag wie gestern sowas? Doch hatte er nicht selbst gelesen, daß heftige Gefühle immer miteinander zu verquicken waren. War dieser Traum nicht ein Trick seines Gehirns, mit den Turbulenzen von Gestern aufzuräumen. Immerhin war er wesentlich ruhiger und gelassener in das Gespräch mit seiner Frau gegangen und hatte ruhig und abgeklärt argumentiert und schließlich diesen Schlußstrich unter vierzehn Jahre Ehe gesetzt. Doch merkwürdig war es schon, welche Verquickung sein Unterbewußtsein produziert hatte. Er konnte sich nie erinnern, einmal von solch einer so heftig auf ihn wirkenden Frau geträumt zu haben, sie als Idealbild angebetet zu haben. Ihm galt seit jeher Charakter und Intelligenz einer Frau mehr als jede körperlichen Vorzüge. Aber womöglich hatte der Schlaf auf der Rückbank, der ihn an die alten Jungensprüche erinnert hatte, diese Kette von Traumbildern ausgelöst. Doch wozu diese Frau mit dem weißen Kleid und dem flammenroten Haar? Schlummerte da etwas in ihm, das nur auf die Gelegenheit gewartet hatte, sich zu melden, seine Chance zu nutzen? Wozu sollte er sich darüber einen Kopf machen? Wichtigeres war noch zu tun. Vielleicht, wenn er tatsächlich alleine blieb, hatte er genug Zeit, darüber nachzudenken.
Martha Andrews war froh, ein eigenes Handy zu haben. Sie hätte sonst keine Möglichkeit mehr gehabt, telefonisch erreicht zu werden oder unabhängig von Kleingeld und nun bald nicht mehr heimischem Haus zu telefonieren. Sie fuhr mit ihrem Wagen zunächst zu einem Bankautomaten, wo sie sich 200 Pfund vom Konto abholte und dann in ein Mittelklassehotel in London Paddington, wo sie davon ausgehen mußte, daß sie dort niemand kannte. Sie hatte weder verwandte dort noch Bekannte. In dem kleinen Einzelzimmer, in dem es nur ein Waschbecken, ein Bett, einen kleinen Tisch mit einem roten Deckchen und einem Stuhl, einen kleinen Kleiderschrank und ein Radiogerät gab, stellte sie ihre beiden Koffer ab, räumte den Inhalt ihrer Kulturtasche auf die Plastikablage über dem Waschbecken und suchte sich den Klassiksender der britischen Rundfunkgesellschaft, auf dem gerade ein Konzert von Vivaldi ausgestrahlt wurde. Sie schaltete das Radio aus und setzte sich auf den kleinen Stuhl an den Tisch. Sie holte ihr Handy und die dafür benötigte Ladestation heraus, schloß die Ladestation an eine der beiden freien Steckdosen an und rief zunächst ihren Chef an, daß sie morgen wieder zur Arbeit käme, aber er bitte einen Gesprächstermin mit ihr einplanen möge. Dann rief sie Mrs. Priestley an und teilte ihr mit, wo sie war. Dann versuchte sie, die Porters anzurufen, da sie gerne mit Zauberereltern sprechen wollte, deren Kind mit Julius zur Schule ging. Sie bekam nur die Mobilbox und sprach eine Bitte um einen schnellen Rückruf auf die Handy-Nummer auf. Dann gab sie sich einen Ruck und wählte die Nummer von Joe und Catherine Brickston in Paris.
"Hallo", meldete sich Babette
"Hallo, Babette, hier ist Martha Andrews. Bist du wieder von deiner Tante Madeleine zurück?"
"Oh, hallo, Tante Martha. Maman und Papa haben mir erzählt, daß ihr bei ihnen wart. Maman hat erzählt, daß ... darf ich nicht laut sagen. Papa sitzt im Computerzimmer. Maman ist bei Madame Grandchapeau, einer ganz wichtigen Frau. Sie will aber nachher wiederkommen, hat sie gesagt. Willst du Papa haben?"
"Ja, gib ihn mir mal, liebes Mädchen."
Einige Sekunden vergingen. Mit schriller Stimme rief Babette nach ihrem Vater. Dieser kam aus dem Arbeitszimmer und nahm den Hörer.
"Hallo, Martha. Wieder gut eingelebt im guten alten England?"
"So gesehen schon. Einiges ist jetzt wesentlich klarer als vor unserer Urlaubsreise, Joe. Catherine ist bei einer ganz wichtigen Frau, hat Babette gesagt?""Reden wir nicht davon! Ich weiß nicht, ob Catherine das mit außenstehenden bereden will. Vorgestern war meine werte Schwiegermutter wieder da. Sie läßt dich schön grüßen und Richard auch, auch wenn er ihr gegenüber sehr ungehobelt auftrat. Ist Richard in der Firma?"
"Nein, ich bin nicht zu Hause. Da sind Sachen passiert, die möchte ich nicht per Handy mit Auslandstarif bereden. Ich wollte nur hören, wie es euch geht."
"Soso, dafür rufst du übers Handy an, wo selbst ein Auslandsgespräch über Festnetz billiger wäre. aber ich ... Babette! ..." Der Rest war eine sehr wütend klingende Strafpredigt auf Französisch, wobei Joe nicht nur mit den richtigen Wörtern, sondern auch der richtigen Betonung kämpfen mußte. Babette kicherte nur im Hintergrund. Martha hörte, wie sie offenbar davonlief.
"Die kleine hat meinen Rechner abstürzen lassen. Ich hoffe, ich kriege den wieder flott, sonst bin ich übermorgen fällig", sagte Joe sehr erbost. Martha wandte ein:
"Das verstehe ich. Dann grüße mir Catherine und frage sie, ob sie mich in den nächsten zwei Tagen mal anrufen könne, über die Handy-Nummer!"
"Oh, ein Gespräch zwischen Frauen? Ist gut, Martha, werde ich ihr bestellen. Mach es einstweilen gut!"
" du auch!" Sagte Martha und wollte schon den Auflegeknopf drücken, als sie ein lautes Rauschen wie einen vorübersausenden Expresszug hörte. Babette rief: "Halló, Maman!"
"Oh, ich glaube, Catherine ist gerade gekommen. Das was du da gehört hast war einer dieser neuen Wassersprühwagen, die alle vier Stunden die Straßen von der Hundesch..., dem, was die Köter so auf die Straße machen reinigen."
"Huch, seit wann machen die das denn?" Fragte Martha, die die Gelegenheit nutzen wollte, um Catherine doch noch selbst sprechen zu können.
"Seit dem vierten August", sagte Joe schnell, als wolle er dieses Thema schnell abhaken. Im Hintergrund hörte Martha Catherine und Babette miteinander reden, Catherine war dabei etwas ungehalten, Babette lachte erst und wimmerte dann. Dann kam sie ins Wohnzimmer und sagte zu Joe:
"Je veux parler avec Martha, Joe." Es klapperte und schabte in Marthas Handy-Hörmuschel, als der Hörer weitergegeben wurde.
"Hallo, martha. Hast du dich wieder an die englische Küche und das Regenklima gewöhnt?"
"Catherine, ich habe Probleme. Richard ist mir draufgekommen, daß ich in Julius' Schule war und er hat ... aber das dauert vielleicht zu lange, das genau zu erzählen. Ich möchte dir nur sagen, daß sich unser beider Wege getrennt haben. Wieso das so ist, ist eine lange Geschichte."
"Oh, lange Geschichten höre ich immer gerne, Martha. Aber du sagtest, daß du Probleme hast. Dann bist du im Moment nicht zu Hause?"
"Nein, Catherine. Ich bin im Moment im Hotel zur alten Schmiede, einem Ein-Sterne-Haus in Paddington. Ich habe mir hier für die nächsten vier Tage ein Zimmer genommen, weil ich von hier aus noch zur Arbeit kommen und die letzten Sachen erledigen kann, um alles für mich und Julius zu regeln."
"Welche Zimmernummer hast du?"
"Catherine, du willst doch nicht ein Ferngespräch nach England führen!" Rief Martha bestürzt. Dann nannte sie ihre Zimmernummer, 32 im dritten Stock. Catherine sagte ihr, sie morgen abend anzurufen und sich die ganze Geschichte erzählen zu lassen. Dann verabschiedeten sich die beiden Frauen voneinander. Martha drückte die Hörertaste und trennte die Verbindung. Keine Sekunde danach trällerte das Handy, weil jemand sie sprechen wollte. Sie nahm ab und meldete sich mit Namen.
"Dione Porter, Martha. Wir waren gerade in der Winkelgasse und haben einiges eingekauft. Ich hatte dieses Handtelefon mit und wollte mal wissen, ob jemand, der uns auf diese Weise erreichen möchte was hinterlassen hat. Was ist passiert?"
"Mein Mann ist dahintergekommen, daß ich mit der Familie Hardbrick in Hogwarts war. Er hat versucht, mich durch einen technischen Trick, eine Art Waffe, in den Wahnsinn zu treiben. ich habe beschlossen, ihn zu verlassen, weil ich nicht weiß, was er vielleicht noch alles fertigbringt."
"Oh, das klingt nicht sehr erfreulich. Sind Sie noch in London oder woanders?" Wollte Gloria Porters Mutter wissen.
"Ich bin in einem Hotel in Paddington. Wieso?"
"Dann bleiben Sie da am besten, Martha. Jemand könnte auf die Idee kommen, Sie zum schweigen zu bringen, weil es ihm nicht paßt, daß Sie von unserer Welt wissen."
"Wer denn?" Wollte Martha wissen, der der dringliche Klang von Dione Porters Stimme Unbehagen bereitete.
"In den letzten Monaten ist einiges passiert. Welche von uns, die sich gänzlich von der nichtmagischen Welt abschotten wollen, versuchen, alle Zeugen unserer Existenz zu beseitigen. Catherine hat meiner Schwiegermutter erzählt, daß um euer Haus ein Schutzbann gelegt wurde. Wenn Sie jetzt nicht mehr da sind, könnte Sie jemand ausfindig machen."
"Das geht nicht genauer?" Fragte Martha, die immer größeres Unbehagen verspürte.
"Ich bin leider nicht befugt, Sie in alles einzuweihen, Martha. Ich darf Ihnen nur diese Warnung aussprechen."
"Gut, dann möchte ich Sie nicht in Schwierigkeiten bringen. Ich bleibe die Nacht eh hier. Ich hoffe mal, daß wer immer es ist mich nicht finden kann."
"Gut, Martha. Wir machen jetzt schluß", sagte Dione Porter und verabschiedete sich. Marhta legte wieder auf. Zum dritten Mal innerhalb weniger Tage verspürte sie dieses unangenehme Gefühl einer Angst vor etwas unbekanntem. Doch sie rang diese Angst nieder. Immerhin hatte sie ja damit gerechnet, daß sowas ähnliches im Busch war. Die Offenbarung Catherines und ihrer Mutter ohne ihr bekannten Grund, die Reaktion von Jeanne Dusoleil, die etwas erschrocken dreingeschaut hatte, als sie gefragt wurde, wer denn das trimagische Turnier gewonnen habe, sowie dieser Schutzbann, den Catherine um das weiße Haus in der Winston-Churchill-Straße hatte legen lassen, deuteten darauf hin, daß etwas unbestimmbar schlimmes im Gang war, vielleicht gegen alle die gerichtet, die als sogenannte Muggel Kontakt zur Zaubererwelt halten durften.
Martah beschloß, nicht im stillen Kämmerlein zu hocken und sich ihren Gedanken und Gefühlen auszuliefern. Sie ging in das hoteleigene Restaurant, um sich mit einer Portion Fisch und Pommes Frites eine vielleicht nicht noble, aber magenfüllende Abendmahlzeit zu genehmigen. Vielleicht gab es auch hochwertigere Speisen im Angebot der kleinen Hotelküche. Sie holte aus ihrem Koffer ein schlichtes Kleid, richtete ihr Haar, frischte ihr Make-Up auf und stieg die leicht knarrenden Holztreppen hinunter und betrat den nach kaltem Rauch, Bratfett und Bier riechenden Gastraum, wo sie sich an einen der hinteren Tische mit nur zwei Stühlen setzte. Sie übersah die Krümel, die noch auf dem weißen Tischtuch herumlagen. Im Moment konnte sie froh sein, wenn sie überhaupt ein brauchbares Hotel bezahlen konnte und nicht in einer heruntergekommenen Absteige schlafen mußte. Sie ließ sich die Speisekarte bringen, las sie und bestellte Schweineschnitzel mit Bratkartoffeln und Salat und dazu eine kleine Flasche Sodawasser. Sie saß keine fünf Minuten, da kam eine Frau in einem geblümten Cocktailkleid aus feinster Seide herein und blickte sich mit saphirblauen Augen um. Als sich der Blick Marthas mit dem der saphirblauen Augen traf, nickte die gerade hereingekommene Besucherin und steuerte den Tisch an, an dem Martha saß. Ein Kellner eilte auf die Frau zu und sprach auf sie ein. Diese sah Martha an, die ihr zuwinkte. Der Kellner machte eine abbittende Verbeugung und führte die Dame an Marthas tisch.
"Entschuldigung, Mrs. Andrews. Ich dachte, die Dame habe sich in der Tür geirrt, da dies der Speisesaal für unsere Hausgäste ist. Aber sie sagte mir, daß sie von Ihnen eingeladen worden sei", sagte der Kellner. Martha nickte ihm zu und erwiderte:
"Ich habe zwar nicht damit gerechnet, daß die Dame heute abend schon vorbeikommt, bestätige jedoch, daß ich sie eingeladen habe. Ich weiß nicht, ob sie hier etwas essen möchte. Aber bringen Sie ihr bitte die Karte! Setzen Sie die Zeche, die sie macht auf meine Rechnung!"
"Wie Sie wünschen, Mrs. Andrews", sagte der Kellner und zog sich kurz zurück, um mit der Karte wiederzukommen. Dann ließ er die beiden Frauen alleine.
"Hallo, Catherine", sagte Martha halblaut. Ich wußte nicht, daß du sofort herkommst. Aber schön, daß du da bist. Wußte nicht, daß du das Hotel so schnell findest."
"Du hast mir einen schönen Schrecken eingejagt, als du sagtest, daß Richard dich quasi rausgeworfen hat. Meine Maßnahmen waren ja nicht dazu da, euch beide auseinanderzutreiben, sondern gemeinsam zu unterstützen", erwiderte Catherine ebenfalls so leise, daß außer Martha niemand in dem gleichmäßigen Raunen, Besteckgeklapper und -geklimper hören konnte, was sie sagte.
"Du hast wahrscheinlich Hunger und dir schon was bestellt. Auf deinem Zimmer kannst du mir dann alles erzählen, was nur unsere Ohren hören sollen", schlug Catherine Brickston vor. Martha nickte zur Antwort.
Nachdem die beiden Frauen gegessen und getrunken hatten - Catherine hatte sich dasselbe bestellt wie Martha - gingen sie auf das Zimmer 32. Catherine wartete, bis Martha die Tür hinter sich verschlossen hatte, dann holte sie aus ihrer großen Handtasche ihren Zauberstab hervor, murmelte "Monstrato incantatem" und ließ ein rot-blaues Licht durch das Zimmer wandern, das alle Möbel und Gepäckstücke kurz überstrich. "Nox!" Murmelte Joe Brickstons Frau, die Hexe und löschte damit das rot-blau flackernde Zauberlicht. Dann stellte sie sicher, daß das Flügelfenster verschlossen war, bevor sie den Zauberstab erneut auf die Tür richtete und "Sonorincarcere" flüsterte. Ein Ockergelber Lichtstrahl trat aus dem Zauberstab aus, fiel auf die Tür. Mit offenbar einer viel geübten Bewegungsabfolge ließ Catherine jede Wand, das Fenster, den Boden und die Decke kurz unter dem ockergelben Lichtstrahl widerscheinen, bis unvermittelt alle Wände, die Decke und der Boden des Zimmers in diesem merkwürdigen ockergelben Licht erglühten. Im selben Moment erlosch der Lichtstrahl aus Catherines Zauberstab.
"Danke, daß du keinen Ton von dir gegeben hast", sagte Catherine zu Martha. "Dieser Zauber ist ein vorübergehender Klangkerker. Das heißt, daß alle Geräusche, die in diesem Zimmer erklingen, nicht nach außen dringen können. Wir können zwar hören, wenn jemand von draußen klopft, aber niemand kann uns jetzt noch belauschen. Vorher habe ich geprüft, ob vielleicht in deiner Abwesenheit jemand magische Fallen oder Mithörgegenstände versteckt hat. Das Ergebnis war negativ. Keiner von unseren Feinden weiß, daß du hier bist."
"Das klingt nicht gerade aufmunternd, Catherine. Das klingt ja fast schon so, als lauere mir hinter irgendeiner Ecke wer auf, der mich umbringen will", sagte Martha mit Beklommenheit in Stimme und Gesichtsausdruck.
"Du hast dir sicherlich Gedanken gemacht, wie es angehen konnte, daß Maman und ich dich in unsere wahre Natur eingeweiht haben und warum wir euer Haus abgesichert haben. Es hat auch einen Grund, weshalb Maman darauf bestanden hat, deinen Sohn in der Verteidigung gegen die dunklen Künste auszubilden.
Ein furchtbarer Zauberer, den wir bis vor einigen Monaten noch für besiegt und niedergerungen gehalten haben, konnte sich wieder erheben und versucht jetzt, sich über alle Zauberer und Nichtmagier zu erheben. Er ist hemmungslos brutal und verfolgt alle, die nicht seinem Idealbild von reinblütigen Zauberern entsprechen, mit wahnsinnigem Haß und grausamer Zerstörungswut. Maman und ich wollten dir das nicht sagen, weil wir davon ausgingen, daß Richard und du ein normales Leben führen könnt, solange ihr unter dem Schutzzauber lebt, den ich und einige Kollegen aus dem englischen Ministerium für Magie aufgerufen haben. Er wirkt so ähnlich, wie es sich die Geistlichen von ihren Gotteshäusern im Bezug auf den Teufel oder andere Dämonen versprechen. Dein Arbeitsplatz und dein Haus schützen dich vor dem Angriff dunkler Magier. Aber wenn du dich an einem unbestimmten Ort aufhältst, könnten sie, sofern sie gezielt nach dir suchen, ohne Probleme über dich herfallen. Deshalb hat es mir einen gehörigen Schrecken eingejagt, als du mir erzähltest, daß sich eure Wege getrennt hätten. Und jetzt möchte ich bitte die ganze Geschichte hören: Wer? Wo? Was? Wie? Wann? Warum?"
Martha grinste, obwohl ihr die neue Offenbarung Catherines eine Gänsehaut über den Körper gejagt hatte. Sicher, sie hatte mit etwas dergleichen gerechnet, aber es jetzt offen ausgesprochen zu hören war schon etwas anderes. Sie fragte:
"Hat Julius deiner Maman das mit den sechs Fragen erzählt?"
"Er hat es Virginie Delamontagne erzählt, die es ihrer Mutter erzählt hat, welche es mir erzählt hat, als ich deinen Besuch in Millemerveilles vorbereitet habe. Aber jetzt bitte die ganze Geschichte!" Erwiderte Catherine.
Martha erzählte in der logischen Folge der ganzen Ereignisse, was ihr passiert war, wo und wann es sich abgespielt hatte, wer dafür verantwortlich war, wie sie das angestellt hatten und wozu. Sie berichtete, was Mrs. Priestley ihr erklärt hatte und erzählte auch, daß die Ministeriumshexe ihr abgeraten hatte, Richard wegen dieser Taten bei der Polizei anzuzeigen und lieber den Weg über eine einvernehmliche Trennung wählen sollte, wobei sie selbst für Julius das Sorgerecht behalten sollte. Sie schloß mit den Sätzen:
"... So haben der Rechtsanwalt, der wohl auch ein Zauberer ist und Mrs. Priestley mir dabei geholfen, alles in die Wege zu leiten. Morgen soll Richard der Bank die Unterlagen vorlegen und den Abstand bezahlen, der zwischen dem halben und dem ganzen Haus entrichtet werden muß. Ich werde das wieder so anlegen, daß Julius davon einen gewissen Anteil abbekommt, damit er weiter ausgebildet werden kann und nach Hogwarts eine Möglichkeit hat, sich selbständig zu machen oder eine weiterführende Ausbildung zu bekommen. Aber wenn es so ist, daß jemand alle Zauberer und Hexen umbringen will, die keinen über zehn oder mehr Generationen zurückreichenden Stammbaum reinblütiger Zauberer haben, wird das wohl etwas gefährlicher, als ich befürchtet habe. Richard hat ja schon gesagt, daß alle Formen der Magie grundsätzlich dem Bösen dienen."
"Wer böses tut, dem widerfährt es dreifach, Martha. Aber die sogenannten Muggelstämmigen gibt es immer noch, obwohl er versucht hat, sie alle zu vergraulen oder zu töten. In eurem Fall fürchte ich nur, daß er dann, falls er einen Spion in das englische Ministerium für Magie einschleusen kann, davon ausgeht, daß ihr jederzeit stärkere Zauberer hervorbringen könnt als er selbst ist. Dieser Zauberer ist wie gesagt größenwahnsinnig und blindwütig hassend. Ihm gelten selbst die ihm hörigen nichts, wenn sie nicht erreichen, was er ihnen aufträgt. Ich hörte bereits, daß zwei von seinen rangniederen Getreuen starben, weil sie versagt haben. Was der Grund für dieses Versagen war, weiß ich nicht. Sicher ist nur, daß alle ordentlichen Hexen und Zauberer sich darum bemühen, ihn nicht noch einmal zu stark werden zu lassen."
Martha schwieg. Sie dachte an erwiesene geisteskranke Verbrecher, größenwahnsinnige Herrscher und brutale Militärdiktatoren und Kriegsherren. Die Geschichte der unabhängigen Staaten in Südamerika war voll von solchen düsteren Kapiteln, und auch in Europa hatte es eine Zeit gegeben, wo wahnwitzige Machthaber die ihnen untertänigen Völker gequält hatten und andersdenkende oder Menschen anderer Volks- oder Religionszugehörigkeit in Massen gefoltert und ermordet hatten, natürlich nicht alleine, aber zumindest durch Willen und Befehl. In ihr Bewußtsein stiegen Filmausschnitte von Ereignissen im zweiten Weltkrieg, im bis vor kurzem noch von einer Einparteiendiktatur beherrschten Russland und den Staaten Osteuropas auf. Wenn diese Herrschaften schon grausam gewesen waren, wie konnte es da erst verheerend sein, wenn die macht- und mordgierigen Alleinherrscher Magie als Werkzeug benutzen konnten, Dämonen aus der Unterwelt beschworen, ganze Landstriche mit einem Fluch unbewohnbar machten oder Armeen sogenannter Untoter gegen ihre Feinde schickten. Wahrscheinlich konnten sie auch Zauber, die andere Menschen ihrem Willen unterwarfen oder ihnen unerträgliches Leid zufügten vollbringen. Dann fiel ihr etwas ein, was ihr Psychologielehrer an der Mädchenoberschule erzählt hatte, daß viele Gewaltverbrecher und Tyrannen nur aus eigenen Minderwertigkeitsängsten taten, was sie taten. Das Frauenmörder ihren Haß aus einer lange zurückliegenden Unterdrückung durch Frauen, angefangen bei der eigenen Mutter, bezogen oder oft als Außenseiter oder Schwächlinge gequälte Persönlichkeiten Rache an allen nahmen, die nun schwächer waren, als sie selbst. Dabei fiel ihr etwas ein.
"Könnte es sein, daß euer Erzfeind, vor dem du offenbar viel Angst hast, selbst kein reinblütiger Zauberer ist und darunter litt, daß ihn weder die einen noch die anderen haben wollten?"
Catherine, die das Mienenspiel Marthas genau beobachtet hatte, wie es zu einer kreidebleichen Angstfratze geworden und dann unmittelbar zu einer Maske der Erkenntnis geworden war, sah sie anerkennend an und nickte.
"Julius ist eindeutig dein Sohn, martha. Camille und Maman sagten mir, daß er das auch schon vermutet habe. Wir, die wir beruflich gegen dunkle Magier kämpfen müssen, wissen, daß er, der sich selbst Lord Voldemort nennt, offenkundig kein reinblütiger Zauberer ist und dies dadurch zu verdrängen sucht, daß er alle mischblütigen Zauberer quälen und vernichten will. Diesem Diktator Hitler wurde ja auch nachgesagt, seine Kleinwüchsigkeit und bestimmte Gesichtsmerkmale hätten ihn dazu getrieben, nur Menschen die groß, blond und blauäugig seien, als Herren der Menschheit zu sehen und hat ein Heer von willfährigen sogenannten Wissenschaftlern angetrieben, diesen Irrsinn zu beweisen. Ähnlich wird wohl auch Voldemort, den die meisten Zauberer nicht beim Namen zu nennen wagen, eingestellt sein. An und für sich müßte man eine solche Kreatur bedauern, wirst du wohl denken. Das würde jedoch nichts daran ändern, daß er ein höchst gefährlicher Zeitgenosse ist, dem kein menschliches Leben etwas bedeutet. Die Tatsache, daß er mit seinen Ideen und Vorhaben viele andere Zauberer angesteckt hat, beweist, wie fruchtbar unsere Welt für derartige Ansichten ist. Camille schrieb mir ende Juli, daß ihre Schwägerin deinen Sohn beleidigt habe, nur weil sie Angst vor diesem dunklen Lord hat und nach Möglichkeit nichts mit Leuten zu tun haben will, die er bedroht."
"Danke, Catherine, daß du mir das offenbart hast. Jetzt verstehe ich auch, weshalb ihr so darauf ausseit, Julius anständig und umfassend in eure Welt hinüberzuholen, um ihm eine Grundlage zu bieten, die nicht in dieser Art von Zerstörungswahn endet. Ich habe mich ja mit deiner Mutter darüber unterhalten, soweit meine Spanischkenntnisse das ermöglicht haben, daß da, wo sie unterrichtet, sehr darauf geachtet wird, daß Leute, die ebenfalls keine Zauberereltern haben, sich gleichbehandelt fühlen, wenngleich es auch dort Schwierigkeiten mit den Eltern gibt und nicht jeder Schüler sich dort einfügen will."
"Ja, das ist auch der Grund, weshalb Maman das an und für sich nicht groß verkünden wollte, daß sie Julius vor einem Jahr beherbergt hat, um denen, deren Eltern auch nicht zaubern können, nicht das Gefühl zu vermitteln, sie würden nicht groß beachtet, weil ja kein anderer von jemanden aus der Zaubererwelt betreut wird. Aber jetzt möchte ich doch wissen, wie du dir deine und Julius' Zukunft vorstellst."
"Ich werde sehen, daß ich eine neue Anstellung finde. Jetzt, wo ich Dank dieser Ultraschallkanone zusammengebrochen bin, wird man mir aus purer Rücksichtnahme keine schweren und verantwortlichen Arbeiten mehr zuweisen. Ich muß wohin, wo mich niemand für krank hält und meine Fähigkeiten honoriert. Ich hoffe zumindest, daß mir nicht noch wer einen derartigen Schlag versetzt."
"Hmm, möchtest du dafür in England bleiben?" Wollte Catherine wissen.
"Wo sonst? Ich könnte höchstens noch in die Staaten, nach Spanien oder Südamerika. Aber ich würde schon gerne wo arbeiten, wo ich mich richtig entfalten kann. Wo hält sich dieser Voldemort denn hauptsächlich auf?"
"So gesehen gibt es keinen Ort auf der Welt, wo er nicht jemanden auf seiner Seite hat. Aber er ist schon eher auf die britischen Inseln fixiert. Immerhin hat er hier in Professor Albus Dumbledore einen mächtigen Widersacher und wurde wohl auch in England geboren. Außerdem hausen in anderen Ländern Magier, die nicht viel besser eingestellt sind als er, aber ihm relativ unbekannte Methoden benutzen, vor denen er wohl eine gewisse Furcht hegt. In Europa dürfte er, wenn ihn niemand vorher aufhält, wieder zum mächtigsten Schwarzmagier der Gegenwart aufsteigen."
"Dann werde ich mich wohl auf die vereinigten Staaten einstimmen. Julius kann derweil bei Mrs. Priestley weiterwohnen, vorausgesetzt, sie gehört nicht zu den Anhängern ... Gut, das beruhigt mich", sagte Martha und änderte ihren Satz ab, als sie Catherines Kopfschütteln sah.
"Sie dürfte wohl wie einige andere aus dem hiesigen Zaubereiministerium auf der Liste der bedrohten Hexen und Zauberer stehen."
"O das klingt aber nicht so, als sollte ich Julius dorthin zurückkehren lassen."
"Sagen wir es mal so. Viele Hexen und Zauberer bilden sich ein, der dunkle Lord könne überall zugleich sein. Doch dem ist nicht so. Wahrscheinlich wird er sich auf die wichtigsten Ziele konzentrieren, die er vor seinem Niedergang vor vierzehn Jahren angestrebt hat."
"Du meinst, es besteht im Moment keine Gefahr für Julius?" Forschte Mrs. Andrews nach.
"Die besteht seit der Rückkehr des dunklen Lords auf jeden Fall. Ich sagte nur, daß er wohl erst seine vorherigen Ziele anstrebt, um die Zeit aufzuholen, die er verloren hat. Da meine Mutter und ich jedoch zu denen gehören, die Angehörige durch ihn und seine Handlanger verloren haben, weiß ich, wie schnell sich das ändern kann, wenn er meint, mal eben jemanden aus Erfolgsnot angreifen zu müssen. Doch andererseits habt ihr ja Jahrzehnte Lang in der Furcht vor einem weltweiten Atomkrieg gelebt und trotzdem nicht in Bunkern gehaust oder immer gesehen, wo ihr euch schnell verstecken konntet. Wir müssen auch irgendwie weiterleben, solange wir die Möglichkeiten dazu haben. Das heißt auch, sich frei zu bewegen, um Spaß zu haben und neue Eindrücke zu sammeln. Aber ausschließen möchte ich nicht, daß Julius von ihm oder seinen Helfern angegriffen wird, solange er in England ist. Da dein Mann sich ja offen gegen uns gestellt hat, können wir ihm den Jungen auch nicht wieder überantworten, nur um ihn in der Sicherheit unseres Schutzzaubers zu wissen. Aber ich weiß, daß Julius in Hogwarts Freunde gefunden hat. Sonst würde ich sagen, wir veranlassen, daß er in Beauxbatons oder Thorntails unterkommt. Doch das wäre die zweite große Umstellung in seinem Leben. Es dürfte ihm schon schwerfallen, daß Richard und du euch getrennt habt."
"Ja, Catherine, ich kann ja nicht in Amerika oder sonstwo arbeiten und immer darüber nachdenken, ob Julius noch bei bester Gesundheit ist oder nicht. Insofern müßte ich schon in England bleiben, wenn er hier weiter zur Schule geht."
"Ein anderes Problem sehe ich darin, daß Richard das nicht einfach hinnehmen könnte, daß du ihn quasi als Vater ausrangiert hast, selbst wenn ihr ein Besuchsrecht vereinbart habt. Ich habe genug Sensationsartikel in euren Zeitungen gelesen, die von Streitigkeiten um Kinder nach Ehescheidungen handeln."
"Ja, doch ich konnte Richard doch nicht aus Julius' Leben ausschließen, Catherine", warf Martha ein. "Wenn der Junge seinen Vater sehen will, muß er doch dazu die Gelegenheit haben."
"Rechtlich schon. Aber ob sich das praktisch immer umsetzen läßt ist fraglich. Nathalie Grandchapeau, die "ganz wichtige Frau" bei der ich vorhin noch war, hat mir davon erzählt, daß es in Frankreich zwei Fälle gibt, die ähnlich gelagert sind wie eurer, nur mit dem Unterschied, daß die Elternpaare und Kinder sich einig sind. Es ist schon schwierig, unsere Situation mit allgemeinen Rechtsgrundlagen zu erfassen. Ich fühle mich jedoch nicht so wohl, wenn ich darüber nachdenke, wie es weitergehen soll."
"Ich weiß nicht, ob du hier in London bleiben oder wieder nach Paris zurückreisen willst, Catherine. Ich kann dich ja morgen anrufen, wenn ich alles erledigt habe", sagte Martha. Catherine sah die Bekannte ihres Mannes genau an, schien einen Gedanken wie eine schwere Eisenkugel im Gehirn zu wälzen und sagte nach zwanzig Sekunden Schweigen:
"Ich werde mich morgen mit meiner Mutter und Madame Delamontagne unterhalten. Diese Wendung ist für die beiden wichtig, denke ich. Außerdem frage ich mich gerade, ob es für Julius eine so große Umstellung wäre, von Hogwarts nach Beauxbatons überzuwechseln. Sicher, der Freundeskreis würde ihm abgehen, und er müßte sich auf neue Regeln einstellen. Aber wenn die Möglichkeit besteht, daß er dafür mehr Bewegungsfreiheit bekommt, weil er sich aussuchen kann, wo er die Schulferien verbringen mag, daß er mit dir oder Richard eine Zeit verbringt und anschließend weiterlernt, könnte es gehen."
"Komm, Catherine! Julius ist da in Hogwarts gut aufgehoben. Selbst wenn ich wie Aurora Dawn nach Australien auswandern würde, wäre er da bestimmt glücklicher, als wenn er sich komplett neu einrichten müßte."
"Australien ist auch interessant. Da hat der Unnennbare, wie die meisten Zauberer Voldemort nennen, keine mir bekannten Anhänger. Es gibt da zwar auch Zauberer, die was gegen Muggelstämmige haben, die es aber nicht nötig haben, sie mit Gewalt anzugreifen", sagte Catherine. Martha sah die Mischung aus Angst und Verachtung in den Augen ihrer Bekannten, wenn sie von dem dunklen Lord sprach. Offenbar mußte sich Catherine sehr gut beherrschen, um nicht in wilde Gefühlswallungen zu geraten. Martha wußte aus eigener Erfahrung, wie schwer sowas fiel. Doch sie wollte nicht nachhaken, was genau passiert war. Sie fragte stattdessen:
"Wieso kommst du darauf, Julius könne nach Beauxbatons? Will deine Mutter das vielleicht, weil sie Julius dann rundum beaufsichtigen kann?"
"Ich weiß nicht, ob sie mit dem Gedanken gespielt hat, Martha. Zumindest bin ich so ehrlich und räume das ein, daß Maman sich das vorgestellt haben könnte. Immerhin hast du dich mit ihr ja wohl über diese Möglichkeit unterhalten. Also muß sie dir ja etwas in der Richtung angedeutet haben."
"Ich weiß aber nicht, ob Julius damit so glücklich wäre, Catherine. Ich kenne deine Mutter nicht gut genug, um zu wissen, wie sie als Lehrerin und als Privatperson ist. Vielleicht hat sie da mindestens zwei Gesichter. Ich habe jedoch mitbekommen, wie Julius in ihrer Gegenwart reagiert, wesentlich kontrollierter, ja gezwungener als üblich. Das mir das nicht schon im letzten Jahr aufgefallen ist, wo ihr bei uns die Ostertage verbracht habt, wunder ich mich zwar drüber, aber vielleicht habe ich das damals auf den Umstand geschoben, das sie ohnehin eine Respekt erheischende Ausstrahlung hat. Damals konnte Julius ja noch kein Französisch und wußte ja auch nicht, wer deine Mutter ist. Aber wo ich ihn in Millemerveilles erlebt habe, wie er mit deiner Mutter sprach, fiel mir doch auf, daß sie ihn offenbar eher beengt als nur führt. Kommt das hin?"
"Nachdem, was Camille ja in den ersten Briefen an dich geschrieben hat, mußte Julius wohl erst wieder lernen, sich frei zu bewegen. Offenbar lag das aber nicht an meiner Mutter allein. Sie hat dies wohl nur ausgenutzt. Aber ich kann dir verbindlich versichern, daß man mit meiner Mutter nur gut auskommt, wenn man bereit ist, sich unter ihr Kommando zu stellen. Joe hat damit Probleme, genauso wie Richard damit Probleme hat. Insofern werde ich meiner Mutter gegenüber nicht undankbar, wenn ich dir rechtgebe, daß Julius ausschließlich bei ihr zwar verantwortungsvoll aber nicht unbedingt eigenständig heranwächst. Ich habe es ja selbst erlebt, wie heftig es mich geprägt hat, die Tochter von Professeur Faucon, der gestrengen und unerbittlichen Lehrerin zu sein. Aber mütter und Töchter, das ist ja ein Buch für sich, das schon seit Jahrtausenden um viele hundert Bände erweitert wird."
"Dann lassen wir es bei dieser bisherigen Lage, dem Status quo sozusagen", sagte Martha. Dann fiel ihr jedoch was ein. Offenbar war das nicht alles gewesen, womit sich Catherine abgemüht hatte. Wahrscheinlich wollte sie noch mehr erzählen, hatte es sich jedoch noch überlegt.
"Oder möchtest du das offizielle Fürsorgerecht für Julius übernehmen, damit er in diese Beauxbatons-Akademie wechseln kann? Das hätte für ihn ja den Vorteil, daß er nicht von der nichtmagischen Welt isoliert bliebe, er also auch mal neue Filme im Kino und Fernsehen mitbekäme, Sport und Musik im Radio hören könnte und auf dem Laufenden bliebe, was in der sogenannten Muggelwelt passiert. Ich habe es doch bei dem Gespräch zwischen dir, Madame Delamontagne, Madame Dusoleil und mir mitbekommen, daß er sich immer noch für Weltraumforschung und Fußball interessiert, wenngleich dieses Quidditch ihm natürlich jetzt mehr bietet, sowohl als Zuschauer als als Spieler."
Catherine zwang sich, keine gefühlsmäßige Gesichtsveränderung zu zeigen. Doch in ihren Augen leuchtete es für einen Sekundenbruchteil auf, als habe Martha ihr aus der Seele gesprochen, dürfe dies jedoch nicht wissen. Da Martha dies jedoch mitbekommen hatte, lächelte sie nur und hakte nach:
"War dies der eigentliche Grund, weshalb du zu mir gekommen bist?"
"Sagen wir es mal so, Martha, ich mußte unbedingt die Lage ergründen und die sich daraus bietenden Möglichkeiten abklopfen. Das war eine davon."
"Ich denke nur, daß Joe da nicht mitspielen wird. Ich bin mir sicher, daß er mit eurer Welt möglichst wenig zu tun haben will, deine Mutter nur toleriert, weil sie mächtiger als er ist und weil er Babette und dich liebt. Sonst hätte er doch bestimmt schon Anwandlungen bekommen, von dir abzuhauen", knallte Martha Catherine direkt auf den Tisch, wie sie Joes Situation einschätzte.
"In einem Punkt hast du recht, Joe möchte so wenig wie möglich mit der Zaubererwelt zu tun haben. Ansonsten hat er sich sehr gut damit arrangiert, mit einer Hexe verheiratet zu sein und eine Hexentochter zu haben, solange wir ihm nicht in seine Arbeit und seine Muggelfamilienangelegenheiten reinpfuschen."
"Soso, Babette hält sich da dran? Da habe ich aber vorhin was anderes gehört, als ich bei euch anrief", warf Martha sarkastisch ein und lächelte dabei wie das böse Kind, das weiß, daß es sich so vor einem Tadel retten kann.
"Ich habe ihm das noch repariert. Es war nichts heftiges. Seine Programme und Informationspakete, Dateien heißen die wohl korrekterweise, sind alle unbeschädigt geblieben. Die kleine Hexe hat nur die Stromzufuhr zum Zentralverarbeitungselement, diesem Mikroprozessor, unterbrochen. Das habe ich alles noch erledigt, bevor ich unter dem Vorwand, noch mal zu einer Kollegin zu müssen, in unsere Einkaufsstraße gereist bin, von wo ich unter einem Tarnumhang direkt nach London Paddington disappariert bin, wo ich mir eine unbevölkerte Nebenstraße ausgesucht habe, wo ich über Handy ein Taxi anrief und mich zu dir bringen ließ. Der Rückweg geht schneller."
"Ich habe mir schon sowas gedacht, daß du diese Teleportationsübung gemacht hast, um so schnell zu mir zu kommen", erwiderte Martha.
"Ich denke schon, daß es kein größeres Problem darstellt, euch beide bei uns in einer separaten Wohnung unterzubringen. Das Haus war als Zwei-Familienhaus angelegt, wie du weißt. Mit ein wenig Baumagie kann ein Teil, sagen wir mal drei Zimmer, Küche Bad vom restlichen Haus physikalisch abgegrenzt werden, damit du und Julius euer Reich hättet und euch nicht ständig mit uns befassen müßtet oder umgekehrt. Wenn du das möchtest, übernehme ich gerne den zaubererweltlichen Fürsorgeauftrag von Mrs. Priestley. Sowas ließe sich über den kurzen Dienstweg regeln, da ich den Leiter der Ausbildungsabteilung, sowie die Abteilungsleiterin für die Vermittlung zwischen Zauberern und Nichtmagiern kenne. Aber dann mußt du dich verbindlich dazu entschließen, zu uns zu ziehen, Martha."
"Wieso? Ich könnte doch sonstwo in der Welt herumreisen und arbeiten", warf Martha ein, der das ein wenig zu plötzlich ging. Dann schickte sie noch hinterdrein:
"Außerdem weiß ich nicht, ob Julius sich einfach so auf diese Akademie von deiner Mutterund dieser Riesin, Madame Maxime, schicken läßt. Diese Dame macht mir nicht gerade einen gutmütigen Eindruck, und das nicht nur, weil sie mich um drei oder vier köpfe überragt und vielleicht doppelt so schwer ist wie ich."
"Immerhin hat er in Millemerveilles einige Jugendliche kennengelernt, die in seinem Alter sind, wie Dorian, Caro, Claire."
"Tja, das ist dann wohl eine andere Geschichte. Deine Werte Bekannte Madame Dusoleil ließ irgendwie durchdringen, daß ihre mittlere Tochter wohl anfängt, ihre weibliche Natur zu erforschen und sich Julius als erstes Zielobjekt ausgeguckt hat."
"Schön akademisch hast du das jetzt formuliert", lachte Catherine amüsiert. "Dann hast du ja wie ich auch gehört, daß Camille Dusoleil dem nicht so abgeneigt ist. Aber das wäre eine Sache zwischen Claire und Julius, ob sich zwischen den beiden was entwickelt. Natürlich wäre eine Umschulung von Julius eine ideale Möglichkeit, das voranzutreiben, anstatt es durch die räumliche Entfernung versiegen oder verzögern zu lassen. Doch darum geht es mir nicht, und Maman zielt auch nicht darauf ab, ihn mit einer Junghexe von Beauxbatons zu verbandeln. Im Gegenteil. Sie interveniert schnell, wenn sie meint, daß etwas unzüchtiges passieren könnte."
Martha dachte eine Weile über alle Dinge nach, die für und gegen einen Umzug nach Paris sprachen. Sicher wäre es für sie eine Umstellung, wie für Julius auch. Sie hätte ein neues Lebensumfeld zu finden, eine Arbeit zu suchen, die ihren Fähigkeiten entsprach und müßte Catherine und Joe einstweilen am Rockzipfel hängen, wie ein Kleinkind, daß sich noch nicht alleine vor die Tür wagen darf. Andererseits hatte Catherine diesen weiten Weg von Paris nicht gemacht, um sie zu veralbern. Selbst dieses Apparieren war bestimmt nicht so leicht, um es für einen belanglosen Ausflug zu benutzen. Offenbar schwebte da schon etwas entsprechendes über Catherine und ihrer Mutter. Richards Versuch, sie aus der Verantwortung für Julius zu stoßen, war wohl der endgültige Zündfunke, um den Prozess ablaufen zu lassen. Die Argumente, daß Julius aber auf diese Weise wie Babette von beiden Welten was haben konnte, anstatt nur bei Zauberern oder nur bei sogenannten Muggeln zu sein, sowie die dunkle Bedrohung durch diesen Voldemort, der auch ihr Leben gefährden könnte, waren schwerwiegender. Dann fielen ihr aber noch zwei Dinge ein, die sie hier und jetzt noch ansprechen wollte.
"Ich habe ohne Richard Probleme gehabt, alleine in der Stadt herumzulaufen, Catherine. Als ich mir diese Militärschau am Revolutionstag angesehen habe, konnte ich mich mit Englisch nur mäßig behelfen. Ich will dir nichts böses, aber die Leute aus Paris schätzen einen Menschen wohl nur dann hoch ein, wenn er Französisch kann, was ich nur spärlich gelernt habe. Hinzu kommt, daß ich ja von irgendwas leben muß. Das Geld, was ich von Richard bekommen werde, ist ja nur eine Übergangssumme, von der ein Großteil für Julius' Ausbildung verwendet werden soll."
"Das mit der Sprache ist ein untergeordnetes Problem, Martha. Im Rahmen der Familiengesetze der Zaubererwelt ist es nichtmagischen Angehörigen von Zaubererkindern erlaubt, nach genauer Festlegung von Art und Zweck durch das zuständige Zaubereiministerium magische Hilfsmittel zu benutzen, sofern damit keine körperliche Beeinflussung verbunden ist. Deshalb ist der Wechselzungentrank für Muggel verboten, aber das Sprachlernbuch, was Julius zuerst benutzt hat, dürftest du wohl benutzen, wenn das Ministerium die Notwendigkeit anerkennt. Außerdem laufen in Paris genug Sprachlehrer herum, gerade um Neuansiedler zu unterrichten. Was eine neue Anstellung angeht, so gibt es in Frankreich genug Firmen, die sich auf Handel im Internet spezialisieren wollen und noch Leute suchen, die von der Materie Ahnung haben."
"Hmm, dann überlege ich mir das noch mal genau und schlafe eine oder zwei Nächte darüber, Catherine", sagte Martha Andrews, die sich noch nicht festlegen wollte.
"In Ordnung, martha. Das verstehe ich. Ich möchte auch mit Joe nicht darüber sprechen, bevor du dich entschlossen hast. Aber ich biete dir nur die Möglichkeit an. Was du daraus machst, vor allem für Julius, ist deine Entscheidung", stimmte Catherine dem zu und lächelte wohlwollend. Dann sagte sie noch: "Ich kann dich wohl in den nächsten zwei Tagen hier erreichen?"
"Ja, kannst du, Catherine", erwiderte Martha Andrews. Dann verabschiedeten sie sich voneinander. Catherine sagte noch, daß Martha nur das Fenster oder die Tür zu öffnen bräuchte, um den magischen Klangkerker aufzulösen. Dann verbeugte sie sich kurz und verschwand mit einem leisen Plopp, als habe sie sich in Luft aufgelöst. Martha starrte für mehrere Sekunden auf die Stelle, wo die Hexe gestanden hatte. Ihr war das immer noch unheimlich, daß soetwas funktionierte. Sie verscheuchte die Angst, jemand könnte sie auf diese Weise heimsuchen mit dem Gedanken, daß nur Catherine wußte, wo Martha gerade zu finden war. Der Wagen stand in der Hotelgarage und Richard kam bestimmt nicht auf die Idee, ihn als gestohlen zu melden, weil der Wagen alleiniges Eigentum Marthas war. Da hatte sie drauf bestanden, um nicht in irgendwelche Schwierigkeiten zu kommen, wenn daran etwas kaputt ging oder sie damit einen Unfall erlitt. Sie stand auf, ging zum Fenster, entriegelte es und schwang es auf. Wie ausgeschaltet erlosch der durchsichtige ockergelbe Lichtschimmer an Wänden, Decke und Fußboden. Das Zimmer war jetzt wieder völlig normal anzusehen.
Richard Andrews trug seinen besten Anzug, als er sich am Tag darauf mit seiner Frau in der Filiale der BOCAS-Bank für Kredite und Rücklagen traf. Martha trug ein elegantes blaues Kleid, welches sie neben einigen anderen in Paris gekauft hatte. Mrs. Priestley, die zwar mitgekommen war aber sich im Hintergrund hielt, trug eine weiße Bluse zum apfelgrünen Rock. Sie saß auf einem Wartestuhl, als Martha und Richard in das Büro des Chefs der Kreditabteilung gingen und wartete, bis die beiden wieder herauskamen. Martha und Richard sahen angespannt aus, als müßten sie gleich eine schwere Aufgabe übernehmen.
"Das Geld wirst du nächste Woche auf diesem Transferkonto haben, das du eingerichtet hast. Was du dann damit machst, ist dein Ding. Glaube aber nicht, daß du davon lange glücklich leben kannst! Nachdem du dich heute bei deinem Chef abgemeldet hast, sieht es ja wohl so aus, daß du einstweilen keinen neuen Job finden kannst. Oder glaubst du, das spräche sich in der Branche nicht herum, daß du aus Überarbeitungsgründen gekündigt hast?" Sagte Richard. Martha war ganz gelassen.
"Mach dir um mich keine Sorgen mehr, Richard. Da du ja darauf ausgingst, mich aus deinem Leben zu stoßen und deinen einzigen Sohn gleich mit, wäre es unlogisch, mein weiteres Leben zu überdenken. Ich habe mir gestern abend schon gute Auswege überlegt, von denen ich einen wählen werde."
"Ach ja? Vergiss dabei aber nicht, daß ich laut dieses Schriebs von diesem Anwalt das Recht habe, Julius zu sehen. Vielleicht kommt er doch noch zur Vernunft."
"Bei dem vorbildlichen Vater den er hat muß Vernunft wohl erst neu gedeutet werden", gab Martha schnippisch zurück. Ihr war die Angelegenheit einerseits peinlich. Andererseits spürte sie hier und jetzt, was ihr nun bevorstand: Der Abschied von ihrem bisherigen Leben.
"Ach, deine Aufpasserin wartet, Martha", grummelte Richard. "Dann will ich dich nicht noch in letzter Minute in Schwierigkeiten bringen."
"Ich habe das nicht gewollt, was wir jetzt machen müssen, Richard. Ich habe nicht darum gebeten, von dir aus dem Haus gegrault zu werden", zischte Martha Andrews gereizt. Richard lächelte böswillig.
"Ach, die Logikmaschine läßt nach. Ich habe ja doch eine Frau geheiratet."
"Wie gesagt, Richard: Ich habe das nicht so haben wollen, wie es gekommen ist. Wenn du jetzt meinst, wie ein kleiner Junge über mich dumm herziehen zu müssen, nur weil dir hier und jetzt klar geworden ist, wie außerordentlich idiotisch du dich verhalten hast, liegt das nicht an und auch nicht bei mir. Oder ging es dir nur um das Geld? Du hast ja gesagt, daß ein längerer Prozess dich durchaus auch mehr gekostet haben könnte. Was Julius angeht, so werde ich ihm nicht verbieten, dich zu besuchen. Aber du weißt ja, daß er während der Ausbildung jemanden über sich stehen hat, der befindet, ob er das darf. Das liegt auch nicht bei mir."
"Wenigstens kann ich mich nach einer neuen Familie umsehen. Bei dir dürfte das dann aus und vorbei sein", sagte Richard. Martha grinste nur, weil sie mit dieser letzten Spitze gerechnet hatte.
"Dafür wünsche ich dir viel Spaß, Richard."
Richard stutzte. Er hatte damit gerechnet, daß seine Frau tief betroffen schweigen würde. Doch das sie ihm noch "viel Spaß" wünschte, hatte er nicht erwartet. Vielleicht wußte sie etwas, was er noch nicht wußte, beziehungsweise hatte schon alles geregelt, alle weiteren Züge des Schachspiels überdacht. Wer wußte auch schon, ob sie nicht Gefallen daran gefunden hatte, mit echten Hexen und Zauberern zu verkehren. Das konnte sie durchaus als Vorzug deuten. Er durfte ja nichts darüber durchsickern lassen. Denn das Verhängnis, durch eine Strafanzeige noch alles zu verlieren, sogar die Freiheit, drohte deutlich sichtbar aus dem Hintergrund. Er hatte mit einem Full House gepokert, und Martha hatte einen Royal Flash auf den Tisch gelegt.
"Nun, lass es uns wie zwei Erwachsene zu Ende bringen", sagte Richard und sah erst seine Frau und dann die Ministeriumshexe an. "Ich weiß, daß unsere gemeinsame Vertrauensbasis nicht mehr da ist. Dennoch möchte ich mich für die vierzehn langen und abwechslungsreichen Jahre bedanken. Immerhin habe ich durch dich und Julius viele kurzweilige Stunden erlebt. Wenn du dich irgendwo fest verankert hast, möchte ich zumindest wissen, daß es dir dort gut geht. Julius kann in den Ferien zu mir kommen. Ich werde davon absehen, ihn von seiner Ausbildung abzuhalten, damit ich mich am Ende nicht selbst zerstöre. Mach es gut, Martha!"
Martha tupfte sich kleine Tränen von den Augen, schluckte einmal, zweimal und sagte dann mit unterdrückter Traurigkeit in der Stimme: "Ich möchte mich auch für alles schöne und interessante bedanken, was ich mit dir erlebt habe. Ich habe einen guten Mittelweg gefunden, um nicht an Arbeitswut zu Grunde zu gehen oder als unzufriedene Hausfrau in der Wohnung zu hocken. Julius hat sehr viel von dir geerbt und gelernt. Darauf solltest du stolz sein. Ich gehe davon aus, daß er gerne zu dir kommen wird, wenn man ihm die Erlaubnis gibt. Aber im Moment fürchte ich, daß dies noch zu früh ist. Eine schöne und abwechslungsreiche Zeit wünsche ich dir noch."
Ein letztes Mal, wohl für lange Zeit, wenn nicht für immer, küßten sich Martha und Richard Andrews. Richard fragte:
"Wirst du deinen Ehenamen behalten oder deinen Mädchennamen wieder annehmen?"
"Ich werde den Namen behalten, Richard. Das verbindet mich mit einem wichtigen Abschnitt im Leben und auch mit Julius. Ich werde nicht noch eine Bürokratie vom Zaun brechen, um meinen Namen zu Ändern. Dr. Riverside und dein Anwalt werden mit uns morgen diesen Richter Billings aufsuchen, um alles rechtlich über die Bühne zu bringen. Ist zumindest schön, daß dein Rechtsvertreter nicht der Meinung war, alles noch länger hinauszuzögern."
"Dann bis Morgen früh", sagte Richard Andrews. Martha verließ mit Mrs. Priestley die Bank und fuhr mit einem Wagen des Zaubereiministeriums davon.
Zwar versuchte der Anwalt von Richard am nächsten Morgen, noch einmal eine geringere Unterhaltszahlung herauszuholen, und der Richter war skeptisch, ob ein solcher Vertrag, wie ihn Marthas Anwalt vorgelegt hatte, auf Dauer so einvernehmlich beachtet würde, doch weil alle rechtlichen Fragen damit bedacht worden waren, befand er im abschließenden Urteil, daß die Ehe der Andrews anulliert werden konnte, im gegenseitigen Einvernehmen, ohne strittige Punkte. So trennten sich die Wege der Andrews am 11. August um 10.00 Uhr. Martha verließ schnell das Gerichtsgebäude, winkte Richard noch mal zum Abschied und ließ sich in ihr Hotel bringen. Die Arbeitspapiere ihrer Firma hatte sie dort im Safe eingeschlossen, wie auch die Unterlagen über die Geldzahlung von Richard. Abends rief sie Catherine in Paris an und erzählte ihr kurz, wie alles abgelaufen war. Dann sagte sie noch:
"Ich habe mit Mrs. Priestley deine Vorschläge diskutiert, als wir das mit der Bank erledigt hatten. Sie meinte, wenn die Ministerien zustimmen, und Julius keine seelischen Probleme zu befürchten habe, könnten wir das so machen."
"Warte zwei Minuten. Ich bin im Moment mit Babette alleine hier. Ich komme zu dir."
"Öhm, gut", sagte martha und legte auf. Es dauerte nur anderthalb Minuten, bis es an die Tür klopfte. Martha fragte, wer draußen sei und hörte Catherines Stimme:
"Ich bin's, Catherine, Martha."
Erst glaubte Martha, vor der Tür stünde niemand. Der Korridor war total verlassen. Dann spürte sie einen sanften Luftzug, hörte ein leises Rascheln und Schritte, die an ihr vorbeigingen. Da sie schon mit den Unsichtbarkeitsumhängen der Zaubererwelt vertraut war, nahm sie diese ungewöhnlichen Eindrücke gelassen hin und schloß die Tür. Sie schloß ab und sah, wie Catherine sich unter einem luftig fließenden Umhang aus feinem silbernem Gewebe Herausarbeitete.
"Sprich kurz kein Wort!" Gebot die Hexe aus Frankreich und holte ihren Zauberstab hervor. Martha trat von der Tür zurück, sodaß Catherine den vorübergehenden Klangkerker in diesem Zimmer errichten konnte. Als wieder ockergelber Schimmer von Wänden, Boden und Decke glomm, setzte sich Martha aufs Bett, während Catherine sich auf den Stuhl am kleinen Tisch niederließ.
"Ich habe Babette im Wohnzimmer in einen leichten Zauberschlaf versetzt, der anhält, bis ihr Vater oder ich uns im Haus bewegen. Ich habe ihr erzählt, daß ich noch mal fortmüßte und sie nur die Wahl zwischen Schlaf oder Oma habe. Deshalb bin ich auch so schnell hergekommen", erzählte Catherine mit warmem Lächeln.
"Mit sieben kann man ein Kind doch mal alleine lassen", wunderte sich Martha über diese Maßnahme.
"Zaubererkinder in Zauberersiedlungen: Kein Problem! Muggelkinder in Muggelsiedlungen: Auch kein Problem! Muggelkinder in Zauberersiedlungen: Kam bis jetzt nicht vor. Aber wenn du ein Hexenmädchen allein in einer nur von Muggeln bevölkerten Gegend unbeaufsichtigt läßt, ist die Versuchung für es viel zu groß, etwas anzustellen. Vor allem, weil Babette sehr quirlig und entdeckungsfreudig ist. Joe hat sie einmal dabei erwischt, wie sie ohne großen Aufwand in eine mit drei Schlössern gesicherte Nachbarbehausung eingedrungen ist. Unser Kommando zur Geheimhaltung der Magie, sowie die Abteilung für magische Strafverfolgung und der Ausschuß gegen den Mißbrauch von Zauberkraft hat mir eine ganze Woche lang die Hölle heißgemacht, daß ich die sich entwickelnden Zauberkräfte meiner Tochter besser kontrollieren soll und mir zwanzig Galleonen Strafgeld und Bearbeitungsgebühr aufgehalst. Das reicht erst einmal für gewisse Zeit."
"Ach, und deine Mutter hat wohl im Moment keine Zeit, oder?"
"Das neue Schuljahr in Beauxbatons fängt am 22. August an. Womit wir im Grunde bei der Hauptfrage des Abends wären: Wie hast du dich nun entschieden?"
"Ich weiß nicht, was für ein Aufwand das ist, Catherine. Aber ich hätte Julius gerne in dieser Angelegenheit persönlich gefragt, mit ihm das ganze besprochen. Wie früh ist noch rechtzeitig, um das ganze umzustellen, falls er zustimmt, daß ich zu euch komme und er in diese Beauxbatons-Akademie geht?"
"Nun, du weißt ja, was alles vorher geklärt werden muß. Ich habe dir ja erzählt, wie es bei Austauschschülern oder permanent wechselnden Schülern abläuft. Die Sprachverständnisprüfung muß abgehalten werden, der Wohnsitzwechsel inklusive Begründung, weshalb Julius nicht mehr in Hogwarts weiterlernen sollte, dazu noch die Abmeldung von Hogwarts und die Anmeldung in Beauxbatons. Da ich sowohl in Beauxbatons als auch in den zuständigen Ministeriumsabteilungen gute Kontakte habe, würde die normale Bearbeitungszeit von einem Monat auf eine Woche reduziert. Will sagen, wenn du heute zustimmst, könnte bis zum 18. August alles erledigt sein und Julius am 22. August von Paris oder Millemerveilles aus abreisen."
"Wie gesagt möchte ich Julius in dieser Angelegenheit nicht einfach übergehen, selbst wenn ich das Recht dazu hätte. Immerhin wäre das eine heftige Umstellung für ihn, und nur, weil ich mich mit Richard auseinandergesetzt habe, muß der Junge nicht gleich so drastisch darunter leiden."
"Dann machen wir folgendes, Martha. Julius wird ja unter der Woche von meiner Mutter unterrichtet. Es wäre also kein Problem, wenn er nach dem Unterricht mit Maman zu mir kommt, wo du dann zu Besuch bist. Dann können wir uns in Ruhe unterhalten, du, er und ich. Dann braucht er sich auch nicht von dritten oder vierten beeinflußt zu fühlen. Ich habe mich nämlich noch mal mit Camille ausgetauscht. Ich schrieb ihr, daß du wissen wolltest, ob Julius sich immer noch gut mit ihren Töchtern verstehe. Die schrieb mir doch glatt zurück, daß Claire es offenbar bedauere, daß Zaubererkinder erst mit siebzehn volljährig seien, sonst dürfe sie Julius mal eben auf ihren Besen holen", sagte Catherine lachend. Martha sah erwartungsgemäß irritiert drein, weil sie nicht verstand, wovon Catherine sprach. Catherine sprach weiter:
"Bei uns in Frankreich, wie überhaupt in den südeuropäischen Ländern, legen es die Hexen fest, mit wem sie gern zusammenbleiben wollen. Anders als bei den Muggeln machen die Töchter einen Heiratsantrag. Das läuft dann so ab, daß eine Hexe, die volljährig ist, ihren Auserwählten, der auch volljährig sein muß, auf ihren fliegenden Besen holt und mit ihm vor Zeugen einige Runden herumfliegt. Will der Auserwählte das nicht, muß er sich schnell verstecken oder durch eindeutige Ablehnungsgesten zeigen, daß er dies nicht will. Läßt er sich auf einen Hexenbesen holen, gilt das als eindeutiges Heiratsversprechen, falls nicht vorher schon eine öffentliche Verlobung bekanntgemacht wurde. Oder der Zauberer muß danach gute Gründe anführen, um die Hochzeit abzulehnen. Dieser Brauch ist schon Jahrhunderte alt und hat sich allen Patriarchialischen Bestrebungen aus der Muggelwelt zum Trotz gehalten. Gut, die fliegenden Besen sind erst so im achten oder neunten Jahrhundert erfunden worden. Aber das Ritual gab es vorher eben in anderer Form schon."
"Catherine, du willst doch nicht sagen, daß Claire Julius jetzt schon ..."
"Keine Aufregung, Martha. Camille übertreibt oft, wenn ihr etwas besonders gut gefällt. Ich denke eher, daß die beiden sich soweit angefreundet haben, wie es zwischen einem Mädchen und einem Jungen geht, bevor sie als Liebespaar bezeichnet werden können. Aber so ganz abwegig wird es nicht sein, wenn Camille schreibt, daß da durchaus mehr möglich ist. Deshalb sagte ich, daß wir uns bei mir treffen sollten, damit Julius nicht von wem anderem beeinflußt wird. Camille schrieb mir auch, daß Jeanne und ihre Freundin Barbara Julius sofort in ihr Quidditchteam aufnehmen würden, sobald er wechsle."
"Das habe ich mir gedacht, nach diesem haarsträubenden Spiel an seinem Geburtstag", schnaubte Martha, die sich selbst in eine gewisse Enge gedrängt zu fühlen begann. Offenbar legten es einige Leute in Millemerveilles direkt darauf an, Julius nach Beauxbatons zu befördern, allen voran die Mutter Catherines, dann wohl Claire, dann wohl Jeanne und diese Sportlerin Barbara, vielleicht auch noch Madame Delamontagne, die ihr ja den Besuch in Millemerveilles ermöglicht hatte. Insofern erhob sich die Frage, wer denn hier eigentlich vor Beeinflussung auf der Hut sein mußte?
"Ich habe mir die Hälfte unseres gemeinsamen Kontos überweisen lassen. Damit komme ich locker einmal nach Paris und zurück, um nächste Woche die Geldangelegenheiten zu Ende zu bringen", sagte Martha. Catherine schüttelte den Kopf.
"Ich verlasse mich lieber auf unsere Reisemöglichkeiten, Martha. Flugzeuge können sich verspäten und sind so kompliziert, daß immer was passieren kann. Ich fliege lieber nur auf einem Besen. Doch von allen Möglichkeiten, die wir nutzen können, darfst du nur eine nutzen, und zwar die bezauberten Fahrzeuge. Das kläre ich heute noch mit Mrs. Priestley, daß du morgen früh zu mir gebracht wirst. Eine oder zwei Nächte kannst du bei uns im Gästezimmer schlafen. Das Bett ist ja noch klar. Dann bringt man dich zurück, wo du die Angelegenheiten erledigen kannst, die du erledigen mußt. Wenn alles so abläuft, daß Julius zustimmt, nach Beauxbatons zu wechseln, holen wir dein ganzes Gepäck und lassen die Möbel und Gebrauchsgegenstände von dir bei deinem Exmann abholen", sagte Catherine und sah leicht verschüchtert auf Martha, als sie "Exmann" sagte. Martha Andrews nickte jedoch nur.
"Dann bis morgen!" Wünschte Catherine mit einem Lächeln und disapparierte. Julius' Mutter hob durch Öffnen des Fensters den magischen Klangkerker auf und rief noch mal bei den Porters an, um ihnen auf die Mailbox zu sprechen, daß sie am Samstag gerne mit ihnen an einem für sie zugänglichen Ort sprechen wollte. Dann hörte sie sich noch ein Klavierkonzert im Radio an und legte sich schlafen.
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