Aurora Dawn hat nach dem Erfolg ihres "kleinen Hexengartens" noch ein für Laien verständliches Sammelwerk über leicht zu erstellende Heiltränke verfaßt und geht in ihrem erlernten Beruf auf, der ihr neben neuen Erkenntnissen auch viel Anerkennung bringt. Da sie jedoch den Heilerregeln nach keine lockeren Beziehungen führen darf, hält sie sich privat sehr zurück. Es sieht so aus, als würde sie die nächsten Jahrzehnte auf diese Weise zubringen.
"Hallo Gwen, du altes Reiserholz", freute sich die ältere Hexe mit den leicht silbrig schimmernden schwarzen Haaren, als die sie um einen Kopf überragende Hexe vor ihrer Haustür stand. Gwendolyn Morgan war trotz ihrer fünfundachtzig Jahre noch sehr gut in Form. Ihr rubinroter Schopf fiel ihr auf die breiten Schultern. Ihre Arme und Beine verrieten ständiges Training, und ihr Bauch war nur ein wenig gerundet, obwohl die gute Gwendolyn bereits stolze Mutter und Großmutter war, wie diejenige, vor deren Tür sie stand. Die Besitzerin des abgelegenen Ziegelhauses blickte die Besucherin aus noch klaren, graugrünen Augen an, Augen, deren Aussehen und Form sie an ihren Sohn Hugo und dessen einzige Tochter weitergegeben hatte.
"Oh, meine Nase wittert sehr viel Curry in der Luft. Machst du wieder was asiatisches, Regan?" Fragte Gwendolyn, der man den irischen Akzent überdeutlich anhörte. Die Gefragte nickte sehr eifrig und verriet der Besucherin, daß sie mal wieder Indisches Gemüsecurry machte.
"Was deine Schwiegertochter mal Als Feuerspeimixtur bezeichnet hat?" Fragte Gwendolyn grinsend. Regan grummelte "Genau das. Hugos Frau verträgt nichts scharfes. Das einzige Mal, wo sie meine Küche richtig gewürdigt hat, war während ihrer Schwangerschaft. Offenbar wollte meine Enkelin da schon mal wissen, wie gut ihre Oma kochen kann." Die beiden älteren Damen lachten lauthals. Daran hätte jeder Muggel schon festmachen mögen, daß sie beide Hexen waren.
"Du kannst gerne mitessen. Mein Mann ist in Worcester bei seinen alten Schulkameraden, Männerabend."
"Und für wen außer dir kochst du dann noch?" Fragte Gwendolyn Morgan.
"Hugo kommt gleich rüber. Seine Frau ist gerade in der geheimen Fakultät in Oxford um über neue Interpretationen der Gesetze von Paulinus Flops zu diskutieren. Arithmantik ist immer noch ihr großes Steckenpferd, auch wenn sie nicht mehr in Hogwarts unterrichtet."
"Oh, da wollte ich euch zwei nicht stören, wenn sich Hugo mal wieder an Mummys warmen Herd setzen möchte", meinte Gwendolyn. Doch Regan schüttelte den Kopf. "Der soll ruhig noch andere Wesen sehen als seine Spatzen und Nachtigallen. Komm also bitte rein, Gwen!" Die vor der Tür stehende nickte dankend und überschritt die zehn Zentimeter hohe Türschwelle. Sie hängte ihren wasserabweisenden, herbstlaubgoldenen Reiseumhang an einen freien Garderobenhaken und stellte ihre grasgrüne Handtasche daneben. Jetzt trug sie einen knielangen, nach oben gerafften Rock aus himmelblauen Leinen und eine gleichfarbige Bluse. Außerdem konnte Regan die goldene Kette mit dem Medaillon sehen, das eine gefährlich aussehende Vogelkralle zierte. Es war das Medaillon der amtierenden Kapitänin der goldenen Harpyien.
"Ich habe mir schon gedacht, daß du mich noch mal beehrst", setzte Regan das begonnene Gespräch fort, während sie mit ihrer Besucherin in den mit dunklem Holz getäfelten Salon ging, wo ein Feuer im Kamin brannte. "Es geht ganz sicher um das Spiel am ersten November, nicht wahr?"
"So ist es. Glynnis und Ginger würden dich gerne als dritte Jägerin beim Spiel dabei haben. Hoffentlich ist dein Besen noch fähig, eine Partie auszuhalten."
"Ich habe mit meinem Silberpfeil 4 bis heute keine Probleme, Gwen. Anders als dein angejahrter Sauberwisch 5 steht der noch jedes Wetter aus. Wollte mir eigentlich schon längst von Aurora ihre sagenhafte Doppelachsenwende beibringen lassen. Aber die gute ist ja nun total bei den Aussis eingespannt. Will wohl erst Weihnachten wieder mal zum Familienfest rüberkommen, wenn die sie da weglassen."
"Ich habe dieses Buch von ihr gelesen. Wunderbar. Siobhan Malone meint, damit hätte ihre Tochter in Hogwarts bestimmt den Kräuterkunde-ZAG geschafft. Na ja, kam eben vier Jahre zu spät raus."
"Die hat mir geschrieben, daß sie wohl nicht mehr bei uns mitspielen wird, weil die im Ministerium zu viel Arbeit für sie haben", meinte Regan.
"Tja, nicht jede Harpyie will die silbernen oder goldenen Krallen tragen", seufzte Gwen Morgan. "Ich fürchte, wir sind die letzten goldenen, die noch fliegen wollen und können. Die jüngeren Mädels machen nach der wilden Zeit lieber auf bodenständigen Beruf oder brave Familie. Könnte sein, daß wir in zwanzig Jahren keine goldenen Harpyien mehr haben."
"Glaube ich nicht, Gwen. Es gibt noch zu viele Hexen, die zu viel Fluggwillen im Hinterteil haben, als sich den ganzen langen Rest des Lebens drauf zu setzen und nie wieder anständig nach Quaffeln und Schnatzen zu jagen. Die Kleine, die beim Spiel gegen die Tornados sieben Quaffel durch die Ringe gebracht hat könnte dich in jeder Hinsicht beerben, Gwen. Immerhin kürzt sich ihr Name auch Gwen ab", warf Regan ein und warf einen Blick auf die über dem Kamin thronende Wanduhr, die sie auch für Küchenarbeiten einstellen konnte.
"Gwenog Jones? Jaaa, die ist eine Wucht. Ist wohl mit dem Besen dem Mutterschoß entfahren. Hat deren Hebamme bestimmt komisch geguckt, als sie aus dem Geburtszimmer hinausgezischt ist", scherzte Gwendolyn. "Der alte Slughorn hat sich an sie drangehängt. Offenbar ist der scharf auf Freikarten."
"Sieht dem ähnlich", knurrte Regan. "Bevor die Bitterling auch Zaubertränke gab hatte der doch immer auf ihm wichtig oder begabt erscheinende Leute geschielt um sie einzuwickeln. Aber wenn sie meint, dem alten Walross Freikarten zuspielen zu müssen."
"Ich weiß, du hast immer noch Probleme mit den Slytherins, Regan."
"Weil die sich genausowenig geändert haben wie wir, Gwen", schnarrte Regan. "Aber lassen wir das! Über Semiramis Bitterling will ich besser nicht zu viel reden. Ich kann froh sein, daß meine Enkeltochter bei der nur die guten Sachen gelernt hat, die sie bei denen im Land unten drunter wirklich gebrauchen kann. Aber du wolltest mit mir über das Wohltätigkeitsspiel reden, das nach Halloween angesetzt ist, nicht wahr?"
"Genau, Regan. Wir werden mit Ginger, Glynnis, Rhianon, Gladys und Audrey die alte Hexenbande wieder aufleben lassen, die vier Meisterschaften in Folge geholt hat. Da kriegen wir todsicher viele Zuschauer und entsprechend hohe Spenden rein."
"Die im St. Mungo freuen sich sicher, wenn die mal wieder gold von den goldenen Harpyien kriegen. Und wo geht die andere Hälfte diesmal hin?"
"An den Fond für Witwen und Waisen der Schreckensherrschaft von Du-weißt-schon-wem. Fudge weigert sich ja beharrlich, eine ministerielle Unterstützung für die armen Frauen und Kinder zu bezahlen."
"Hat Angst vor denen, die ihm Honig ums Maul schmieren und vielleicht fürchten, er könne Leute mit viel Gold besteuern, in diesen Fond einzuzahlen", grummelte Regan. "Hast du das auch mitbekommen, daß dieser schleimige Sohn vom alten Abraxas Malfoy immer wieder bei Fudge ein- und ausgeht?"
"Mitbekommen nicht. Aber gehört habe ich das", schnarrte Gwendolyn. "Dieser aalglatte Kerl suhlt sich darin, daß ihm nie was nachgewiesen werden konnte und er sogar auf Entschädigung drängen konnte, weil er vier Wochen in Askaban gehockt hat. Aber genau um uns von solchen dubiosen Zeitgenossen unabhängig zu halten oder sie zumindest dazu zu kriegen, von ihrem wie auch immer zusammengerafften Gold was für gute Taten abzugeben, wollen wir ja spielen", bekräftigte Gwendolyn Morgan.
"Ich muß noch einige Male trainieren, um wieder besenfest genug für die nötigen Ausweichmanöver zu werden. Oder hat sich die alte McFusty damit durchgesetzt, das wir rosarote Knuddelklatscher im Spiel haben?"
"Die fliegt nicht mehr mit. Ihre Tochter Ceridwen hat der gesagt, daß auch beim Altgedienten-Quidditch dieselben Bälle verwendet werden."
"Wobei ihre werte Mummy ganz sicher immer noch ungehalten ist, weil Ceridwen sich einen Muggel zum Vater ihrer Kinder erwählt hat", meinte Regan.
"Die auch noch nach Hogwarts konnten", meinte Gwendolyn. Dann wollte sie noch sagen, daß die Gegner der goldenen Harpyien Roderic Bowman in die Mannschaft zurücklocken wollten, als es im Kamin fauchte und in einem grünen Flammenwirbel ein Mann mit schwarzem Haar in einem waldgrünen Gebrauchsumhang erschien. Als dieser zur Ruhe gekommen war und den erloschenen Kamin verließ sah er die rothaarige Hexe bei Regan, die ihm zuwinkte.
"Ui, du hast noch mehr Besuch bekommen, Mummy?" Fragte er. Regan nickte bestätigend. "Schön, dich mal wieder auf dem Boden zu treffen, Tante Gwen", grüßte er die Besucherin seiner Mutter Regan.
"Seit deinen UTZs brauchst du nicht mehr Tante zu mir zu sagen, das macht mich doch alt, Hugo", erwiderte Gwendolyn. Regan kicherte belustigt. Dann sah sie den grünen Umhang. Ihr Blick wurde kritisch. Hugo wußte, was nun kommen würde. Und es kam:
"Wie oft seit dem Abstillen habe ich dir gesagt, daß du nicht mit verdreckter Kleidung zum Essen zu kommen hast, Hugo. Außer der Asche klebt da ziemlich ekliger Vogeldreck an deinem Umhang. Man merkt, daß in deinem Haus gerade keine anständige Haushaltshexe waltet. Hast du Ersatzkleidung mit?"
"Da ich deine Pingeligkeit wohl schon weit vor meiner Geburt kennenlernen durfte habe ich meinen Sonntagsausgehumhang mit, Mummy", schnaubte Hugo und öffnete den mitgebrachten Rucksack.
"Du gehst bitte ins Bad und ziehst dich da um, Hugo", knurrte seine Mutter sehr entschlossen. Hugo funkelte sie einen Moment an. Doch die unerbittliche Miene der schwarzhaarigen Hexe sagte ihm überdeutlich, daß jeder Protest sinnlos war. So trollte er sich mit dem Rucksack über dem Arm in Richtung Badezimmer.
"Du hast deinen Kleinen aber noch gut im Zug, wenn ich mir überlege, wie frech mir meine zwei Burschen immer kommen", flüsterte Gwendolyn. Regan schmunzelte. Dann meinte sie:
"Der weiß eben noch, was er an mir hat, Gwendolyn. Aber wenn keine Hexe um ihn rumläuft und auf ihn aufpaßt fällt der gerne in jungenhafte Nachlässigkeiten zurück", rechtfertigte Regan ihre Umgangsweise mit dem erwachsenen Zauberer, der selbst eine erwachsene Tochter hatte.
Als Hugo im veilchenblauen Sonntagsumhang aus dem Badezimmer zurückkehrte und ohne Aufforderung seiner Mutter die gründlich gewaschenen Hände entgegenhielt, nickte diese und bat die beiden an den großen Tisch im Esszimmer, wo sie sich über ihre Berufe und Hobbys unterhielten. Sie sprachen auch über Gwendolyns Kinder und Enkel, sowie Hugos Tochter Aurora, die jetzt vollaprobierte Heilerin mit eigener Niederlassung war.
"Warum möchtest du keinen Nimbus 2000, Gwendolyn?" Fragte Hugo die jahrzehnte Lange Mannschaftskameradin seiner Mutter.
"Weil dieses verflixte Flugholz eine Mimose mit Sturmwindgeschwindigkeit ist. Wenn ich nur eine sachte Handbewegung an diesem überzogenen Stecken mache macht der schon fast eine volle Drehung. Ist ja schön, daß der so gut gepolstert ist. Aber ich brauche was zwischen den Beinen, was ich auch wunderbar führen kann. Na, nichts anzügliches denken, Jungchen!" Hugo hatte in der Tat verwegen gegrinst. Seine Mutter und Gwendolyn blickten ihn tadelnd an. Doch Hugo entging nicht das kurze, mädchenhafte Lächeln seiner Lebensgeberin. So sagte er: "Ich denke niemals anzüglich, sondern immer naturbelassen." Regan räusperte sich zwar, konnte ihre Erheiterung jedoch nicht ganz verbergen, während Gwendolyn nun selbst laut loslachen mußte. Dann meinte sie:
"Jedenfalls will ich keinen vorwitzigen Rennbesen fliegen. Meiner ist zwar ein richtiger Regenmuffel geworden. Aber im Zweifelsfall kriege ich den immer noch genau dahin, wohin ich ihn haben will, wenn ich das muß."
"Dann hoffe mal, daß ihr am ersten November keinen Regen habt", sagte Hugo.
"Ruf bloß keinen Drachen, Hugo!" Schnarrte Gwendolyn.
"Ich habe Auroras Nimbus 1700 geerbt. Sie hat jetzt ein paar neue Besen für längere Ausflüge über das Buschland von der thaumaturgischen Drechslerwerkstatt Himmelsstürmer."
"Langsam, aber dafür sehr ausdauernd", meinte Gwendolyn. "Für Quidditch nicht so brauchbar. Dann könnten wir goldenen Harpyien ja wirklich mit Knuddelmuffs an Stelle von Klatschern spielen und statt des Schnatzes diesen Spielzeugkanarienvögeln nachfliegen, die sich manche alten Schachteln als Trällerdinger zulegen."
"Die sind dem Original gut nachempfunden, abgesehen von der Abhängigkeit vom Sonnenlicht", meinte Hugo, dessen Beruf ihn zu einem Kenner aller möglichen Sing-, Greif- und Nachtvögel gemacht hatte. "Aber ich kann dir Auroras Besen ausleihen, Mum, falls du mit der Silberschnecke nicht mehr über die neunzig Stundenkilometer kommst."
"Ich mach aus dir gleich mal eine Schnecke, Jungchen", fauchte Regan. "Mit meinem Silberpfeil stecke ich manchen neueren Besen noch quer unter den Umhang, wirst schon sehen. Solange der mir nicht unter dem Gesäß in Stücke geht reite ich den durch diese und die nächste Partie."
"War nur ein Angebot, Mum. Aurora hat mir extra gesagt, daß sie beruhigt wäre, wenn du einen neueren, besser reagierenden Besen benutzen könntest."
"Wenn ich einen Nimbus wollte hätte ich schon den 2000er, Hugo", erwiderte Regan. "Aber die Tradition der goldenen Harpyien sagt, daß sie solange einen Besen fliegen, den sie auch als wilde und als silberne Harpyien fliegen konnten, bis dieser nicht mehr fliegen will. Und ich habe meinen guten Silberpfeil immer wieder gut überholen lassen, wie du weißt. Die Flugzzauber und die Steuerung sind tadellos, und die Polsterung hält mich auch noch aus", erwiderte Regan etwas verdrossen, weil Hugo meinte, ihr unbedingt einen neueren Besen aufhalsen zu wollen. Da Hugo den Sturkopf seiner Mutter nicht nur kannte, sondern in einigen Punkten auch von ihr geerbt hatte beließ er es dabei und ließ sich lieber darauf ein, die für alle außerhalb der Familie freigegebenen Neuigkeiten seiner Tochter zu schildern. Gwendolyn sah Regan und Hugo einmal verwegen an und meinte:
"Nur so'n Pech, daß das mit Enkeln und Urenkeln dann wohl nichts wird, weil die Heiler so strenge Verhaltensgesetze haben."
"Sie darf Kinder bekommen. Sie muß nur bei den Heilern anmelden, wer der Vater ist und sich von denen bestätigen lassen, daß er mit ihr zusammen leben darf, weil die als Vorbilder dienen und die Heiler recht konservativ sind, was althergebrachte Lebensbeziehungen angeht", sagte Hugo.
"Aber dieses Paar aus Muggelstämmigen hat schnell noch geheiratet und das erste Kind auf den Weg gebracht", meinte Regan. Ihr Sohn nickte und bestätigte es auch mit Worten. Er räumte jedoch ein, daß die beiden vor Antritt der Heilerausbildung von ihm geheiratet hätten. Er schnaubte, daß Aurora sicher auch schon längst vor der Ausbildung wen gefunden hätte, wenn das mit diesem Bernhard Hawkins nicht so eine Enttäuschung geworden wäre. Andererseits sei er der Letzte, der seiner Tochter zu raten habe, sich lieber um Nachwuchs statt um ihre Eigenständigkeit zu kümmern. Dann bestand er darauf, besser wieder andere Themen zu besprechen.
Nach einem langen Abend nahm Hugo fünf Freikarten von seiner Mutter mit, eine für seine Frau und sich, und drei für seine Schwägerin June, deren Mann und deren Sohn Philipp, der neben seiner Anstellung in der Geisterbehörde auch noch gerne Quidditch spielte.
"Dann üb mal schön bis zum ersten November, Regan, damit wir die alte Riege der Tornados richtig niedermachen können!" Gab Gwendolyn Morgan ihrer langjährigen Mannschaftskameradin noch mit auf den Weg, bevor sie außerhalb der magischen Grundstückssicherung disapparierte.
Frühling im Oktober. Für die nun ordentlich in ihrem Beruf angekommene Heilhexe Aurora Dawn war das nun schon so normal wie Laufen und atmen. Sie genoß es, wenn die Pflanzen im weiten Umland von Sydney die Sonnenschwäche des Winters abschüttelten und unter der noch gnädigen Kraft des feurigen Tagesgestirns zu wachsen und zu blühen begannen. Einige magische Pflanzen bildeten nur im Frühling ihre stärksten Wirkstoffe aus. Das wußte Aurora. Vor allem Alraunen neigten dazu, kurz vor ihrer Endgröße noch erhebliche Wachstumssäfte in ihren menschenförmigen Körpern auszubilden. Manchmal bedauerte es die Heilerin, die gerade erst ausgewachsenen Pflanzen endgültig zu entwurzeln und zu entsaften, wobei diese noch laute Schreie ausstießen, die Aurora sicherlich schon längst getötet hätten, wenn sie keine absolut schallschluckenden Ohrenschützer getragen hätte. Sie kam sich beim Strampeln der aus der Erde gezogenen adulten Alraunen wie eine Metzgerin vor, die die fettesten Schweine, Lämmer oder Rinder auswählte. Doch das waren nur Pflanzen. Auch wenn sich Alraunen in einigen Punkten ähnlich verhielten wie heranwachsende Menschen waren es nur Pflanzen, die nebenbei für jeden ungeschützten Menschen brandgefährlich werden konnten.
Aurora hatte gerade wieder fünf erwachsene Alraunen aus ihrer Zucht herausgeholt und ihres Saftes und damit ihres Lebens beraubt, als ihr Heilerarmband vibrierte. Das war ein Notruf. Sie mußte sofort darauf reagieren. So schnell sie konnte verließ sie ihr schalldichtes Gewächshaus, warf die Ohrenschützer auf ein draußen aufgebautes Gestell und vollführte den Schnellankleidezauber und eine Apportation, um ihre Einsatztasche an sich zu nehmen. Dann erkundete sie, woher der Ruf kam und konzentrierte sich, in diese Richtung und Entfernung zu disapparieren. Mit leisem Plopp verschwand sie von ihrem Grundstück, das nur sie als apparitions- und disapparitionsberechtigte Person anerkannte.
Aurora traf noch rechtzeitig ein, um den mit Bundabundosäure verätzten Zauberer vor ihren Kollegen von der Sana-Novodies-Klinik zu finden. Das magische Tierwesen lag von einem Armbrustbolzen getroffen am Boden und regte sich nicht mehr.
"Ich habe vergessen, daß die noch einmal spritzen, bevor sie ganz tot sind", stöhnte der lädierte Jäger, während Aurora mit einem Wasserstrahl die hochätzende Säure von seinen Beinen und Füßen spülte. Seine Haut und einige Zentimeter Muskelfleisch wurden dabei mit fortgespült, weil die Abwehrsäure der Bundabundos sie schon zu sehr zersetzt hatte. Der Jäger schrie laut auf. Aurora sorgte mit einem Lokalbetäubungszauber dafür, daß er die höllischen Schmerzen nicht mehr spürte.
"Kriegen wir den oder kriegst du den alleine hin?" Fragte Heiler Gnoll, der mit einem Kandidaten im dritten Ausbildungsjahr dem Notruf gefolgt war.
"Der muß in die Tierunfallabteilung rein, vollständige Gewebeerneuerung. Zum Glück wirkt die Säure nicht auf magische Weise, sonst könntet ihr den gleich für eine Prothesenanpassung anmelden."
"Hat den Perimortaldeffensivreflex nicht eingeschätzt", meinte Gnoll und zeigte seinem Auszubildenden die schweren Verätzungen. Der junge Zauberer verzog das Gesicht und schien sichtlich mit einem Würganfall zu ringen. "Das kriegen wir hier immer wieder zu sehen, Jack. Da mußt du entweder mit leben oder um Beendigung der Ausbildung bitten", erwiderte Gnoll und bereitete den schwerverletzten Patienten für den Abtransport vor.
"Moment, der Bundabundo", wies der Patient auf das blaubepelzte, raupenartige Wesen hin. "Ich bestehe darauf, das Fell von dem zu kriegen."
"Nehmen wir vielleicht als Anzahlung", sagte Heiler Salyx Gnoll verschmitzt grinsend. Dann meinte er jedoch: "Wo dieses kleine Kerlchen sein Fell teuer verkauft hat sehe ich es ein, daß Sie es teuer weiterverkaufen wollen, Sir. Aurora, du bekommst einen bericht für deine Buchführung."
"Das ist nett, Salyx", sagte aurora Dawn ruhig und half den Kollegen, den Patienten auf eine Trage zu betten. Den erlegten Bundabundo packten sie in einen Sack ein und beschrifteten ihn mit dem Namen des Patienten, damit er sich diesen nach erfolgreicher Heilung mit seinen anderen Sachen aus der Aufbewahrung abholen konnte. Dann disapparierten die beiden Heiler zurück in die Klinik, wo alle neuen Heiler ausgebildet wurden und eine Vielzahl von Experten die stationären Fälle betreuten. Aurora blickte noch einige Sekunden auf die Stelle, an der ihre Kollegen verschwunden waren. Sie hatte damals die Wahl gehabt, im Notfalltrupp oder einer anderen Abteilung zu bleiben. Doch sie wollte als niedergelassene Heilerin arbeiten. Bisher bereute sie das nicht. Doch ab und an fragte sie sich, ob es nun wirklich die nächsten hundert Jahre so weitergehen würde. Dann war sie immer wieder darauf gekommen, daß sie immer wieder etwas neues lernte und zwischendurch auch in andere Länder reisen konnte. Eine Hexe, die ihr Leben der Familienfürsorge widmete, war schlimmer dran als sie, wenn sie nur für das Wohl von Mann und Kindern dazusein hatte. Sie hatte sich wirklich das für ihre Interessen und Fähigkeiten bessere Leben ausgesucht. Als ihr das wieder klar war, apparierte sie auf ihrem Grundstück und füllte den ausgepreßten Alraunensaft in dafür vorgeschriebene Behälter um. Bisher hatte sie keinen ambulanten Patienten getroffen, der dieses hochwirksame Mittel benötigt hatte. Doch sie konnte es gut gegen andere für sie wichtige Zutaten bei der Klinik eintauschen. So notierte sie sich die gesamte Menge des Alraunensaftes und verfaßte eine Anmeldung bei der Heilerzunft, daß sie nun über diese Menge verfügte und für den ambulanten Gebrauch wohl nur ein Zehntel davon benötigte. Dann klingelte jemand an ihrer Tür.
"Hallo Clayton", grüßte Aurora den knapp vierzig Jahre alten Zauberer mit kastanienbraunem Haarschopf. "Ist etwas ernstes?"
"Nichts wirklich fieses, Aurora. habe mich beim Wadditch nur mit einer Seewespe verheddert und mußte die letzte Dosis von diesem Breitbandgegengift runterschlucken, um nicht vom Wellenläufer zu fallen. Die Wächter haben gepennt und die Qualle nicht rechtzeitig gesehen. Die werden mir das Zeug bezahlen."
"Da haben Sie Glück, Clayton. Ich habe genug da, um Ihnen eine kleine Flasche abzufüllen. Sie sollten sich nesselfeste Badekleidung zulegen, um diese gefährlichen Tiere nicht fürchten zu müssen."
"Zu teuer, kriegen nur die Profis", knurrte der Zauberer. "Ich kann ja schon froh sein, daß die Schlafmützen das Krok rechtzeitig gesehen haben, daß mir den Ball anknabbern wollte. Wenn mich das erwischt hätte wäre ich ein Fall für Ihre Kollegen in der Sano geworden."
"Sie wissen doch, Clayton, daß Ministerin Rockridge gerade daran arbeitet, die Freizeit-Wadditch-Bestimmungen zu ändern, daß sie Ohne Heiler nirgendwo mehr spielen dürfen."
"Hat immer geklappt, wenn die Wächter im Wachboot gut genug aufpaßten, Aurora. Und so viele von Ihnen laufen ja nicht herum, die mal eben bei einem Spiel aufpassen können", murrte Clayton. Aurora nickte. Sie hatte diesem Wadditch, einer zu Wasser gespielten Abwandlung des Quidditchsportes, keine rechten Sympathien abgewinnen können. Die Spieler setzten sich immer der Gefahr aus, von bissigen oder giftigen Meeresbewohnern gestört und angegriffen zu werden. Aber genau das machte die Anhänger dieses Sportes so wild darauf, auf den Schwimmbrettern herumzuflitzen und sich einen Spielball zuzuwerfen, während zwei bezauberte Bälle, die Platscher, immer wieder starke Wellen oder Fontänen erzeugten. Doch sie hatte sich angewöhnt, ihren Unmut nicht mehr so überdeutlich zu zeigen. Wer Quidditch spielte schwebte wortwörtlich immer in großer Gefahr, mit anderen Spielern zusammenzustoßen, einen Klatschertreffer abzubekommen oder den Halt auf dem Besen zu verlieren. Da sie selbst immer noch gerne Quidditch spielte durfte sie den Wadditchern also keine Vorhaltungen machen. So gab sie Clayton eine Achtelliterflasche mit Dosierhahn und kassierte von ihm die dafür gültige Summe ab. Denn wenn niemand akut von einer Vergiftung bedroht wurde galt das Breitbandgegengift nicht als Medikament im Rahmen der Heilerfinanzierung sondern als freiwillige Vorsorgemaßnahme. Als Clayton wieder fortgegangen war klopfte eine Eule an das Fenster ihres Schreibzimmers. Aurora ließ den hier gezüchteten Waldkauz herein und nahm ihm den Umschlag ab. Es war eine Mitteilung von Daphne Greenlief, der amtierenden Schulkrankenschwester von Redrock. Dieser hatte Aurora vor Beginn des laufenden Schuljahres schreiben müssen, daß die gerade erst fünfzehn Jahre alte Tochter einer Familie knapp zehn Kilometer von ihrem Haus entfernt offenbar in den ersten Wochen Schwanger sei, weil diese wohl mit einem Muggeljungen aus der Umgebung ihre Weiblichkeit entdeckt habe. Madam Greenlief schrieb nun zurück, daß das Mädchen sich den aufgegebenen Anordnungen sehr willig fügte und in ihrem Haus Owlstreak genug Unterstützung gefunden habe, allerdings vor den Shadelakern auf der Hut zu sein habe, die ihr Blutsverrat unterstellten. Der Schulleiter habe im Zuge der mit einer Schwangerschaft einhergehenden Beschwernisse verfügt, daß das Mädchen vorerst eine Klasse zurückgestuft würde, um sich und das Ungeborene nicht zu gefährden. Welches Geschlecht das Kind besitze sei ja erst zur Weihnachtszeit zu ermitteln, wo die Schülerin zu ihren Eltern in Auroras Revier zurückkehrte. Die niedergelassene Heilerin würde vorher mit den Eltern des Mädchens den bisher ahnungslosen Kindsvater aufsuchen und mit ihm und dessen Familie klären, wie das mit dem Sorgerecht geregelt würde. Das würde für sie eine sehr wichtige Erfahrung, weil sie bisher nur in ehelichem Einverständnis gezeugte Kinder zu betreuen hatte. Vielleicht ergab sich aus dieser außergewöhnlichen Situation etwas, wofür sie ihre Muggelkundekenntnisse benötigte. Das hatte sie auch den Eltern gegenüber erwähnt, die erst darauf bestanden hatten, das Kind zu entfernen, was Aurora natürlich abgelehnt hatte, da die Heilergesetze jedes Menschenleben für unverletzlich erklärten und ein gerade erst gezeugtes Kind bereits dieses Schutzrecht beanspruchen durfte. Damit hatte sie, Aurora, sich allerdings für das weitere Schicksal von Mutter und Kind mitverantwortlich gemacht. Sollte der Junge, der ebenfalls noch einige Jahre auf seine Volljährigkeit hinwachsen mußte, mit der Situation überfordert sein, zumal die Kindsmutter ihm wohl irgendwann erklären müsse, daß sie eine Hexe sei? Oha, Den Eltern des Jungen könnte einfallen, daß das Mädchen ihren Sohn behext hatte, sie in andere Umstände zu versetzen, und ganz ausschließen konnte Aurora das nicht, bis sie wußte, wie der Junge die Situation erlebt hatte. Doch vorerst hatte sie mit den alltäglichen Dingen wie Allergien, Erkältungen und leichteren Verletzungen zu tun.
"Oma Regan bekam Besuch von ihrer alten Kameradin Gwen Morgan", hörte sie ihre eigene Stimme von der Wand her. Dort hing ihr Vollportrait, von dem mehrere Kopien existierten, über die sie Kontakt mit ihrer Familie und Hogwarts halten konnte.
"Und, will Oma Regan wieder spielen?" Fragte die Aurora aus Fleisch und Blut.
"Gwen hat ein offenes Portal so groß wie das von Hogwarts eingerannt", sagte die gemalte Version der Heilerin. "Daddy war auch da und hat erzählt, daß du wohl so schnell keine eigenen Kinder kriegen wirst."
"Der ist lustig. Ich habe genug werdende Mütter um mich herum, die ich betreuen darf. Eine davon ist ja gerade in Redrock."
"In Hogwarts ist soweit noch alles ruhig. Dieser Schönling Lockhart hat nach der Panne mit den Wichteln drauf verzichtet, echtes Ungezifer in den Unterricht zu bringen und hält nur noch Vorträge über seine Bücher."
"Ach du meine Güte, daß Dumbledore den eingestellt hat", grummelte Aurora. "Na ja, aber wenn sonst keiner wirklich wollte, bei dem Fluch, der auf dem Fach liegt."
"Der hat den Viertklässlern heute die Story von seiner Homorphus-Bezauberung des Wagga-Wagga-Werwolfs erzählt, die er vor vier Jahren ausgeführt hat."
"Das hätten wir aber hier unten drunter mitkriegen müssen", warf Aurora ein. "Wenn es einen Zauber gibt, der Werwölfe trotz Mondlicht in Menschen zurückverwandelt und in menschlicher Gestalt belassen kann wäre das die Schlagzeile des Heilerheroldes. Prüft das keiner nach, was der da so daherredet?"
"Offenbar nicht, weil Dumbledore wohl keine rechte Lust hat, sich mit dem Liebling aller unbedarften und jungfräulichen Hexen Großbritanniens anzulegen, wenn er für den keinen Ersatz kriegt."
"Dann müßte ich diesen Typen ja anbeten", knurrte Aurora. "Aber ich fürchte, da haben die einen Angeber zum wichtigsten Lehrer von Hogwarts gemacht, seitdem das mit dem Stein der Weisen passiert ist und klar ist, daß Du-weißt-schon-wer doch nicht ganz aus der Welt ist."
"Schreib doch Professor Dumbledore an und frage ihn, ob du als Heilerin in Australien von Lockhart einen ausführlichen Bericht über die Begebenheit inklusive genauer Beschreibung des von ihm ausgeführten Zaubers erhalten kannst!" Schlug das gemalte Ich dem Original vor.
"Wenn ich von Lockhart ein Autogramm haben möchte werde ich das auch ganz offen erbitten und hoffen, nicht all zu weit hinten anstehen zu müssen."
"Kannst du vergessen. Harry Potter mußte einmal Lockharts Fanpost sortieren. Sind wohl sehr sehr viele Anhänger, die seine großen Leistungen und sein nicht gerade schlechtes Aussehen bewundern."
"Ist ja gut, daß gemalte Mädels nichts mit lebenden Zauberern anfangen können, sonst müßte ich dich am Ende noch in einen größeren Rahmen einspannen, weil du dich von diesem Bücherhelden hast schwängern lassen", stieß die wirkliche Aurora verächtlich aus.
"Geht sowas, ähm, daß eine gemalte Hexe ein Kind bekommen kann?" Fragte die gemalte Ausgabe.
"Soweit ich das von Oma Regan weiß nicht, weil Bild-Ichs eben nur in dem Zustand existieren, in dem sie gemalt wurden. Da sie von ihren Originalen entkoppelt existieren können sie nicht mit denen zusammen alt werden oder eigene Kinder bekommen. Es sei denn, sie wurden in anderen Umständen gemalt. Aber dann müssen sie wohl immer mit rundem Bauch herumlaufen."
"Da habe ich ja Glück, daß mich dieser andere Aufschneider, dieser Cadogan nicht entsprechend verändern kann", erwiderte die gemalte Aurora. Dann meinte sie noch, daß Petula wohl in einer Sinnkrise stecke, weil ihre Schwester Priscilla schon Kind Nummer Zwei erwarte und sie, Petula, noch nicht einmal einen festen Freund habe. Die Aurora aus Fleisch und Blut lachte nur und gab ihrem Bild-Ich für die Schulfreundin mit, daß sie trotzdem ein erfolgreiches Leben führen könne. Dann schrieb sie eine kurze Antwort für Schulheilerin Greenlief und beendete ihren Arbeitstag.
24. Oktober 1992
Hallo Wendy!
Heute war wieder viel los. Ein ziemlich übles Magen-Darm-Virus hat die Gäste einer Geburtstagsfeier heimgesucht und schweren Durchfall und Erbrechen hervorgerufen. Ich habe Proben der Ausscheidungen an die Kollegen in der Sano geschickt und mit Magentrost und Stopftrank behandelt, um den Flüssigkeitsverlust zu stoppen. Um selbst nicht von dem Erreger niedergeworfen zu werden habe ich prophylaktisch eine Dosis Keimbanntrank geschluckt und auf ein zehntel verdünnten Stopftrank eingenommen. Zumindest mußte ich die Gäste nicht alle zur Sano schicken, auch wenn einer meinte, den Notruf benutzen zu müssen, weil er meinte, durch den Enddarm zu verbluten. Ich konnte ihn und Reno Clearmorrow jedoch beruhigen, das der Aufruhr halb so schlimm sei und wir dieses Jahr schon einige Patienten mit ähnlichen Krankheitsanzeichen behandelt haben. Jedenfalls waren es fünfzig Leute, die behandelt werden mußten. Werde demnächst neuen Magentrosttrank und Stopftrank nachbrauen müssen, um den vorgeschriebenen Vorrat für niedergelassene Heiler zu haben.
In dem ganzen Chaos aus bleichen, von Schmerzen geplagten Leuten und ihren nicht gerade nasenfreundlichen Ausscheidungen bekam ich die Bitte der Pinewoods fast nicht so recht mit, mit ihnen gleich morgen zu diesen Jenkins' zu reisen, deren Sohn die halbwüchsige Bromelia in andere Umstände versetzt hat. Bin mal gespannt, wie wir das den Muggeln klarmachen können. Sicher kaufen die uns das nicht gleich ab, ohne von einem derer Ärzte erstellte Diagnose. Da werde ich wohl mehr Überzeugungsarbeit leisten müssen als sonst. Für den Fall, das das Magen-Darm-Virus neue Opfer findet habe ich den Pinewoods klargemacht, daß ich jederzeit verschwinden muß, falls das Armband zittert. Ob wir den Muggeln bis dahin beigebracht haben, daß die Pinewoods und ich zaubern können darf mich nicht daran hindern, meine Pflicht als niedergelassene Heilerin auszuüben. Ich erzähle dir dann morgen, wie es gelaufen ist. Gute Nacht, Wendy!
Die Pinewoods lebten in einem kegelförmigen Haus von knapp sieben Metern Höhe. Aurora hatte bei ihrer Reise zur Pflanzenerforschung in Afrika Termitenbauten gesehen, die dem Haus der Pinewoods ähnelten. Nur lebten in dem nun vor ihr liegenden, schneeweiß glänzenden Gebäude keine Millionen Einzelwesen, sondern gerade einmal zwanzig Personen aus drei Generationen. Auf dem Scheitelpunkt des Kegelbaus erschien gerade der alte Aurivillius Pinewood, ein Zauberer mit mondlichtfarbenem Haarkranz und Vollbart, um die Morgensonne zu genießen. Aurora winkte ihm zu.
"Ach, die junge Kräutermischerin kommt!" Rief Aurivillius erheitert. "Fab, Mag, eure Besucherin ist da!"
"Hallo, Mr. Pinewood. Geht es Ihnen und Ihrer Frau auch gut?" Grüßte Aurora. Sie wußte, daß Melissa Thornapple die beiden schon die ganze Zeit als niedergelassene Heilerin betreut und deren Kindern und Enkeln auf die Welt geholfen hatte.
"Meine Frau ist gerade im Westen bei ihren anderen Enkeln in Melbourne, Ms. Dawn", sagte der alte Pinewood, als sich vor dem Kegelbau eine geschickt getarnte Luke im Boden auftat und ein Kopf mit erdbraunem, wild wachsendem Schopf daraus emporragte.
"Ah, schön, Aurora. Sie sind pünktlich. Meine Frau zieht sich gerade muggelweltmäßig um. Problem ist nur das Geld von denen. Ich hörte mal sowas, daß die Muggel bemalte Papierschnipsel statt Gold zum Bezahlen benutzen. Wenn wir zu diesen Jenkingsens hinwollen brauchen wir wohl dieses Papierzeug."
"Ist kein Problem. Die Gringotts-Kobolde geben Muggelgeld gegen Galleonen heraus, weil die Eltern von Muggelstämmigen es gegen Galleonen tauschen, um in der Sonnenstrahlstraße einkaufen zu können", sagte Aurora, die heute keinen Umhang, sondern ein Kostüm aus wadenlangem, blauen Rock und heller Bluse trug. Um den Flugwind aushalten zu können hatte sie sich eine dünne, himmelblaue Jacke übergezogen. Damit konnte sie in Muggel- und Zaubererwelt für anständig bekleidet durchgehen. Sie wartete, bis Fabricius Pinewood der Bodenluke entstiegen war und sich in seinem irgendwie sehr zerknitterten, dunklen Anzug mit weißem Stehkragenhemd und einer schief sitzenden, mitternachtsblauen Krawatte präsentierte. Normalerweise trug auch Fabricius einen Vollbart. Doch diesen hatte er auf Auroras dezenten Hinweis hin aus dem Gesicht geschabt, weil sie ihm geschrieben hatte, daß die meisten Muggelmänner bartlos herumliefen.
"Wie haben das Ihre Eltern und Ihre Geschwister aufgenommen, daß Bromelia ein Kind erwartet?" Fragte Aurora Dawn.
"Das Brommy nicht mehr alle beisammen gehabt haben kann", erzählte Fabricius. Außer meiner Schwester Ammy würden sie es lieber haben, wenn Brommy diesen Trank der folgenlosen Freuden schluckt und das Balg ins Klo spült. Der Meinung sind wir eigentlich immer noch, wie Sie ganz genau wissen."
"Und wie Sie ebenso von mir wissen darf und will ich einen derartigen Eingriff weder erlauben noch durchführen, Mr. Pinewood", bekräftigte Aurora ihre Heilerinnenansicht. "Das Kind hat sich nicht ausgesucht, welche Eltern es bekommt. Oder haben Sie sich Ihre Eltern ausgesucht?"
"Ich weiß, daß Sie da unerbittlich sind, Aurora", knurrte Fabricius, während er mit dem Sitz seines Schlipses kämpfte. Aurora sah eher auf die wilde Zottelmähne des Zauberers. "Den Bart haben Sie abrasiert. Aber Sie sollten auch, um einen vorzeigbaren Eindruck zu machen, ihr Haar etwas glatter und kürzer machen, Fabricius", schlug Aurora dem Zauberer vor. Da tauchte gerade eine Hexe im grünen Kleid mit hellblondem, seidenweichen Schopf aus dem Boden auf.
"Siehst du, Fab, sagt die junge Ms. Dawn dir auch, daß du deine wilde Mähne wohl besser zähmst, bevor wir in die Muggelwelt gehen und da womöglich Leuten was von unserer Welt erzählen müssen. Die glauben nachher noch, die wären besser zivilisiert als wir", sprach die Hexe mit leicht ungehaltener Betonung und zog ihren Zauberstab. "Ich kann dir die Haare auch mal eben machen."
"Das ihr Frauenzimmer immer meint, nur auf's Aussehen käm's an", grummelte Fabricius. "Wichtiger ist, daß wir diesen Leuten klarmachen, daß deren Sohn unsere Bromelia geschwängert hat und wie die damit klarkommen."
"Ja, und sie könnten finden, daß ein Kind, dessen Großvater wie ein Straßenhund herumläuft irgendwann selbst mal so rumlaufen könnte und jede Verantwortung für das Kind ablehnen. Ich weiß eh nicht, warum wir uns mit diesen Leuten auseinandersetzen sollen", sagte Magnolia Pinewood, die Mutter der werdenden Mutter. Aurora sah beide an und erwähnte, daß jedes Kind das Recht habe, über beide Elternteile informiert zu sein und es zur gesunden Entwicklung gehöre, über beide Elternteile bescheid zu wissen und daher auch bei Vätern aus der Muggelwelt Klarheit zu schaffen sei.
"Und wenn diese Leute genau das sagen, was wir Ihnen und dieser alten Schrulle Greenlief auch immer wieder gesagt haben? Das, was da in unserer Brommy heranwächst kann noch kein Mensch sein und unterliegt damit nicht den üblichen Regeln für Menschen. Warum also dieses ganze Theater?" Schnarrte Mr. Pinewood.
"Wenn sie einen Kirschkern in Erde graben, wollen Sie doch einen Baum Pflanzen, oder. Aber Sie haben dafür nur einen Kern eingegraben", erwiderte Aurora ganz ruhig. "In dem Kern steckt schon alles drin, was aus dem Kern einen großen Kirschbaum macht. Das einzige, was er dazu braucht ist Wasser, Mineralien und viel Sonnenlicht. Ebenso ist in einem befruchteten Ei bereits alles drin, was einen Menschen zum Menschen macht. Also ist ein im Mutterleib erfolgreich eingenistetes Ei als vollwertiger Mensch zu sehen. Ich bin mir absolut sicher, Ihnen diese Festlegung bereits schon einmal erläutert zu haben. Also vergeuden Sie nicht Ihre und meine Zeit mit diesen Ausflüchten!"
"Wenn ich von Ihrer obersten Chefin nicht schon längst zu hören bekommen hätte, daß diese Ansicht die offizielle Meinung aller Heiler ist ...", brummte Mr. Pinewood und machte eine flüchtige Handbewegung zu seinem linken Ohr. Aurora wußte bereits von der Sprecherin der australischen Heilerzunft, daß sich Pinewood über sie, Aurora, beschwert und einen Heiler verlangt hatte, der den von ihm bevorzugten Schwangerschaftsabbruch vornehme. Die werte Laura Morehead hatte dem offenbar neben jeder Höflichkeit formulierenden Mr. Pinewood daraufhin eine unüberhörbare Antwort im scharlachroten Umschlag zukommen lassen. Aurora Dawn setzte deshalb noch einen drauf und sagte: "Sie können dieses ungeborene Kind nicht dafür zum Tode verurteilen, weil Sie versäumt haben, Ihre Tochter Bromelia früh genug über die sich entwickelnden Funktionen ihres Körpers aufgeklärt und entsprechende Verhaltensregeln aufgestellt zu haben. Das Kind kann am allerwenigsten für seine Existenz. Aber auch das haben wir schon mal besprochen, wenn ich mich recht erinnere." Mrs. Pinewood nickte verlegen dreinschauend. Der Vorwurf, die eigene Tochter nicht früh genug aufgeklärt zu haben galt wohl vordringlich ihr. Um sich von der Verlegenheit abzulenken beharrte sie darauf, daß Fabricius seine Haare nicht wie eine wilde Zottelmähne zur Schau trug und hantierte mit Haarkürzungs- und Kämmzauber am Kopf ihres Mannes, bis dieser kurzes, glatt anliegendes Haar besaß. Mit gewissem Unmut befühlte Fabricius seinen Schädel und meinte, daß das wohl genügen sollte. Dann rief Aurora zum Aufbruch.
Zunächst ging es in die Sonnenstrahlstraße, wo sie in der dortigen Gringotts-Filiale mehrere hundert Galleonen abholten und am Schalter für Tauschwerte in australische Dollar umtauschten. Natürlich behielten die Kobolde dabei etwas von dem Gold als Bearbeitungsgebühren ein, was Fabricius Pinewood sichtlich verärgerte. Er sah Aurora mit einem fordernden Blick an, als wolle er sagen, daß die Heilerzunft ihm das Gold ersetzen möge, weil er es ja nur deshalb ausgegeben habe, weil seine Tochter von diesen Besserwissern gezwungen würde, ein ungewolltes Kind zu bekommen. Doch Aurora ignorierte den Blick des künftigen Großvaters mit einer in den Jahren ihrer Ausbildung mühsam erworbenen gleichgültigkeit. Immer wieder hatte es Patienten gegeben, die für ihre Krankheiten Schuldige gesucht hatten und die Heiler immer wieder dumm angeblafft hatten, weil diese nicht schnell genug Abhilfe schaffen konnten.
"Noch etwas wichtiges, Mr. und Mrs. Pinewood. Bevor wir in die Muggelwelt gehen händigen Sie mir bitte vorübergehend Ihre Zauberstäbe aus, weil ich sie in meiner muggelsicheren Handtasche verbergen möchte. Es könnte durchaus passieren, daß jemand uns überprüft. Dann sollte er oder sie die nicht finden und wegnehmen können."
"Ich gebe meinen Zauberstab nicht aus der Hand, Ms. Dawn", schnarrte Mr. Pinewood. "Wenn uns die Muggel dumm kommen will ich mich wehren können."
"Sie meint, wir würden unnötig auffallen, wenn uns einer von denen genauer ansieht und die Stäbe bei uns sieht", erwiderte Mrs. Pinewood und übergab Aurora ihren Zauberstab. Ihr Mann sah sie dafür so an, als habe sie gerade den Verstand verloren. Aurora hielt ihre Hand auf. Doch Fabricius Pinewood schüttelte den Kopf. So blieb ihr nur, ihre Handtasche zu öffnen und ihren eigenen Zauberstab und den von Mrs. Pinewood darin zu versenken. Die Tasche hatte sie gegen neugierige Muggel mit Ich-seh-nicht-recht-Zaubern belegt, die vorgaukelten, darin nur Lippenstift, Nagelfeilen und eine Puderdose zu erblicken. Mr. Pinewood beharrte auf seinem Vorrecht, seinen Zauberstab behalten zu dürfen, solange er damit nichts verbotenes ausgeführt hatte. Aurora schloß ihre Tasche wieder und nickte.
"Wo wohnen die Eltern von diesem Jüngelchen nun?" Wollte Mr. Pinewood wissen, als Aurora keine Anstalten machte, auf seinen fordernden Blick einzugehen.
"Etwa einen Kilometer westlich vom Opernhaus mit einem guten Blick auf die Hafenbrücke", erwiderte Aurora Dawn. Wir apparieren am besten am westlichen Stadtrand und nehmen ein Taxi, also ein Kraftfahrzeug der Muggel, das Leute, die sowas nicht selbst fahren können oder wollen durch die Stadt zu einer gewünschten Adresse fährt."
"Für umsonst?" Fragte Mr. Pinewood. Aurora mußte den Kopf schütteln und erklärte, daß es sich hierbei um eine kostenpflichtige Dienstleistung handele, die entweder nach zurückgelegter Strecke oder benötigter Zeit verrechnet werde.
"Trotz dieser Antwort von Ihrer obersten Dienstherrin sage ich jetzt schon mal an, daß Ihre Zunft mir jede unnötige Bezahlung zurückzahlen wird, klar?"
"Ich denke, das klären Sie dann besser nach der Rückkehr mit Madam Morehead persönlich. Ich habe derzeit genug andere Sachen zu erledigen", wehrte Aurora diese Forderung ab. "Aber wie Sie darauf bestehen, für Ihre Arbeit bezahlt zu werden, so müssen Sie auch den Muggeln zugestehen, daß sie für ihre Leistungen bezahlt werden möchten und daß die Kraftwagen der Muggel mit einer Flüssigkeit gefüllt werden müssen, die den magie- und zugtierlosen Antrieb ermöglicht. Dieser sogenannte Treibstoff ist nicht gerade leicht herzustellen und deshalb auch nicht billig."
"Sie können sich tarnen, Ms. Dawn. Also können sie auch einen Punkt finden, an dem wir unbeobachtbar apparieren können", meinte Mrs. Pinewood, die auf die Geldscheine in der Hand ihres Mannes sah. Aurora erwiderte, daß er genug umgetauscht habe, um eine Taxifahrt durch Sydney hin und zurück bezahlen zu können. Mr. Pinewood nickte. Dann verließen sie die Sonnenstrahlstraße zur Muggelwelt hin. Aurora hatte sich längst einen Stadtplan besorgt. Sie bemerkte natürlich, wie heftig die Pinewoods unter dem Getöse der an ihnen vorbeifahrenden Automobile litten. Brummend, knatternd und zwischendurch ihre Warnlaute ausstoßend bahnten sich die großen und kleinen Fahrzeuge ihren Weg und bliesen blaue Dunstfahnen aus den Rohren an ihren Hinterteilen in die Luft. Magnolia Pinewood kniff sich ein ums andere Mal in die Nase, wenn ein meterlanger Lastentransporter an ihnen vorbeiratterte. Aurora deutete auf einen Platz, über dem ein großes Schild TAXI buchstabierte und große, weiße Wagen bereitstanden.
"Wir sollen jetzt auch in so ein Gefährt da reinklettern?" grummelte Mr. Pinewood. Aurora erkannte, daß sie den beiden besser vorher noch einige kurze Erläuterungen zu den Städten der Muggelwelt hätte geben sollen. wie sollten zwei Zauberer vom Lande, die nur die magische Welt kannten so plötzlich alles begreifen, was hier um sie herum normal war? Doch dann erinnerte sie sich, daß die beiden jede Unterweisung in allgemeiner Muggelkunde strickt abgelehnt hatten und nur darauf bestanden, mit den Eltern dieses Burschen zu reden, von dem ihre Tochter Bromelia demnächst ein Baby bekommen würde, das weder sie noch ihre Eltern haben wollten. Wenn man etwas rundweg ablehnte, so wußte Aurora aus ihrer bisherigen Erfahrung, dann fand man an allem was damit zu tun hatte immer etwas auszusetzen oder wollte nichts darüber wissen. So blieb ihr nur, die beiden noch einmal darauf hinzuweisen, daß es ohne dieses Fahrzeug nicht gelänge, auf dem Landwege unauffällig zum Haus der Jenkins zu kommen. Die beiden fügten sich in dem Moment, als Aurora anbot, in ihrem Namen alleine mit den Jenkins' zu reden. Sich derartig von allem ausschließen zu lassen wollten sie dann doch nicht. So bestiegen sie eines der gerade freien Taxis. Aurora, die in dieser lauten, stinkenden, hektischen Umgebung die kundige Führerin war, übernahm die Unterhandlung mit dem Taxifahrer.
"Jau, in die Gegend wollen Sie. Geht klar, Miss", bestätigte der Fahrer, dessen einer Elternteil asiatischer herkunft sein mochte. Aurora fragte, wie lange die Fahrt ungefähr dauern mochte. "So um die zwanzig Minuten, wenn nich' gerade wieder mal Stau auf der Hauptstraße is'", erwiderte der Fahrer. Aurora nickte und bat um die Fahrt zur angegebenen Adresse.
Die Pinewoods verharrten in mißfälliger Starre, während das Taxi sich seinen Weg durch die Stadt suchte und Aurora immer wieder das Zählwerk ablas, das der Fahrer in Gang gesetzt hatte, nachdem er das Fahrziel erfahren hatte. Sie verfolgte mit großem Interesse die Gespräche, die der Fahrer über jenen Kasten unter dem Brett mit den ganzen Messgeräten führte. Was Funk war und wozu er benutzt wurde kannte sie aus dem Muggelkundeunterricht und von ihrem Besuch bei Vivian Acer, die heute Preston hieß. Den Pinewoods erklärte sie im Flüsterton, was es mit den unsichtbaren Leuten auf sich hatte, deren Stimmen blechern aus dem Kasten drangen und daß das Ding an der sich spiralförmig windenden Gummischnur die Worte des Fahrers aufnahm, um sie weit fort zu bringen. Der Fahrer schien sich über seine drei Fahrgäste keine Gedanken zu machen oder ließ dies nach außen nicht erkennen. Aurora hätte ihm dafür schon in die Augen sehen und ihre in der Heilerausbildung erworbenen Legilimentikkünste anwenden müssen. Doch dazu bestand kein Anlaß.
Mr. Pinewood gab Aurora die Summe, die der Fahrer mit Hinweis auf das Zählwerk verlangte. diese nahm das Wechselgeld entgegen und bedankte sich bei dem Fahrer für das hinbringen.
Das Haus lag hinter einem vier Meter hohen Metallzaunund wurde von allen Seiten von Bäumen verdeckt. Ein massives Metalltor war offenbar der einzige Zugang. Aurora überlegte, wie wichtig die Familie sein mochte, daß sie sich derartig schützte. Sicher, für Zauberer und Hexen war diese Einfriedung lächerlich. Sie hätten mühelos innerhalb der Umzäunung apparieren, auf Besen dort von oben her eindringen oder mal eben das große Tor aufzaubern können. Doch für Muggel mochte diese Begrenzung schwer bis gar nicht zu überwinden sein. Ein schneller Rundblick zeigte ihr, daß hier viele Häuser standen, die derartig gesichert wurden. Sie waren also in einem Viertel wichtiger oder auch nur reicher Leute gelandet. Dies galt sorgfältig bedacht zu werden. Denn wenn reiche Leute hörten, daß einer ihrer Söhne einer für diese vielleicht unbedeutenden jungen Frau zu Mutterglück verholfen hatte, könnten sie finden, diese Frau oder das Kind als Störfaktor anzusehen. Doch Aurora sollte nicht gleich vom ersten Anschein auf die Folgen schließen. Auch das hatte sie in ihrer mehrjährigen Ausbildung lernen müssen.
"Sieht aus wie ein Käfig", meinte Fabricius Pinewood. "Hoffentlich wohnen hier keine Affen."
"Das ist ein Begrenzungszaun, Mr. Pinewood. Nur Leute, die Angst um ihre Privatsphäre oder gar ihr Vermögen oder Leben haben müssen legen diese Art Umzäunung an", belehrte Aurora die beiden Begleiter. Dann fand sie das, was sie suchte, einen runden Knopf unter einem engmaschigen Metallgitter und etwas, das wie ein gläsernes Auge aussah. Sie drückte auf den Knopf. Einige Dutzend Meter weiter weg hörte sie ein vernehmliches Glockenspiel und das laute Wuff-Wuff eines großen Hundes.
"Die haben einen Köter hier", knurrte Fab Pinewood. Seine Frau erzitterte merklich. "Mag hat Angst vor diesen Biestern."
"Ich denke, der Hund wird das kleinste Problem sein", erwiderte Aurora, als es dumpf in dem gitterartigen Ding über dem Knopf knackte und eine blechern verzerrte Stimme barsch fragte, wer da sei. Aurora sah in das gläserne Auge, von dem sie vermutete, daß es eines jener Fernbildaugen der Muggel war, von denen ihre Klassenkameraden aus der magielosen Welt immer wieder erzählt hatten und sagte so heiter sie konnte:
"Schönen guten Morgen! Mein Name ist Aurora Dawn und ich bin hier in Begleitung von Mr. und Mrs. Pinewood. Es geht um eine Angelegenheit, die den Sohn von Mr. und Mrs. Jenkins betrifft."
"Wie heißen Sie bitte noch mal?" Kam eine ziemlich belustigt klingende Frage aus dem Schallgitter heraus. Aurora grinste in das gläserne Auge hinein und wiederholte ihren Namen. Dann wurde sie noch einmal gefragt, warum sie die Herrschaften besuchen wolle. Sie erwähnte, daß dies eine Angelegenheit sei, über die sich draußen nicht so gut sprechen ließe. Die Stimme erwiderte darauf, daß man sie nicht kenne und auch kein termin mit ihr vereinbart worden sei. Da trat Mr. Pinewood vor das Glasauge in der Metallwand und blaffte in das metallgitter hinein: "'tschuldigung, wer immer da spricht. Ich bin Fabricius Pinewood. Meine Tochter hat mir erst vorgestern verraten, daß sie sich im August mit einem gewissen Elia Jenkins an der Botanikerbucht getroffen und sich da mit ihm unerwünschten Sachen hingegeben hat. Ich finde, Ihr Sohn sollte wissen, daß meine Tochter deshalb von ihm schwanger ist und wir jetzt zu klären haben, was weiter passieren soll, wo Ihr sohn wohl gerade sechzehn Jahre alt ist." Aurora verzog etwas das Gesicht, weil Pinewood so ungestüm mit der Tür ins Haus fiel. Wenn die dort drinnen jetzt fanden, daß sie davon nichts wissen wollten würden sie sich einfach auf stur stellen. Die Stimme aus dem Schallgitter sagte etwas verlegen:
"Entschuldigung, ich bin nicht Mr. Jenkins, sondern Mr. Wilson, sein Butler. Ich muß Mrs. Jenkins diese hochbrisante Unterstellung unterbreiten und ihre Antwort darauf erbitten. Bitte warten Sie!"
"Unterstellung? Glaubt der Kerl, daß Brommy uns angelogen hat?" Schnarrte Fabricius und machte Anstalten, noch einmal auf den Klingelknopf zu drücken. Doch Aurora gebot ihm, besser zuwarten. Er knurrte dann, daß man sie nun wohl gar nicht mehr hereinbitten würde, weil es diesen Leuten sicher sehr peinlich war und sie so tun würden, als sei das nicht geschehen. Vielleicht mochte Bromelia doch auch einen Namen erfunden haben.
"Kann nicht sein, Fab, weil diese Greenlief das nachgeprüft hat", fauchte Magnolia. "Aber du könntest recht haben, daß die sich jetzt blöd stellen und uns hier draußen alt werden lassen wollen."
"Wenn dieser Bulter oder wie sich diese Stimme genannt hat nicht in fünf Minuten hier am Tor ist und es aufmacht appariere ich dem vor das Haus und mach die Tür auf", raunte Mr. Pinewood.
"Sind Sie noch ganz bei trost", zischte Aurora dem Zauberer ins Ohr. "Vielleicht hört jemand dort drinnen immer noch zu und hofft, daß wir irgendwas sagen, was uns angreifbar macht."
"Ich will jetzt wissen, ob wir hier richtig sind. Ich habe in zwei Stunden einen Termin mit jemanden von den Willy-Willy-Werken. Da will ich wieder bei mir sein", blaffte Mr. Pinewood zurück. "Ich lasse mir von so'n paar Muggeln sicher nicht den Tag versauen."
"Das Angebot steht immer noch, daß ich für Sie die nötigen Gespräche führe", erinnerte Aurora ihn an ihren Vorschlag. Das machte Pinewood schlagartig ruhig. Allerdings wurde dessen Geduld auf eine harte Probe gestellt. Denn ganze fünf Minuten mußten sie warten, bis sich Wilson, die Stimme aus dem Schallgitter, wieder meldete.
"meine Herrin erlaubt Ihnen, diesen Vorwurf in ihrer Anwesenheit zu erläutern, um kein unnötiges Gerede zu provozieren", klang die blecherne Stimme. Im nächsten Augenblick surrte es im Tor und es glitt leise summend zur seite hinter den Zaun weg. Aurora kannte den elektrischen Strom und daß damit viele Sachen gingen, die bei Zauberern schon lange durch Magie möglich waren, wie Licht auf einen Knopfdruck, Stimmen aus dem Nichts, Fernbildempfang oder flammenlose Erhitzung von Herdstellen. Das damit auch Dinge bewegt werden konnten kannte sie auch aus dem Unterricht und von ihren Kameraden. Die Pinewoods dachten jedoch daran, daß die Jenkins' womöglich doch Zauberer sein mochten, wenngleich die Toröffnung nicht so leise ging, wie sie das mit Alohomora hinbekamen. Jedenfalls liefen sie den mit glatten Steinplatten ausgelegten Weg durch mehrere Baumreihen bis zum großen Haus, das einem Landhaus Ehre machen mochte. Das bestätigte Auroras Vermutung, es mit zumindest wohlhabenden Leuten zu tun zu bekommen.
Am Hauseingang warteten zwei breitgebaute Frauen und ein kleiderschrankgroßer mann. "Bevor Sie rein dürfen müssen wir klären, ob Sie Waffen bei sich haben", sagte der Mann und ging auf Pinewood zu, der Anstalten machte, nach seinem im Jackett steckenden Zauberstab zu langen. Aurora lenkte den Wächter mit der Frage ab, ob die Jenkins-Familie zur Regierung Australiens gehöre, daß derartig aufwändige Sicherheitsmaßnahmen nötig seien. Der Wächter zuckte mit den Schultern und antwortete nur, daß die Sicherheitsvorschriften bei unangemeldeten und der Familie unbekannten Besuchern diese Maßnahmen verlangten."
"Dann prüfen Sie ruhig unsere Taschen", sagte Aurora und deutete auf ihre Handtasche. Eine der beiden Frauen kam auf sie zu und nahm ihr die Tasche ab. Aurora hatte keine Bedenken. Ein Gedanke würde genügen, sie ihr wiederzubringen. Das Heilerarmband erregte eine gewisse Aufmerksamkeit. Doch es wurde nicht als Waffe eingestuft. Die Wächterin blickte in die Tasche und bekam einen leicht entrückten Gesichtsausdruck. dann gab sie Aurora die Handtasche wieder. Pinewoods Zauberstab ließ sich nicht einschätzen. Aurora sagte schnell, daß Mr. Pinewood Dirigent in Melbourne sei und die Marotte habe, immer mit seinem Taktstock herumzulaufen und klammheimlich zu Musik aus Musikanlagen zu dirigieren. Fabricius Pinewood sah sie dafür sehr verbittert an. Doch er sagte nichts. Zumindest bekam er seinen Zauberstab zurück, weil an ihm nichts waffenartiges zu erkennen war. Dann durften die drei eintreten.
Drinnen bellte der große Hund, den sie draußen schon gehört hatten. Doch er war wohl in einem Raum eingesperrt.
Die Gänge im Haus waren alle mit dicken Teppichen ausgelegt. Die Wände in angenehm hellen Farben gestrichen. Geführt von einem blau uniformierten Mann, der sich als Butler Wilson zu Erkennen gegeben hatte, ging es in einen Salon mit imposanten Möbeln. Da war der wuchtige Eichenholztisch, die für acht Personen ausgelegte Sitzgruppe mit Wildledersesseln um einen gläsernen Tisch herum und die hochlehnigen, mit daunenkissen gepolsterten Stühle. Auf einem von diesen saß eine Frau in mittleren Jahren, die erste graue Strähnen in ihrem nachtschwarzen Haar hatte. Sie blickte die Ankömmlinge sehr mißtrauisch aus dunkelgrünen Augen an. Aurora blieb gefaßt. Mit einer gewissen Abscheu hatte sie ja gerechnet. Sie grüßte und lächelte. Die Frau auf dem Stuhl schien sich davon jedoch nicht beeindrucken zu lassen. Sie deutete auf Wilson und gebot ihm, sich nach draußen zu begeben. Der Dienstbote gehorchte widerspruchslos und schloß die Tür von außen.
"Ich habe Sie drei nur vorgelassen, weil mir klar wurde, daß Sie mit diesem ungeheurlichen Gerücht sofort zur nächsten Boulevardzeitung laufen könnten, um einen öffentlichen Skandal zu provozieren. Ich bin Wilhelma Jenkins, die Hausherrin. Ein starkes Stück, meinem minderjährigen Sohn eine außereheliche Affäre vorzuhalten. Das hat sich bisher niemand erdreistet."
"Sie sind also die Mutter von Elia", erwiderte Mr. Pinewood. Aurora Dawn versuchte zwar, ihn durch Blickkontakt zur Zurückhaltung aufzufordern. Doch er war nicht bereit, ihr das Reden zu überlassen.
"Daß mein Sohn Elia heißt trifft zu. Auch daß er gerade sechzehn Jahre alt ist trifft zu. Aber alles andere ist schlicht unwahr", erwiderte die Frau auf dem Stuhl. Mrs. Pinewood trat nun vor und stellte sich vor. Dann sagte sie: "Wir haben allen Grund zur Annahme, daß unsere Tochter Bromelia uns nicht belogen hat, als sie auf die eindringlichen Fragen nach dem Erzeuger ihres ungeborenen Kindes sowohl den Ort, den Zeitpunkt und den Namen erwähnte."
"Entschuldigung, mein Sohn reist niemals unbegleitet. Er war in diesem August nicht an der Botanikerbucht, sondern auf Tasmanien. Einer unserer Sicherheitsexperten war ständig in seiner Nähe. Niemals hätte er wo auch immer Kontakt zu einem Mädchen herstellen oder dieses gar zu unzüchtigem Verhalten bewegen können. Sie lügen. Ihre ganze Geschichte erscheint mir als pure Behauptung, um meine Familie zu erpressen." Jetzt trat Aurora Dawn vor. Sie blieb ganz ruhig als sie sagte: "Natürlich müssen Sie davon ausgehen, daß hier irgendwer behaupten könnte, Ihr Sohn habe ein junges Mädchen ungewollt in andere Umstände versetzt, Madam. Offenbar ist Ihre Familie nicht unwichtig und daher ein begehrtes Ziel für Erpressungsmanöver. In diesem Fall darf ich Ihnen in meiner Eigenschaft als ausgebildete Hebamme versichern, daß die junge Ms. Pinewood in der Tat ein Kind trägt und auf nachdrückliches Befragen ausgesagt hat, mit einem elia Jenkins, an dieser Adresse hier wohnhaft, zwischen dem 10. und 20. August diesen Jahres an der Botanikerbucht Kontakt aufgenommen und sich auf ein geschlechtliches Abenteuer eingelassen zu haben, bei dem sie wegen nicht eingehaltener Verhütungsempfehlungen ein Kind empfing. Die Adresse und ob es diesen Elia Jenkins gibt wurde von privaten Ermittlern von Mr. und Mrs. Pinewood überprüft und bestätigt." Das mit den privaten Ermittlern war zwar geschwindelt. Alles andere stimmte jedoch. Jetzt jedoch mußte Aurora bluffen: "Eben dieser Ermittler konnte auch Zeugen finden, die gesehen haben, wie Ms. Pinewood sich mit einem Halbwüchsigen traf und mehrmals zu einem im Winter nicht besonders besuchten Abschnitt des Strandes ging, wo sie einen ausgemusterten Strandkorb als heimliches Liebeslager benutzten. Beiden stand offenbar der Sinn nach ersten geschlechtlichen Erfahrungen."
"Wo immer dieses Flittchen den Namen meines Sohnes und seine Adresse herbekommen hat, mein Sohn ist diesem Ding nicht um einen Kilometer nahegekommen", schnarrte Mrs. Jenkins. Das wiederum brachte Mrs. Pinewood auf.
"Sie sprechen hier von meiner Tochter, Madam. Sie ist weder ein Flittchen noch ein seelenloses Ding. Ihr Sohn wird Sie belogen haben, als er Ihnen erzählte, schön weit fort auf Tasmanien gewesen zu sein. Sie hat den Namen Ihres Sohnes genannt, obwohl sie lange nicht damit herausrücken wollte, wessen Kind sie gerade im Bauch hat. Glauben Sie, daß mich das amüsiert, daß meine minderjährige Tochter mitten in der Schulausbildung ein uneheliches Kind bekommt?"
"Mein Elia war nicht der, der sich an Ihrer Tochter vergangen hat", fauchte Mrs. Jenkins. "Wenn Sie das Balg nicht wollen ... lassen Sie es doch entfernen."
"Was meinen Sie, was wir eigentlich wollten. Aber die werte Dame hier neben mir, die von ihrer Zunft für uns zuständig ist, hat einen Eid geschworen, keine ungeborenen Kinder umzubringen und uns auch erzählt, daß das dem Vater gegenüber feige wäre, ohne dessen Wissen über das Schicksal seines Kindes, Ihrem und meinem Enkelkind, zu verfügen, Madam", sagte nun Mr. Pinewood. Die Frau auf dem Stuhl sah Aurora nun an, die ganz ruhig hinzufügte:
"Ich gehöre einer naturverbundenen, das menschliche Leben als höchstes Gut achtenden Gruppe von Pflegekräften an und bin daher verpflichtet, erfolgreich entstandenes Leben von der Zeugung bis zum nicht mehr aufhaltbaren natürlichen Tode nach der Geburt zu erhalten und zu schützen. Abgesehen davon solte es Ihnen nicht egal sein, daß ein Kind mit Ihren Erbanteilen zur Welt kommen wird. Halten Sie diese Erbanteile für so minderwertig, daß Sie die vorgeburtliche Tötung befürworten?"
"Sie wagen es? - Minderwertig? Nein! Aber mein Sohn hat dieses dumme Geschöpf nicht geschwängert!" Schnarrte Mrs. Jenkins hochrot. Aurora hatte offenbar einen sehr empfindlichen Nerv bei ihr getroffen. So legte Aurora nach:
"Nun, die mir auferlegten Gesetze erlauben mir, nach erfolgreicher Geburt des Kindes bei ungeklärter Vaterschaft zum Zwecke zukünftiger Versorgung von Mutter und Kind alle mutmaßlichen Erzeuger überprüfen zu lassen, wer von ihnen der Kindsvater ist. Mrs. und Mr. Pinewood haben nach anfänglicher Ablehnung des Enkelkindes ein Anrecht, dessen Zukunft abzusichern, was nichts damit zu tun hat, ob der Kindsvater reiche Eltern hat oder aus armen Verhältnissen kommt, sondern auch, um dem Kind zu seinem Recht auf Kenntnis seiner Abkunft zu verhelfen. so kann ich meinen Kollegen, unter anderem der Schulkrankenschwester, die vielleicht die Niederkunft von Ms. Pinewood betreuen mag, empfehlen, Ihren Sohn öffentlichkeitswirksam vorzuladen, um mit einer Blutprobe zu belegen, ob er der Vater des Kindes ist oder nicht."
"Es würde uns auch reichen, wenn Ihr Sohn nur weiß, daß er unsere Kleine geschwängert hat und sie dann in Ruhe läßt. Allerdings muß ich befürchten, daß ein uneheliches Kind jeden interessierten Mann davon abhalten könnte, meine Tochter zu fragen, ob sie mit ihm das Leben verbringt. Das wiederum würde sie dazu zwingen, ihren und den Unterhalt für das Kind ganz alleine zu erarbeiten und nicht genug Zeit zu haben, sich anständig um das Kind zu kümmern und ...", stieß nun Fabricius Pinewood aus. Mrs. Jenkins sprang von ihrem Stuhl auf und fuhr ihm ins Wort:
"Also doch, Erpressung! Sie wollen, daß wir Ihnen eine Entschädigung dafür zahlen, daß Ihre ungeratene Brut sich auf ungehörige Sachen eingelassen hat. Warum haben Sie nicht auf dieses Ding aufgepaßt? Mein Sohn war ständig unter Beobachtung. Er hat da bestimmt nichts angestellt, daß ihn und uns in irgendeiner Art kompromittieren kann. Und jetzt raus hier!"
"Ihr Sohn war in Begleitung eines Mr. Dennings unterwegs, richtig", wandte sich Aurora an die Hausherrin, die gerade den Finger auf den Klingelknopf legen wollte, um nach dem Butler zu läuten. Die Hausherrin erstarrte. Aurora setzte nach: "Ms. Pinewood hat nämlich auch ausgesagt, daß der Jüngling, der mit ihr das erste sexuelle Erlebnis geteilt und sie dabei mutmaßlich in andere Umstände versetzt hat, diesem Mr. Dennings viertausend australische Dollar in die Hand gedrückt hat, um ein paar Ferientage ohne überwachung erleben zu können. Sie sagten, Ihr Sohn sei auf Tasmanien gewesen. Stimmt, er sollte sich angeblich in einem Dorf nördlich von Hobart aufhalten, schön weit weg von Sydney und einem goldenen Käfig, wie er es nannte. Das Dorf hieß Wollawanga und gehörte früher den dortigen Ureinwohnern, dient aber heute wohl als Rückzugsort begüteter Touristen, nicht wahr? Dennings hat die beiden auch dabei überrascht, als sie sich das zweite oder dritte Mal in dieser Zeit körperlich geliebt haben. Glauben Sie nicht, daß viertausend Australische Dollar und die Erkenntnis, etwas unerlaubtes, ja illoyales getan zu haben Grund genug sind, jede anderslautende Behauptung als Lüge abzutun?"
"Verschwinden Sie von hier, Sofort!" Schrie Mrs. Jenkins mit hochrotem Gesicht. Wut zeichnete ihre Gesichtszüge. Doch Aurora konnte das Flackern von Angst in ihren Augen erkennen. Sie sah die Pinewoods an und sagte: "Unsere Anwesenheit ist hier nicht länger erwünscht. Im Zweifelsfall muß Ihr Enkel eben die Ordnungsbehörden anweisen, nach seinem Vater zu suchen. Bis dahin dürfte der junge Mann alt genug sein, um selbständig zu entscheiden, ob er die nötige Verantwortung übernehmen kann und will. Aber so einfach verschwinden wie Sie das wünschen möchten wir dann doch nicht. Wir ziehen es vor, auf unseren Füßen gehend das Haus zu verlassen." Mrs. Jenkins vergaß erneut, nach dem Butler zu klingeln. Aurora öffnete schon die Tür, als Mrs. Pinewood sagte: "Offenbar fühlen Sie sich in dieser Umgebung zu mächtig, um vernünftigen Argumenten zugänglich zu sein, Madam. Aber ich weiß, daß meine Tochter mit Ihrem Sohn zusammen war. Auf meine ausdrückliche Anordnung hat Madam Greenlief, die Schulkrankenschwester von Redrock, dem Internat, in dem meine Tochter gerade um eine ganze Klassenstufe zurückversetzt wurde, weil sie schwanger ist, legilimentisch nachgeforscht, wer der junge Bursche war, mit dem sie zusammen war. es ist dieser Bursche dort auf dem Bild, der zweite von rechts". Sie deutete auf ein Familienfoto, daß vier Jungen und sechs Erwachsene vor dem Opernhaus von Sydney zeigte. Die Jungen trugen geschniegelte Anzüge wie die drei Männer, die vom Aussehen nach die Väter der Jungen sein mußten. Mrs. Jenkins erbleichte. Aurora drückte die Tür schnell wieder zu und sah Mrs. Pinewood an. Daß Madam Greenlief auf ihre Anweisung hin die junge Bromelia legilimentisch ausgeforscht hatte hatte die Schulheilerin Aurora mit keinem Wort gestanden. Und es gehörte sich auch nicht. Sie konnte deshalb Probleme mit der Heilerzunft bekommen. Doch die Zielsicherheit, mit der Mrs. Pinewood einen der bewegungslos auf ihrem Foto stehenden Jünglinge identifiziert hatte verriet Aurora, daß sie sich wohl sicher war. Denn Mr. Jenkins hatten sie bisher ja nicht gesehen, und Mrs. Jenkins stand mit den beiden anderen Frauen zusammen, so daß auch keine Ehepaarzuordnung möglich war.
"Was behaupten Sie da? Sicher haben Sie von Ihrem Schnüffler ein Bild meines Sohnes auftreiben lassen, um Ihre Behauptung zu untermauern."
"Wenn es ein Junge wird können wir noch vor der Geburt die Gesichtszüge vergleichen, bevor der Geburtsvorgang den Kopf für eine gewisse Zeit deformiert", sagte Aurora Dawn. "Wir können mittlerweile Bilder von ungeborenen Kindern aufnehmen, die so aussehen, als seien sie in einem gläsernen Behälter." Dürfen wir Sie dann noch einmal beehren, wenn wir das wissen?"
"Elia war auf Tasmanien. Dennings ist unbestechlich", stammelte Mrs. Jenkins. Doch Aurora hörte gut genug heraus, daß sie sich ihrer Sache nicht mehr sicher war.
"An Ihrer Stelle würde ich Ihren Sohn anschreiben oder anrufen, daß sein Winterurlaub offenbar bleibende Erinnerungen erbracht hat. Hier ist eine Adresse, unter der Sie mich erreichen können", sagte Aurora und holte aus ihrer Handtasche einen Papierzettel. Die darauf aufgeführte Adresse gehörte zu einem Muggelpostfach, von dem aus Eulen Briefe aus der Muggelwelt in die Zaubererwelt bringen konnten, wenn die Absender keine eigenen Eulen besaßen oder sonst wie nicht mit der Zaubererwelt direkten Kontakt aufnehmen konnten. Diese nützliche Einrichtung hatte Australien von Frankreich übernommen, nachdem Aurora Laura Morehead und der Zaubereiministerin die Kontaktmöglichkeiten muggelstämmiger Beauxbatons-Schüler beschrieben hatte. Reisen bildete eben doch und brachte mehr als nur die beabsichtigten Erkenntnisse ein. Mrs. Jenkins nahm den Zettel mit zitternden Händen entgegen und las, daß es ein Postfach der Heilpraktikerin und Hebamme Aurora Dawns war.
"Haben Sie auch einen Telefonanschluß?" Fragte die Hausherrin. Aurora schüttelte den Kopf. "Ich residiere erst seit kurzem dort und muß mir noch den Anschluß legen lassen. die Telefonfirma bedauert jedoch, daß es länger dauern könnte, weil ich etwas abseits von den Hauptverkehrswegen lebe. Ich bin auf frühzeitige Terminabsprachen per Brief angewiesen oder auf Direktkonsultationen."
"Wie erwähnt halte ich diese ganze Geschichte für einen Schwindel. Allerdings kennen Sie mir zu viele Einzelheiten, als daß ich davon ausgehen darf, daß Sie ihn mal eben so erzählt haben. Also werde ich nachprüfen lassen, was an Ihnen und diesen beiden Herrschaften da dran ist."
"Mit Vergnügen", erwiderte Aurora Dawn, die merkte, daß Mrs. Jenkins nicht an das glaubte, was sie da gerade sagte. Um sie sich von der Enthüllung erholen zu lassen forderte sie die Pinewoods auf, sich mit ihr zu entfernen. Unbehelligt von den Wächtern führte Wilson die drei zur Haustür hinaus zum Tor und zurück in die Muggelwelt.
"Was hat uns das jetzt gebracht?" Fragte Mr. Pinewood Aurora. "Wenn es nun nach mir geht, muß das Kleine nicht wissen, was für durchgedrehte Großeltern väterlicherseits es bekommen könnte."
"Nun, jedes Kind kann Kenntnisse über seine Abkunft verlangen. Das gehört zu unseren Gesetzen. Ihre Frau hat den Stein ja angestoßen, weil sie Madam Greenlief dazu nötigte, sich gegen die Heilergesetze zu vergehen und Bromelia zu legilimentieren", erwiderte Aurora mit vorwurfsvollem Blick auf Mrs. Pinewood. Diese sagte jedoch unumwunden:
"Meine Tochter ist noch minderjährig, und es bestand durchaus auch die Möglichkeit, daß sie nicht freiwillig mit diesem Burschen geschlafen hat. Daher hatte ich das recht, auf eine legilimentische Untersuchung zu bestehen. Hätte ja auch sein können, daß einer von uns Bromelia unter Imperius genommen hat und ihr befahl, von einem Muggel namens Elia Jenkins zu reden. Ihre Heilergesetze erlauben es Eltern von minderjährigen Kindern, bei Heilern oder Ministeriumszauberern die legilimentische Untersuchung zu beantragen, wenn der Verdacht besteht, daß das Kind einem Verbrechen zum Opfer fiel."
"Das Gesetz gilt nur bei Verbrechensopfern, die sich nicht mehr worthaft verständlich machen können, Mrs. Pinewood", sagte Aurora. "Madam Greenlief hatte also kein Recht, Ihre Tochter auszuforschen. Ich kenne die Gesetze für die Heiler gut genug, Mrs. Pinewood. Da könnte noch was nachkommen, wegen Anstiftung zum Verstoß gegen die geistige Unantastbarkeit von Menschen ohne äußere Anzeichen von Gefahr."
"Wie dem auch sei, ich weiß, daß sie diesen Burschen als Kindsvater bezeichnet hat. Ob es für das Kind, das eigentlich keiner will so günstig ist, mit derartigen Großeltern aufzuwachsen ist allerdings noch zu klären."
"Was die nicht sagt", dachte Aurora und fragte sich, ob sich Mrs. Pinewood dessen bewußt war, daß sie auch zu den Großeltern dieses Kindes gehören würde.
Als die drei wieder in ihren eigenen Häusern waren kontaktfeuerte Aurora Dawn mit Madam Greenlief in Redrock und teilte ihr mit, was passiert war. Sie erwähnte auch, daß Mrs. Pinewood einen Jungen auf einem Foto als Elia Jenkins identifiziert habe, wobei sie behauptet habe, daß Madam Greenlief dieses Bild auf legilimentische Weise erfahren habe. Das überraschte die mindestens dreimal so alte Heilerin derartig, daß sie fast von ihrem Bürostuhl fiel.
"Sie hat behauptet, ich hätte gegen eines der Heilergesetze verstoßen und ohne äußere Gefahrenzeichen legilimentisch ausgeforscht, wie der junge Mann aussieht, dem Bromelia das Kind verdankt?" Aurora bejahte es. "Keiner kann mir abverlangen, derartig meine gesetzlichen Grenzen zu überschreiten, junge Kollegin. Aber soweit ich weiß hat Mrs. Pinewood bis zu ihrer Heirat für das Zaubereiministerium gearbeitet. Ist wohl schon fünfundzwanzig Jahre her. Aber sie war wohl in der Abwehr dunkler Kreaturen tätig. Da muß man auch legilimentieren können. Die gute Mel Thornapple wußte das. Warum hat Sie dir das nicht erzählt?"
"Sie hat mir nur erzählt, daß die Pinewoods seit mehr als sechzig Jahren da wohnen, wo sie jetzt wohnen und sie die Kinder von Aurivillius und Daisy Pinewood noch selbst auf die Welt geholt hat. Was die in die Familie eingeheiratete Magnolia vor der Hochzeit war oder tat hat sie mir nicht erzählt. Aber das ergibt dann einen ganz anderen Sinn. Mrs. Pinewood hat ihre Tochter selbst ausgeforscht und will das jetzt nicht zugeben. Am besten schreiben wir unabhängig voneinander Laura Morehead an, bevor die werte Mrs. Pinewood findet, mir zuvorkommen zu müssen und dich wegen unerlaubten Legilimentierens ihrer Tochter anzuzeigen."
"Aber ganz sicher, Aurora. Danke für die schnelle und aufschlußreiche Rückmeldung", erwiderte Madam Greenlief.
31. Oktober 1992
Hallo Wendy!
Diesmal war Halloween ein bißchen ruhiger als in den letzten Jahren. Es hat sich wohl herumgesprochen, daß Ministerin Rockridge die Strafen für die Verbreitung schädlicher Behexungen unter Muggeln angehoben hat. Aber ein paar Spaßvögel wollten es dann doch noch wissen und haben Bonbons zusammengepanscht, die jeden, der sie aß, von Haut- und Haarfarbe her rot, grün, blau, gelb oder orange hat anlaufen lassen. Pigmentpermutations-Tränke sind offenbar der neuste Schrei in der Zaubererwelt. Wird Zeit, das die Rezeptur aus der Öffentlichkeit verschwindet, weil es doch einige gab, die ihre natürliche Hautfarbe ohne Anmeldung verändert haben oder eben mit solchen Farbveränderungsbonbons herumwerkeln. Ich habe einige von den Dingern beschlagnahmen können. Gegen den PP-Trank gibt es ja doch ein wirksames Mittel. Bethesda Herbregis hat den Bonbonmischer ermitteln können. Der wird wohl einige Zeit in Fort Balligong einziehen. Der wollte nämlich den betroffenen Muggeln das Gegenmittel gegen teuer Geld verkaufen. Insofern kein Scherz, sondern eine eindeutig kriminelle Handlung. Ansonsten habe ich sieben neue Alraunenbabys in die Kleinkindtöpfe umgesetzt. Deren Mutterpflanzen wollten denen schon die eigenen Wurzelbeine in die Leiber treiben, weil die zu lange in ihrem Topf mitgesessen haben. Da muß man wie ein Sucher hinterher sein, um die Kleinen noch rechtzeitig von der Mutterpflanze zu trennen, bevor die von der wieder resorbiert werden. Gut, daß ich mit der Expertin Champverd lange genug über diese Pflanzen diskutiert habe. Ich werde mich jetzt hinlegen und morgen zu den Pinewoods gehen, ob deren Ohren noch dran sind. Laura hat denen nämlich einen Heuler geschickt, weil Mrs. Pinewood mir erzählt hat, Schulheilerin Greenlief hätte Bromelia legilimentiert. Könnte der außer dem Heuler noch passieren, daß die demnächst wegen Verleumdung vor den Gamot muß. Hoffentlich erwartet die mich nicht mit Flüchen. Werde mir wohl besser Goldblütenhonig mitnehmen und fertigen Alraunentrank, um mögliche Verständigungspannen beheben zu können.
Dann bis morgen Wendy!
Es pfiff ein wenig, als der altgediente Flugbesen in knapp fünfzig Metern Höhe über dem Tal Glen McBerdow dahinbrauste. Regan Dawn konnte hier ohne Furcht vor Muggeln ihre Übungen ausfliegen. Kyla McBerdow und ihr Mann Taranis waren große Fans der Harpies und stellten ihr langes, kurviges Tal im Hochland immer wieder gerne für die wilden, die silbernen und die goldenen Harpyien zur Verfügung. Manchmal konnte die knapp fünfzig Jahre alte Kyla selbst zwischen den älteren Harpies-Spielerinnen herumfliegen, obwohl sie für richtige Spiele nicht mehr so gut gebaut war. Gwendolyn hatte sie im Scherz mal einen Quaffel mit Armen und Beinen genannt, weil sie klein und rund war und obendrein eine rotbraune Mähne besaß, die fast an das Scharlachrot des großen Spielballs heranreichte.
Das Wetter änderte sich. Dichter Nebel stieg vom Talgrund auf, und kalter Wind blies der Besenreiterin immer wieder von vorne ins Gesicht. Das enge Tal preßte die Luft von den Seiten her zusammen, so das der kleinste Windhauch hier zu einer beachtlichen Böe aufgeschaukelt wurde. Regan warf einen Blick in den Himmel. Das hier weit verbreitete Grau des Herbstes hatte seine Schattierung geändert. Bleifarbene Wolkenungetüme krochen über sie am Himmel entlang und verschlangen fast jeden Strahl der langsam schwächer werdenden Herbstsonne. Es wirkte wie eine vorgezogene Abenddämmerung. Sicher würde es hier von einer Minute zur anderen finstere Nacht werden, dachte Regan. Wenn sie nicht im stockdunklen Tal herumschwirren wollte, mußte sie langsam zum Ausgang zurück und von McBerdow Manor aus in ihre warme Behausung zurückkehren. Denn außer einer Muggelabwehr stand über diesem Tal ein Apparitionswall, beachtlich dafür, daß es zwei Meilen lang war, dachte Regan immer wieder. So flog sie schnell noch einige Rollen und Wenden aus, um sich davon zu überzeugen, daß ihre Flugreflexe und die Reaktionsfähigkeit des Besens noch zusammenspielten. Ein wenig merkwürdig kam ihr das leichte Vibrieren im Schweif vor. Doch das waren bestimmt wieder ein paar verbogene Reiser. Das würde sie mit ihrem Besenpflegeset in null komma nichts wortwörtlich hinbiegen. Ansonsten war sie mit ihrem alten Besen immer noch zufrieden. Was sollte sie mit einem überempfindlichen Nimbus, wenn ihr Silberpfeil 4 noch tat, was er vor vierzig Jahren schon gekonnt hatte? Sie beide waren aufeinander abgestimmt wie ihr Zauberstab auf ihre rechte Hand.
Kurz vor der Landung vor dem stattlichen Landhaus, das rechts neben dem das Tal durchziehenden Fluß errichtet war, führte sie noch eine Dreifachkombination aus Looping, Rolle und Zweifachschraube aus, bevor sie auf der Wiese landete. Das einzige, was den neuen Besen wirklich gelang war das punktgenaue Aufsetzen mit sofortigem Halt. Der Silberpfeil konnte den Restschwung nicht so rasch abbremsen. So schlidderte Regan noch dreißig Meter weit, bis sie sicher absteigen konnte.
"Hi, Regan. Klar für das große Spiel?" Fragte eine ältere, ziemlich kleine und spindeldürre Hexe mit silberblonder Kurzhaarfrisur. Das war Glynnis Griffith, auch eine goldene Harpyie.
"Mein besen und ich sind klar für morgen", sagte Regan.
"Dann sauf beim Halloween nicht zu viel, sonst wirbeln uns die Tornados schon nach einer Minute aus dem Spiel!"
"Keine Sorge, Glyn, ich bin nicht diejenige, der man kein angezapftes Metfaß in Reichweite stellen darf, ohne es nach einer Stunde nur noch leer vorzufinden", erwiderte Regan. Glynnis lachte laut und rauh.
"Erinnerst du dich noch, wie ich deinen Mann, deinen Sohn und deine Schwiegersöhne alleine unter den Tisch gesoffen habe, wie?" Fragte Glynnis. "Pech nur, daß meine Vertrauensheilerin mir keinen Leberlinderungstrank mehr verschreiben will und ich daher mit dem Met nicht mehr so großzügig umgehe. Bin auf Schnepfeneierlikör umgestiegen."
"Nobel und sauteuer", grummelte Regan. "Was für überreiche Hexen."
"Und deshalb auch genial, um nicht zu viel auf einmal zu trinken. Zwei Galleonen die Pinte ist schon ein Argument, den Inhalt sparsam zu genießen. Da sind sechs Sickel für eine Doppelpinte Met schon erträglicher. Ist heute bei dir wer zum Halloween?"
"Ich habe Regina und Hugo dazu beknien können, bei mir zu übernachten. Die beiden Mädchen und ihre Familien kommen eh jedes Jahr, und Dustins Witwe mit ihren Kindern wird dieses Jahr auch wieder bei uns übernachten. Volles Haus also."
"Wäre mir vor einem so wichtigen Spiel zu viel Volk, auch wenn's die eigene Brut ist", grummelte Glynnis. "Ich feiere nachher noch ein wenig mit Ginger und Gladys und sehe zu, vor eins im Bett zu liegen."
"Allein?" Fragte Regan.
"Möchtest du gerne wissen, wie? Seit Will meinte, sich vor diesen Muggel werfen zu müssen, den Du-weißt-schon-Wer umbringen wollte habe ich mich doch dran gewöhnen können, alleine zu schlafen. Dann mal viel Spaß mit der großen Familie!"
"Danke, werde ich hoffentlich haben", erwiderte Regan Dawn, bevor sie sich von Kyla und ihrem Mann Taranis verabschiedete und per Flohpulver in ihr eigenes Haus zurückkehrte, um die letzten Vorbereitungen für die Halloweenfeier zu treffen.
"Bist ein wenig spät dran, Regan", hörte sie ihren Mann Arco, der gerade nach Hause kam und seinen Reiseumhang weghängte.
"Es ist zu schön, über dem Glen McBerdow herumzufliegen, Arco", erwiderte Regan, während sie gerade ein Ballett aus Kochlöffeln dirigierte, das in fünf wuchtigen Töpfen umrührte. Aus einer Bratpfanne sprang gerade das fünfte Steak in die Höhe, schlug einen halben Salto und landete mit der rosigen Seite nach unten in der brutzelnden Pfanne. Neben den Steaks, die sie für die Schwiegersöhne ihrer Töchter Lynn und Dana machte, würde es vier verschiedene Eintöpfe geben. Diesmal wollte sie sich nicht so überfordern wie beim letzten Halloween, wo sie zehn verschiedene Gerichte für insgesamt zwanzig Personen zubereitet hatte. Im Backofen ruhte bereits eine Pastete, gefüllt mit vier Sorten Geflügelhackfleisch und exotischen Kräutern. Arco hatte in seiner Eigenschaft als Kenner erlesener Getränke den Keller aufgefüllt. Drei Faß Met, ein Faß Rotwein und eines mit Weißwein, dazu zwölf Flaschen Sekt standen für jene bereit, die Alkohol trinken durften. Für die Kinder und alle, die wie Glynnis ihre Trinkgewohnheiten hatten umstellen müssen gab es verschiedene Fruchtsäfte aus Conservatempus-Fässern.
"Da du mich in der Küche nicht haben willst, wenn du wieder im Halloween-Haushexenrausch bist mach ich schon mal die Dekoration", verkündete die Stimme ihres Mannes.
"Ja, fang schon mal an. Lynn könnte zwar wieder meckern, weil du diese Klipper-Klapper-Skelette an die Leuchter hängst, aber für die Kinder ist das richtig spannend."
"Vielleicht nicht so unpraktisch, die heute mal wegzulassen. Sonst fällt unser erster Urenkel noch aus Addas Bauch raus, bevor er atmen kann."
"Neh, du hängst die drei auf, Arco. Halloween ist das Fest, wo die lebenden und Toten einander bedenken."
"Du weißt, daß Lynn wegen Dustin nicht mehr viel davon hält", erwiderte Arco. Regan verzichtete darauf, eine Antwort zu geben. Sie war gerade damit beschäftigt, das Herdfeuer stärker anzufachen, weil in drei Töpfen keine rechte Wallung mehr aufkommen wollte. Erst als sie die Flammen unter den Platten auf ein anständiges Maß vergrößert hatte rief sie ihrem Mann zu: "Das mit Dustin soll uns dran erinnern, wie schnell wir alle uns nicht mehr wiedersehen können. Insofern häng die drei Gerippe ruhig hin, damit sie wissen, mit wem wir sonst noch hätten feiern wollen."
"Wie du meinst, Regan. Gut, daß Aurora nicht hier ist. Die hätte dir womöglich einen Heilervortrag über die Wirkung von Todessymbolen auf werdende Mütter gehalten."
"Die weiß aber auch, daß wir hier nur Familie sind und nicht Berufe", fauchte Regan zurück. Eigentlich ärgerte sie sich, daß ihre Enkeltochter mal wieder nicht zur Halloweenparty kommen konnte. Seit sie in Hogwarts war war sie an diesem Tag immer eingespannt gewesen. von der Bilderverbindung, die sie, Regan, hergestellt hatte, wußte sie, daß in Australien und wohl auch in der britischen und nordamerikanischen Zaubererwelt immer einige Spaßvögel ihr Unwesen mit Muggeln trieben. Und seitdem Aurora unter die Heiler gegangen war, mußte sie an diesem Abend im Jahr immer irgendwelche Außeneinsätze durchführen.
"Hast du die Kürbisse schon ausgehöhlt, Darling?" Fragte Arco nun vor der geschlossenen Küchentür.
"Mach ich gleich, wenn ich die Töpfe alle hier auf der richtigen Temperatur habe, Arco", erwiderte Regan.
"Sonst mach ich das gerne", erwiderte Arco.
"Du kommst mir nicht in die Küche, bevor ich hier nicht alles fertig habe, Süßer", schnarrte Regan und ließ mal eben per Zauberstabwink einen Eimer voller Kartoffeln über einem Wasserkübel kopfstehen, so daß die Erdäpfel mit lautem Plumpsen im Kübel landeten. "Tergeo Vegetales", murmelte Regan, mit dem Zauberstab auf den nun randvollen Wasserkübel deutend. Unvermittelt brodelte das Wasser und färbte sich weiß, während die darin gebetteten Kartoffeln herumkullerten und ihren letzten Rest von Erdverkrustung einbüßten. Keine zehn Sekunden später ließ Regan mit "Vanesco Liquidum" alles Wasser aus dem Kübel verschwinden und wirkte dann den Kartoffelschälzauber, wobei die Schalen in den nun leeren Eimer zurückspringen sollten. Haushaltszauber waren ihre große Leidenschaft, und viele Küche und Haus versorgende Zauberer und vor allem Hexen beneideten sie um die spielerische Kunst, so viele Sachen zugleich und so vollendet hinzubekommen.
Die Tür ging auf. Regan bekam es mit, weil der dabei aufkommende Luftzug die Herdflammen verwirbelte. Sie zielte drohend mit ihrem Zauberstab auf den untersetzten Mann mit dem graublonden Haarkranz, der gerade ansetzte, einen Fuß in Regans Reich zu setzen. "Bist du ein Putzlappen oder Eimer, daß du hier erlaubt bist?" Fragte sie mit sehr gefährlichem Unterton.
"Neh, der große Kürbis", kicherte Arco Dawn und deutete auf den Stapel bereitliegender Kürbisse.
"Wahrhaftig?" Fragte Regan und ließ ihren Zauberstab schnell ausschwingen. Arco erkannte einen Moment zu spät, daß er wohl ein Wort zu viel gesagt hatte. Da krachte es, und da, wo er gerade noch gestanden hatte, kullerte ein großer, orangeroter Kürbis in den Flur zurück. Regan grinste sehr breit, als sie fragte: "Darf ich dich dann auch aushöhlen und eine Kerze reinstecken?" Weil sie keine Antwort bekam schüttelte sie den Kopf und kehrte die Verwandlung wieder um, so daß der Kürbis zu Arco Dawn wurde.
"Doch lieber kein Kürbis", meinte Regan mit einer gewissen Gehässigkeit in der Stimme. Arco, der nach der Rückverwandlung erst alle Glieder ausschütteln mußte meinte, daß er wohl doch lieber wartete, bis seine Frau die echten Kürbisse für das Fest rauslegen würde.
"Ich mach für dich schon seit über sechzig Jahren den Haushalt, Arco. Langsam solltest du es begreifen, daß das nur geht, wenn mir keiner im Weg rumläuft. Also mach bitte erst den andren Deko-Kram. Wenn die ersten kommen sage denen bitte, sie mögen erst in den Salon gehen. Aber sieh zu, daß die sich alle ihre Schuhe abtreten! Ich will vor dem Spiel nicht noch mal durch das ganze Haus putzen."
"Klar, Regan, kein Problem", erwiderte Arco und zog die Küchentür von außen zu.
Er ging in den Salon und hängte die drei bleichen, puppengroßen Skelette an den großen Kronleuchter. Diese schaurigen Dekorationsartikel klapperten in unregelmäßigen Abständen, sobald sie in der Nähe von Kerzenlicht waren. Jedes der künstlichen Knochengerüste stand für einen nicht mehr mitfeiernden Verwandten. Da war ein Skelett mit ausladendem Becken, daß für seine eigene Mutter stand, die vor fünf Jahren auf einer Urlaubsreise nach Ägypten unbedingt gemeint hatte, das Rätsel einer Sphinx lösen zu wollen und die falsche Antwort nur einen Atemzug lang überlebt hatte. Ein Gerippe mit langen Arm- und Beinknochen stand für seinen Vater Asparagus, der im Dienste für das Ministerium vor drei Jahren von einem verhexten Mülleimer gefressen worden war. Doch das Skelett, daß am längsten zum Halloween-Schmuck gehörte, und das Regan vor bald fünfzehn Jahren erstmalig hingehängt hatte, stand für den gemeinsamen Sohn Dustin, der von einem Anhänger des Unnennbaren ermordet worden war. Somit sollten die drei Knochengestelle die Leute in Erinnerung bringen, die nicht mehr mitfeiern konnten. Regans und seine erstgeborene Tochter Lynn fand diese gruseligen Beiwerke geschmacklos. Doch Regan bestand darauf, daß diese Skelette aufgehängt wurden. Darüber hinaus brachte er noch rote, weiße und schwarze Luftschlangen an, setzte einen Schwarm schwarzer Fledermäuse aus Holz und Papier in Gang, damit sie durch die Räume flatterten und holte die orangeroten Halloweenkerzen aus dem Keller, die er in die demnächst ausgehöhlten Kürbisse stecken würde. Er legte die Sachen auf den Tisch im Salon und holte ein Weinfaß, eine Flasche Sekt, und ein Fruchtsaftfaß nach oben. Er stellte kürbisförmige Trinkgefäße auf den niedrigen Seitenschrank und tauschte die Vorhänge vor den Fenstern gegen hauchzarte Vorhänge aus schwarz-weiß-orange gefärbter Seide aus. Als er das alles erledigt hatte durfte er die zwölf ausgehöhlten Kürbisse vor der Küche abholen. Er ließ sie alle zusammen als großer Haufen durch die Luft fliegen und bugsierte sie in den Salon, wo er in jeden eine Kerze hineinsteckte und ihn dann mit Anhaftzauber an der Wand festmachte. Selbst mit aller dazu möglichen Zauberei dauerte diese Arbeit knapp zwanzig Minuten, weil Arco nicht einfach alles so mal eben an die Wand fliegen lassen wollte. Dann kamen auch schon die ersten Gäste: Lynn mit ihrem Mann Humbert und den beiden Kindern Adda und Gordon und ihren Ehegatten. Adda und ihr Mann Collin würden in vier Monaten ihr erstes Kind haben. Lynn sah wie ihre Mutter aus, schwarzes Haar und graugrüne Augen. Adda kam eher auf Arco heraus. Allerdings besaß sie ebenfalls die graugrünen Augen ihrer Mutter. Humbert war ein schmächtiger zauberer mit schulterlangem, blonden Haar, das er zu einem Zopf geflochten hatte. Arco dachte daran, wie er diesen Burschen vor vierzig Jahren zum ersten mal gesehen hatte, als Lynn ihn ihren Eltern vorstellen wollte. "Sieht aus wie'n Mädchen", hatte Arco damals gesagt. Humbert hatte darauf nur geantwortet, daß ihm dazu aber was entscheidendes fehlen würde. Das hatte Arco lachen lassen. Regan war nicht so begeistert von Lynns Auserwähltem gewesen. Doch genau deshalb hatten Lynn und ihr Vater es durchgesetzt, daß dieser Hänfling mit dem Mädchenzopf ihr Mann und der Vater ihrer Kinder wurde. Und weil Regan nun doch eine Familienhexe war konnte sie bei der Geburt von Adda nicht mehr schmollen und mußte Lynns Entscheidung doch akzeptieren. Und als der nun nicht mehr kleine Gordon auf die Welt kam hatte sie sich regelrecht in diesen rotbäckigen Knirps verliebt, sodaß Arco manchmal befürchtete, daß seine Frau ihm wegen dieses Windelpupsers untreu werden mochte. Gordon hätte fast noch die Einschulung seiner Cousine Aurora in Hogwarts mitbekommen, wenn Hugo nicht ein jahr Länger mit dem Nachwuchs gewartet hätte. Jetzt waren beide Enkel verheiratet. Gordon hatte einen Sohn, der dieses Jahr in Hogwarts eingeschult worden war und wie fast alle aus der Familie Dawn in Ravenclaw gelandet war. Er hatte schon geschrieben, daß er mit einem merkwürdigen Mädchen in der Klasse war, das von seltsamen Tieren sprach und immer von einem schrumpfhörnigen Schnarchkackler redete. Arco kannte dieses Tier, obwohl er sicher war, daß noch kein Zauberer so ein Wesen zu Gesicht bekommen hatte, da es nur im Kopf von Xenophilius Lovegood zu Hause sein mochte. Er hatte seinem Enkel geschrieben, daß er sich um das Gerede dieses Mädchens nicht groß sorgen müsse. Schließlich lebe es mit seinem Vater etwas abgeschieden außerhalb von St. Ottery and Catchpole und kenne nur das, was er ihr wohl so alles erzählte.
"Na, hat die gute Madam Newport dich für Halloween freigegeben?" Fragte Gordon seine schwangere Schwester, die ihn deshalb mit einem abfälligen Blick bedachte.
"Die weiß es nicht, daß ich heute feiern gehe. Ich werde nur keinen Alkohol trinken, damit die morgen nicht biestig wird. Die muß wohl für die vom St.-Mungo-Hospital Bereitschaft schieben", grummelte Adda. Als sie dann die drei am nun entzündeten Leuchter baumelnden Gerippe sah, die gerade zur Begrüßung mit den Armknochen gegen ihre Rippen klapperten meinte sie nur: "zumindest habt ihr nicht auf "erschrick die Babybauch-Hexe nicht" gemacht. Hummy ist ja ständig um mich herum, daß mir bloß nix passiert."
"Adda, du weißt, daß ich nur möchte, daß dir und unserem kleinen nichts passiert", verteidigte Humbert, der die drei Skelette am Kronleuchter mit einem ziemlich tadelnden Blick bedachte.
"Er fühlt das wohl, wenn das Kleine sich in deinem Bauch umdreht, Adda", feixte Gordon. "Sicher kommen bei dem jetzt auch die Dutteln richtig raus."
"Eh, pas ja auf, du verzogener Kobold, daß ich dir nicht mal gleich alle deine Borsten vom Schädel runterfege", schnarrte Hummy.
"Keinen Zank, Kinder!" Blaffte Arco. "Selbst wenn heute nicht Weihnachten sondern Halloween ist können wir auch friedlich zusammen feiern."
"Ist Mum noch in ihrem heiligen Bezirk?" Fragte Lynn. Arco nickte.
"Bringt Tante Regina Onkel Hugo heute auch mit oder bleibt sie diesmal weg wie vor einem Jahr?" Fragte Gordon herausfordernd. Mit seinem Onkel Hugo konnte er immer schön über magische Tierwesen reden.
"Die beiden haben zugesagt, Gordon", sagte Arco und gebot den ersten Gästen, sich zu setzen.
Fünf Minuten später traf Dustins frühere Frau mit ihren Kindern ein. Sie bedankte sich noch einmal herzlich für die Einladung, auch hier schlafen zu können.
Eine Viertelstunde später läuteten Dana und ihre Familie an der Tür. Auch sie und ihr Mann Kelvin hatten zwei erwachsene Kinder, die jedoch noch nicht daran dachten, eigene Familien zu gründen. Chester und Barney genossen es wohl, bei ihren Eltern zu leben und sich bekochen und bekleiden zu lassen. Allerdings mußten sie dafür von ihrem Einkommen aus den Abteilungen für magischen Handel und dem Scherzartikelladen Freud und Leid was für die Haushaltskasse abliefern, hatte ihr Vater unwiderruflich durchgesetzt. Entsprechend verächtlich wurden sie häufig von Collin und Dessen Schwager Gordon angeglubscht, weil die beiden wohl solange an Danas Rockzipfel hängen würden, bis diese ihren letzten Atemzug getan hatte. Doch die beiden konterten sowas mit gleichartiger Verachtung und hatten sich auch mal etwas zu abfällig über Arcos und Regans Enkeltochter Aurora ausgelassen, weil diese wohl meinte, nicht schnell und nicht weit genug aus dem warmen Nest davonschwirren zu müssen. Darauf hatte ihr Onkel Hugo einmal ganz nahe am Rande eines Wutanfalls gesagt: "Immerhin hat sie von uns das Fliegen gelernt und hockt nicht mit über zwanzig im Nest und kann nur den Schnabel aufmachen, um um Futter zu betteln." Darauf waren die beiden Nesthocker erst einmal ganz kleinlaut geblieben.
So unterschiedliche Persönlichkeiten hatten Arco und Regan in die Welt gesetzt oder deren Existenz ermöglicht. Als dann auch Hugo und seine Frau vor der Tür standen freute sich Arco sichtlich, den jüngsten und einzig noch verbliebenen Sohn wiederzusehen. Hugo hatte sich einen smaragdgrünen Festumhang angezogen, während seine Frau ein apfelgrünes Rüschenkleid trug. Von Kostümierung hielt man bei den Dawns ja eh nichts. Das war Muggelkram.
"Hat Mum dir wieder Küchenverbot erteilt, Dad?" Fragte Hugo Dawn seinen Vater. Dieser nickte. "Dann mußt du wohl Mum die Pfannkuchen reintragen, Regina", sagte Hugo zu seiner Frau, die gerade einen großen Kasten aus einer rauminhaltsvergrößerten Tragetasche hervorholte.
"Du meinst, mich ließe die rein, wo sie wohl gerade wieder sechs Sachen zugleich am kochen hält, Hugo?" Fragte Regina, die ihr rotbraunes Haar mit einer goldenen Spange hinter dem Nacken zusammengesteckt hatte.
"Aurora und dich hat sie immer zu sich reingelassen, wenn sie Halloweensachen vorbereitet hat", erinnerte sie Hugo. Regina nickte und steuerte die Küche an, vor der gerade ihre beiden Neffen Chester und Barney Aufstellung genommen hatten und ein lebensgroßes Skelett aus einer kleinen Tragetasche holten, dem sie eine Sense mit stumpfer Klinge in die rechte Knochenhand drückten.
"Na, was wird das hier?" Fragte Regina Dawn im Stil einer gestrengen Lehrerin. Da verschwammen die Konturen ihrer Neffen. Es wirkte so als würde sich das Fleisch und die Kleidung vollständig auflösen, bis von den beiden nur die durch unsichtbare Sehnen und Muskeln zusammengehaltenen Knochengerüste und Schädel zu sehen waren.
"H-ha-Halloween", grummelte Regina. "Der neuste Schrei von Freud und Leid, das Knochenblickgebräu, wie?"
"Immer noch im Hogwartston festgeklemmt, Tante Regina?" Fragte Chester. Seine Worte kamen leicht hohl klingend zwischen den Kifern seines sichtbaren Totenschädels hervor. Da ging die Küchentür auf, und Regan Dawn steckte ihren Kopf heraus. Zunächst konnte sie nur die drei Skelette sehen, bis ihr die noch wie Fleisch und Blut aussehende Regina Dawn auffiel. "Gibt euch eure Mummy nicht mehr genug zu essen, daß ihr so abgemagert seid, ihr armen", sprach sie mit Bedauern tragender Stimme auf die beiden sich gerade bewegenden Gerippe ein. "Und wer ist euer Kumpel, der gerade von der Ernte kommt?"
"Ich dachte, dir fällt 'n Pott runter, Oma Regan", meinte Barney enttäuscht klingend. Doch Regan Dawn sah nur in seine gerade leer wirkenden Augenhöhlen und antwortete:
"Knochenmännchen, wenn du mal so alt wirst, wie du gerade aussiehst erschrickst du nicht mehr so leicht, schon gar nicht an Halloween. Aber der Sensenmann, soll der die Leute hier warnen, daß die bloß nichts anrühren, was aus dieser Küche kommt? Falls ja, solltest du dir Nummern auf alle deine gerade sichtbaren Knochen schreiben, damit du die wieder zusammensetzen kannst, wenn ich dein Gerippe nachher in die Dekokiste reinstopfe und bis nächstes Jahr drin einmotte, Jungchen."
"Immerhin eine Hexenküche. Die Muggel meinen ja eh, daß da nur Kröten, Spinnen und Molche verputzt werden", erwiderte Chester."
"Für dich ist in der Kiste auch noch Platz", meinte Regan dazu und griff dem frechen Knochenmann an den mittleren Halswirbel, worauf dessen Gerippe in einem Wirbel aus rötlichem Nebel verschwand und ihn als lebenden Menschen zurückließ. Chester schien über diese zu frühe Wiederverfleischlichung nicht besonders begeistert zu sein. irgendwie meinte er auch, daß ihn die Rückverwandlung geschlaucht hatte. Barney, der noch als Knochenmann herumlief, wich seiner Großmutter aus, war aber nicht schnell genug, um ihrem rechten Zeigefinger zu entgehen, der sich auf seinen Schädel legte. Damit kehrten auch bei ihm Haut und Fleisch zurück.
"Spaßbremse", knurrte Barney und zog das noch übriggebliebene Skelett zurück, dessen Sensenblatt beinahe auf Regans Kopf niederfuhr.
"Die müssen noch üben, bis die dieses Gerippegebräu richtig hinbekommen, daß es bei der Berührung von lebendem Menschenfleisch nicht die Wirkung verliert", sagte Regina dazu nur. Dann übergab sie ihrer Schwiegermutter den Kasten mit den Pfannkuchen.
"Schön, können wir auch noch auftischen", sagte Regan Dawn. Dann nahm sie Barney das künstliche Skelett ab und prüfte es. "Ach, ein tanzender Tod. Kenne ich von meiner Kameradin Ginger. Die hatten den letztes Halloween. Fanden einige nicht spaßig, wie dieses Skelett mit der Sense getanzt hat und dann immer mal wieder dem einen oder dem anderen zugewunken hat. Einige glauben, daß diese Dinger echt anzeigen, wer als nächstes stirbt. Aber Todesfeen sind das dann doch nicht."
"Der muß noch seinen schwarzen Frack, den Zylinder und eine Sanduhr mit undurchsichtigen Gläsern kriegen, um tanzen zu können", sagte Chester. . Da tauchte Dana im Flur auf und sah das Gerippe.
"Also das habt ihr in Barneys Rucksack verbuddelt", knurrte sie. "Kommt, das müssen wir echt nicht haben. Nachher glaubt Adda noch, dieses Ding würde ihr oder dem Kleinen sagen, daß sie nicht mehr lange leben. Ihr wißt auch genau, daß Tante Lynn auf derartige Vorzeichen sehr überempfindlich reagiert. Alles hat seine Grenzen, auch Halloween."
"Mum, das ist doch nur Spaß", knurrte Chester. "Oder glaubt Adda echt, ihr Balg fiele raus, weil so'n Sensenmann ihr zuwinkt?" Fragte er herausfordernd.
"Keine Diskussion. Das Ding wird nicht aufgebaut", wiederholte Dana ihre Anweisung.
"Was macht ihr für ein Theater um so'n Baby, was noch nicht auf der Welt ist?" Grummelte Barney.
"Das gleiche Theater, was wir um euch zwei gemacht haben, als ihr noch nicht auf der Welt wart", bemerkte Regina. Ihre Schwägerin funkelte sie zwar vorwurfsvoll an, weil sie sich in die Diskussion mit ihren Söhnen eingemischt hatte, nickte dann aber. "Also pack diesen Knochenmann wieder ein. Im Salon klappern schon genug Gerippe herum."
"Is' ja gut, Mum", grummelte Chester. Seine Mutter warf ihm dafür einen sehr warnenden Blick zu.
Nach diesem kleinen Zwischenspiel vor der Küchentür halfen die Hexen der Feiergesellschaft der Gastgeberin dabei, Geschirr und Speisen in den Salon zu bringen. Humbert fragte seine Schwiegermutter zum ungezählten Mal, warum sie sich beim Hauselfenzuteilungsbüro keinen nützlichen Helfer beantragte. Regan gab darauf die gleiche, auch ungezählte Male erwiderte Antwort: "Weil ich das gerne tue und nicht will, daß wer anderes außer mir in meiner Küche herumwerkelt. Mein Haus, meine Regeln, Mr. Murray."
Als sie dann am langen Esstisch Platznahmen durfte Hugo zur Rechten seiner Mutter sitzen, während Lynn zur Rechten ihres Vaters platziert wurde. Die Ehepartner und Kinder reihten sich entsprechend daneben.
Während des umfangreichen Abendessens sprachen sie über Quidditch, die Zaubererwelt und die eigenen Berufe. Natürlich würden sie morgen alle zum großen Spiel der goldenen Harpyien hinkommen. Chester und Barney feixten noch einmal, daß Aurora wohl nicht zum feiern käme, wenn die in Aussiland wieder irgendwelche Muggel mit verdrehten Zaubern traktierten. Darauf meinte Regina Dawn:
"Seit besser froh, wenn sie euch nicht eines Tages bei sowas erwischen! Die sowas tun landen da unten mal eben für einige Wochen oder Jahre im Gefängnis. Und nach Askaban wollt ihr sicher nicht rein. Dementoren können nämlich nicht so gut kochen und waschen wie eure Mummy."
"Hätte ich nicht besser sagen können", meinte Hugo Dawn, der es genoß, wie die beiden Nesthocker sehr betreten dreinschauten. Dana bedankte sich bei Regina für ihr Kompliment, während ihr Mann mißmutig auf sie und seine beiden Söhne blickte. Es war in der Familie kein Geheimnis, daß er die beiden Burschen lieber gestern als morgen vor die Tür setzen wollte. Aber Dana hielt ihre schützende Hand über die beiden, und die wußten das auch.
"Seid ihr Weihnachten wieder bei deiner Familie, Regina?" Fragte Lynn ihre Schwägerin.
"Umgekehrt wird ein Schuh draus, Lynn. June und ihre Kinder kommen zu Hugo und mir. Aurora will bei ihrer obersten Chefin durchdrücken, daß sie zumindest zwischen Weihnachten und dem dreißigsten Dezember frei bekommt. Der Jahreswechsel ist bei denen da unten fast so ein Wichtelflug wie Halloween. Da sollten schon alle Heiler bereit sein."
"Ach, was passiert denn da. Explodieren da die Muggels an magischen Knallfröschen?" Wollte Barney wissen.
"Also, Aurora durfte mir mal erzählen, daß ein Muggelstämmiger meinte, sich künstlich alt werden zu lassen um dann Schlag zwölf durch den Infanticorpore-Fluch zum Baby zurückverwandelt zu werden. Dann wollte der sich wieder erwachsen machen lassen. Hat aber nicht geklappt, und die Heiler mußten dem dann helfen, bis sie den Mischmasch aus Alterungstrank und Infanticorpore-Fluch entwirrt haben und ihn wieder zum eigenständigen Menschen zurückwachsen lassen konnten."
"Muggelstämmige. Wer sonst murkst mit Tränken und Flüchen zugleich rum?" Schnarrte Chester gehässig. Sein Bruder grinste beipflichtend.
"Wäre bei euch zweien keine große Veränderung, wenn euch wer mit dem Fluch erwischt", blaffte nun Gordon. "ihr geht doch nur deshalb auf's Klo, weil's keine Windeln in eurer Größe gibt."
"Ey, so nich'", entrüstete sich Chester, der ältere der beiden Nesthocker. "Wenn du mir blöd kommst können wir das gerne mal vor der Tür klären."
"Sage ich doch, wie ein Baby", feixte Gordon. "Kann nix einstecken, ohne gleich laut loszuplärren."
"Wie erwähnt, wir können das gerne gleich mal vor der Tür klären. Barney ist bestimmt mein Sekundant."
"Ich duelliere mich nur mit Männern", versetzte Gordon. Arco Dawn sah die beiden Streithähne sehr drohend an und sagte: "Unter Regans und meinem Dach wird nicht gedroht und nicht duelliert. Wenn ihr euch nicht benehmen könnt kassiere ich eure Zauberstäbe ein und lasse euch den ganzen Krempel hier von Hand abräumen und sauberspülen."
"Damit die zwei meine Küche ruinieren?" Fragte Regan erbost. "Aber du hast recht, Arco. Hier hat sich keiner zu duellieren, der von uns abstammt, klar?!"
"Ich lasse mich von dem Angeber da nicht blödquatschen, Oma Regan", beharrte Chester auf seine Genugtuung.
"Ich kann dir auch gerne den Infanticorpore aufhalsen, Jüngelchen", schnarrte Regan. "Denn irgendwie scheint Gordons Vermutung ja doch zu stimmen." Das wirkte. Denn alle hier wußten, daß Regan Dawn nicht nur eine meisterhafte Küchenhexe war, sondern mit Verwandlungen und Flüchen bestens vertraut war. Dana sah ihre Mutter an und meinte:
"Dann lasse ich den aber bei dir. Noch mal großfüttern tu ich den nicht."
"Hast du es denn schon geschafft?" Fragte Lynns Mann Humbert seine Schwägerin. Dana grummelte nur, beließ es aber dabei. Hugo mentiloquierte seiner Frau zu:
"Die beiden müssen langsam echt aus Danas Nest raus, sonst lernen die nie, sich zu benehmen."
"Sag das deiner Schwester, Hugo", schickte Regina ihrem Mann zurück. Regan sah es wohl, daß ihr Sohn mit seiner Frau Gedankenbotschaften austauschte, wenngleich die beiden sich nichts davon anmerken ließen. Chester hatte sich gerade wieder auf das Spiel morgen eingeschossen, um bei seiner Oma gutes Wetter zu machen.
"Und ihr seid dann die alte Truppe, die in den Fünfzigern viermal den Meisterpokal geholt hat?" Fragte Chester.
"Die alte Hexenbande, Chester. Audrey, Ginger und ich als Jägerinnen, das Küken Gwen im Torraum, die Bauernweiber Gladys und Rhianon hauen die Klatscher und die kleine Glynnis fängt uns den Schnatz."
"Und wen bringen die bei den Tornados?" Fragte Chester.
"Das weiß ich nicht. Werden wir morgen früh wissen, wer sich traut, gegen uns zu verlieren", erwiderte Regan Dawn.
"Wenn die Conan Bullhorn ins Tor setzen wird's aber schwer. Der hat sich noch gut in Form gehalten", meinte Barney. "Seid dann froh, wenn die den nicht zum Treiber machen!"
"Conan? Der knirscht doch schon, wenn der sich die Schuhe zubindet", entgegnete Regan Dawn so laut und überlegen klingend, daß Gordon und Humbert zusammenfuhren. "Wenn der in Form ist bin ich gerade sechzehn Jahre alt."
"Regan, der reitet die neuen Sauberwischs zu. Der muß in guter Form sein", wandte Regans Mann ein. "Die Tornados wissen schließlich selbst, gegen wen die morgen spielen müssen und werden kein altes Klappergestell auf einen Besen lassen. Die wollen ja schließlich gewinnen."
"Gewinnen wollen dürfen die gerne, Arco. Aber gewinnen tun werden sie nicht", erwiderte Regan Dawn sehr entschlossen. Hugo sah seine Frau an und dann seine Mutter.
"Auroras Angebot gilt noch, Mum. Ich habe ihren Rennbesen bei mir zu Hause. Wenn die diesen Rüpel Bullhorn ins Tor setzen könntest du mit einem schnelleren Besen besser ausweichen."
"Ich habe schon gegen den gespielt, als deine Geschwister und du noch nicht geboren waren und habe auch oft genug gegen den gespielt, als ihr schon in Hogwarts wart. Ich habe meinen Silberpfeil heute noch mal richtig ausgeflogen. Wir zwei sind uns einig, daß wir gegen wen auch immer von der Altherrentruppe der Tornados durchkommen. Und wenn Glynnis uns in den ersten fünf Minuten den Schnatz fängt braucht dieser wurmstichige Kleiderschrank auch keine Sorgen mehr zu haben, sich mit Audrey, Ginger oder mir anlegen zu müssen."
"Aber nur, wenn Glynnis Griffith mit Brille spielen darf", feixte Barney, der offenbar darauf aus war, seinem älteren Bruder die Einschleimtour zu vermasseln.
"Die sieht aus hundert Metern noch jedes überstehende Barthaar von dir, Jungchen. Da braucht die zum spielen keine Brille", versetzte Regan. Doch Barney ließ nicht locker:
"Bist du die Medimagierin von den goldenen Harpyien, daß du das so genau weißt, Oma Regan. Die könnte euch das auch nur vorspielen oder mit bezauberten Kontaktlinsen hantieren, die ihr einen Falkenblick geben. Aber unsichtbare und überragend wirkende Sehhilfen sind gegen die Quidditchregeln. Sehhilfen müssen offen sichtbar getragen werden."
"Ihr kriegt das morgen alle zu sehen, wie gut die kleine Glynnis noch gucken kann", schnarrte Regan Dawn sichtlich verärgert. Chester funkelte seinen Bruder an. Humbert Murray wandte dann ein, daß die Harpies schon aufpaßten, daß ihre älteren Spielerinnen sich nicht blamieren könnten. Hugo und seine Frau stimmten dem zu.
"Und ihr habt euch auch die Newport als Hebamme engagiert?" Fragte Dana Adda und Collin.
"Die hat im Moment wieder Zeit", sagte Danas Nichte. "So gegen den siebten Februar soll das Kleine ankommen. Sie wollte auch, daß Collin bei der Gymnastik mitmacht. Aber der haut immer ab, wenn sie läutet."
"Der muß das Kind ja auch nicht rumschleppen und rausdrücken", meinte Barney dazu, während sein Bruder ihn nun finster von der Seite anblickte. Adda sah ihren Cousin an und erwiderte sehr entschlossen:
"Deshalb trag ich das ja und nicht du Lusche, die noch bei den Eltern im Haus rumgammelt."
"Ey, Moment, wir gammeln nicht rum", protestierte Chester, der sich diesen Schuh auch locker anziehen konnte. "Wir schaffen beide für unser Essen und unsere Klamotten. Du würdest dir auch kein Kind zulegen, wenn dein Mann nicht für dich mitschaffen könnte. Also warum soll der dann bei diesen Hampelübungen mitmachen?""Weil das vielleicht die Partnerschaft fördert?" Brachte Hugo eine als Frage verkleidete Meinung an. "Ich habe meiner Frau auf jeden Fall geholfen, damit zurechtzukommen, als Aurora unterwegs war. Aber ich fang hier jetzt nicht mit euch eine Diskussion über Sachen an, von denen ihr nichts verstehen wollt. Ich will nur einen gemütlichen Abend verbringen und mir morgen das Spiel der goldenen Harpyien ansehen, wie ihr anderen hier auch."
"Dana, ich denke, langsam sollten deine zwei Söhne es begreifen, daß sie sich nicht mit jedem anlegen sollen", schnarrte Humbert an die Adresse seiner Schwägerin. Danas Mann glotzte ihn dafür zwar verdrossen an, mußte aber nicken.
Weil die Unterhaltung über das Spiel der goldenen Harpyien offenbar auch nur Zank hervorbrachte redeten sie über Australien, ob Hugo und Regina schon bei ihrer Tochter gewesen wären, um sich anzusehen, wie und bei wem sie so wohnt. Regina Dawn erwähnte, daß sie bisher nur für ein Wochenende im September einmal dort unten gewesen seien und was sie dort so mitbekommen hatten. Dann ging es noch einmal um Addas und Collins Baby, ob die beiden nicht langsam wüßten, ob es ein Junge oder ein Mädchen würde. Adda erwiderte jedoch nur darauf, daß sie bis zur Geburt nicht wissen wollten, welches Geschlecht das Kind besäße. Danach ging es um Gordons Sohn in Hogwarts, wo sie ja heute auch Halloween feiern würden. Sie sprachen über die Lehrer, von denen die meisten hier Flitwick, McGonagall und Sprout noch selbst miterlebt hatten, wobei Regan und Arco nur Albus Dumbledore und Horace Slughorn als Lehrer mitbekommen hatten. So schwelgten sie in Erinnerungen an frühere Halloweenfeste dort. Dann holten Arco und Lynn die Musikinstrumente herein, Handsägen mit Geigenbögen, Schellentrommeln in Form von Totenschädeln und Schlaghölzer in Form von Knochen. Dann sangen sie alte zaubererlieder über das unsichtbare Reich der Dahingegangenen, dessen Pforten zu Halloween ein kleines Stück geöffnet würden oder von wilden Feuern in finsteren Nächten, an denen die Geister der Verstorbenen ihre lebenden Nachfahren besuchten, um ihnen Rat zu geben. Sie wechselten sich beim Spielen ab, so das der Rest der Familie auf der von den Ledermöbeln freigeräumten Fläche tanzen konnte. Regan tanzte sehr wild mit ihrem Mann, ihrem Sohn und ihrem Schwiegersohn Kelvin, während Regina Dawn mit ihrem Schwiegervater, Humbert und Collin tanzte. Die beiden Söhne Danas spielten lieber auf den singenden Sägen. Tanzen war nicht ihr Ding.
Als Regan Dawn gerade mit ihrem Mann Arco unter dem Kronleuchter tanzte und dabei einen wilden Sprung machte, klapperte eines der Skelette am Kronleuchter mit den Beinknochen heftig aneinander. Dabei rutschte sein linkes Schlüsselbein vom Haken, an dem Arco es befestigt hatte. Das puppengroße Knochengerüst fiel herab und landete klappernd auf Regan Dawns Kopf. Erschrocken griff die Hausherrin nach oben und bekam das nun aufgeregt mit allen freibeweglichen Knochen zappelnde Gruselschmuckstück zu fassen. Sie erbleichte für einen Moment. Denn das Skelett, was sie in der Hand hielt war die Erinnerung an den ermordeten Sohn Dustin. Einen langen Moment stierte sie auf die sich nun beruhigenden Knochen, die durch haardünne Silberdrähte zusammengehalten wurden. Dann fing sie sich wieder. Sie sah nach oben, wo die beiden anderen Gruseldekorationsobjekte gerade ganz ruhig herabbaumelten. Dann gab sie Arco den kleinen Knochenmann, damit er ihn wieder aufhängen möge. Lynn sah dem ganzen mit wachsweißer Miene zu, während die anderen zwischen Irritation und Gleichgültigkeit verfolgten, wie die Dekoration repariert wurde. Dann meinte Regan:
"Der Haken ist wohl verrutscht, weil wir so getobt haben. Habe mich nur erschreckt, weil mir das Ding auf den Kopf geknallt ist, Leute. Hoffentlich habe ich morgen keine Beule. Sähe nicht gut aus, wenn ich die Ehrenrunde nach dem Spiel fliege."
"Dieses Gerippe krachte bisher nie runter, wenn wir richtig heftig rumgehopst sind", meinte Gordon. "Hoffentlich hält der Kronleuchter noch."
"Ich würde es nicht mehr da oben hängen lassen, Mum", sagte Lynn. "Vielleicht wollte es dir was bestimmtes sagen."
"Neh, Lynn, nicht das", seufzte Hugo. Doch seine älteste Schwester fuhr bereits fort. "Das war Dustins Erinnerung, nicht wahr? In dem Jahr, wo er starb hatte er diese Auseinandersetzung mit einem großen, schwarzen Hund, der aus einem Spukhaus herauskam und ihn ansprang. Und Weihnachten hat ihn Ihr-wißt-schon-wer ermorden lassen."
"Das war ein in Panik geratener Labrador, der sich vor zwei Leuten aus der kopflosen Jagd erschreckt hat, Lynn, kein Grimm", schnarrte Hugo. "Dieser ganze Popanz mit den Todesomen ist nur für ängstliche Gemüter, die sich leicht von sowas einschüchtern lassen. Vor zehn Jahren hat ein Zauberer einen pechschwarzen Schäferhund gezüchtet und den auf doppelte Größe anwachsen lassen, um seine magischen Nachbarn zu erpressen, er würde ihnen den Todeshund auf den Hals hetzen. Der Typ ist erwischt und zu fünf Jahren Askaban wegen unerlaubter Bezauberung von nichtmagischen Haustieren in Tatmehrheit mit Erpressung und tätlicher Angriffe verurteilt worden."
"Vielleicht möchte Tante Lynn Oma Regan warnen, daß das an Onkel Dustin erinnernde Gerippe ihr sagen wollte, sie bald auf der anderen Seite begrüßen zu können", feixte Barney. Lynn wirbelte herum, kreidebleich und dann wutrot. "Du trollhirniger Dummkopf! Über sowas macht man sich nicht lustig."
"Es hätte auch eines von den beiden anderen runterfallen lassen können", sagte Regan darauf ganz kühl. "Ich halte nichts von der Wahrsagerei und dem ganzen Getue mit Omen und Schicksalszeichen, Lynn. Sollen wir zwei echt noch mal die Diskussion wiederholen, die wir damals hatten, als du in der dritten Klasse meintest, mir alles mögliche vorhersagen zu müssen und dich bei jedem auffliegenden Vogel erschreckt hast, weil die Richtung seiner Schwanzfedern ein Erdbeben oder eine Pestepidemie ankündigen könnte. Du erinnerst dich sicher noch dran, daß ich eurem damaligen Lehrer einen heuler geschickt habe, meine Tochter nicht in Angst und Schrecken zu halten und dieses dumme Zeug von der Ornithomantik schnell wieder aus dem Lehrplan zu streichen, wenn er nicht selbst Federn und Flügel haben wollte. ich wußte nicht, daß du diesem Firlefanz immer noch so nachhängst."
"Du hast mir damals erlaubt, dieses Fach zu lernen, Mutter", schnarrte Lynn. "Das hast du nicht getan, weil du nichts davon hältst."
"Ach, das wieder. Wenn ich jemandem etwas erlaube finde ich das gut, was er oder sie macht", antwortete Regan. "Ich habe dir das damals nur durchgehen lassen, diesen Unsinn zu lernen, weil ich wollte, daß du mitbekommst, daß es eigentlich unmöglich ist, die Zukunft vorherzusagen und du dein Leben nicht auf irgendwelchen Ausdeutungen aufbaust. Erzähl mir jetzt ja nicht, daß du Humbert auf Grund der Karten oder einem Lichtreflex in einer Kristallkugel ausgewählt hast!" Humbert sah seine Frau fragend an. Diese entgegnete, daß sie den Hochzeitsstein bei Glocester befragt habe. Humbert sah sie verdattert an, während Regan und Hugo Dawn ungehalten aufseufzten.
"Wie viel ziehen die dafür heute ab, wenn sie eine Hexe auf diesen Stein klettern lassen?" Fragte Hugo. Keiner außer seiner ältesten Schwester konnte das beantworten.
"Kann mir mal wer sagen, was das sein soll, der Hochzeitsstein?" Fragte Chester.
"Ein Monolith in einem Wald, in dem von der Druidenzeit her noch Muggelablenkzauber wirken. Die Druiden haben da ihre magischen Kräuter gesammelt und ihre Rituale vorbereitet", erwiderte Regina Dawn. Irgendwann kam man darauf, daß der Stein das Geschlechtsteil des Lebensgottes sei und daß dieser jedem, der etwas Blut spende verrate, mit wem er oder sie gesunde Nachkommen haben würde. Bei jungfräulichen Hexen kommt sowas gut an, weil deren Monatsblut angeblich diesen Zauber unfehlbar macht. Deshalb wird seit dem Ende der Druidenzeit viel Gold damit kassiert, interessierte Hexen oder Zauberer an diesen Stein zu lassen. Wer mit Blut getränktem Finger den Namen des gerade auserwählten Kandidaten an den Stein schreibt, und der Name sofort vom Stein eingesaugt wird, weiß, daß er oder sie mit dieser Wahl glücklich wird. Wenn der Stein aber selbst zu bluten anfängt, bis der Name komplett verwischt ist, sollte sich die Fragende von diesem Auserwählten fernhalten. Ich weiß nicht, wie sie es machen. Jedenfalls kassieren die je nach Herkunft des fragenden eine Menge Gold ab. Denn die Leute, die den Stein bewachen, verheißen einem damit ja eine sichere oder auch glückliche Zukunft. Das können die sich ja ruhig was kosten lassen."
"Der Stein funktioniert, du ungläubige Schwägerin. Daß ausgerechnet du, eine Arithmantikerin, die Macht der Vorhersage anzweifelst ist pure Heuchelei", schnarrte Lynn. Humbert sah seine Frau an und nickte dann. Offenbar wollte er ihr sagen, daß er das zwar merkwürdig fand, wenn eine Hexe so ihren Ehemann auswählte. Aber da das Ergebnis ihm ja gefallen hatte wollte er nicht weiter darüber streiten.
"Das einzig wirksame Zaubermittel um eine Partnerschaft zu bestätigen ist diese mysteriöse Mondburg in den Pyrenäen", sagte Dustins Witwe. "Dustin hat mir das erzählt, daß es sie gibt, und daß ein Zauberer, der auf den Schultern einer Hexe über die gläserne Zugbrücke getragen werden könne, ein langes und glückliches Leben mit dieser Hexe verbringen mochte."
"Nur, daß diese Burg sich nicht jedem zeigen will", erwiderte Arco Dawn darauf. Da stimmten sie ihm zu.
"Wie dem auch alles sei, Lynn. Das kleine Gerippe ist nur Dekoration. Es enthält nichts von Dustin, und somit kann es auch nicht in seinem Namen auf meinen Kopf gepurzelt sein. Es hängt nur da, damit wir uns an ihn erinnern", stellte Regan klar. "Also hören wir besser damit auf."
"Vielleicht auch besser so", erwiderte Lynn, die merkte, daß ihre dunklen Vorahnungen hier weder geteilt noch begrüßt wurden.
Der Vorfall mit dem kleinen Knochenmann verflog schnell in weiteren Rückbesinnungen auf Halloweenfeste und Gespräche über nicht mehr lebende Freunde und Verwandte. Dann kam die Mitternachtsstunde. Außer den Kerzen in den Kürbissen wurden alle Lichter gelöscht. Eine Minute lang standen sie im Kreis und hielten sich an den Händen. Jeder dachte an Freunde oder Bekannte, an die Opfer des Unnennbaren oder nach vielen Jahren friedlich eingeschlafenen Verwandten. Dann wurden die zwölf Kürbisse von den Wänden abgenommen und mit ihren unheimlich flackernden Kerzen nach draußen getragen. Dabei sprachen sie eine altkeltische Formel, in der die Verbundenheit zwischen den Lebenden und Toten bekräftigt wurde, und daß die vorangegangenen die noch in der Welt weilenden in ein neues, friedliches und glückliches Jahr geleiten mögen. Danach ging es ins Haus zurück, wo sie im Schein der Kürbiskerzen noch einen Umtrunk hielten. Als es ein Uhr war, verabschiedeten sie sich alle zur Nachtruhe. Jeder hier wußte, wo sein oder ihr Zimmer lag. Denn viele der Gäste hatten schon ein paar Nächte im Haus der Dawns zugebracht. Eine halbe Stunde später kehrte völlige Stille in das Ziegelhaus ein. Morgen früh würde Regan Dawn den Umhang der goldenen Harpyien anziehen und auf ihrem Silberpfeil 4 um den Sieg spielen.
Aurora Dawn erhielt am Morgen des ersten Novembers die per Expresseule zugestellte Anweisung, sich um zwölf Uhr mittags im Büro von Zunftsprecherin Morehead einzufinden. die Angelegenheit Pinewood mußte so rasch wie möglich geklärt werden. Auch Redrocks Schulheilerin Greenlief war zum Raport befohlen worden.
Aurora verband nur positive Momente mit der Einrichtung von Laura Moreheads Sprechzimmer. Die Zunftsprecherin der australischen Heiler hatte sie hier zur aprobierten Heilerin erklärt und ihr die Erlaubnis zur Weltreise erteilt, damit "Der kleine Hexengarten" ordentlich geschrieben wurde. Würde sie heute ein etwas unangenehmeres Erlebnis in diesem Büro haben? Eigentlich nicht. Denn sie selbst hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen, was weder nach den allgemeinen Zaubererweltgesetzen noch nach den Regeln der Heilerzunft verboten war.
Im bequemen, hochlehnigen Ohrensessel saß die in einen veilchenblauen Umhang gehüllte, untersetzte Hexe mit der schwarzen Lockenfrisur, die Aurora kurz nach dem Ende ihrer Hogwarts-Zeit zum ersten mal gesehen hatte. Laura Morehead betrachtete die junge Kollegin durch ihre Brille und deutete auf einen freien Stuhl. "Setz dich bitte. Wir warten noch auf Daphne. In Redrock gab es zu Halloween einen Unfall, als drei Leute auf Besen einen überdimensionalen Kürbis am Himmel entlangziehen wollten und die Kerzenflamme des Kürbisses einen Besen in Brand gesetzt hat. Die drei haben es alle überlebt. Aber einer mußte wegen Brandverletzungen am Hinterteil eine Nacht im Krankenflügel verbringen."
"Ich hörte mal davon, daß in Redrock dieser Brauch alle geraden Jahre stattfindet, seitdem 1892 ein Schüler einen Kürbis mit Schwelltrank und Federleichtzauber zu einem großen Ballon aufgeblasen hat, in den er mehrere beindicke Kerzen hineingesteckt hat", sagte Aurora. Laura Morehead nickte.
"Ich durfte diesen Kürbis selbst zweimal ziehen", erwähnte sie. "Eigentlich eine harmlose Sache. Harmloser als die Walpurgisnacht in Greifennest oder Beauxbatons. Aber offenbar meinte einer der Kürbisbegleiter, mit seinem Besenschweif an eine der Kerzen geraten zu müssen. Die alten Willy-Willys brennen wie Zunder, wenn sie mehr als einen Monat nicht an der Frischen Luft waren. Aber sei es! Dir ist natürlich bekannt, daß ich gezwungen war, der werten Magnolia Pinewood noch einmal einen Heuler zu senden?" Aurora nickte bestätigend. "Natürlich wollen und dürfen wir es nicht auf uns sitzen lassen, daß jemand außerhalb der Zunft behauptet, wir würden gegen unsere Gesetze verstoßen. Mrs. Pinewoods Lebenslauf konnte ich entnehmen, daß sie im Zuge ihres Berufes sehr gut legilimentieren kann. Daher halte ich es für viel eher wahrscheinlich, daß sie ihre eigene Tochter ausgeforscht hat. Das hätte sie dann aber auch zugeben können."
"Es macht sich für sie wohl besser, wenn jemand anderes das getan hat", erwiderte Aurora Dawn. "Bin nur gespannt, ob die Jenkins' sich mit mir in Verbindung zu setzen trauen."
"Dazu wollte ich dir auch noch was sagen, Aurora. Es ist schon gut, daß die beiden eine Anlaufstelle haben, wenn sie es sich doch überlegt haben. Aber du mußt nun auch darauf gefaßt sein, daß diese Leute dein Vorleben nachprüfen lassen und womöglich auf die Idee kommen, dich von diesen Muggelordnungshütern vernehmen zu lassen. Ich schlage dir deshalb vor, dein Haus mit weitläufigen Muggelvorwarnzaubern zu versehen, damit du früh genug auf einen Besuch vorbereitet bist."
"meine Muggelweltdokumente sind doch einwandfrei. Ich bin hier seit 1984 als sogenannte Medizinstudentin gemeldet und seit 1989 als Naturheilpraktikerin und ausgebildete Hebamme. Die Heilerzunft hat doch die entsprechenden Zertifikate erstellt."
"Ja, und die entsprechenden Stellen in der Muggelwelt werden auf Nachfrage bestätigen, daß du in diesem Zeitraum hier ausgebildet wurdest und deine ordentliche Niederlassung erhalten hast. Könnte den Jenkins' nur einfallen, dich als Störfaktor für ihr scheinbar so heiles Familienleben zu sehen."
"Du meinst, weil sie nicht so unwichtig oder arm sind, Sprecherin Morehead?""Die Pinewoods und du habt da ohne es zu wissen in ein Wespennest gestochen. Mr. Jenkins arbeitet für das Innenministerium der Muggel und seine Frau hat Verwandte in wohlhabenden Kreisen. Allein schon, daß sie sich ein Haus mit Blick auf die Hafenbrücke und das Opernhaus leisten können bestätigt das. Und ihr feiner Sohn, der in einem Internat in der Nähe von Melbourne seine Schulzeit verbringt, falls überhaupt, hat schon einmal mit einem jungen Mädchen angebandelt und mit ihr außerehelich verkehrt. Dies ging vor einem Jahr durch die Muggelzeitungen. "Casanova Junior sammelt erste Erfahrungen" hieß die Schlagzeile. Casanova war ein italienischer Adeliger, der für sein ausschweifendes und wechselhaftes Liebesleben berühmt wurde und damit gleichartig lebenden und liebenden Männern seinen Namen als Bezeichnung verlieh."
"Achso", erwiderte Aurora. "Und jetzt denken seine Eltern, er habe wieder eine junge Frau ohne Erlaubnis seiner und ihrer Eltern geliebt und dabei nicht auf Empfängnisverhütung geachtet?" Fragte Aurora.
"Genauso ist es, Aurora. Insofern fürchte ich, daß die Jenkins' nun alles daransetzen werden, einen derartigen Skandal nicht noch einmal geschehen zu lassen. Nach deinem Bericht haben diese Muggel ja sehr entrüstet bis entsetzt dreingeschaut, als Mr. und Mrs. Pinewood sie mit den Tatsachen vertraut machten, daß er wohl nicht auf Tasmanien war, sondern an der Botanikerbucht. Natürlich haben sie das erst als Lüge abgetan. Aber sie werden sich nun fragen, ob es Zeugen dafür gibt, daß er entweder an dem einen oder dem anderen Ort war. je danach, welches Ergebnis sie erhalten werden sie befinden, ob sie die Angelegenheit als Lüge stehen lassen oder sich mit der unangenehmen Wahrheit auseinandersetzen."
"In welcher Weise?" Fragte Aurora.
"Ich muß fürchten, daß diesen Leuten daran gelegen sein könnte, entweder durch die Zahlung eines hohen Schweigegeldes jede weitere Erwähnung dieses Vorfalls zu vergessen beziehungsweise ihrem Sohn jede Verantwortung für Ms. Pinewoods Kind durch eine einmalige Zahlung vergessen machen, die pränatale Tötung des Kindes verlangen oder jeden Mitwisser durch Einschüchterungen oder Gewaltmaßnahmen am Reden zu hindern. Wir hatten vor dreißig Jahren einen solchen Fall, wo ein Kollege von auf ihr Vermögen setzenden Muggeln bedroht wurde, entweder die Unterlagen über ihr magisch begabtes Kind verschwinden zu lassen oder sich in einer unangenehmen Lage wiederzufinden. Der Kollege lehnte die Beseitigung der Unterlagen ab, zumal Redrock wie Hogwarts ein sich selbst erweiterndes Register für magisch begabte Kinder besitzt. Als dann aber drei dubiose Zeitgenossen versuchten, den Kollegen mittels primitiver Schlagringe tätlich anzugreifen, sah er sich gezwungen, Notfallklausel sieben zu befolgen und sein Gelübde, Menschenleben unversehrt zu erhalten für einige Momente zu vergessen und die drei Herrschaften durch gezielte Schockzauber außer Gefecht zu setzen. Du hast eine in der Muggelwelt bekannte Adresse. Sei also bitte auf der Hut vor solchen Gewalttätern!"
"Dann beantrage ich einen Drachenhautpanzer, bis geklärt ist, wie sich die Jenkins' verhalten. Mein Haus ist bereits mit genügend Abwehrzaubern umgeben, daß feindselige zeitgenossen es nicht betreten können. Aber wenn ich in einen Einsatz gehe kann ich nicht auf sogenannte Profi-Killer oder Schläger achten, also Leute, die dafür bezahlt werden, Menschen zu verletzen oder zu töten."
"Gut, den Drachenhautpanzer erhältst du sofort", sagte Laura Morehead. Sie holte einen Pergamentzettel aus ihrem Schreibtisch und legte ihn vor Aurora hin. Es war ein Formular, mit dem sie beantragen sollte, daß sie wegen einer nicht näher bestimmbaren Gefährdung von Leib und Leben einen Drachenhautpanzer erbat, mit dem sie zumindest vor magieloser körperlicher Gewalt geschützt war. Als sie dieses ausgefüllt hatte unterschrieb sie es. Laura Morehead unterschrieb es im Feld "Genehmigt" und verschloss den Umschlag mit einem Wachssiegel, dem sie ihren Zunftsprecherinnenring eindrückte. Dann warteten sie auf Daphne Greenlief.
Die Schulheilerin von Redrock stellte sich gegen ein Uhr der Canberra-Zeit bei Laura Morehead ein. Zusammen mit Aurora Dawn besprach die Zunftsprecherin den Vorfall und erkundigte sich nach dem Befinden von Bromelia Pinewood.
"Nun, ihre besten Schulfreundinnen unterstützen sie bei allem, was durch die sich entwickelnde Schwangerschaft schwieriger wird. Schulleiter Marbleporch hat eine schulweite Verordnung herausgegeben, daß jeder, der Ms. Pinewood mit Zauberei oder körperlicher Gewalt bedroht oder angreift wegen versuchten Kindesmord der Akademie verwiesen und dem Zaubergamot zur Aburteilung übergeben werden soll", meldete die Heilerin. "Dies wurde nötig, weil es wiederholt zu Bedrohungen durch Bewohnerinnen aus Shadelake kam. Eine Siebtklässlerin von Owlstreak konnte noch verhindern, wie zwei Mädchen aus Shadelake Ms. Pinewoods Kopf in eine Toilettenschüssel tunkten, um sie entweder zu verängstigen oder wahrhaftig zu ertränken. Die drei Damen befinden sich gerade im Gewahrsam des Zaubereiministeriums. Ihre Schulzeit ist unwiederbringlich beendet. Ob der tätliche Übergriff die vorzeitige Beendigung wert war müssen die drei nun mit sich selbst ausmachen." Aurora beherrschte sich mühsam. Die Shadelakers verhielten sich ja beinahe noch brutaler als die Slytherins zu ihrer Schulzeit. Aber klar, wenn diese nur damit großgezogen wurden, daß nur reinblütigen Hexen und Zauberern die Zukunft gehörte und Hexen auf gar keinen Fall von Muggeln Kinder bekommen durften. So sagte sie mit einem gewissen Sarkasmus:
"Am besten schickt Professor marbleporch gleich alle Shadelakers nach Hause."
"Unschuldig bis zum Beweis der Schuld, Aurora", maßregelte Großheilerin Laura Morehead ihre junge Kollegin. "Selbst wenn in eben diesem Schulhaus überwiegend viele Verfechter der Reinblütigkeitsvorrangstellung untergebracht sind, können wir nicht ein ganzes Schulhaus leerräumen und dessen Bewohner von der Akademie verweisen lassen und gar ins Gefängnis stecken."
"Zumindest dürfte Ms. Pinewood neben ihren schulischen und pränatalen Aufgaben keine weitere gravierende Feindseligkeit mehr zu erwarten haben", entgegnete Heilerin Greenlief. Dann ging es um den Kindsvater, Auroras Besuch bei den Jenkins' und Mrs. Pinewoods Behauptung, Daphne Greenlief habe Bromelia legilimentisch ausgeforscht.
"Anstatt sich gegen diese Leute zu sichern sollten wir deren Gedächtnis korrigieren lassen und die Pinewoods dazu bewegen, den Kindsvater nicht in die unmittelbare Verantwortung zu nehmen. Bromelia kann ihrem Kind irgendwann erzählen, wer sein Vater ist und warum dieser nicht willens oder fähig war, sich um sein Kind zu kümmern", schlug Heilerin Greenlief vor. Doch Laura Morehead sah es anders.
"Es kann nicht angehen, daß junge Menschen, die körperlich zeugungsfähig sind und den Liebesakt zum reinen Spaß vollziehen, jeder Verantwortung für die daraus möglichen Konsequenzen enthoben werden, Daphne. Ich habe Nachforschungen über diesen Halbwüchsigen anstellen lassen und dabei erfahren, daß dies nicht sein erster Fehltritt in dieser Richtung ist. Genau deshalb haben dessen Eltern ja auch so abweisend reagiert. Sicher wäre es um Auroras Sicherheit willen günstiger, den Eltern eine Gedächtnisveränderung aufzuerlegen. Aber dann müßte man Ms. Pinewoods Kind das Recht auf vollständige Kenntnis seiner Abkunft verweigern. Denn wenn dieses Kind eines Tages befinden sollte, seinen Vater aufzusuchen und dieser nicht darüber in Kenntnis gesetzt wurde, daß er ein Kind gezeugt hat, würde es zu ungleich schwierigeren Verwicklungen kommen", hielt Madam Morehead ihrer Kollegin entgegen. Ein leises Hüsteln erklang hinter der Großheilerin. Eine ziemlich betagt aussehende Hexe in weitem, waldmeistergrünen Umhang hatte gerade das bis dahin leere Gemälde über Lauras Kopf betreten. Als die gemalte Hexe die volle Aufmerksamkeit der Anwesenden hatte meldete sie mit rabenhaft krächzender Stimme:
"Schulheilerin Greenlief wird unverzüglich ersucht, nach Redrock zurückzukehren. Ms. Pinewood hat eine Überdosis des Trankes der folgenlosen Freuden eingenommen."
"Nein! Warum tut sie sowas?" Schnarrte die Schulheilerin und erbat sich mit einer Handbewegung Richtung Kamin die Erlaubnis, an ihren Arbeitsplatz zurückkehren zu dürfen. Laura nickte so heftig sie konnte. Daphne Greenlief warf aus einem Tonkrug Flohpulber auf das schwach flackernde Feuer und ließ dieses zu einer smaragdgrünen Flammenwand auflodern. Mit einem ihrem Alter nicht mehr so recht zugetrauten Satz hechtete sie in den Kamin hinein und rief: "Redrock Krankenflügel!" Mit lautem Rauschen verschwand Daphne Greenlief im grünen Feuer, das keine zwei Sekunden später zu normal weiterzüngelnden Flammen zusammenfiel.
"Offenbar hat Ms. Pinewood eine Entscheidung getroffen", kommentierte Zunftsprecherin Morehead, während Aurora sichtlich erbleichte.
"Selma, bitte kehren Sie nach Redrock zurück, um mir unverzüglich zu melden, ob noch etwas für das Ungeborene getan werden konnte!" Wies Laura die gemalte Hexe in Waldmeistergrün an. Diese nickte und trat nach links in den Bilderrahmen, worauf sie aus dem Gemälde verschwand.
"Wenn sie eine Überdosis genommen hat kann sie sich eine tödliche Blutung zuziehen. Wie ist sie an den Trank herangekommen?" Seufzte Aurora.
"Einer der Mitschüler könnte ihn ihr heimlich gebraut oder zum Kauf angeboten haben", sagte Laura Morehead.
"Ja, aber eben hieß es doch noch, sie käme mit der Lage zurecht", wandte Aurora ein.
"Nicht ganz, Aurora. Die Kollegin Greenlief hat lediglich erwähnt, daß ihre besten Schulfreundinnen sie unterstützen würden und Schulleiter Marbleporch verfügt habe, daß jeder auf sie versuchte Angriff zum Schulverweis und möglicher Aburteilung durch den Zaubergamot führen würde. Wissen wir wirklich, was dieses Mädchen empfand und ob es wahrhaftig mit der Situation klarkam?"
"Ja, aber dann muß sie jetzt die Schule wegen Kindesmordes verlassen", wandte Aurora ein. "Unsere Regeln sagen deutlich, daß das Wohl eines Kindes zu schützen ist, sobald es eindeutig im Mutterleib nachgewiesen werden kann."
"Das gilt für uns, Aurora. Wir dürfen keinen Eingriff vornehmen, um das Leben eines Menschen, ob ungeboren oder kurz vor dem natürlichen Ableben, gezielt zu gefährden oder zu beenden. Da wir aber nicht immer um jemanden herumlaufen können, können wir nicht tausendpromillig ausschließen, daß eine werdende Mutter sich selbst verletzt oder durch Tränke den Verlust der Leibesfrucht herbeiführt. Da ich Heilerin Greenlief herzitiert habe, mußte sie vorübergehend ihren Verantwortungsbereich verlassen und trägt daher keine Schuld, falls die Schülerin durch diesen verwerflichen Trank ihr Kind verliert. Allerdings dürfte sie nach Marbleporchs Verfügung selbst den Abbruch ihrer Ausbildung herbeigeführt haben. Ob der Zaubergamot sie dann des Mordes an ihrem Kind oder lediglich der mutwilligen Einnahme körperschädigender Gebräue in Kenntnis einer Schwangerschaft anklagen und verurteilen wird liegt dann leider nicht bei uns."
"Ist der Trank der folgenlosen Freuden in Redrock erlernbar?" Fragte Aurora. Laura Morehead schüttelte den Kopf. Selbst in der für UTZ-Schüler beschränkten Abteilung der Bibliothek lag keine Abschrift des Rezeptes aus. "Dann muß sie den Trank von jemand von außen erhalten haben", sagte Aurora Dawn nun nicht mehr niedergeschlagen, sondern höchst verärgert dreinschauend. Laura Morehead erkannte sofort, worauf Aurora hinauswollte und nickte.
"Wenn ihr jemand den Trank zugespielt hat, womöglich eine klare Anweisung zur Einnahme desselben erteilt hat, haben wir es mit Ungeborenenmord in mittelbarer Täterschaft zu tun. Der letzte Fall dieser Art wurde vor achtundzwanzig Jahren verhandelt, als eine Muggelfrau aus Melbourne von einem Zauberer schwanger wurde, der auch nur einen unverbindlichen Liebesakt vollziehen wollte. Dieser hatte ihr den Trank zugespielt und ihr eingeredet, es sei ein Stärkungstrank. Je weiter fortgeschritten eine Schwangerschaft ist, desto riskanter ist die mit dem Trank herbeigeführte Abtreibung. Da die Frau eine Überdosis trank, verlor sie neben dem ungewollten Kind auch ihren Uterus und damit jede Möglichkeit, erneut ein Kind zu bekommen. Der Zauberer wurde zu lebenslänglicher Haft wegen Ungeborenenmord in Tateinheit mit alchemistischer Schädigung einer Person aus der nichtmagischen Welt verurteilt und dürfte heute noch in Ballibong einsitzen."
"Und wenn nicht herauszufinden ist, wer ihr den Trank zugespielt hat?" Fragte Aurora Dawn.
"Nun, warum trafen wir zusammen?" Fragte Laura Morehead. Aurora erwähnte, daß es wegen des Vorwurfes sei, Madam Greenlief habe Bromelia Pinewood mit Legilimentik ausgeforscht. "In diesem Fall hat Daphne das Recht, Bromelia Pinewood zu legilimentieren, um zu ergründen, woher sie den Trank hat, da sie ja in körperlicher Gefahr schwebt." Aurora nickte. Diese Ausnahme gab es ja.
"Soll ich noch warten, bis wir wissen, ob noch was für das Kind getan werden konnte?" Fragte Aurora.
"Hast du heute noch einen Termin?" Fragte die Zunftsprecherin. Aurora schüttelte den Kopf. "Gut, dann gebe ich an Direktorin Herbregis weiter, daß bei einem Notruf aus Sydney gleich jemand von der Außeneinsatzgruppe dorthin soll, da ich dich wegen einer zu klärenden Angelegenheit einbestellt habe", sagte Laura Morehead und wandte sich an ein anderes Gemälde, das die Heilerin Sana Novodies zeigte. Diese wechselte unverzüglich zu ihrem Gegenstück in der nach ihr benannten Klinik und kehrte eine Minute später zurück.
Es dauerte zehn Minuten, bis Selma, die gemalte Hexe von eben, in das Leere Bild eintrat und vermeldete: "Heilerin Greenlief konnte das Ungeborene nicht mehr vorfinden. Bromelia Pinewood muß es in einem Toilettenraum ausgetrieben und fortgespült haben. Der Trank führte zudem zu einer schweren Blutung der Gebärmutter. Das Organ konnte zwar gerettet werden. Die Empfängnisfähigkeit dürfte jedoch stark eingeschränkt sein. Absender des Trankes war Mr. Fabricius Pinewood. Die Strafverfolgungsabteilung wurde bereits informiert, ihn wegen Anstiftung zum Kindesmord festzunehmen."
Dann sollten wir überlegen, wie wir das mit der Familie des Kindsvaters klären", warf Aurora ein. Laura nickte und wandte sich noch einmal an das Gemälde von Sana Novodies. Dieser gab sie eine Botschaft für Zaubereiministerin Rockridge mit, daß die Eheleute Jenkins durch Vergissmichs eine Gedächtniskorrektur erhalten sollten, um den Besuch der Pinewoods und Auroras zu vergessen und die von Aurora dort zurückgelassene Kontaktadresse verschwinden zu lassen. Fünf Minuten später meldete Sana Novodies den Vollzug sowohl der Festnahme von Fabricius Pinewood und seiner Frau, die als Mittäterin angeklagt werden sollte, sowie die Gedächtnisänderung der Jenkins'. Damit war der Antrag auf Zuteilung eines Drachenhautpanzers für Aurora Dawn hinfällig. Denn nun gab es keinen Grund mehr für die Jenkins', ihr zu drohen. Aurora beruhigte das nur sehr wenig. Denn Bromelia würde erstens vielleicht keine gesunden Kinder mehr bekommen können. Das von ihr getragene Kind war tot. Ihre eltern würden womöglich lebenslänglich in Fort Ballibong verschwinden. Da hätte sie lieber riskiert, von gewalttätigen Muggeln überfallen zu werden, wenn dies alles nicht eingetreten wäre. So konnte sie nur noch einen schriftlichen Bericht für ihre eigenen Patientenakten anfordern und in ihre Niederlassung zurückkehren, wo die nächste Schreckensmeldung auf sie wartete.
"Aurora, die Kammer des Schreckens wurde geöffnet. Filches Katze wurde versteinert", empfing sie ihr gemaltes Ich. Aurora hatte mal davon gehört, daß Slytherin vor seiner erzwungenen Abreise aus Hogwarts ein schreckliches Vermächtnis dort hinterlassen haben sollte. Allerdings gingen die meisten davon aus, es handele sich nur um einen Zaubererweltmythos, eine Geschichte, die vor allem die Slytherins weitergaben, um ihre Hoffnung auf Slytherins Rache zu bewahren. Aber das es einen Erben Slytherins geben sollte, der diese geheimnisvolle Kammer nun geöffnet haben sollte und der dort verwahrte Schrecken einen mächtigen Versteinerungszauber auf die für Filch herumschnüffelnde Katze gelegt haben sollte traf sie doch schon heftig. Denn ihre jüngste Cousine mütterlicherseits war in ihrem letzten Jahr in Hogwarts. Zwar hieß es, die Kammer würde nur jene Hexen und Zauberer bedrohen, die nicht Slytherins Vorstellungen entsprachen. Aber wirklich sicher konnte das doch keiner wissen. Arcadia war also in großer Gefahr.
"Slytherins Erbe", bemerkte Aurora. "Ich wüßte nur einen, der sich als solcher bezeichnen konnte. Aber der wurde doch aus Hogwarts vertrieben, als der Stein der Weisen zerstört wurde."
"Wissen wir das?" Fragte Auroras gemaltes Abbild. "Er könnte sich einen anderen unterworfen haben und wiedergekommen sein. Aber wen und wie?"
"Dafür bist du in Hogwarts. Paßt bloß auf, daß dieser Erbe oder sein Handlanger erwischt wird, bevor ein Mensch versteinert oder getötet wird!"
"Ich komme in Hogwarts nicht überall hin, Aurora", erwiderte die gemalte Ausgabe der Heilerin. "Und das jüngere Ich von uns hat in Hogwarts nicht gerade den großen Einfluß, um andere gemalte Personen zu überzeugen." Die Aurora Dawn aus Fleisch und Blut nickte resignierend. doch sie bestand darauf, zumindest besser aufzupassen, was sich tat. Sie hoffte, daß Arcadia dem Erben nicht über den Weg lief. Dann erschrak sie. Denn es konnte ja durchaus sein, daß Arcadia selbst die Gehilfin des Erben von Slytherin war, natürlich nicht freiwillig. Sie dachte an Elroy Portsmouth, der Jahre lang von einem schlummernden, bösartigen Geisterwesen besessen war, das versucht hatte, sie und drei andere Mitschüler in seine Gewalt zu bringen, um sie seinem finsteren Herrn und Meister zu opfern. Nur Adamas Silverbolt hatte das mit seinem übermächtigen Pentagramm verhindert und dafür einen hohen Preis bezahlt. Vielleicht fand in Hogwarts etwas ähnliches statt.
Derlei trübe Gedanken trieben Aurora den restlichen Tag um. Sie konnte sie nur durch Nachforschungen zum Trank der folgenlosen Freuden verdrängen. Womöglich sollte sie das einzig bekannte Gegenmittel gegen diesen Trank brauen.
Gegen Abend erhielt sie zwei Eulen. Eine war von Heilerin Greenlief, die ihr den vollständigen Bericht über Bromelia Pinewood zukommen ließ. Die andere Eule kam aus dem Zaubereiministerium und brachte ihr die Nachricht, daß die Eheleute Jenkins und ihre Dienerschaft jede Erinnerung an den Besuch der Pinewoods und Auroras vergessen hatten und es auch keine Hinweise mehr gebe, daß sie dort jemals waren. Auch die Aufzeichnungen der Fernbildüberwachungsgeräte waren gefunden und vernichtet worden. Aurora bestätigte den Erhalt dieser Benachrichtigung. Dann machte sie sich was zu essen. Dabei dachte sie daran, daß ihre Großmutter Regan in diesen Minuten wohl schon auf ihrem Besen saß und für die Althexenmannschaft der Harpies spielte. Ihr gemaltes Ich hatte von der Halloweenparty berichtet. Die Sache mit dem runtergefallenen Miniaturskelett hatte Aurora einen Moment lang grinsen lassen. Sie kannte ihre Tante Lynn. Die hatte sich damals wohl sehr für Wahrsagen interessiert. Auroras Mutter hatte auch einmal erwähnt, daß Tante Lynn mal ein Pendel aus einer Silber- und Perlenkette und dem Ehering Regina Dawns konstruiert hatte, um schon in der fünften Schwangerschaftswoche auszuloten, ob ihr Bruder Vater eines Sohnes oder einer Tochter wurde. Sie hatte angeblich einen Jungen vorhergesagt. Soviel zur Wahrsagekunst.
Als es dann elf Uhr abends war und kein Notruf mehr einging, befand Aurora, diesen trüben Tag beenden zu können und sich schlafen zu legen. Wer konnte schon wissen, was der morgige Tag brachte. Sie trug die Ereignisse des Tages noch in ihrem Tagebuch ein, das sie Wendy nannte, bevor sie sich zur Ruhe legte.
Das Stadion der Holyhead Harpies war wie die meisten anderen Quidditchstadien gebaut. Ein großes Oval aus bis zu 20 Meter nach oben reichenden Zuschauerreihen. Das eigentliche Spielfeld lag in der Mitte. An jeder der beiden Kurven ragten je drei hohe Stangen auf, auf denen je ein großer Ring saß. Soweit wie bei allen Stadien der Welt. Der wesentliche Unterschied im Stadion der Harpies war die Dekoration. Alle Sitzpolster und die Teppiche in den Aufgängen waren dunkelgrün und trugen die weiße Greifvogelkralle, das Zeichen der Mannschaft. Außerdem schwebte an jeder Kurve, die die Zuschauerränge beschrieben, eine mehr als drei Meter große Nachbildung eines Adlers mit Krallen an den Flügeländen und dem Kopf einer Menschenfrau mit wilder Mähne, die Namensgeberin der Mannschaft. Über siebenhundert Jahre lang gab es sie schon, die Holyhead Harpies, seit Gründungszeit her ein Quidditchclub nur aus Hexen. Seit Gründung der Quidditchliga gab es neben der Ligamannschaft auch die Mannschaft der silbernen und die der goldenen Harpyien, alles ehemalige Profi-Spielerinnen, die jedoch nicht mehr jedes Saisonspiel bestreiten konnten oder wollten. Hexen, die eigene Familien hatten, konnten ab dem dreißigsten Lebensjahr zu den silbernen Harpyien gehören. Solange sie keine Enkelkinder vorweisen konnten, konnten sie nur silberne Harpyien sein. Alleinstehende Hexen über sechzig Jahren und gestandene Großmütter durften, wenn sie wollten, in den erlauchten Club der goldenen Harpyien eintreten und die goldene Vogelkralle als Medaillon oder auf der dunkelgrünen Spielerinnenkleidung führen. Mediimagierinnen prüften jedes halbe Jahr die Spieltauglichkeit der Seniorinnen, von denen einige länger bei den wenigen Spielen im Jahr antraten, als damals, wo sie noch zu den sogenannten wilden Harpyien gehört hatten. Wenn sich die Mitspielerinnen der goldenen Harpyien gut in Form hielten, konnten sogar über hundert Jahre alte Vertreterinnen aufspielen. Doch die letzte Hundertjährige, die für die Harpies gespielt hatte, war Tara Mahony gewesen, die vor fünf Jahren wegen zunehmender Augenprobleme die Empfehlung befolgt hatte, sich nicht mehr in das Spiel zu stürzen. Denn trotz des hohen Lebensalters der Spielerinnen galten für diese dieselben Quidditchregeln wie für die Kinder und Jungprofis. Natürlich brachte es eine Althexenmannschaft in der Ligamannschaft nicht, wenn es nicht auch bei den anderen Mannschaften Seniorspielerinnen und -spieler gab. Doch in der Liga gab es nur vier Mannschaften, die derartige Mannschaften unterhielten: Da waren die Wimbourner Wespen, deren Seniormannschaft Goldstachel genannt wurde. Da waren die Ehrenkanonen von den Chutley Canons, die manchmal die Leistungen ihrer jüngeren Kameraden überboten, was, wie alle andere außer den Canon-Fans immer wieder behaupteten, keine Kunst und auch keine Zauberei sei. Die dritte Mannschaft mit Seniorentruppe war die der Kenmare Kestrels, den unmittelbaren Lokalrivalen der Harpies. Viertens boten die Tutshill Tornados noch eine Gruppe über fünfzig Jahre alter Veteranen auf, die als Sturmriesen bezeichnet wurden, obwohl sie gegen die anderen drei oft nicht so riesig aussahen. Dennoch waren die für wohltätige Zwecke abgehaltenen Begegnungen der Seniorenmannschaften immer ein großer Publikumsmagnet. Auch heute, als die Harpies gegen die Tornados aufspielen sollten, waren fast alle Ränge der ovalen Zuschauertribüne voll besetzt.
Hugo Dawn hatte es seit Jahren schon aufgegeben, seiner ältesten Schwester Lynn das Tragen dieser Glückskristalle auszureden. Auf welchem Zaubererr-Flohmarkt ihr diese Glitzerkette auch immer angedreht worden war, sie bestand darauf, das die auf einem angeblichen Einhornschweifhaar aufgezogenen Glasklunker aus altdruidischen Versammlungshöhlen stammten, in denen mächtige Glückszeremonien stattgefunden hatten. Der einzige Grund, anzunehmen, daß diese Kette nicht schwarzmagisch aufgeladen war war für Hugo Dawn der Umstand, daß diese Kette bisher keinem Unglück gebracht hatte. Wenn die Harpies gewannen schob seine Schwester es auf ihre Kette. Da sie bisher keine Spiele besucht hatte, bei denen die Harpies verloren, war sie nicht davon abzubringen, daß ihre Mutter Regan deshalb mit ihren Kameradinnen gewann. Hugo hatte nur einmal gefragt, ob dann nicht auch andere Fans Glücksbringer mitbrachten, die ihrer Mannschaft den Sieg ermöglichten. Lynn hatte darüber nur verächtlich geguckt und behauptet, daß die mächtige Magie ihrer Kette alles Glück der Umgebung auf das von ihr uneigennützig erwünschte Ziel übertragen mochte. Eine kurze Probe mit dem Zauberfinder hatte ergeben, das die Kette keinerlei Magie ausstrahlte. Doch Lynn hatte auch dafür eine passende Erklärung geliefert. "Die alten Druiden haben die Magie in den Kristallen verfestigt. Materialisierte Zauberkraft kann vom Zauberfinder nicht aufgespürt werden."
"Wau, alle Plätze voll!" Staunte Chester, als er hinter seiner Mutter zur Ehrenloge hinaufstieg, wo die Familienangehörigen der Mannschaften auf vier lange Sitzreihen verteilt unterkamen. Am Morgen waren noch Reginas Schwester June, ihr Mann Anthony und deren Erstgeborener Philip eingetroffen und durften nun mit den direkten Nachkommen und Schwiegerverwandten Regan Dawns hinauf in die Ehrenloge. June Priestley hatte sich zur Unterstützung der Harpies einen dunkelgrünen Umhang mit der weißen Vogelkralle auf dem Brustteil angezogen. Der Umhang kontrastierte gut mit ihrem rotbraunen Haar.
"Joh, hier steppen die Trolle", mußte Philip seinem Cousin Chester noch beipflichten.
"Trolle? Wußte nicht, das die Tornados neuerdings Trolle als Maskottchen haben", erwiderte Chester. "Sind denen die Blausylphen zu harmlos geworden?"
"Das sagt man jetzt so, wenn's irgendwo richtig doll gut ist", erwiderte Philipp. Chester tat es mit einem "Ach so" ab.
"Lautrufer! Nur vier Galleonen!" rief ein Zauberer, der einen dunkelgrün angestrichenen Bauchladen vor sich hertrug.
"Lautrufer?" Fragte Philipp.
"Kleine Flöten, die Raubvogelschreie nachmachen. Hauen die Harpies jetzt als Anfeuerungsmittel bei ihren Profispielen raus", erwiderte Barney.
"Greifvögel, Barney", berichtigte Hugo Dawn seinen Neffen. "Sie rauben nicht, sie jagen."
"Ich weiß, dein Beruf", knurrte Barney nur. Hugo sah ihn tadelnd an. Kapierte der es nie, daß man älteren Zauberern und Hexen Respekt entgegenbringen sollte? Regina Dawn winkte dem Bauchladenträger zu und zückte acht Goldmünzen. Ihr Mann sah sie verdutzt an.
"Ich habe sowas noch nicht, und Philipp will bestimmt wissen, wie das geht", rechtfertigte sie ihren entschluß. Wenige Minuten später hatte sie zwei kurze Flöten in Händen, die nicht so aussahen, als könnten sie laute Töne von sich geben. Doch als Philipp hineinblies, erscholl der Revierschrei eines Adlers so laut, daß alle vor ihm stehenden erschrocken zusammenfuhren.
"Aurora hätte uns ein paar ihrer Alraunenohrschützer mitgeben sollen", moserte Hugo Dawn, als aus dem weiter unten sitzenden Publikum die schrillen Rufe einheimischer Greifvögel antworteten. Der sich mit Wild- und Nutzvögeln auskennende Hugo Dawn konnte Adler, Bussarde, Falken, Habichte und Milane erkennen. Also hatten die Erfinder dieser Lärmmacher schon sehr gut gearbeitet, wohl die natürlichen Laute mit Schallauffangvorrichtungen gespeichert und in die kleinen Flöten eingewirkt. Dann erscholl lautes Geheul wie durch Dach- und Türritzen blasender Sturmwind. Es kam aus silbernen Vorrichtungen, die wie Öllampen aussahen.
"Ist Aurora noch auf, daß wir mal eben fragen können, ob sie uns Ohrenschützer rüberschickt?" Fragte Regina Dawn. Ihr Mann sah sie dafür verdrossen an und meinte, daß sie ja auch so einen Lärmapparat gekauft hatte.
"Hallo zusammen, man kennt sich ja noch", grüßte eine sehr umfangreiche Hexe, die in bis zu den Füßen reichender dunkelgrüner Kleidung in die Ehrenloge hineindrängte. Das war Maureen O'Hara, die Schwester von Gwendolyn Morgan, die vor zwei Jahren selbst noch für die goldenen Harpyien gespielt hatte, aber dann wegen unübersehbarer Altersschwäche ihres altgedienten Besens auf den Verbleib in der Althexenriege verzichtet hatte. Jetzt trat sie als Stadionsprecherin auf. Sie kannte die Dawns und Priestleys von verschiedenen Spielen der alten und jungen Harpies.
"Toller Tag zum spielen", meinte Arco Dawn zu Maureen.
"Na, so toll nicht. Riecht nach Regen", knurrte die umfangreiche Hexe und setzte sich auf zwei Stühle Gleichzeitig. Doch sie blieb nur fünf Minuten ruhig sitzen. Dann bezauberte sie ihre Stimme mit dem Sonorus-Zauber. "Hallo Leute!" Rief sie danach überall hörbar. Alle Zuschauer johlten zurück. Einige ließen ihre Lautrufer schrillen, andere ihre Windjauler lärmen. "heute ist mal wieder ein großes Spiel fällig, nachdem die goldenen Harpyien die Ehrenkanonen sowas von eingestampft haben." Lautes Gelächter aus dem Publikum war die Antwort. "Wollen wir mal hoffen, daß die Jungs und Mädels von den Tutshill Tornados heute auf dem Platz sind." Wildes Gejohle der Fans in hellblauer Kleidung war die Antwort. "Die Canon-Fans haben auch behauptet, ihre Leute wären da gewesen", erwiderte Maureen O'Hara. Werden wir also gleich mitkriegen. Da hätten wir also heute die Sturmriesen." Lautes Sturmgeheul aus den silbernen Gerätschaften ertönte. "Lawrence Whitehead!" Rief sie aus. Aus der rechten Luke im Spielfeld fuhr ein Besen mit einem grauhaarigen Zauberer im hellblauen Umhang heraus, der die zwei Ts der Tutshill Tornados auf Brust und Rückenteil trug. "Clyde McDeer!" Rief Maureen einen klobig wirkenden Zauberer mit rehbrauner Löwenmähne aus dem Warteraum der Sturmriesen. "Kelly Shorewave!" Eine Hexe mit silbergrauem Zopf entfuhr auf ihrem Besen der Luke. "Quinn Brightgate!" Ein sehr fülliger Zauberer mit schwarzem Haar und Vollbart stieg auf seinem Besen aus der Luke und flog zu seinen Mannschaftskameraden auf, die nun in lockeren Runden über dem Feld kreisten. "Purdy Brightgate!" Eine ebenso füllige Hexe mit schwarzem Schopf folgte. Hugo kannte die beiden Zwillingsgeschwister. Sie waren schon vor vierzig Jahren ein gefürchtetes Treiberduo gewesen und hatten drei Weltmeisterschaften für die englische Nationalmannschaft gespielt. "Mortimer Hornby!" Rief Maureen. Darauf entflog ein sehr kleiner Zauberer mit mausgrauem Har und Spitzbart der Luke. "uuuund der Kapitän und Rückhalt der Sturmriesen, Ligapokalgewinner von 1956, 1962 und 1963, Conan Bullhorn."
"Buh-buh-bullhorn", erscholl es aus den Reihen der Fans in hellblau, während die Fans in dunkelgrün ihre Lautrufer dagegen anschrillen ließen. Ein wahrer Kleiderschrank auf Beinen ritt auf einem zu ihm passenden Besen aus der Luke heraus in den Himmel. Sein Haar war nur ein rotbrauner Halbkranz auf einer sonst spiegelglatten Glatze. Die Schultern waren breit und liefen in muskelbeladenen Armen aus. allerdings hatte der heraufgerufene Zauberer einen stattlichen Bauch, den er wohl seiner Vorliebe für deutsches Bier verdankte, wie Regan Dawn immer mal wieder gehässig behauptet hatte. Er winkte in den hellblauen Fanblock und erhielt neben den Anfeuerungsrufen auch ein einstimmiges Sturmgeheul aus den silbernen Geräuschgeräten.
"Kommen wir nun zu den Gastgebern, den goldenen Harpyien. Mütter haltet eure Söhne gut fest, sonst sind die nachher mit einer von denen auf und davon", rief Maureen mit Hilfe des Stimmverstärkers. Alle im Publikum lachten. Denn die meisten wußten, daß die Hexen der goldenen Harpyien schon seit Jahrzehnten fest vergeben waren und nicht mehr auf Männerfang ausgingen. "Audrey Fleet!" Eine äußerlich noch recht jung wirkende Hexe mit erdnußfarbenem Haar flog nun aus der linken Luke im Spielfeld. Die vergoldete Vogelkralle blinkte einen Moment im Licht der Morgensonne. "Ginger Steedford!" Eine schon gut untersetzte Hexe mit silbergrauem Haar entschlüpfte der linken Luke. "Regan Dawn!" Rief Maureen. Da kam sie aus der Luke der goldenen Harpyien hervorgeschnellt und stieg im Rosselini-Raketenaufstieg kerzengerade bis über die Torringe hinaus, bevor sie sich in die Runde der kreisenden Spieler einfügte. "Gwendolyn Morgan!" Rief Maureen mit unüberhörbarer Begeisterung. Auch Gwendolyn Morgan entfuhr der Luke im fast senkrechten Aufstieg. "Rhianon McCloud!" War eine breitschultrige Hexe mit flammenrotem Haar und himmelblauen Augen. Sie hatte von 1950 bis 1970 als Treiberin in der schottischen Nationalmannschaft mitgespielt. "Gladys Calahan war ebenso breitschultrig wie Rhianon, besaß jedoch rotblondes Haar mit einem leichten Graustich. "Und hier noch der große Stern der Fünfziger, Glynnis Griffith!!" Eine kleine, spindeldürre Hexe mit silbergrauen Locken hüpfte förmlich aus der Luke heraus. Dann flogen sie alle vierzehn eine Ehrenrunde über das ganze Stadion. "Und zum guten Gelingen noch unser Schiedsrichter für heute, James Abbott!" Ein freundlich lächelnder, blondhaariger Zauberer mit jungenhaft roten Wangen trat hinter einem der Torstangen hervor und winkte mit seinem Besen, einem Nimbus 2000.
"Seine Enkeltochter ist gerade in Hogwarts", sagte Regina Dawn ihrer Schwester. Diese nickte.
"Auf dann. Zur Begrüßung alle landen!" Rief Maureen. Die vierzehn Spieler landeten. Der Schiedsrichter wies Gwendolyn Morgan und Conan Bullhorn an, einander zu begrüßen. Dann ließ er per Ortsbewegungszauber die große Kiste heranschweben, aus der er erst den Schnatz freiließ. Dann gab er die sofort wild herumschwirrenden Klatscher frei, die erst weit nach oben stiegen und dann im Zickzack über das Feld dahinflogen. Schließlich zählte er den Spielbeginn an und warf den scharlachroten Quaffel nach oben. "Und das Spiel geht los!!" Rief Maureen, als die beiden Mannschaften auf ihren Besen in die Höhe schnellten. Unverzüglich ging Audrey Fleet zum Angriff über. Doch ein von Purdy Brightgate geschlagener Klatscher trieb sie dazu, erst einmal abzutauchen. Regan setzte nach und konnte den roten Ball noch vor ihrem Gegenspieler McDeer erfliegen. Allerdings, so meinte Hugo Dawn, war das mit dem alten Silberpfeil schon etwas schwierig, weil der Besen bei der heftigen Beschleunigung kurz nach links und rechts ausschwang. Regan bekam den roten Ball, unterflog den zweiten, noch ungespielten Klatscher und zog in Richtung Torraum davon. Außer dem Schiedsrichter, der auch die Ligaspiele leitete, flog hier niemand einen neueren Besen. Nur dadurch konnte Regan ihren Verfolgern, die auf schlecht beschleunigenden Fluggeräten unterwegs waren, so gut davonziehen. Sie tauchte vor Bullhorn auf, der sie überlegen angrinste und ihr sogar zuwinkte. Regan brach nach links und dann nach rechts aus und warf dann den Quaffel ab, bevor ihre Gegenspieler nahe genug waren, um den Raum zu verengen. Bullhorn boxte den Ball wie beiläufig aus dem Torraum. Doch der Quaffel kam zu Ginger Steedford und war keine Zehntelsekunde später durch den linken Ring hindurch. Hugo sah, daß seine Mutter Bullhorn etwas zurief, konnte aber nicht hören, was, weil die Lautrufer der Harpies-Fans triumphierend losschrieen.
"Sah nicht so doll aus", grummelte Hugos Vater Arco. "Irgendwie wackelt der Schweif ein wenig", fügte er noch an.
"Dad, du hast es mitbekommen, daß Mum nur auf diesem Besen fliegen will", knurrte Hugo Dawn. Chester johlte noch, während Philipp seinen Lautrufer einen Adlerschrei nach dem anderen ausstoßen ließ. Dann ging die Partie auch schon weiter. Die Sturmriesen der Tornados nahmen keine Rücksicht auf die goldenen Harpyien. Doch das Treiberduo der Hexenmannschaft nahm auch keine Rücksicht auf die Jäger der Tornados. So erkämpften die älteren Hexen sich nach einer Minute das zweite Tor. Dann kassierten sie jedoch ein schnelles Gegentor und mußten aufpassen, weil die Brightgate-Geschwister die Klatscher nun in der Nähe des eigenen Torraums hielten und auf jede anlegten, die versuchte, dort einzudringen. Bullhorn parierte einen Weitwurf von Audrey Fleet und ermöglichte seinen Kameraden den schnellen Gegenstoß. Doch Gwendolyn Morgan, die heute im Tor wachte, konnte den Angriff abfangen und auf Regan abspielen, die wieder durchstartete. Hugo Dawn sah genau hin. Die Reiser im Schweif erzitterten leicht, und das nicht auf Grund des Flugwindes. Dennoch machte der Besen ein gutes Tempo und erlaubte seiner Reiterin auch weiterhin schnelle Richtungsänderungen. Nach fünf Spielminuten konnten die goldenen Harpyien ihren Vorsprung ausbauen. Das Spiel wurde immer schneller. Die Sturmriesen blockten nun immer energischer die Gegenspielerinnen. Die Treiber auf beiden Seiten hieben die Klatscher immer wuchtiger zwischen die fliegenden Jäger. Die beiden Sucher zogen derweil ihre Kreise über dem Stadion. Hugo Dawn suchte den Schnatz. Denn aus irgendeinem Grund wollte er haben, daß das Spiel bald vorbeigehen möge. Ihn irritierte auch das in den Torpausen immer wieder vollführte Spiel seiner Schwester Lynn mit ihrer Glückskristallkette. Offenbar meinte die, die Tore der goldenen Harpyien damit herbeizaubern zu müssen. Immer wieder blitzten die unregelmäßigen Steinchen an der Kette im Licht der aufsteigenden Sonne. Humbert herrschte seine Frau an, nicht weiter mit der Kette herumzufuhrwerken, weil sie die Spieler blenden mochte. Doch Lynn war wie berauscht und wedelte mit ihrer angeblichen Glückskette weiter herum. Da verlor Humbert die Geduld, packte die Kette und zog daran. Seine Frau schrie auf, als er an der Schnur zog. Lynn hielt dagegen. Da riß die Schnur. Humbert erbleichte einen Moment, während die Kristallstücke abfielen. Klirrend landeten sie auf dem Boden und kullerten davon. Lynn schaffte es gerade noch fünf der unregelmäßig geformten Kristalle festzuhalten. Sie funkelte ihren Mann an, der betroffen zurückblickte. Doch das laute Raunen aus dem Zuschauerraum lenkte Hugos Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen über dem Spielfeld. Soeben gelang den Sturmriesen der erst dritte Treffer in dieser Partie. Maureen kommentierte die wilden Spielzüge und die Vorzüge der Spieler. Nach zehn gespielten Minuten zeigte sich erst, daß hier keine junge Profi-Mannschaft auf brandneuen Besen spielte. Die ersten Besen zeigten Ermüdungserscheinungen. Gwendolyns Besen schien manchmal in der Luft festzustecken. Dadurch hätte sie fast ein Tor zulassen müssen, wenn Ginger und Regan den Quaffel nicht gerade so noch aus der unmittelbaren Gefahrenzone gedroschen hätten. Audrey bekam den Quaffel zwar zu fassen, hoppelte jedoch mit ihrem langsam ermüdenden Sauberwisch 4 eher als geradlinig durchzufliegen. Doch auch die Besen der Sturmriesen wirkten nach nun elf Minuten Spielzeit nicht mehr so frisch. Bullhorn fluchte einmal laut, als Ginger ihm den Quaffel durch den rechten Ring feuerte, weil sein Besen eine Schlingerbewegung gemacht hatte, statt in die gefährdete Zone hinüberzuspringen. Regans Silberpfeil schien von allen im Spiel befindlichen Besen noch die größte Ausdauer zu besitzen. Sie flog hin und her, um genau da aufzutauchen, wo sie dringend gebraucht wurde. Doch immer dann, wenn sie einem Klatscher ausweichen mußte, erbebte ihr Besenschweif. Hugo und Arco Dawn sahen es mit zunehmender Nervosität. Bisher hatte keiner der Mannschaftskapitäne eine Auszeit erbeten. So ging das Spiel in die zwanzigste Minute.
"Wo ist dieser verdammte Schnatz?" Dachte Hugo Dawn und suchte mit seinem Fernglas den ganzen Raum über dem Spielfeld ab. Einmal wischte etwas goldenes mit silbernen Schemen durch sein Blickfeld. Doch der kleine Ball flitzte sofort hinter die mittlere Torstange und tauchte nicht wieder auf. Lautes Raunen ließ Hugo wieder zu den Spielern hochschauen. Gerade rückten alle drei Jäger der Sturmriesen auf die von Gwen Morgan bewachten Torringe zu, als die beiden Treiberinnen der goldenen Harpyien ihren Gegenspielern die Klatscher abjagten und mit ungeheurer Wucht darauf einhämmerten. Die schwarzen Bälle fegten wie Kanonenkugeln in die angreifende Formation hinein, die sich recht holperig auflöste. Regan Dawn mußte unter einem der Klatscher hindurchtauchen. Dabei streifte der schwarze Ball die äußersten Reisigspitzen ihres Besenschweifes. Regan bekam unvermittelt Schlagseite und konnte sich nur durch eine Rolle in die stabile Fluglage zurückwerfen. Knapp über dem Boden bekam sie den Besen wieder ganz unter Kontrolle und stieß im Rosselini-Raketenaufstieg nach oben. Fünfzehn Sekunden später stieß sie mit dem Quaffel in Bullhorns Torraum hinein und suchte einen freien Ring. Doch Bullhorn blockierte sie so gut es sein angejahrter Besen ihm ermöglichte. Regan Dawn mußte einem neuerlichen Klatscherangriff ausweichen. Bullhorn rollte sich nach links ab, um nicht von Quinn Brightgates Klatscherschlag erwischt zu werden. Regan witterte die Gelegenheit, den immer noch geführten Quaffel durch einen der Torringe zu bringen und beschleunigte. Da krachte der Klatscher gegen den linken Ring und prallte davon ins Feld zurück, wobei er wie eine aufgescheuchte Hornisse herumwirbelte. Regan entging dem Klatscher gerade um Haaresbreite. Sie warf auf den rechten Ring ab, der gerade frei anspielbar war und bekam den Quaffel knapp unter der oberen Ringhälfte hindurch. Der aufgedrehte Klatscher zischte derweilen zwischen den nachgerückten Jägern der Harpyien und Sturmriesen hindurch, trieb Freund und Feind auseinander und hielt auf Gwendolyns Torraum zu. Da konnte Gladys den Klatscher erfliegen, wobei ihr Sauberwisch 4 erheblich ruckelte.
"Das die sturen Biester keine neuen Besen nehmen wollen", schnarrte Arco Dawn, der das genau sah, wie Gladys beinahe von ihrem bockenden Besen abgeworfen wurde. Bullhorn drosch inzwischen den Quaffel zurück ins Spielfeld und hielt sich kurz die Ohren zu, weil die Lautrufer unerträglich schrill klangen. Dabei wippte er auf seinem Besen einmal vor und zurück, daß es so aussah, als wolle der Besen ihn abschütteln.
"Die sind alle nicht ganz zu retten, so alte Krücken so heftig ranzunehmen", knurrte Hugo Dawn. Seine Frau sah ebenfalls sehr besorgt aus. Doch dann forderte das Spiel wieder ihre volle Aufmerksamkeit.
Jede weitere Minute zeigte auf, wie erholungsbedürftig die Besen waren. Ihre Reiter schienen mit den immer deutlicher sichtbaren Marotten ihrer Fluggeräte locker umgehen zu können. Doch den besenfachkundigen Zuschauern wurde klar, wie gefährlich es war, auf betagten Besen mehr als nun fünfundzwanzig Minuten zu fliegen. Immer noch konnte keiner der Sucher den Schnatz an einer Stelle ausmachen. Wieder einmal zog Regan Dawn mit ihrem Silberpfeil vor Bullhorns Tor. Wieder wollte dieser sie geschickt blockieren. Dabei passierte es dann. Regans Besenschweif verhedderte sich in dem stark wedelnden Besenschweif von Conan Bullhorn. Die beiden verhakten sich. Regan wollte den Besen herumreißen, schleuderte dabei den Quaffel noch durch einen Torring, als Bullhorns Besenende brach. Hugo Dawn war sich sicher, einen blauen Blitz zu sehen, der zwischen dem Besen seiner Mutter und dem Bullhorns aufleuchtete. Doch das wirklich erschütternde war, daß Regan Dawns Besen plötzlich nach vorne und oben schoß, wobei aus dem Schweif kleine, silberne Funken schwirrten und mit ungeahnter Beschleunigung durch den mittleren Torring stieß. Zuerst sah es aus, als würde die von der unerwarteten Beschleunigung nach hinten gerissene Regan unter dem oberen Ringbogen hindurchrutschen. Doch da traf das gebogene Metall den Winkel zwischen Kinn und Halsund riß ihren Kopf mit solcher Wucht zurück, daß alle im Stadion vor Schreck verstummten. Der Besen schien durch den Anprall nicht im mindesten beeindruckt zu sein. Er brauste weiter nach vorne, wobei aus seinem Ende immer mehr Funken herausschlugen. Regans Kopf pendelte derweilen in einem sehr beunruhigenden Winkel über ihren Schultern. Der Besen trug seine Reiterin noch bis zum Spielfeldrand. Dann verlor sie den Halt und stürzte ab. Der Besen, seiner Reiterin ledig, machte seinem Namen die letzte Ehre und sauste wie ein von der Bogensehne geschnellter Pfeil über die Tribüne hinweg nach oben. Dort überschlug er sich. Dann schlugen silberne und blaue Flammen aus dem Schweif, und wie eine Sternschnuppe ging der Besen außerhalb des Stadions nieder. Doch Hugo Dawn hatte nur Augen für seine Mutter. Diese flog noch, von der ungeheuren Beschleunigung des Besens getragen, durch die Luft. Ihr Kopf schlingerte dabei so, als hielte ihn nur ein dünner Faden am Rumpf. Für einen winzigen Augenblick konnte Regans Sohn ihre Augen sehen. Sie waren weit aufgerissen. Auf ihrem Gesicht stand die wilde Entschlossenheit, mit der sie dieses Tor machen wollte. Das Tor, das ihr Verhängnis wurde. Sie drehte sich im freien Fall um ihre Längsachse. Ihre Arme und Beine streckten sich zur Seite. Fast konnte man denken, sie wolle ihrem Publikum zuwinken. Dann stürzte sie den Kopf voran nach unten und krachte mitten in den Fanblock der Harpyien. Augenblicklich entlud sich die Schreckensstarre der Zuschauer in Panik. Hugo Dawn starrte jedoch ganz gebannt dorthin, wo seine Mutter gerade mit großer Wucht in die Sitzreihen eingeschlagen war. Den Schrei seiner ältesten Schwester hörte er nicht. Sein Bewußtsein sperrte alle hörbaren Eindrücke aus. Auch das sein Vater laut "Regan, nein!!" rief, bekam er nur wie durch dicke Watte gefiltert mit. Er blickte auf die nun wie eine Stampede vom Blitz erschreckter Pferde davonstiebende Zuschauermenge und sah den leblosen Körper seiner Mutter im grünen Spielerumhang. Ihr Kopf war beim Aufprall gegen eine Querstrebe der Zuschauertribüne aufgeplatzt. Doch es ergoß sich nur wenig Blut. Auch konnte Hugo jetzt erkennen, daß das Kinn seiner Mutter fast auf den rücken wies. Noch immer sah er die Entschlossenheit in ihrem Gesicht, das jedoch merklich bleicher wurde, weil kein Blut mehr darin strömte. Er wußte es. Doch er wollte es nicht denken. Er wollte es nicht anerkennen. Doch seine Augen sagten es ihm überdeutlich.
"Reeeegan! Nein, Reeegan!!" Hörte er nun seinen Vater. Gleich neben sich hörte er ein Wimmern und Stammeln. Doch er wagte nicht, fortzusehen. Seine Augen waren wie festgenagelt auf den Körper seiner Mutter geheftet, der halb zwischen zwei Zuschauerreihen hing. Hugo fühlte seine Augen brennen. Das ständige Starren auf denselben Punkt belastete sie sehr. Noch eine Sekunde, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, blickte er auf seine Mutter. Dann riß er sich von ihrem Anblick los. Es half ja eh nichts mehr. Jetzt gewahrte er auch den Rauch, der ihm in die Nase stach. Er suchte mit einer mechanischen Kopfbewegung nach der Quelle und sah, wie der mit der Spitze in den Boden gefahrene Silberpfeilbesen seiner Mutter wie eine blakende Fackel lodernd und qualmend auf Höhe der linken Stadionkurve knapp hundert Meter außen steckte. Dann sah er die vier Medimagier. Zwei von ihnen stürmten gerade auf das Spielfeld, wo der ebenfalls leblose Körper von Conan Bullhorn neben seinem zerbrochenen Besen lag. Die beiden anderen jagten die Zuschauertribüne hinauf, die von der panischen Meute geräumt war. Dann erreichten sie Regan Dawn. Hugo sah sich um. Maureen O'Hara klammerte sich an ihren Sitz und keuchte wild. Seine Schwester Lynn hing in den Armen ihres Mannes und stierte apathisch ins leere. Dana wimmerte in den Armen ihres Mannes. Adda rang mit Tränen und stöhnte laut. Regina Dawn und ihre Schwester wirkten weltentrückt, als spiele sich alles hier nicht in ihrer Wirklichkeit ab. Chester und Barney blickten hektisch auf das Spielfeld, die Tribüne und zueinander hin. Philipp suchte Halt in den Armen seiner Mutter, die ihn rein mechanisch an sich drückte. Anthony war bleich wie die Wand, schien aber von allen hier noch am besten mit der neuen Situation klarzukommen. Nun fand auch Maureen ihre Sprache wieder. Der Sonorus-Zauber wirkte wohl noch. Sie richtete sich zitternd auf und sagte mit stark erschütterter Stimme:
"Liebe Freunde, bitte beruhigt euch wieder. Es ist schon schlimm genug, was passiert ist. Bitte beruhigt euch wieder!" Hugo sah auf die Ausgänge, wo sich gerade die panische Menschenmasse staute. Das würde nicht gutgehen, dachte er. Da tauchten mehrere Dutzend grüngekleidete Hexen und Zauberer auf, Leute aus dem St.-Mungo-Hospital, wie an dem Symbol des über einen querliegenden Knochen gestreckten Zauberstab zu erkennen war. Sie schickten Zauber in die von Entsetzen und Fluchtgedanken getriebenen Massen hinein. Die Zauber wirkten. Sie beruhigten die panische Menschenmasse. Langsam kehrte eine trügerische Ruhe ein. Hugo wußte, daß es Zauber gab, die Ängste eines Menschen für einige Zeit auszuschalten, aber damit auch dessen Willen zu lähmen. Aurora hatte ihm und Regina das mal erzählt, als sie in der psychomorphologischen Abteilung der Sano gelernt hatte. Es war im Grunde eine Verstärkung des Trance-Zaubers. Als sich die verängstigte Menge beruhigt hatte, eilten die hinzugerufenen Heiler zu denen hin, die sich bei der Flucht verletzt hatten. Einige Menschen hingen an den Streben der Tribüne. Fast wären sie von der vorangepeitschten Zuschauermenge niedergetrampelt worden. Hugo Dawn erkannte, daß das, was ihn am heftigsten erschüttert hatte, fast zu einer Welle von Toten geführt hätte. Er sah wieder auf die Stelle, wo seine Mutter aufgeschlagen war. Die Heiler hatten sie auf eine Trage gelegt und breiteten gerade eine dunkle decke über sie, wobei sie auch das Gesicht verhüllten. Damit hatte es der Experte für magische Vogelkunde nun gewissermaßen amtlich. Die Gedanken, die er eben noch zurückgedrängt hatte, brachen sich nun Bahn und erfüllten sein Bewußtsein mit der gnadenlosen Gewißheit: "Mutter ist tot." Obwohl diese ihn zu tiefst erschütternde Erkenntnis nun freie Bahn in seinem Verstand hatte, fühlte er noch keinen Schmerz, keine Tränen. Es war einfach nur, als sei er von einem Augenblick zum andren in einer völlig fremden Welt gelandet, einer Welt, die sich rein äußerlich nicht von der unterschied, aus der er gerade ausgestoßen worden war. Doch sie unterschied sich in einem ganz wesentlichen Teil. Es war die Welt ohne Regan Dawn, die ihm das Leben geschenkt und ihn durch manch schwierige Situation sicher hindurchgelotst hatte, die für ihn auf eigene Interessen verzichtet hatte und doch immer genau gewußt hatte, was sie wollte. Schlagartig schossen ihm Bilder und Worterinnerungen durch den Kopf. Er hörte sie seinen Namen rufen, sah sich auf ihrem Schoß sitzen, wie sie ihm alte Kinderlieder vorsang: "Im Haus der kleinen Hexe, da brennt ein Feuerlein
und füllt die kleine Stube
mit Wärme und mit Schein."
Er hörte sie, als er den Brief von Hogwarts bekam lachen, fühlte für einen winzigen Augenblick, wie sie ihn knuddelte und sah sie dann hinter sich hergehen, Tränen in den Augen, weil er gerade neben der in blütenweißem Kleid mit Schleier strahlenden Braut Regina Meadows vor den Zeremonienmagier trat. Er hörte die beiden älteren wichtigsten Hexen seines Lebens miteinander flachsen, als Regina im siebten Monat schwanger war. Regan wollte einen Enkelsohn, der ihren Namen weitergeben würde, während Regina eine Tochter wollte. Hugo hatte sich damals herausgehalten. Ihm war nur wichtig, daß sein Kind gesund zur Welt kam. Als Madam Newport dann vier Wochen vor der Geburt eindeutig bestätigte, daß ein kleines Hexenmädchen zu erwarten war, hatten die beiden darüber geflachst, ob die kleine nun Gwendolyn, Phiona oder Geraldine heißen sollte. Dann kam die Kleine. Er hörte es nur, wie die drei Hexen im Schlafzimmer die Geburt begleiteten. Er hatte gelauscht und jede Anweisung, die Schmerzenslaute seiner Frau und schließlich den allerersten Schrei seiner Tochter gehört. Und weil da gerade das Morgenrot in den Sonnenaufgang überging, hatte seine Frau ihr den Namen Aurora zugedacht. Das hatte er unverzüglich bestätigt. So lange war das jetzt schon alles her. Aurora war erwachsen und stand in ihrem eigenen Leben, was nach allen Gefahren, denen Aurora ausgesetzt war, ein Geschenk war. Hatte Regan sich mit seiner Wahl einer Ehefrau am Anfang nicht so glücklich gefühlt, hatte die Geburt ihrer Enkeltochter sie Regina gegenüber gnädig gestimmt. Wie viel außer dem Aussehen hatte Aurora von ihrer Großmutter väterlicherseits übernommen? In der Geschichte von Hogwarts stand ihr Name unauslöschlich dafür, daß sie das Eigenbesenverbot für Schüler oberhalb der ersten Klasse aufgehoben hatten. Sie hatte ihren Weg in Hogwarts und in der Sana-Novodies-Klinik gemacht und hatte ein weltweit beliebtes Buch über Gartenzauber und Kräuterkunde veröffentlicht. Das alles hatte seine Mutter Regan noch mitbekommen dürfen. Das alles und noch viel mehr verband seine Mutter und seine Tochter und damit ihn mit ihnen beiden.
"Entschuldigung, können Sie mich verstehen?" Drang eine sanfte aber fordernde Stimme in die Flut der Erinnerungen, die ihn überrumpelt hatte. Er schrak auf, als eine Hand ihn am rechten Arm berührte. Schlagartig fiel er in die Gegenwart zurück, in eine Gegenwart, die er nicht gerade heute erreichen wollte. Er sah einen jungen Mann, der etwas jünger als seine Tochter sein mochte. Er trug den grünen Umhang der Heiler im St.-Mungo-Hospital. "Ja, ja, ich verstehe sie. War nur in Gedanken", brachte Hugo mit belegter Stimme hervor.
"Ich bin Timothy Preston, Heiler in Bereitschaft. Ich möchte Ihnen helfen, Mr. Dawn."
"Wobei?" Fragte Hugo Dawn ziemlich verwirrt. Dann erkannte er, wie seine Schwestern von anderen Heilern fortgetragen wurden. Adda, seine Nichte, wurde von drei Heilerinnen zugleich umsorgt. Er erkannte Madam Newport, die Hebamme und hörte sie wieder, wie sie seiner Frau Anweisungen gab, um Aurora sicher und gesund auf die Welt zu bringen.
"Wir wurden per Notrufzauber hergerufen, als die Zuschauer in Panik gerieten. Als wir erfuhren, daß eine Spielerin ... verunglückt ist ... ich fürchte, Sie müssen jetzt sehr stark sein, Sir", sagte Timothy Preston.
"Meine Mutter ist tot, ich weiß", entschlüpfte es Hugo Dawn völlig unbedacht. Jetzt hatte er es ausgesprochen. Wie eine Zauberformel hatte er es ausgesprochen, was nun seine Wirklichkeit sein würde.
"Die Kollegen konnten nichts machen. Irgendwie muß sie unglücklich gegen einen der Torringe geprallt sein. Der Ring hat ihren Kopf so heftig zurückgerissen, daß die drei oberen Halswirbel gebrochen sind. Sie muß sofort tot gewesen sein, Sir. Mein tiefstes Beileid", sprach Heiler Preston ganz leise, als müsse er bei jedem Wort aufpassen, daß nichts schlimmes über ihn hereinbrach.
"Dann hat sie zumindest nicht gelitten", raunte Hugo Dawn. Dann erst fiel ihm ein, was er mit dem Namen Preston verbinden mußte und daß er sich für die Beileidsbekundung vielleicht doch bedanken sollte.
"'tschuldigung, ich bin gerade ziemlich neben mir, junger Sir. Erst einmal Danke für Ihr Mitgefühl", sagte Hugo leise und sah dem Heiler dabei tief in die Augen. "Ich kenne Ihren Namen. Sie waren ein paar Klassen unterhalb meiner Tochter in Hogwarts. Sie hat Ihnen die Heilerausbildung ermöglicht, richtig?"
"Genau, der bin ich", erwiderte Timothy Preston. "Eigentlich habe ich mich auf ganz andere Sachen spezialisiert. Aber heute hatte ich Außenbereitschaft. Deshalb bin ich hier, Sir. Geht es Ihnen gut genug, daß wir Sie erst einmal in Ruhe lassen könnnen oder benötigen Sie unmittelbare Hilfe, Sir?"
"Ich würde mich gerne von meiner Mutter verabschieden, bevor Ihre Kollegen sie fortbringen", sagte Hugo Dawn. Timothy Preston machte ein bedauerndes Gesicht.
"Sie wurde schon abtransportiert und wird wohl noch heute von unseren Thanatologen untersucht."
"Werden sie sie aufschneiden?" Fragte Hugo Dawn nun etwas verärgert.
"Das ist heutzutage nicht mehr nötig. Die Einblickspiegeltechnik gewährt uns verletzungsfreie Einsicht in das Körperinnere, Sir. Aber wir müssen sie untersuchen, weil es bei einem öffentlichen Spiel stattfand und die Gesetze der Abteilung für magische Spiele und Sportarten bestimmen, daß bei einem Besenunglück genau geklärt wird, ob es ein Flugunfall, eine fahrlässige Aktion oder ein Versagen des Besens war."
"Das wissen wir, junger Mann", hörte Hugo seinen Vater sagen. "Ich bin Arco Dawn, Mitarbeiter im Besenkontrollamt. Die Tote war meine Frau."
"Ich dachte, der Kollege Windhearst wolle mit ihnen sprechen", sagte Timothy Preston.
"hat er auch. Aber ich bin in Ordnung. Ich bin nur wütend, weil diese alte Krücke meine Frau umgebracht hat", erwiderte Arco Dawn. "Wie lange werden Ihre Leichenglotzer brauchen, bis sie wissen, daß der Besen meine Frau auf dem Gewissen hat?"
"Öhm, Sir, womöglich einen Tag, weil zwei unabhängige Thanatologen die Untersuchung vornehmen müssen."
"Was ist mit meiner Tochter Lynn?" Wollte Arco Dawn wissen. Er deutete auf die gerade am Eingang verschwindende Trage, auf der Lynn Murray lag.
"Es könnte nur ein harmloser Schock sein, Sir. Aber da möchte ich Sie an meine Kollegen von der psychomorphologischen Abteilung verweisen."
"Meine Schwester ist sehr gläubig was Wahrsagen und Talismane angeht, Sir. Sie hat vorhin eine angebliche Glückskette mitgehabt, die ihr Mann aus Versehen zerrissen hat. Sie könnte denken, daß meine Mutter deshalb ... verunglückte", erwähnte Hugo Dawn. Arco fauchte seinen Sohn an, was ihm einfiele, sowas zu behaupten. Doch dann mußte er nicken.
"Am besten kommen Sie beide nachher zu uns und sprechen mit Direktor Bonham", sagte Timothy Preston so ruhig er konnte. Dann fragte er noch einmal, ob die beiden Zauberer unmittelbare Hilfe benötigten. Da dem nicht so war zog er weiter, um sich um die Angehörigen von Conan Bullhorn zu kümmern, die sich einige Stühle weiter zusammengekauert hatten. Hugo sah Heilerin Newport gerade mit seiner Nichte Adda und einer jüngeren Heilerin disapparieren. Adda wirkte sichtlich angeschlagen. Kein Wunder, wo sie im Februar ein Kind erwartete.
"Hier haben wir zwei nichts mehr verloren, Junge", sagte Arco Dawn zu seinem Sohn. Doch Hugo blickte auf die dem Spielfeld zugewandte Abgrenzung der Ehrenloge. Im Licht der Sonne glitzerte etwas wie Morgentau auf Blumen. Er überstieg die nun leeren Sitzreihen und bückte sich. Da lagen zehn der zwanzig unregelmäßigen Kristalle, die von Lynns Kette abgefallen waren. Niemand hatte sich dafür interessiert, weil alle auf das Spielfeld geguckt hatten. Warum er es tat wußte er nicht. Doch er las die losen Kristalle alle auf, suchte weiter und fand die anderen fünf, die Lynn nicht rechtzeitig zurückgehalten hatte. Sollte es wirklich nicht an dieser Kette gehangen haben, ob seine Mutter Glück oder Unglück hatte?
"Was willst du mit dem Glitzerkram, Hugo. Dieses Ding hat deine Mutter nicht geschützt und auch nicht umgebracht."
"Lynn hat dafür einiges Geld ausgegeben. Auch wenn es nicht an dieser Kette gehangen hat wäre es für sie vielleicht schön, wenn wir sie wieder reparieren könnten."
"Junge, selbst funktionierende Talismane verlieren ihre Wirkung, wenn sie entehrt oder zerstört wurden", blaffte Arco Dawn. "Und Lynn wird davon bestimmt nicht beruhigt, daß du ihr die runtergekullerten Glassteine wiedergibst."
"Rumliegen lassen wollte ich sie aber auch nicht, Dad", schnaubte Hugo Dawn. Wieso mußten sie sich jetzt streiten, wo gerade eben die Hexe gestorben war, die sie beide miteinander verbunden hatte?
"Stimmt auch wieder", ging Arco Dawn auf seinen Sohn ein. Auch ihm lag nichts daran, sich über eine scheinbare Nebensache zu zerstreiten. Dann deutete er auf den Ausgang. Hugo Dawn verstand.
"Wer sagt es Aurora?" Fragte Arco Dawn, als er mit seinem Sohn und seiner Schwiegertochter das Stadion der Harpies verlassen hatte, wo am nächsten Wochenende bereits das nächste Ligaspiel stattfinden sollte.
"Ich mach das, Dad. Wir haben ja auch ein Bild von ihr bei uns", sagte Hugo Dawn.
"Gut, dann kümmere ich mich um deine Schwestern und Adda", sagte Arco Dawn, der nach außen hin entschlossen und stark wirkte. Doch Hugo Dawn war sich sicher, daß diese scheinbare Stärke sofort zusammenbrechen würde, wenn er nicht mehr bei seinen Kindern war. Doch er wollte seinem Vater die Gelegenheit geben, in Ruhe zu erkennen, was sie alle gerade verloren hatten. Sein Vater hatte in seiner Gegenwart nie geweint, auch nicht, als Hugos Großeltern von Grindelwalds Anhängern getötet wurden. Er war sich sicher, daß der alte Besenkundler, der bis zu seiner Hochzeit mit Regan auch ein gefragter Zaubermaler war, der alten Ansicht treu war, daß Männer niemals in der Öffentlichkeit oder vor ihren Kindern weinen durften. Zum Teil hatte er diese Grundhaltung übernommen. Doch er wußte, daß er wohl bald damit brechen würde, nicht weil er wollte, sondern weil es nicht anders gehen würde. So reisten er und seine Frau mit Flohpulver in ihr Landhaus zurück, dessen Grundstein wohl schon zur Zeit der ersten Königin Elisabeth gelegt worden war. June und ihre Familie begleiteten die Dawns. Philipp wirkte immer noch erschüttert. Doch es mochte ihm anders gehen, wenn er an eine lebensbejahende Großtante dachte, die aus einem dummen Zufall heraus mitten aus einer interessanten Partie und aus dem Leben gerissen worden war.
Als kein Zuschauer und kein Heiler mehr im Harpiesstadion war, kehrte Stille ein. Der verunglückte Silberpfeil war bis zum im Boden steckenden Vorderende niedergebrannt. Der beinahe getötete Conan Bullhorn und die tödlich verunglückte Regan Dawn waren fortgebracht worden. Über dem Spielfeld lag Ruhe. Die Klatscher waren vom Schiedsrichter niedergeholt und verstaut worden. Doch wo war der Schnatz abgeblieben? Da Schnatze nicht per Aufrufezauber zu holen waren, mußte man ihn suchen. Doch das geflügelte Bällchen hatte sich versteckt. Als es ganz still wurde blinkte es golden in der Sonne. Durch die wortwörtliche Grabesstille waren die leise schwirrenden Flügelschläge zu vernehmen, als der wichtigste Ball der Partie über dem nun völlig leeren Feld dahinschwirrte, immer wieder durch den einen und den anderen Torring flitzte und mal hier und mal da verharrte. Als mit leisem Plopp die Platzwartin der Harpies apparierte, konnte sie den winzigen Ball gerade wieder hinter einer Torstange verschwinden sehen. Sie zog sich Drachenhauthandschuhe an und bestieg einen Nimbus 2000. Sie warf ein Netz aus, als sie über dem Stadion herumflog und lauerte auf den kleinen Ball. Als dieser schließlich von seiner zufälligen Bewegungsmagie getrieben wurde, weiterzuschwirren, fing sie ihn mit dem Netz, holte ihn zu sich und verfrachtete ihn in die Kiste zurück. Sollte dieser Schnatz beim nächsten Spiel noch einmal aufgelassen werden? Das mußte sie mit den vier Rätinnen besprechen, die für das Stadion, die Mannschaft und die Öffentlichkeitsarbeit zuständig waren. Doch wenn sie an Regan Dawn dachte, zu der sie damals aufgeblickt hatte, dann erschien es ihr eigentlich klar, daß der Schnatz nicht noch einmal freigelassen werden sollte.
Aurora Dawn erwachte mitten in der Nacht. Der Blick auf ihre Uhr verriet ihr, daß es hier in Sydney gerade drei Uhr am Morgen war. Sonst schlief sie immer durch bis ihr Wecker um sechs Uhr läutete. Dann fiel ihr ein, daß sie gerade geträumt hatte, wie ihre Großmutter Regan mit ihr Mentiloquismus geübt hatte und wie sie für sie die Bilder gemalt hatte, über die sie mit ihren Eltern, ihrer Freundin Petula und mit Oma Regan und Opa Arco in Verbindung stand. Stimmt, sie hatte heute das große Wohltätigkeitsspiel gegen die Veteranenmannschaft von den Tornados. Sie erinnerte sich, daß ihr Vater ihr hatte mitteilen lassen, daß Oma Regan darauf verzichtet hatte, Auroras Nimbus 1700 zu benutzen. Hoffentlich überstand sie das Spiel auf dem alten Silberpfeil noch gut.
Aurora fühlte sich hellwach, als sei es bereits sechs Uhr morgens. Von draußen klangen noch keine Vogelstimmen zu ihr herein. Sie überlegte, ob sie sich noch einmal umdrehen und weiterschlafen oder zumindest einen Schluck Wasser trinken sollte. Als sie fünf Minuten darüber nachgedacht hatte, entschloß sie sich, aufzustehen und zu trinken.
Als sie in ihrer großen Küche stand hörte sie aus ihrem Arbeitszimmer ihre eigene Stimme. Jeder andere Mensch, vor allem ein Muggel, hätte bei diesem Klang an seinem Verstand gezweifelt. Doch bei Aurora war es ja normal, daß sie ihre eigene Stimme von einem anderen Ort hören konnte. Ihr Bild-Ich rief nach ihr und klang dabei ziemlich betrübt. Unvermittelt fühlte Aurora eine düstere Vorahnung auf sich zukommen wie eine vom Sturm gepeitschte Gewitterfront. Sie ließ das noch halb volle Wasserglas auf der Anrichte stehen und eilte in ihren Filzpantoffeln in ihr Sprechzimmer.
"Was immer es ist, mach es nicht umständlich", sagte Aurora, als sie im Schein einer Kerze ihr gemaltes Ich mit traurigem Gesicht sah.
"Oma Regan ist mit dem Besen verunglückt. Sie ist tot." Jetzt wünschte sich Aurora, sie hätte ihrem gemalten Ich nicht befohlen, kurz und frei heraus zu reden. Sie sah die Tränen auf dem Bild fließen und merkte, wie auch in ihre Augen Tränen traten. Dennoch schaffte sie es, ihr gemaltes Ich zu fragen, wer ihr diese Nachricht übermittelt hatte. "Dad hat meinem Gegenstück in England gesagt, ich solle dich erst ausschlafen lassen. Aber wenn du schon wach bist. Ich meine, was machen wir jetzt?" Dann verfiel das Bild-Ich in einen Weinkrampf, dem sich auch die echte Aurora nicht entziehen konnte. All ihre antrainierte Selbstbeherrschung war dahin. Das, was sie als Heilerin zu beachten hatte, wenn sie mit todkranken Patienten oder Angehörigen verstorbener sprechen sollte, galt im Moment nicht für sie. Denn sie war die Betroffene. Aurora Dawn dachte in keiner Sekunde, daß ihr Bild-Ich sie falsch informiert oder belogen hatte. Mit einer derartig schockierenden Nachricht würde ihr Vater keinen Scherz treiben. Es dauerte fünf Minuten, bis die gemalte und die echte Aurora sich soweit gefangen hatten, daß die gemalte ihrem Vorbild in einigermaßen zusammenhängenden Sätzen berichten konnte, was passiert war.
"Bei einem vollendeten Genickbruch kommt jede Hilfe zu spät, wenn der Kopf danach bewegt wird", erinnerte sich Aurora an die Lektionen ihrer Ausbildung. Selbst die magische Heilkunst, die schwerste Verletzungen und Brüche ohne Rückstände heilen konnte, versagte bei einem Tod, der in weniger als einer Sekunde eintrat. Als sie dann zwischen weiteren Tränenfluten erfuhr, daß ihre Eltern von Timothy Preston angesprochen worden waren, nickte sie nur. Timothy war ein noch junger Heiler. Mit einer derartigen Situation umzugehen konnte man nicht durch bloßes Lesen und Ausprobieren lernen. Sie erkannte, daß sie bisher auch niemandem die Todesnachricht hatte überbringen müssen. Sollte sie sich jetzt glücklich oder unfähig wähnen, weil ihr diese Art von Heileraufgabe noch nie gestellt wurde? Jedenfalls wußte sie, daß sie hier in Sydney im Moment wohl nicht mehr ganz bei der Sache sein würde. Erst das mit Bromelia Pinewood und jetzt die Nachricht vom Tod ihrer geliebten Großmutter Regan, deren Stärke und Liebe sie seit sie ein Baby war verehrt und daraus eigene Kraft geschöpft hatte. Oma Regan hatte sie bestärkt, ihren eigenen Weg zu gehen. Ohne sie wäre sie wohl kaum nach Australien gegangen und hätte dort eine anstrengende aber auch bestärkende Ausbildung überstanden. Sie wußte, daß ihre Oma sehr stolz war, als sie die Aprobation geschafft und auch die eigene Niederlassung erhalten hatte. Auch hatte sie den kleinen Hexengarten gelesen und sich sehr darüber gefreut, endlich einmal einen magischen Gartenführer zu haben, mit dem auch unkundige Jungen und Mädchen etwas anfangen konnten. Sogesehen hatte Oma Regan mitbekommen, wie Aurora in ihrem eigenständigen Leben angekommen war. Das war ein schwacher aber doch vorhandener Trost. Dann fiel ihr ein, was ihr Bild-Ich gestern über die Halloweenparty erzählt hatte. Sie glaubte nicht, daß das mit dem runterfallenden Miniskelett ein Vorzeichen war. Aber sie wußte, daß ihre Tante Lynn sehr für solche Vorfälle empfänglich war. Hätte man ihr einen Labrador mit zerzaustem Fell vor die Tür geschickt, sie hätte diesen wohl für den Grimm, den Gespensterhund des Todes gehalten. Wie mochte Tante Lynn jetzt mit dieser Lage umgehen? Die bei ihr eingeschliffenen Denkmuster einer Heilerin traten nun in ihr Bewußtsein und überlagerten langsam die tiefe Traurigkeit, die die betrübliche Nachricht in ihr ausgelöst hatte. Sie mußte stark sein. Sie mußte über der Situation stehen, die Initiative behalten, sich nicht von ihren Gefühlen lähmen lassen. Sie hatte doch immer damit rechnen müssen, eines Tages zu hören, daß ihre Großeltern nicht mehr da waren, ja auch irgendwann - hoffentlich erst in hundert Jahren - zu hören zu bekommen, daß ihr Vater oder ihre Mutter gestorben waren. Sie mußte sich doch innerlich darauf einrichten, selbst in den letzten Minuten eines lieben Menschen dabei zu sein und das in der gnadenlosen Gewißheit, nichts mehr tun zu können, um dem geliebten Menschen zu helfen, auch wenn ihr hundert Zauberformeln und noch mal so viele Heiltränke bekannt waren. Andererseits war sie ein beseeltes Wesen und keine magicomechanische Puppe und auch kein seelenloses Geschöpf wie ein Inferius oder ein Golem. Sie mußte mit diesem Gefühl leben, es zumindest so nahe an sich heranlassen, daß sie mit ihm vertraut wurde und es als zu ihr gehörend akzeptierte. In der psychomorphologischen Abteilung hatten sie ihr erklärt, daß die eigenen Gefühle wie die besten Freunde oder die schlimmsten Feinde wirken konnten, je nachdem, wie man sich mit ihnen abfand und wie stark man sich von ihnen leiten oder lähmen lassen wollte. Denn, so der Abteilungsleiter Mesmer, nur ein Heiler, der seine eigenen Gefühle verstand und damit umzugehen wußte, konnte die seelischen Probleme anderer Menschen erkennen und bewältigen. Sie hatte gelernt, daß es Heiler gab, die mit einer unbeherrschbaren Lage nicht umzugehen lernten und die Hilfe ihrer seelenkundlichen Kollegen erbitten mußten, um nicht in einen Strudel lähmender Ängste und Selbstvorwürfe festzusitzen. An ihr lag es nun, sowohl zu erkennen, wie schwer Regan Dawns Verlust sie betraf, aber auch für ihre Angehörigen dazusein, solange man ihr hier, wo sie Verpflichtungen übernommen hatte, dafür Zeit geben würde. Würde man das überhaupt? Sie wußte, daß Heiler zu Hochzeiten, Kindesbegrüßungen und Beerdigungen freibekamen. Aber würde das reichen, nur an diesem einen Tag zu ihren Angehörigen zurückzukehren? Jedenfalls mußte sie die Heilerzunft darüber informieren. Doch diese verlangte schriftliche Zeugnisse. Erst wenn sie eine offizielle Mitteilung in Händen hielt, konnte sie das terminliche an dieser Sache klären. Doch sie wollte zumindest schon einmal verkünden, daß sie wohl demnächst wieder einmal freigestellt werden möge. Sie hoffte nur, daß Laura Morehead nicht doch irgendwann die Geduld verlor. Vielleicht fürchtete diese auch, Aurora könnte ganz nach England zurückkehren, um in der Nähe ihrer Angehörigen zu bleiben. Als ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, fragte sie sich selbst, ob sie hier wirklich noch bleiben sollte, wo ihre Familie sie in England vielleicht dringender brauchte? Wen hatte sie hier, der ihr so wichtig war, daß sie um keinen Preis der Welt von hier fortgehen wollte? Vor ihrem geistigen Auge tauchten alle magischen Nachbarn von ihr auf, die zu ihren Patienten gehörten oder sie als niedergelassene Heilerin dieser Region ansprechen konnten, wenn sie Fragen zu ihrer Gesundheit, zum Brauen von Tränken oder Kümmernissen in der Verwandtschaft hatten. Sie hatte in den Jahren ihrer Selbständigkeit mehrere Kinder gesund auf die Welt geholt, eines davon schon bevor sie ihre Niederlassung erhalten hatte. Diese Kinder wuchsen nun in der Gewißheit auf, daß die nette, schwarzhaarige Tante Heilerin mit dem englischen Akzent immer für sie da sein würde. Das zu beenden wäre nicht nur gegen den von ihr geschworenen Eid, sondern auch sehr gemein. Es wäre auch gemein Melissa Thornapple gegenüber, die sie als ihre legitime Nachfolgerin erwählt hatte, nachdem sie über sechzig Jahre keine Heilerin gefunden hatte, die dazu bereit gewesen wäre. In ihrem Geburtsland wohnten auch genug Heilerinnen und Heiler. Timothy Preston war ja schon da gewesen, als ihr Vater gerade damit begann, die schreckliche Lage zu begreifen. Benefica Newport, die Hebamme, die ihr damals ans Licht der Welt geholfen hatte, konnte sich um ihre Cousine Adda und das erwartete Baby kümmern. Doch wer kümmerte sich um Opa Arco, wenn seine drei Kinder mit der Trauer selbst so schwer zurechtkamen? Sicher, der mußte ja auch damit leben, daß seine Frau eines Tages nicht mehr da sein würde. Doch bei Hexen und Zauberern waren achtzig Jahre und einige mehr doch noch kein Alter, in dem man an den Tod denken wollte oder mußte. Denn sogesehen konnte es jeden in jedem Alter erwischen. Die Morde des Unnennbaren waren der schlimmste Fall solcher viel zu frühen Abschiede aus der Welt. Harry Potter hätte bestimmt auf diese Berühmtheit verzichtet, wenn er dafür seine Eltern behalten hätte. Die an der Radiointoxikation gestorbenen Leute von Resting Rock waren auch noch zu jung für den Übergang. Dabei fiel ihr natürlich ein, daß sie selbst durch dieses Ereignis bedenklich nahe an der Schwelle zum Tod entlanggelaufen war. Im Grunde konnte nur jemand sagen, er sei bereit für den Tod, wenn er oder sie alles erstrebte erreicht und die Erkenntnis gewonnen hatte, daß nichts davon ewig vorhielt. Da so ein Verständnis aber eher selten war, da der Lebensfunke immer nach neuen Betätigungen und Erkenntnissen trieb, kam der letzte Abschied immer zu früh. Auch das hatte sie in der Unterrichtseinheit Psychomorphologie lernen und prüfungstauglich zusammenfassen müssen. Dann erkannte sie mit einer Spur von Erleichterung, daß ihre Großmutter Regan genau das Ende gefunden hatte, daß sie sich wohl immer erhofft hatte. Mitten in einer schönen Sache, auf der Höhe ihres Geistes und Körpers, ohne einen lange anhaltenden Schmerz hinübergehen. Wie viele uralte Hexen und Zauberer litten unter dem Verlust der Sinnesfähigkeiten, verwünschten die verschwindende Beweglichkeit oder dämmerten unaufhaltsam in die geistige Leere dahin? Mitten aus einem spannenden Quidditchspiel heraus den Sprung über die letzte Schwelle zu tun war genau das, was ihre Oma Regan immer schon gewollt haben könnte. Natürlich hatte sie das niemandem erzählt, und deshalb blieb es auch für die junge Heilerin Aurora Dawn nur eine unbewiesene Vermutung, ein Fünkchen Trost in der Nacht der Traurigkeit. Doch aus dem Funken wurde eine leuchtende Flamme der Hoffnung. War es nicht das größte erreichbare Glück, nach einem Erfüllten Leben abzutreten, ohne jemals daran denken zu müssen, nicht mehr gebraucht zu werden oder durch den Verlust von Körper- oder Geistesfähigkeiten mit einer immer größeren Schwäche konfrontiert zu werden? Oma Regan war tot. Das mußte sie als Tatsache hinnehmen. Über die Fragen warum so und warum jetzt schon zu grübeln holte sie nicht mehr aus dem Totenreich zurück, sofern sie ohne Angst und Bedauern diesen Weg genommen hatte und nicht darauf bestanden hatte, als Geist in dieser Welt zu verbleiben. Sie kannte die Beschreibungen, warum magische Menschen zu Gespenstern werden konnten und warum es auch einige Muggel gab, die nicht aus dieser Welt verschwinden konnten, obwohl ihre Körper tot waren. Doch dann fiel ihr ein, daß Oma Regan sicherlich nicht in dieser Welt hängenbleiben wollte. Sie hatte ihre Kinder groß werden und eigene Wege beschreiten sehen dürfen. Deshalb war sie ganz sicher unbeschwert über die Schwelle getreten, von der kein Weiser der Magie wußte, was dahinterlag, ehe er sie selbst überquerte. Dann überkam Aurora ein gewisses Unbehagen. Wenn ihre Oma Regan gewußt hatte, daß sie alles erreicht hatte, was sie erreichen wollte, wie stand es mit ihr, die sie schon einige Male dem Tod begegnet war? Wußte sie, was sie erreichen wollte? Hatte sie es noch vor sich oder schon erreicht? Nein, damit wollte sie sich nicht ausgerechnet jetzt herumschlagen, zumal sie auf diese beiden Fragen eh keine eigene Antwort finden würde.
"Aurora, bitte sage Dad, er möchte mir so schnell er es hinbekommen kann alle wichtigen Unterlagen schicken, Sterbedatum, Kopie der Sterbeurkunde und ob er möchte, daß ich bei den Vorbereitungen der Beisetzung dabei sein soll. Das ist nur für Laura Morehead, damit die was in der Hand hat, um zu beschließen, ab wann und für wie lange ich frei bekommen kann."
"Bürokratie, dein Reich ist überall", knurrte die gemalte Version der Heilerin. Dann machte sie eine Kopfbewegung, die bei dreidimensional existierenden Wesen ein Nicken sein mochte und verschwand durch den nach westen weisenden Bilderrahmen.
"Muß ich mir wohl den Wachhaltetrank geben", erkannte Aurora Dawn, weil ihr klar wurde, daß sie trotz der traurigen Nachricht ihre hiesigen Pflichten erfüllen mußte und dazu so wach wie möglich bleiben mußte. Allerdings würde sie die Dosis so bemessen, daß sie um zehn Uhr abends wieder müde werden und schlafen konnte. Denn sie wußte natürlich, daß man nicht beliebig oft und unbegrenzt mit stimulierenden Tränken herumwerkeln sollte, weil Körper und Geist dies irgendwann übel vergolten. Die Dosis machte das Gift, bei allem und jedem.
Um die Zeit bis zu ihrem üblichen Aufstehen zu überbrücken schickte sie ihr Bild-Ich mehrmals in Gegenstücke, unter anderem zu ihrem nun verwitweten Großvater Arco, zu ihrer Schulfreundin Petula und zu ihren Eltern, um ihnen zu sagen, daß sie zusehen wolle, zumindest einen Tag vor der angesetzten Beisetzungsfeier nach Europa zurückzukehren. Als sie sicher sein konnte, daß Laura Morehead auf war schickte sie ihr ihren dressierten Cockaburra Chackie mit der Nachricht:
Sehr geehrte Großheilerin Morehead,
In dieser Nacht erfuhr ich über meine mit meinen Eltern bestehende Schnellverbindung, daß gestern, am ersten November 1992, meine Großmutter väterlicherseits, Regan Dawn, geb. Donovan, bei einem fatalen Besenflugunfall während eines Althexenquidditchspiels tödlich verunglückte. Ich möchte keine gesonderte Behandlung erbitten, wenn ich anfrage, wie ich mit dieser neuen Lage umgehen kann, ohne meine hiesigen Pflichten zu vernachlässigen. Denn im Moment bin ich naturgemäß sehr bestürzt, da zwischen meiner Großmutter und mir eine sehr innige Beziehung bestand. Diese Beziehung ermöglichte mir in letzter Folge, daß ich hier in australien zur Heilerin ausgebildet werden konnte. Ebenso teile ich die tiefe Trauer, die meinen Vater und seine beiden noch lebenden Schwestern ergriffen hat und frage mich, wie ich mit dem, was ich hier in der Heilerzunft habe lernen dürfen, hilfreich zur Seite stehen kann. Wie erwähnt erhoffe ich mir von Ihnen eine Antwort, wie ich mit dieser Gefühlslage weiterarbeiten kann, ohne meine Aufmerksamkeit für die mir zugewiesenen Aufgaben zu vernachlässigen. Wie oben erwähnt erwarte ich diesbezüglich keine Sonderbehandlung vor anderen Heilern.
Mit freundlichen Grüßen
Aurora Dawn
Die nächsten zwei Stunden brachte Aurora damit zu, ihre Vorräte an fertigen Tränken zu sichten und fehlende Zutaten aufzulisten, um demnächst neue Heiltränke ansetzen zu können. Außerdem besuchte sie ihre Zauberpflanzen und gab ihnen Wasser oder Einhorndung, um sie für die kommenden Tage mit Nährstoffen zu versorgen. Alles in allem stürzte sie sich in alle Alltäglichkeiten, die sie sonst als zu routinemäßig ansah. Um neun Uhr erhielt sie Eulenpost vom Zaubereiministerium, daß die Eheleute Pinewood wegen des dringenden Tatverdachtes des unerlaubten Schwangerschaftsabbruches in Tateinheit mit Kindesmord und Körperverletzung verhaftet worden waren. Beigefügt lag eine Liste im Haus der Pinewoods gefundener Zutaten und Zaubertrankbraugerätschaften, sowie eine in einer mit Wachs versiegelten Phiole abgefüllten Menge eines rosarot schimmernden Trankes. Diesen erkannte Aurora gleich durch Augenschein als sogenannten Trank der folgenlosen Freuden, den Hexen tranken, die befürchteten, ungewollt schwanger zu sein, bevor sie von einer Heilerin untersucht wurden und dann, falls der Verdacht sich bestätigte, nicht mehr klammheimlich abtreiben konnten. Um für das Ministerium und ihre Patientenakten eine unumstößliche Bestätigung zu erhalten, setzte sie mit der Probe aus der Phiole mehrere unabhängige Prüfmischunen an. Dazu benötigte sie drei weitere Stunden. Dann lag das Ergebnis von drei der fünf Testgebräue vor: Positiv auf Contragravididtas-Trank. Die Ergebnisse notierte sie, füllte die entsprechenden Proben in andere Sicherungsphiolen um, die sie dem Ministerium und der Sano zuschicken wollte, um zu bestätigen, daß es sich bei dem beschlagnahmten Gebräu um den Trank handelte, dem Bromelia Pinewood sich selbst ausgesetzt hatte.
Trotz der Arbeitswut, mit der Aurora ihre Trauer niederhalten wollte, meldete sich gegen ein Uhr ihr Magen mit einem unverkennbaren Hungergefühl. Sie kochte sich einen Eintopf nach Oma Regans Rezept. Dabei trieb sie zwischen Trauer und Stolz, daß dieses Rezept für scharfen Gemüse-Wurst-Eintopf in ihr, Regans Enkeltochter, weiterbestehen würde. Sie dachte beim magisch dirigierten Abwasch und Aufräumballett daran, wie spielerisch ihre Großmutter ihren Haushalt mit einer Zauberstabbewegung erledigen konnte. Würde sie jemals diese Vollendung erreichen? Sie fragte sich, ob ihre Tanten Lynn und Dana derartig bewanderte Haushaltshexen waren. Dann dachte sie daran, daß sie auch von ihrer Mutter das Talent zur Zauberkunst geerbt hatte und somit keine Sorgen haben mußte, ihren Haushalt nicht in einer Minute erledigen zu können.
Gegen zwei Uhr hörte sie ihre Türglocken läuten. Jemand brauchte ihre Hilfe. Sie prüfte, ob sie für ihren Beruf ordentlich bekleidet war und öffnete die Tür. Ein kleiner Junge in Muggelkleidung stand davor und blickte sie aus großen, grünen Kinderaugen fragend an. Aurora warf schnell einen prüfenden Blick über den wohl gerade neunjährigen Knirps hinweg, um zu sehen, ob er alleine gekommen war und fragte ihn dann:
"Na hallo, wer bist du denn?"
"Ähm, du siehst gar nicht aus wie 'ne Hexe", antwortete der Junge erfrischend frei heraus. "Mein großer Bruder Jake meinte, ich sollte die Hexe hier fragen, ob die Terry wiederfindet."
"Ach, du bist der kleine von den Garfields, die vor fünf Wochen bei mir waren, um was gegen Flöhe zu kaufen, weil sie der Mugg.., ähm, Megachemie nicht trauten", erkannte Aurora nun. "Jimmy heißt du dann wohl, richtig."
"Ähm, ja, Madam Aurora", entgegnete der Junge. "Terry, unser Westi, ist vor einem halben Tag weggerannt, um 'ne Katze zu jagen und kam nicht mehr wieder. Jake meint, den hätte wer überfahren. Dann sagte der, ich sollte die Hexe fragen, die dieses geniale Flohabwaschzeug gemacht hat. Wenn die Terry wiederfände, würde er es glauben, daß sie echt zaubern kann."
"Das ist aber sehr mutig von dir, alleine zu mir zu kommenund mir sowas offen ins Gesicht zu sagen", grinste Aurora, die eigentlich dachte, heute keinen heiteren Moment erleben zu können. Jimmy Garfield trat schnell einige Schritte zurück, um sofort wegzulaufen, wenn die Frau da in der Türöffnung ihn anzufassen versuchte.
"Ich wollte Ihnen nix böses Sagen, Madam. Ähm, besser ist's, wenn ich wieder gehe."
"Moment mal, wo war euer kleiner Hund genau, als er meinte, Miezekatzen jagen zu müssen?"
"Bei der alten Scheune vom alten Prouster. Da hängt der immer gerne ab, wenn wir ihn freilaufen lassen. Vielleicht hat der alte den auch abgeknallt, weil der dachte, der will an seine Hühner dran."
"Warum habt ihr den netten Mr. Prouster dann nicht gefragt, ob er euren Terry gesehen hat?" Wollte Aurora wissen.
"Weil der immer gleich schimpft. Der meint immer, Jake und ich würden Eier oder dem seine Äpfel aus dem Garten klauen."
"Was ihr natürlich nie tut", erwiderte Aurora, den kleinen Muggel sehr genau ansehend. Dieser lief an den Ohren leicht rot an und stammelte:
"N-nur die, die ü-über'n Zaun hängen. Aber den fragen wo Terry is' geht bei dem nicht."
"Und deine Eltern trauen sich auch nicht?" Fragte Aurora.
"Die sind in Urlaub. 'ne Frau von nebenan paßt auf Jake und mich auf. Aber die darf nicht wissen, daß wir mit Terry an der Scheune gespielt haben, weil die auch 'ne Katze hat und Terry die schon sehr komisch angeknurrt hat. Die kommt erst morgen nachgucken."
"Deine Eltern sind ja lustig, einen fünfzehnjährigen und einen der gerade mal lesen und schreiben kann alleine zu lassen. Gottvertrauen heißt das wohl." Jimmy starrte Aurora sehr überrascht an und meinte dann: "Sie haben das Wort Gott gesagt. Dann sind sie keine Hexe."
"Hätte ich das nicht sagen dürfen?" Erwiderte Aurora belustigt. Dann fiel ihr ein, daß Muggel ja früher geglaubt hatten, Hexen und Zauberer könnten nur mit dem Teufel, dem gehörnten Herrn der bösen Wesen zusammenarbeiten und dürften deshalb nicht in Kirchen oder andere geweihte Gebäude rein, müßten sich vor dem christlichen Kreuz fürchten und dürften weder die Begriffe Gott noch Christus aussprechen, ohne übel dafür bestraft zu werden. So sagte sie noch: "Ich kann eben gut Sachen zusammenrühren, die gegen Flöhe und Bauchschmerzen helfen. Ich muß dafür nicht an einen struppigen Kerl mit Ziegenbockkopf und Pferdefuß glauben. Aber vielleicht will Terry zu euren Eltern zurück und ..."
"Jimmy, du Vollhirnie!" Hörten sie beide die brüchige Stimme eines Jungen, der gerade um die Ecke gerannt kam. Jimmy wirbelte herum und rief: "Wiesoo? Du hast doch gemeint, ich soll zu der hingehen, um die zu fragen, wo Terry ist."
"Mann, das meinte ich doch nicht ernst, du Pimpf", schnarrte der Halbwüchsige und bremste seinen Lauf knapp zehn Meter vor Aurora. Er winkte seinem kleinen Bruder energisch zu. Aurora sah ihn ruhig an und fragte ihn: "Wo sind denn eure Eltern hingefahren? Vielleicht will euer Hund ja da hinlaufen."
"Du Vollidiot hast der gesteckt, daß unsere Alten im Urlaub sind?" Zischte Jake und erbleichte, so daß seine sprießenden Pickel am Kinn noch deutlicher zu sehen waren. Aurora lächelte ihn jedoch beruhigend an und schlug vor, sie beide in Ruhe nach Hause gehen zu lassen und die Nachbarn zu fragen, wo der vermißte Hund gesehen worden sei. Jake nickte wild und ergriff den Arm seines jüngeren Bruders, um mit ihm davonzugehen. Jimmy entwand sich jedoch und lief zu Aurora zurück, blieb aber außerhalb ihrer Armreichweite. "Mum und Dad sind runter zur Botanikerbucht zu 'nem Onkel von uns. Ist aber ziemlich weit weg."
"Toll, warum erzählst du der nicht gleich noch mehr von uns?" Schnarrte Jake und packte seinen Bruder am Arm. Aurora meinte unbeeindruckt:
"Sag das mal nicht. Es hat schon Hunde gegeben, die durch ganz Australien hinter ihren Besitzern hergelaufen sind. Die riechen, wo jemand langläuft und können dann hinterherlaufen."
"Terry nich'", knurrte Jake. Dann zog er seinen Bruder mit sich. Dieser rief nur noch "'tschuldigung und Tschüs!", bevor sein Bruder ihn zu weit vom Haus fort hatte.
"Wenn es Zauberer gewesen wären hätte ich denen ihren Hund schnell wiederbringen können", dachte Aurora betrübt. "Aber so darf ich denen nicht helfen."
Eine Stunde nach dem Besuch des Jungen Jimmy läutete es wieder an der Tür. Diesmal war es Maureen McFee, eine ihrer magischen Patientinnen, der sie bei der Geburt von Kind Nummer drei assistiert hatte. Sie wollte die Salbe gegen Schürfwunden nachkaufen. Aurora gab ihr die kleine Dose und meinte: "Kommt jetzt in das Alter, wo er andauernd irgendwo herumtobt, wie?"
"Mit dem Kinderbesen von Brian auch kein Kunststück", knurrte Maureen McFee.
"Dann gebe ich Ihnen am besten noch was vom Trank gegen blaue Flecken mit", sagte Aurora und apportierte die entsprechende Flasche aus ihrem Vorrat. Maureen McFee überlegte, ob sie sich das leisten konnte, nickte dann und bezahlte dann beide Mixturen.
Gegen fünf Uhr kontaktfeuerte Laura Morehead mit ihr. "Ich habe deinen Brief erhalten. Zunächst einmal mein herzlichstes Beileid, Aurora. Ich weiß ja durch unsere Gespräche in den letzten Wochen und Monaten, was du deiner Großmutter zu verdanken und von ihr gelernt hast. Selbstverständlich stelle ich dich für die gesamte restliche und die darauf folgende Woche frei, damit du mit deiner Familie zusammen in Würde Abschied nehmen kannst. Doch die Pergament fressende Raupe Bürokratia will natürlich die genauen Daten und die Begründung für deinen Sonderurlaub. Du wirst übrigens nicht bevorzugt. Jeder Heiler, der einen geliebten Menschen verliert, erhält eine Woche Zeit, um mit seinen Angehörigen den ehrenvollen Abschied zu planen und zu begehen. Ich mußte von dieser Regel selbst ja auch schon zweimal Gebrauch machen. Es ist besser, wenn ein Heiler sich mit dem Verlust vollständig auseinandersetzt, anstatt in wichtigen Momenten von unbewältigten Gefühlen an seiner Arbeit gehindert zu werden. Also, wenn du die Unterlagen von deiner Familie hast, schicke sie mir per Expresseule!"
"Mache ich", sagte Aurora und bedankte sich für das Verständnis und Entgegenkommen.
Den Abend verbrachte sie zusammen mit Heather Springs, nachdem sie über die Bilderverbindung mitbekommen hatte, daß man ihre Tante Lynn im St.-Mungo-Hospital behalten wolle, bis geklärt sei, ob ihr schwerer Schock gelöst werden konnte oder eine dauerhafte Behandlung erforderte. Das brachte Aurora darauf, sich zu überlegen, ob sie nicht Ireen Barnickle oder einen Kollegen aus der psychomorphologischen Abteilung der Sano fragen sollte, mit ihr über den Verlust zu sprechen, um alle damit einhergehenden Gefühle kontrolliert auszuleben und alle Erinnerungen in maßvoller Weise hervorzuholen. Doch die beste Therapie beim Verlust eines geliebten Menschen war das Gespräch mit anderen, die ähnlich viel mit diesem Menschen verband.
Am Abend schrieb sie dann noch in ihr Tagebuch:
2. November 1992
Hallo Wendy!
Ich weiß nicht, ob es was damit zu tun hatte, aber ich bin am Morgen schon um drei Uhr aufgewacht. Weil ich nicht mehr einschlafen konnte trank ich was. Dadurch merkte mein Bild-Ich, daß ich wach genug sei und erzählte mir, daß Oma Regan bei dem Spiel, von dem ich dir erzählt habe gestorben ist. Sie ist mit dem Hals an einen Torring geprallt. Der Ring hat ihr fast den Kopf abgerissen. Dad hat mich wissen lassen, daß die drei obersten Halswirbel gebrochen waren. Oma Regan muß also sofort tot gewesen sein. Das macht mich jetzt richtig traurig. Andererseits will ich denen hier nicht zur Last fallen. Ich habe Zunftsprecherin Laura Morehead geschrieben, was passiert ist. Die sagte mir dann durch Kontaktfeuer, daß ich eine ganze Woche Urlaub bekommen würde, um mit dem Verlust richtig fertig zu werden. Aber ich frage mich, ob das überhaupt geht. Oma Regan gehörte ja ganz fest zu meinem Leben. Du erinnerst dich ja ganz genau an die Urlaubstage, wie ich bei meinen Eltern war und da auch bei Oma Regan war. Schon sehr fies, daß ich über die beiden von ihr von mir gemalten Bilder mitbekommen habe, daß sie nicht mehr da ist. Tante Lynn mußten sie ins St.-Mungo-Hospital einweisen, weil sie von dem Unfall sehr schockiert wurde. Dad fürchtet, es könnte sie viel heftiger mitgenommen haben als ihn und Tante Dana. Ist schon eine sehr finstere Vorstellung, daß das mit dem runtergefallenen Skelett an Halloween vielleicht doch sowas wie ein Vorzeichen war. Aber ich will mich nicht in diesem Wahrsagenzeug verheddern. Da wird auch viel Mumpitz mit betrieben, bei uns und auch bei den Muggeln. Wenn ich weiß, wann und wo Oma Regan beerdigt wird darf ich rüber zu meinen Eltern. Den Rest der Woche habe ich frei, hat Laura mir gesagt. Ich war heute abend noch bei Heather und habe mit ihr drüber geredet. Sie meint, daß meine Eltern vielleicht möchten, daß ich wieder zu denen hinziehe. Aber das wäre ein heftiger Rückschritt. Also sollte ich das gar nicht erst überlegen. Da werden Laura, Heathers Onkel, Meisterin Herbregis und Mel Thornapple auch sehr wütend sein, wenn ich hier nicht mehr weiterarbeiten wollte.
Bis morgen dann!
Trotz der Freistellung hielt sich Aurora noch für kleinere Angelegenheiten und Hausbesuche bereit. Das ältere Ehepaar, das sie einmal wegen Fortuna-Matris-Trank befragt hatte, freute sich auf ein neues Baby, daß im April ankommen würde. Die Mixturen gegen Schürfwunden und blaue Flecken gingen bei den kinderreichen Familien weg wie geschnittenes Brot. Zwischendurch sprach sie mit Heather und Pamela Lighthouse. Am vierten November kam eine Eule von Melissa Thornapple, die gerade in Rom weilte, und ihr aus der ewigen Stadt herzliches Beileid wünschte. Sie fragte vorsichtig an, ob sie zu der Trauerfeier hinkommen dürfe. Aurora schrieb zurück, daß sie dies mit ihrem Vater und ihrem Großvater Arco abklären müsse und schickte ihr Bild-Ich erkundend voraus. "Selbstverständlich können wir Madam Thornapple einladen, Aurora. Dad und Opa Arco machen gerade eine Liste der Leute, die außerhalb der Familie eingeladen werden. Da steht auch Bethesda drauf, wenn sie kann."
Am sechsten November kam die offizielle Bekanntmachung vom Tod Regan Dawns, sowie der Artikel aus dem Sportteil des Tagespropheten, der mit "Goldene Harpyie entflog glücklich dem irdischen Sorgental" betitelt war. Ein ähnlicher Artikel aus dem Magazin Rennbesen im Test mit der Überschrift "Alte Besen - eine immer noch unterschätzte Gefahr"und ein Nachruf aus der Hexenwoche von Gwendolyn Morgan, die in anrührenden Sätzen schilderte, wie reichhaltig Regan Dawns Leben war und daß sie froh war, sie zur Freundin und verläßlichen Mannschaftskameradin gehabt zu haben. Natürlich gab es auch Artikel, die kritisierten, daß man Leute über fünfzig noch Quidditch spielen ließ und dann noch auf eindeutig abgerittenen Besen. Ein muggelstämmiger Leser schrieb: "Wenn bei den Muggeln ein Autowagen nicht mehr richtig gesteuert werden kann kommt er auf den Schrotthaufen. Wenn ein Pferd nicht mehr richtig auf den Beinen ist kriegt es Gnadenbrot oder kommt in die Salami. Aber ein Gesetz für die Gebrauchsfähigkeit von Rennbesen gibt's immer noch nicht. Das sollten die Stümper um Fudge und Bagman mal überdenken." Eine ziemlich impertinent schreibende Hexe namens Rita Kimmkorn brachte Aurora fast zur Explosion. Erstens schrieb sie den Vornamen ihrer Großmutter "Reagon" und ließ sich zweitens und drittens darüber aus, daß diese offenbar schon längst ein Fall für die Heiler im St. Mungo gewesen wäre, weil gesunde Hexen und Zauberer mit über sechzig nicht mehr bei Quidditchspielen mitmachten und dann noch auf eindeutig kaputten Besen flögen. Denn, so die Schreiberin weiter, Augenzeugen hatten beobachtet, daß der Besenschweif der Verunglückten in einer Tour gezittert habe, was auf einen bevorstehenden Flugzauberabfluß zurückzuführen sei. man hätte sie deshalb sofort aus dem Spiel nehmen müssen, und jeder Funktionär dieser Partie, vom Schiedsrichter bis zum Platzwart der Harpies, gehöre vor den Zaubergamot. Nebenbei behauptete diese Schlammschleuder auch noch, daß es offenkundig sei, daß eine bisher nicht bekanntgemachte Geisteskrankheit in der Familie der Verstorbenen vererbt würde, da deren älteste Tochter wegen erwiesener Wahnvorstellungen in der geschlossenen Abteilung des St.-Mungo-Hospitals untergebracht sei.
"Kann man gegen derartige Schmierwichtel irgendwas machen?" Fragte Aurora Brian McFee, den sie in seiner Eigenschaft als Reporter aufsuchte, um gegebenenfalls die Flucht nach vorn antreten zu können, wenn der Kimmkorn-Artikel bis nach Australien vordringen mochte.
"Die gute Rita Kimmkorn sollte sich zunächst mal eine gescheite neue Schreibefeder zulegen, um die Namen richtig zu notieren", hatte Brian McFee darauf geantwortet. "Wenn Ihnen derartige Veröffentlichungen nicht gefallen können Sie auf Schadensersatz klagen oder versuchen, eine Beleidigungsklage durchzubringen. Aber ob das in England geht will ich mal besser nicht garantieren. Am besten lehnen Sie Interviews mit dieser Dame ab. Ich hörte von anderen Kollegen, daß Kimmkorn sehr gerne hetzerische oder rührselige Sachen schreibt, die geeignet sind, Leute öffentlich zu demontieren. Haben wir hier im Land unten drunter auch ein paar. Aber die schreiben dann nur in entsprechenden Schundblättern und nicht für uns." Aurora nahm das mal so zur Kenntnis.
"Wie erwähnt steht Ihnen die laufende Woche zur ffreien Verfügung. Ihre Stellvertretung übernimmt Heilerin Silverlake", bekam sie die schriftliche Mitteilung von Laura Morehead. Aurora nahm Kontakt zu der älteren Kollegin auf und bot ihr an, sie im Gegenzug vertreten zu wollen. Diana nahm das Angebot an und wünschte ihr all die Kraft und Ruhe, die sie brauchte. Am Morgen des siebten Novembers meldete sie sich aus Australien ab und reiste per Flohpulver über die Grenzstationen direkt ins Haus Ihrer Eltern. dort war auch ihr Onkel Humbert, der sich den sonst üblichen Zopf entfernt hatte und nun kurze Haare trug, um bei der Beerdigungsfeier nicht zum ungewollten Gesprächsthema zu werden. Er wirkte so, als habe er schwere Schuld auf sich geladen.
"Hallo onkel Humbert! Wie geht es Tante Lynn?" Fragte Aurora.
"Nicht so gut, Aurora. Sie hat einen Tag lang nur was davon geredet, daß Regan wegen der kaputten Kette gestorben ist. Dann hat die mich immer so angeguckt, als hätte ich deine Oma Regan gegen den Torring geschleudert. Ab da fiel sie in so einen komischen Zustand, als wisse sie nicht mehr, wer sie sei oder wo sie wäre. Habt ihr sowas bei euch auch mal gehabt?"
"Schuldwahn", seufzte Aurora. "Hatte ich in der Ausbildung von gehört, daß Leute wegen der festen Vorstellung, an einem Unglück Schuld zu sein, in eine schwere Trübsal mit Verlust der Wirklichkeit verfallen können. Ich hoffe mal, das Tante Lynn das nicht hat, Onkel Humbert."
"Vielleicht hat sie aber recht und diese Glückskette hätte nicht kaputtgehen dürfen", seufzte Onkel Humbert. Er schilderte Aurora, was beim Spiel passiert war. Aurora hörte es sich ruhig an und sagte dann ganz entschieden:
"Wenn die Kette nicht verflucht war oder auf eine magische Weise mit Oma Regan verbunden wurde kann es unmöglich daran liegen, Onkel Humbert. Wenn das diese Kristallkette ist, dann hatte Tante Lynn die doch schon fast so lange wie ich mich zurückerinnern kann, oder?"
"Ja, aber wenn Lynn das glaubt, daß Regans Seele an dieser Kette dranhing", entgegnete Humbert Murray.
"Dann wäre meine Mutter nicht gegen den Ring geknallt sondern im Flug auseinandergerissen, Humbert. Hör also auf mit diesen Selbstvorwürfen", schnarrte Auroras Vater.
"Lynn glaubt das aber, verdammt noch mal! Wenn du ihr das erklären kannst und sie danach wieder normal wird dann gut", schnarrte Humbert Murray. Aurora sah ihren Onkel sehr genau an und fragte ihn direkt:
"Glaubst du daran, daß das mit der Kette für Oma Regans Unfall verantwortlich ist?"
"Soll das eine Anamnese sein, Aurora?" Fragte Humbert Murray abweisend.
"Ich bin hier nicht niedergelassen und da wo du wohnst auch nicht, Onkel Humbert. Aber falls du findest, dich jemandem anvertrauen zu müssen, suche besser einen Psychomorphologen auf! Das ist nur die Privatmeinung einer ausgebildeten Heilerin und keine direkte Anweisung."
"Hätte ich dir auch nicht geraten, dich hier jetzt aufzuspielen, Mädchen", schnarrte Humbert Murray. Aurora erkannte, daß ihr Onkel offenbar einen Schutzwall aus Trotz und Widerspruch errichtet hatte, weil er sich insgeheim selbst vorwarf, seine Schwiegermutter und seine Frau auf dem Gewissen zu haben. Da sie jedoch hier nicht als Heilerin auftreten wollte beließ sie es bei dieser Antwort, bis ihr Onkel in das eigene Haus zurückkehrte, das im Moment von seiner Tochter Adda geführt wurde.
"Darf ich Tante Lynn besuchen?" Fragte Aurora ihren Vater.
"Selbstverständlich, Kind", sagte er. "Vielleicht ist es gut, wenn jemand, den sie in den letzten Wochen nicht zu sehen bekam zu ihr geht. Kann sein, daß sie dann wieder aus dem Zustand freikommt."
"Onkel Humbert ist sehr verdrossen, Dad. Hoffentlich geht das mit Adda gut, wo sie gerade schwanger ist."
"Das haben wir dir nicht erzählt, Aurora. Addas Kind ist im Moment nicht in ihrem Leib. Eine Kollegin von Madam Newport hat es übernommen, um es die nächsten vier Wochen zu tragen, bis Adda sich von dem Schock erholt hat, den Oma Regans Unfall ausgelöst hat. Collin hat deinen Kolleginnen dazu die Erlaubnis gegeben, weil Adda für zwei Tage nicht ansprechbar war."
"Transgestatio? So heftig? Warum hast du mir das nicht erzählt, und wieso hat mein Bild-Ich das nicht mitbekommen?"
"Drittens, weil wir das bei Onkel Humbert besprochen haben, der nicht wollte, daß diese Giftspritze Kimmkorn es in die Zeitung schmiert. Zweitens, weil wir dir nicht ein schlechtes Gewissen machen wollten, daß du nicht da warrst, um Adda zu helfen. Und ja, es war wohl knapp an der fehlgeburt. Madam Newport hat das verfügt, daß ihre Kollegin einspringt, weil sie selbst sich nicht mehr im Stande sieht, diesen Zauber zu machen."
"Ich habe ihn bisher nicht anwenden müssen", erwiderte Aurora mit einem gewissen Bedauern. Tatsächlich hatte sie ihn bisher nicht einmal erlernt, weil hierfür eine gerade selbst schwanger gehende Heilerin ihr Einverständnis geben mußte, ihn mit Aurora oder einer anderen aprobierten Heilerin auszuführen. Ihr Vater nickte. "Ihr macht mir damit kein schlechtes Gewissen, Dad. Ich weiß ja, daß ich sehr weit weg bin und bin froh, daß hier genug Kollegen und Kolleginnen arbeiten. Aber wieso darf Adda dann Onkel Humberts Haushalt führen. Kann Tante Dana das nicht machen, wenn der schon nicht für sich alleine sorgen kann?"
"Sie wollte das, Aurora. Sie will damit zeigen, daß sie ihrer Mutter viel verdankt und will deinen Kollegen zeigen, daß sie schnell wieder fit genug wird, um das Baby zurückzuerhalten und es dann zur Welt zu bringen."
"Wie erwähnt bin ich hier nur Gast. Aber ich möchte mich zumindest mit Madam Newport unterhalten. Schließlich kannte sie Oma Regan ja auch sehr gut." Ihr Vater nickte. Regina Dawn sagte dann noch:
"Wir haben schon eine Antwort von deiner Mentorin. Sie wird auch zur Beerdigungsfeier kommen. Die Klinik leitet dann solange ein gewisser Heiler Morningdew."
"Och, den kenne ich natürlich. Der war der Mentor einer meiner Ausbildungskameraden", erwiderte Aurora. Daß Bethesda sich bei Laura Morehead einen freien Tag erstreiten konnte hatte ihr weder die eine noch die andere erzählt. Heather Springs würde auch kommen, nachdem sie die offizielle Einladung der unmittelbaren Hinterbliebenen erhalten hatte, ebenso die ganzen Harpies, die alten wie die Jungen, Hugos Schulfreunde aus Hogwarts, genauso wie die Priestleys und Meadows. Arcadia hatte von Professor Dumbledore das Wochenende freibekommen, an dem die Beerdigung sein würde. Das brachte Aurora auf die Frage nach dem Wann und dem Wo.
"Zeremonienmagier Nodberry kommt morgen Früh noch vorbei", sagte Regina Dawn. "Wir treffen uns dann bei Opa Arco im Haus. Tante Dana wohnt da mit ihrer Familie, bis geklärt ist, ob Opa Arco das Haus behalten will oder in ein kleineres Haus umzieht. Er hat erwähnt, daß Oma Regan vor drei Jahren ein Testament gemacht hat. Das kriegen wir dann aber wohl erst Ende November zu sehen."
"Zeit genug, um sich darum zu zanken, wem das Haus zu wie vielen Anteilen gehört", grummelte Aurora. Ihr Vater sah sie verdrossen an. Doch dann mußte er nicken.
"Onkel Humbert und Onkel Collin haben auch schon angefragt, wie das mit dem Haus ist. Würde mich nicht wundern, wenn sie Opa Arco dazu drängen, seinen Anteil zu verkaufen und sie den Rest verkaufen können. Aber Onkel Humbert ist im Moment eher mit den Gedanken bei Tante Lynn, weil die ihn mit der Vorstellung angesteckt hat, es könnte diese verdammte Kette gewesen sein."
"Jetzt sei aber ehrlich, Hugo. Du hast Arco auch schon gefragt, ob das Haus nicht zu groß für ihn alleine sei", warf Auroras Mutter ein. Ihr Mann funkelte sie graugrün an und schnaubte: "Fragen wird man ja wohl mal dürfen. Oder denkst du, ich würde nicht dran denken, wie das wäre, ganz allein in diesem Haus zu wohnen, wo mich alles an dich erinnert?"
"Nett, Hugo. Sowas empfinde ich immer, wenn du für mehrere Wochen in der Natur verschwindest und mit irgendwelchen Vögeln arbeitest und ich nicht weiß, ob und wann du wiederkommst. Aber lassen wir das! Es ist wohl nicht die Zeit, sich über sowas zu zerstreiten."
"Ach neh, wann ist es denn Zeit, Regina?" Fragte Hugo Dawn sehr verärgert. Aurora sah ihre Eltern an und überlegte, wem sie beipflichten oder widersprechen konnte. Sie hing nun genau dazwischen. Jetzt erst ging ihr auf, wie viel von ihrer Familie sie nicht mitbekam, seitdem sie in Australien war. Sie war quasi eine Außenstehende.
"Wir müssen uns nicht darüber streiten, ob wir in diesem Haus bleiben oder nicht, Hugo. Ich habe lediglich festgestellt, daß es vielleicht unpassend war, Arco zu fragen, ob er wirklich allein in dem Haus bleiben will. Dann hättest du ihn genauso wie Kelvin fragen können, wann er endlich ausziehe, damit ihr Kinder und Schwiegerkinder es unter euch aufteilt."
"Regina, das ist jetzt unfair. Ich habe mit keinem Wort und keinem Gedanken angedeutet, daß mein Vater aus dem Haus raus soll. Schließ bitte nicht von Kelvin und seinen respektlosen Söhnen auf mich! Dafür kennst du mich doch viel zu gut."
"ja, stimmt, Hugo. Ich fürchte nur, du hängst zwischen den Fronten deiner Schwestern und Schwäger. Nichts sagen kannst du dir nicht leisten, weil beide dann auf dich einreden, und egal, wem du zuneigst, wird die andre Seite dich dafür verachten oder demütigen." Aurora nickte bestätigend und warf ein, daß sie im Moment dieses Gefühl hatte, weil sie nicht wußte, ob ihre Eltern nun einen reinen Meinungsaustausch betrieben oder auf Grund der mächtigen Gefühle all die Dinge hervorzerrten, über die sie sich schon immer aufgeregt hatten.
"Morgen kommen wir bei meinem Vater zusammen, Aurora. Ich denke, Zeremonienmagier Nodberry wird sich freuen, daß du auch da bist", sagte Hugo Dawn. Seine Tochter nickte. Sie wollte dem Zeremonienmagier, den sie bei der Hochzeit von Roy Fielding und Dina kennengelernt hatte, gerne erzählen, daß sie von ihrer Großmutter vieles gelernt und übernommen hatte, worauf sie heute stolz war, ob das Besenfliegen, die Freude an Pflanzen oder die Durchsetzungsstärke, mit der sie sich in die Geschichte von Hogwarts und die der internationalen Heilmagie eingeschrieben hatte.
Um etwas ruhiger zu werden sprachen sie dann über die Alltäglichkeiten der letzten Wochen, weil Aurora ja nichts über ihre Patienten erzählen durfte. Damit verging der Abend in England. Aurora notierte in ihr Tagebuch, daß sie sich nicht sicher sei, ob mit Oma Regans Tod nicht all das über Jahre angestaute Konfliktpotential zwischen ihren Eltern und ihren Verwandten freigesetzt würde. Doch sie hoffe darauf, daß sich nach der Trauerzeit die Wogen wieder glätteten, wenn allen bewußt würde, wie glücklich sie sich schätzen durften, daß sie einander hatten.
Logophil Nodberry trug einen schwarzen Samtumhang, als er am nächsten Tag das Anwesen von Arco Dawn betrat. Der kleine Zauberer mit dem weißen Struwelhaar begrüßte die Trauernden sehr ruhig und sanft. Dann folgte er der Einladung des frisch verwitweten Hausherrn, im großen Salon zusammenzukommen. Auch Dana mit ihrer Familie und Humbert mit der gerade nicht so rundlich aussehenden Adda. Sie erwähnten alles erinnernswerte, was Regan Dawn in einem hellen Licht erstrahlen ließ, sprachen über die Ausbildung ihrer Enkelkinder, für die sie immer Zeit gehabt hatte, bekräftigten, daß Quidditch, Zauberkunst und magische Haushaltsführung ihre großen Leidenschaften gewesen seien und erklärten dem Zeremonienmagier auch, daß Regan Dawn allen hier als Vorbild gedient hatte. So konnte Aurora auch erwähnen, daß sie durch ihre Großmutter die Bedenken, nach Australien zu gehen, weil sie dort so weit weg war, überwinden konnte, weil ihre Großmutter ihr half, eine schnelle Verständigungsmöglichkeit zu schaffen, auf die sie, Aurora, jetzt nicht näher eingehen wolle. So vergingen zwei Stunden, während derer sich der Zeremonienmagier alles aufschrieb, was er in seiner Trauerrede erwähnen wollte. Dann kam er auf den Punkt, um den sich Gwendolyn Morgan und die Dawns einen ganzen Tag lang die Köpfe heißgeredet hatten.
"Ist es jetzt vereinbart, daß die Feierlichkeit im Harpies-Stadion stattfindet, die Beerdigung als solches aber in der Familiengruft der Donovans in Ten Hills stattfindet?" Alle Anwesenden nickten. Hugo hatte seiner Tochter ja erzählt, daß die Harpies auf einer öffentlichen Trauerfeier auch für die Fans bestanden und die geladenen Gäste dann so diskret es ging zum Beisetzungsort reisen konnten. Da die Donovans in Irland gelebt hatten, in besagtem Zaubererdorf Ten Hills bei Killarney, würde die eigentliche Beisetzung dort stattfinden. Zu diesem Zweck war Regan Dawn nach der Leichenwäsche in einem unzerbrechlichen Glassarg aufgebahrt worden. Aurora würde sie heute nachmittag im Stadion besuchen. Für die ordentliche Beerdigung würde sie in einem Sarg aus dem Holz in die freigehaltene Grabnische gebettet, aus dem ihr Besen bestanden hatte. Aurora fragte nach Liedern, die gesungen werden sollten. So wählten sie drei gefühlvolle Lieder für die Trauerfeier und zwei für die Überführung zur letzten Ruhestätte. Fast hätte Aurora deshalb mit ihrer Tante Dana Streit bekommen, weil sie vorschlug, die Siegeshymne der Harpies zu singen und Dana Roswell dies für unangebracht hielt. Aurora bestand jedoch darauf, daß für ihre Großmutter Quidditch und die Zeit bei den Harpies ein großer Teil ihres glücklichen Lebens war und das bei der öffentlichen Feier gewürdigt werden sollte. Zuspruch erhielt sie von ihrem Großvater und ihrem Vater. Somit gab Dana klein bei und gestattete es.
Nach der Sitzung mit dem Zeremonienmagier, der jedem beim Abschied persönlich die Hand gab, reisten Auroras Eltern mit ihr nach London, wo sie bis zu jenem staubigen Schaufenster gingen, das angeblich einem gerade wegen Renovierungsarbeiten geschlossenen Warenhaus namens Reinig & Tunkunter gehörte. Aurora durfte die dahinter wie ein Wachposten aufgestellte Schaufensterpuppe im grünen Kleid ansprechen und sagen, daß sie Mrs. Lynn Murray besuchen wollten. Aurora hatte darauf bestanden, diesen Besuch zu machen, weil sie zwei Sachen wissen wollte: Erstens ging es ihr darum, über den Zustand ihrer Tante bescheid zu wissen. Zweitens wollte sie für sich selbst ergründen, wie sie als Heilerin mit schwerwiegenden Erkrankungen innerhalb der Familie zurechtkommen konnte. Bisher hatte sie jeden Patienten in der Sano mit seelischem Abstand gesehen. Bei Tante Lynn würde das etwas ganz anderes sein.
Die Schaufensterpuppe nickte unmerklich und krümmte den rechten Zeigefinger. Aurora griff durch die Scheibe und tauchte ihrem Arm nach, als wenn das Glas nicht vorhanden wäre. Fast übergangslos stand sie in einem geschäftigen Foyer, in dem Leuchtkristallsphären an der Decke hingen und Heiler in limonengrüner Montur herumliefen. Aurora dachte erst an Adepten in den drei Ausbildungsjahren. Doch hier war Grün die Farbe der ordentlich aprobierten Heilerinnen und Heiler. Sie verbarg ihre leichte Überraschung, die schnell in einen gewissen Stolz umschlug, als viele der Heiler sie erkannten und ihr zulächelten. Immerhin hatte sie bei einer Heilerzusammenkunft in Viento del Sol teilgenommen und einige Arbeiten veröffentlicht, zum Beispiel zum Fall Resting Rock vor nun schon sechs Jahren. Menschen mit merkwürdigen Körperveränderungen warteten auf Heiler, die sie in die entsprechenden Behandlungsräume mitnehmen oder gleich für längere Therapien einweisen würden. An der Rezeption erkundigten sich die Dawns, wo Lynn Murray untergebracht war.
"Viertes Obergeschoß in der Goran-Benchwood-Station für seelische Traumata, gleich neben der Janus-Thickey-Station für Opfer von Langzeitfluchschäden. Führen Sie spitze Gegenstände oder lange Leder- oder Taustücke mit sich?"
"Außer den Zauberstäben nichts was gefährlich werden könnte", sagte Aurora Dawn ganz ruhig. Die Hexe an der Rezeption nickte und wies die Dawns an, ihre Zauberstäbe so zu verstauen, daß kein Patient sie aus Versehen oder gezielt an sich bringen konnte. Aurora kannte diese Sicherheitsanweisung schon aus der Sano, wenn es in die geschlossene Abteilung ging. So fragte sie, ob die dort untergebrachten Patienten für eine mehrmonatige Dauer oder eine wenige Wochen umfassende Therapie untergebracht waren.
"Die dort untergebracht wurden unterliegen der Beurteilung der Kollegen. Da kann ich Ihnen keine Antwort drauf geben", erwiderte die Rezeptionshexe. Dann erkannte auch sie die in Australien tätige Heilerin und meinte: "Dürfte so ähnlich sein wie bei Ihnen unten drunter in der Sana-Novodies-Klinik, Ms. Dawn."
"Nur das wir schon zwischen Therapie und reiner Verwahrung unterscheiden, Miss Clover", erwiderte Aurora, die den Namen der diensthabenden Rezeptionshexe an ihrem limonengrünen Umhang ablesen konnte. Die Hexe hinter dem Empfangstresen nickte verhalten.
Über Treppen ging es hinauf ins vierte Obergeschoß. Aurora hörte die gequälten Laute von Patienten ebenso wie die von dicken Wänden gedämpften Schreie neugeborener Babys. Also kamen auch hier Kinder auf die Welt, wenn Hexen keine Hausgeburten haben wollten. Geburt und Tod, Gesundheit und Krankheit. Die Extreme des Lebens. Nirgendwo waren sie so dicht beieinander als in einem Krankenhaus, dachte Aurora.
Als sie vor der großen, unzerbrechlichen Glastür standen, die zu den Stationen Janus Thickey und Goran-Benchwood führte, lief ihnen eine ältere Heilerin mit langem Haar über den Weg, die freundlich lächelte. Mr. Dawn fragte sie, ob hier Lynn Murray liege und erwähnte, daß er der Bruder der Patientin sei. Darauf sagte sie sehr erfreut:
"Ja, die gute Lynn ist hier bei uns. Sie wird sich ganz sicher freuen, Besuch zu bekommen. Seit vorgestern ihr Mann hier war kam keiner zu ihr. War leider zu aufregend für sie. Aber sie bastelt gerne."
"Sie bastelt?" Fragte Hugo Dawn.
"Sie möchte immer wieder bunte Perlen auf eine Kette ziehen. Wir können ihr nur die großen Holzperlen geben, damit sie sie nicht verschluckt", gab die Heilerin Auskunft. Aurora fragte sich, warum die Kollegin nicht erst ihren Namen gesagt hatte. So fragte sie sie freundlich, ob sie hier die Leiterin der Station sei. Die Heilerin im limonengrünen Umhang strahlte sie an. "Ja, Miriam Strout. Ich passe hier auf alle die auf, die im Moment nicht selbst auf sich aufpassen können.
"Oha, erwiderte Hugo Dawn. Dann bat Aurora darum, in den Krankensaal einzutreten.
Lynn Murray trug einen olivegrünen Morgenrock aus reißfesten Leinen und werkelte gerade mit handtellergroßen Kugeln herum, die gerade durchbohrt waren. Ihr Gesicht wirkte weltentrückt. Doch ihre Augen folgten den Kugeln, die sie gerade mit leicht verschlafen wirkenden bewegungen auf eine dicke Schnur fädelte.
"Guten Tag, Lynn", begrüßte Hugo die Schwester, die zunächst nicht von ihrer Beschäftigung absehen wollte. Dann sah sie ihren Bruder doch an und lächelte. Ihre Augen bekamen dabei einen seligen Ausdruck, wirkten jedoch nicht so klar wie bei einer gesunden Hexe.
"Hallo Hugo. Wie geht's Mum? Sie will doch bald spielen oder? Ich habe die Glückskette noch nicht fertig. Humbert hat sie mir weggenommen, und die wollen mir hier keine richtigen Kristalle geben", zischte sie in einer Art, die Hugo Dawn frösteln machte. Dann sah sie Aurora, und ihr Blick huschte über die Nichte hinweg.
"Oh, Dana, auch da?" Hugo Dawn wollte schon widersprechen. Doch Aurora legte ihren Finger auf den Mund, wandte sich der Tante zu und sagte: "Ich habe gehört, dir ging es nicht gut. Wie fühlst du dich jetzt?"
"Weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin. Humbert hat mich wohl niedergeflucht, nachdem er mir die Glückskette weggenommen hat. Der will mich hier einsperren lassen", entgegnete Lynn. "Der will Mum umbringen. Sagt ihr, sie darf nicht spielen!"
"Warum glaubst du, daß Humbert Mum umbringen will?" Fragte aurora, während ihr Vater Anstalten machte, sie zu unterbrechen, aber von seiner Frau zurückgehalten wurde.
"Humbert will sie nicht mehr haben. Sie und Dad sollen aus dem Haus raus. Deshalb hat der meine Glückskette weggenommen. Aber ich habe bald eine neue. Ja, ich habe bald eine neue", sprudelte es hektisch aus Lynns Mund.
"Wir können sie Humbert wieder wegnehmen", sagte Aurora Dawn ganz ruhig. "Aber weißt du wirklich nicht, wie du hierhergekommen bist?"
"Klipper-Klapperskelett. Dustin hat Mum gewarnt", antwortete Lynn und machte Anstalten, nach Aurora zu greifen. "Dana, unser Bruder will Mum zu sich holen. Ihr müßt auf sie aufpassen."
"Wir passen auf sie auf, Lynn", sagte Aurora. "Wir geben dir die Kette wieder. Dann wird alles wieder gut, ja?"
"Humbert hat sie kaputtgemacht", seufzte Lynn und bekam einen traurigen Gesichtsausdruck. "Ist nicht mehr ganz. Was macht eure Tochter, Hugo. Kommt sie gut mit den Slytherins klar?"
"Lynn, das kann doch nicht dein Ernst sein", schnarrte Hugo Dawn. Doch Aurora machte Schschsch und antwortete: "Ich habe einen Brief von ihr bekommen. die haben einen neuen Zaubertranklehrer bekommen, einen gewissen Snape."
"Mitten im ZAG-Jahr?" Fragte Lynn Murray. Hugo Dawn schlug sich die Hände vors Gesicht und wandte sich ab, während Aurora einen dicken Kloß im Hals hinunterschluckte und sagte: "Aurora ist schon in den UTZ-Klassen, hast du das vergessen?"
"Ach komm, Dana. Die hat doch jetzt erst das ZAG-Jahr", erwiderte Lynn Murray. Aurora nickte. Dann sagte sie ruhig: "Wir reden mit Humbert, daß du die Kette wiederkriegst. Die ist noch ganz."
"Mum darf nicht spielen, wenn ich die Kette nicht habe. Sie fällt sonst runter, ganz runter", erwiderte Lynn mit einer ängstlich klingenden Stimme und hektisch dreinschauenden Augen.
"Sie weiß das, Lynn", erwiderte Aurora ruhig. "Sie fliegt erst, wenn du die Kette wieder hast."
"Aurora, das halte ich nicht aus", stöhnte ihr Vater leise hinter ihrem Rücken. "Hör bitte auf damit!"
"Was ist mit Aurora. Hat sie was. Ist der Unnennbare nach Hogwarts gegangen. Was verheimlicht ihr mir", zischte Lynn und versuchte, Auroras Arm zu greifen. Doch sie wich behutsam weit genug zurück.
"Der Unnennbare ist nicht mehr da, Lynn. Er hat einen kleinen Jungen angegriffen, aber dabei seinen eigenen Fluch abbekommen."
"Kleiner Junge. Wer?" Fragte Lynn. Aurora nannte den Namen Harry Potter.
"Kenne ich nicht", sagte Lynn Murray. Regina Dawn seufzte nun auch. "Dustin will Mum zu sich holen", stieß sie dann noch erschreckt hervor. "Dustins Skelett ist auf Mum draufgefallen."
"Ist schon alles gut, Lynn", sagte Aurora ruhig. "Wir passen auf Mum auf."
"Ist gut, Dana. Ist gut. Paßt auch auf Adda auf, ja. Nicht daß Humbert sie wegbringt. Der will nicht, daß Mum gewinnt. Der ist für die Kenmare Kestrels."
"Wir passen auf", erwiderte Aurora, der dieses Gespräch mehr zu schaffen machte, als sie nach außen zeigen durfte. Dann sagte sie: "Wir müssen jetzt wieder los, mit den anderen reden."
"Schickst du die beiden Jungs mal vorbei?" Fragte Lynn Murray.
"Mache ich, sagte Aurora und lächelte dabei so gut sie konnte. Dann verabschiedeten sich die Dawns von Lynn. "Aber ihr müßt die Kette haben, bevor Mum auf den Besen steigt!" Rief Lynn ihnen noch nach. Hugo räusperte sich und rief zurück, daß sie sie schon wiederbekommen würden. Dann hastete er schnell zur Tür. sie war verschlossen. Er hämmerte dagegen. Aurora holte ihren Zauberstab hervor und wirkte ungesagt den Alohomora-Zauber. Die Tür sprang auf.
"Ist wie in der Sano. Die Türen schließn sich ab, können aber von Öffnungszaubern entriegelt werden, weil nur Heiler und Besucher Zauberstäbe benutzen können", sagte sie. Hugo Dawn funkelte seine Tochter an und hob die rechte hand. Fast hätte er ihr eine runtergehauen. Doch sie fing seinen Arm ab und drehte ihn wie beiläufig auf den Rücken, so daß ihr Vater vor Schmerz und Überraschung aufschrie. Das brachte die Stationsleiterin auf den Plan, die gerade nebenan zu tun gehabt hatte.
"Bevor du mir wirklich eine knallst oder mich hier vor den Patienten laut anbrüllst, was mir eingefallen ist, Dad", schnarrte Aurora unerwartet entschlossen, "sollten wir erst einmal mit der Heilerin hier sprechen, was wir erlebt haben."
"Du hast meine Schwester für dumm verkauft. Die glaubt doch jetzt echt, Mum lebe noch", schnarrte Hugo Dawn. In seinem Gesicht zuckte es. Aurora ahnte, daß er mit großer Anstrengung einen Weinkrampf unterdrückte. Auch sie fvühlte, daß sie am liebsten gleich losheulen wollte. Doch hier war nicht der rechte Ort dafür. So sah sie Heilerin Strout an und sagte:
"Meine Tante denkt an eine Zeit vor elf Jahren. Offenbar leidet sie an einem schweren Seelentrauma, das in direkter Verbindung mit einer Kristallkette und dem Unfall meiner Großmutter steht." Miriam Strout sah Aurora mit großen Augen an und nickte. Aurora stellte sich korrekt vor und räumte ein, daß sie nicht die Expertin für Seelenschädigungen sei, aber in ihrer Ausbildung doch einige wichtige Dinge gelernt habe.
"die Arme fühlt sich sehr schuldig. Deshalb denkt sie sich ganz weit zurück. Direktor Bonham, unser Chef fürchtet, daß ihr Verstand blockiert wird. Wir wissen nicht, ob es gelingt, den schweren Schock zu lösen, den sie erlitten hat."
"Ich möchte Ihrem Chef nicht dreinreden", setzte Aurora an. "Vielleicht aber macht meine Tante Fortschritte, wenn sie diese Kette hat, von der sie andauernd spricht."
"Aber die gibt es doch nicht, hat ihr Mann vorgestern gesagt."
"Was hat Humbert?" Fragte Hugo Dawn nun sehr aufgebracht. Miriam Strout schenkte ihm ein freundliches Lächeln und wiederholte es. Dann sagte er: "Doch, diese Kette gab es. Sie war ein Talisman. Ich dachte, sie war bei den Sachen meiner Schwester."
"Da war keine Kette", beteuerte Miriam Strout. Hugo Dawn überlegte und nickte dann. "Humbert hat sie wohl aus Lynns Tasche genommen. Dann hat er sie wirklich."
"Sie möchte diese Kette wiederhaben, weil sie Angst hat, meine Großmutter könnte sonst einen Unfall erleben. Sie verdrängt den wirklichen Unfall so, daß sie denkt, daß er nicht passiert, solange sie die Kette hat", sagte Aurora. Miriam Strout nickte ihr zu.
"Wir haben schon einige hier gehabt, die eine Amnesische Sperre hatten, etwas, woran sie nicht denken wollten und es deshalb für sie nicht passiert ist. Das kann zu solchen Rückbesinnungssachen führen, daß jemand meint, die letzten Jahre nicht erlebt zu haben, weil die Gedanken an das verletzende Erlebnis so stark sind, daß jede Annäherung an die Zeit, in der es stattfand vermieden wird und dann immer mehr zurückgedacht wird. Das kommt vor allem bei Hexen und Zauberern über vierzig Jahren vor, die sich für etwas schuldig fühlen, was sie nicht genau benennen können."
"Stimmt, das Amnesische Repressions-Syndrom", sagte Aurora und erläuterte ihrer Mutter, die gefühlsmäßig noch ganz ruhig war, daß es genau das war, wasLynn nun durchmachte. Sie dachte sich immer weiter zurück in der Zeit, wenn sie auch nur im Ansatz an das Unglück ihrer Mutter denken mochte. Das konnte bald soweit gehen, daß sie alle Personen aus ihrem Bewußtsein verdrängte, die auch nur im Ansatz mit diesem Unglück zu tun haben konnten, also auch Humbert.
"Und was kann man dagegen machen?" Fragte Hugo Dawn.
"In Amerika und Australien haben sie gerade eine neue Methode getestet, den Patienten noch einmal durch sein ganzes Leben zu führen und ihn dabei zu begleiten, alle emotionalen Ereignisse zu betrachten und dadurch das Erlebnis, das den seelischen Schaden verursachte zu lindern und den Patienten so wieder in ein normales Leben zurückzuführen."
"Ja, aber die Methode ist noch nicht ganz durchentwickelt", sagte Miriam Strout. "Solange bleibt uns nur, mit Schockzaubern oder Tränken die Gedanken zu beruhigen und den Prozeß anzuhalten. Aber wenn es diese Kette gibt, warum geben Sie sie ihr nicht?"
"Sie könnte sich daran verschlucken", knurrte Hugo Dawn. Aurora konnte das nicht ganz abstreiten. Dann meinte Miriam Strout:
"Wenn Sie sie haben, bringen Sie sie bitte her. Sie wird sich sicher freuen, sie wiederzuhaben."
"Und dann?" Fragte Hugo Dawn sichtlich aufgeregt. Die hiesige Heilerin sah ihn sehr freundlich an wie eine Mutter, die ihr verängstigtes Kind beruhigen möchte.
"Dann wissen wir, ob sie immer bei uns wohnen muß oder irgendwann zu ihren Lieben zurückkehren kann."
"Wie erwähnt darf ich Ihnen hier nicht dreinreden, Madam Strout", sagte Aurora. "Aber ich möchte sie Bitten, mit mir in Verbindung zu bleiben. Falls Sie oder ihr Direktor mehr über die Lebensrückführung erfahren möchten, nicht nur für meine Tante."
"Ich habe von Ihnen gehört, Ms. Dawn. Sie machen doch eher Zaubertränke, oder?" Wollte Miriam Strout wissen.
"Das stimmt. Aber ich mußte in meiner Ausbildung auch ein Vierteljahr Psychomorphologiegrundlagen lernen."
"Sie müssen Direktor Bonham anschreiben. Ich werde ihn wegen der kette fragen. Zeigen Sie sie ihm und mir. Ganz sicher kriegen wir die gute Lynn damit wieder hin."
"Ganz sicher?" Fragte Hugo Dawn sehr mißtrauisch.
"Besser als das die arme nachher nicht mehr weiß, daß sie einen Bruder hat", erwiderte die Heilerin mit einer in diesem Moment von ihr unerwarteten Kühle in Stimme und Ausdruck. Offenbar nervte sie es an, daß die Angehörigen eines Patienten nicht auf ihre Vorschläge eingehen wollten, erkannte Aurora. Ja, mit störrischen Angehörigen hatte sie auch so manche Erfahrung machen müssen, dachte sie in diesem Zusammenhang. Dann bedankte sie sich bei Miriam Strout und winkte ihren Eltern.
Wieder zurück im Haus von Regina und Hugo Dawn setzte ihr Vater noch einmal an, sie wegen ihres Auftritts bei Lynn Murray anzugiften. Doch sie erstickte diesen Vorstoß mit einem sehr strengen Blick und dem klaren Satz: "Sie wollte nicht erkennen, daß ich nicht Dana sein kann, also mußte ich so tun, als sei ich Tante Dana, um zu hören, wie sie gerade denkt."
"Ja, und sie darin bestärken, daß meine Mutter noch lebt. Denkst du, das tut mir gut, das zu behaupten, wo ich sie habe sterben sehen müssen?"
"Ein Spiel lernst du am besten durch Mitspielen, Dad. Das hat unser Psychomorphologielehrer gesagt, weil er auf die Gedankengänge und Aussagen seiner Patienten erst einmal widerspruchslos eingeht, um zu erkennen, was in ihnen vorgeht. "Widerspruch erzeugt Widerstand" ist eine andere Aussage von ihm. Widerstand ist nur dann sinnvoll, wenn er zum gewünschten Erfolg führt. Und wenn ich Tante Lynn gesagt hätte, ich sei Aurora, wo diese gerade davon ausgeht, ich würde im ZAG-Jahr stecken, hätte sie mich als Lügnerin bezeichnet oder gleich nichts mehr von uns wissen wollen. Dann bliebe sie für immer in der Vorstellung gefangen, Oma Regan würde noch leben. Willst du das?"
"Ich will, daß sie aus dieser Abteilung rauskommt, Mädchen. Ich will, daß diese Verwahrhexe Strout die rausläßt, und wenn ich Humbert die Kette selbst um die Ohren hauen muß."
"Also erkennst du doch an, was sie gesagt hat", meinte Regina Dawn, die bisher ganz ruhig geblieben war.
"Er muß dieses verdammte Ding aus ihrer Tasche gefischt haben, bevor die Heiler sie abtransportiert haben. Ich habe auch noch die restlichen Kristalle", sagte Hugo Dawn.
"Dann klär das mit Humbert. Bei mir würde er auf stur stellen", sagte Aurora. "Der will seine Frau von ihrem Glauben an Talismane abbringen. Aber im Moment kann nur dieser Glaube die Blockade erschüttern, hinter der Tante Lynn sich verbarrikadiert."
"Ich kläre das nach der Beerdigung", sagte Hugo Dawn. "Zusammen mit Dana und meinem Vater."
"Macht das!" Sagte Aurora nur noch dazu. Dann zog sie sich in ihr Zimmer zurück, schloß ab und warf sich aufs Bett, wo sie dem bis jetzt zurückgehaltenen Weinkrampf freien Lauf ließ. Der einzige Trost, den sie spürte war, daß ihr Vater nun auch unbeobachtet weinen durfte und dadurch vielleicht besser mit der Lage zurechtkam.Das Stadion war bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Ehrenloge war verschlossen und mit schwarzen Tüchern verhüllt. Ebenso waren dunkle Teppiche zwischen den Stühlen ausgelegt worden. Mitten auf dem Spielfeld, dort wo sonst die vier Bälle in die Luft entlassen wurden, stand ein zwei meter langer, hauchzarter Glaskasten mit gewölbtem Deckel. Aurora sah die darin auf grünen Kissen gebettete Regan, deren Gesicht rosig geschminkt worden war. Ihre schwere Kopfwunde war von den Leichenpflegern sorgfältig verschlossen worden. Ihr schwarzes Haar lag rechs und links von ihrem Gesicht. Als letztes Kleidungsstück trug sie einen dunkelgrünen Umhang mit der goldenen Vogelkralle auf dem Brustteil, den Spielerumhang der goldenen Harpyien. Am Spielfeldrand waren vier lange Bänke aufgebaut worden, auf denen die Angehörigen und ihre engsten Freunde saßen. Aurora hatte vor dem Eintritt in das Stadion noch ihre Mentorin, die silberblonde Bethesda Herbregis, sowie Laura Morehead und Ireen Barnickel und Heather Springs und ihre Familie begrüßt. Hugo Dawn hatte mit unterdrücktem Widerwillen die Beileidsbekundungen der jungen Harpies entgegengenommen. Als Gwen Morgan ihm die Hand geben wollte, hatte er sie jedoch zurückgezogen. Aurora hatte inzwischen mitbekommen, daß ihr Vater sie für die eigentlich schuldige am Unfall seiner Mutter hielt, weil sie Regan Dawn dazu angestachelt hatte, mitzuspielen. Aurora dachte daran, wie oft sie selbst vorgeschlagen hatte, ihre Oma Regan möge doch den Nimbus 1700 benutzen. doch sie fühlte neben der hier verdichteten Trauer nur Bedauern.
"Die hätten sich keinen Zacken aus der Krone gebrochen, wenn sie die grünen Umhänge weggelassen hätten", zischte Auroras Tante Dana. Damit meinte sie die Spielerinnen der Harpies, die sich auf den untersten Reihen der Tribüne niederließen. Denn sie trugen die grünen Spielerumhänge. Auch andere Quidditchmannschaften waren gekommen. Doch sie trugen dunkle Festumhänge oder Kleider statt ihrer Spielerumhänge. Aurora konnte Ludo Bagmans Mondgesicht erkennen, als der Leiter der Spiele-und-Sportabteilung sich zu den Veteranen der Wimburner Wespen setzte. Conan Bullhorn war auch gekommen, obwohl es einige Morddrohungen gegeben hatte. Doch er wollte sich nicht unterkriegen lassen.
Logophil Nodberry betrat das Oval des Spielfeldes und baute sich neben dem gläsernen Sarg auf. "Wir alle sind heute hier zusammengekommen, um uns von einer lebensfrohen, tatendurstigen, mutigen und mitfühlenden Hexe zu verabschieden. Regan Dawn, die Tochter von Yuna und Enceladus Donovan, hat ihr Leben immer in den Dienst der Freude und des Füreinanders gestellt", begann der Zeremonienmagier und fuhr fort, daß Regan Dawn ihren Grundprinzipien in jeder Lebenslage treu geblieben war, als sie bei den Harpies anfing, als sie Arco Dawn kennenlernte und die Mutter seiner vier Kinder wurde, deren Kindern sie immer ein offenes Ohr und eine helfende Hand bot. Er erwähnte ihren Sinn für Zusammenhalt, ihre hohe Grundhaltung, denen, die sie brauchten immer zur Seite zu stehen und mit denen, die ihr in Liebe verbunden waren immer offen und ehrlich zu sein. Er schilderte Abschnitte aus ihrem Leben und daß sie stets danach getrachtet habe, ihre Arbeitskraft und Einfühlsamkeit zu beweisen. Nodberry wandte sich an die anwesenden Kinder der Verstorbenen und sprach ihnen Mut zu, weil sie die fleischgewordene Bestätigung für Regan Dawns Lust am Leben seien, aber auch ihr lebendes Vermächtnis, das es in Ehren zu halten gelte. Er sprach zu den Enkeln, daß sie von ihrer Großmutter den Halt bekommen hatten, um in ein eigenständiges Leben einzutreten. Adda schnaufte dabei nur kurz. Womöglich dachte sie daran, daß eine andere Frau gerade das Kind trug, das Regans Urenkel sein sollte. Dann wandte sich Nodberry Aurora zu.
"Wie wichtig Regan Dawn nicht nur für ihre Familie und Freunde, sondern für die ganze Zaubererwelt war, zeigt sich an Ihnen, Aurora. Sie haben mit der Hilfe und ererbten Zielstrebigkeit ihrer Großmutter Regan Dawn zwei für viele sehr schwere Hürden gemeistert. Die eine war, direkt nach der Schulausbildung in Hogwarts in ein ihnen bis dahin größtenteils unbekanntes Land auszuwandern, um dort die anstrengende Ausbildung zur magischen Heilerin zu bestreiten, die neben einer Vielzahl von verschiedenen Fachkenntnissen auch viel Durchhaltevermögen, Einfühlung und Durchsetzungskraft verlangt und vor allem mit dem schwierigsten Gut sorgsam umzugehen verlangt, das es auf dieser Welt gibt, Menschlichen Schicksalen. Ich kann das ungefähr nachempfinden, wie schwierig es ist, mit besorgten Menschen umzugehen, ohne sie von oben herab zu behandeln. Als ministerieller Zeremonienmagier habe ich ja einen ähnlichen Job zu erledigen." Leises Lachen aus den Zuschauerreihen quittierte diese Bemerkung. "Und bei diesen so mutigen Schritten erhielten Sie Unterstützung von Ihrer Großmutter Regan, die Ihnen den nötigen Halt gab, sich selbst zu beweisen, an sich zu wachsen und der Welt als neue Helferin zur Verfügung zu stehen. Als diese haben Sie bereits der magischen Menschheit große Dienste erwiesen, als sie halfen, eine bis dahin unbekannte Form der Verseuchung zu erkennen und zu behandeln. Darüber hinaus besitzt die Zaubererwelt mit "der kleine Hexengarten" endlich ein Buch, das den Spaß an der Pflege magischer und nichtmagischer Pflanzen betont, ohne den Respekt vor den grünen Mitgeschöpfen zu vernachlässigen. Womöglich werden viele Generationen von Zauberschülern aus diesem Buch die wirklich wichtigen Dinge für den Kräuterkundeunterricht leichter lernen als durch frühere Fachbücher, die doch nur für darauf festgelegte Leser geschrieben wurden. In Ihnen wirkt Regan Dawn weiter." Dann sprach er noch über die goldenen Harpyien und daß Regan genauso aus dem Leben treten wollte, nicht als bettlägerige Hexe, sondern mitten aus einem schönen Erlebnis heraus. Auroras Tante Dana wollte gerade protestieren, als Nodberry schon zum Schluß kam.
"Wer ein Stadion als Verstorbener genauso zu füllen vermag wie als lebender, der kann nicht wirklich tot sein. Alle die hier sind feiern Regan Dawns Leben, nicht den Tod. Jeder hier trägt etwas von ihr in und mit sich. Sie wird also immer bei uns sein, wo immer wir sind und an sie denken."
Er hob seinen Zauberstab und ließ daraus für alle sicht- und lesbar den Schriftzug: "Das Lied von der Brücke zwischen den Welten" in die Luft steigen. Sie Sangen nun das von den Dawns gewünschte Lied, daß ein Abschied niemals entgültig sein konnte, weil die liebenden hinter der Brücke zwischen den Welten warten würden, bis die Libsten den Weg dorthin fanden. Danach sprach Gwendolyn Morgan und hob Regans Kameradschaft und Antrieb hervor. Dann sangen sie das Lied vom Reich des ewigen Friedens, das weiter fort lag als der fernste Stern und doch für jede Seele nur einen Gedanken entfernt war. Danach trat Dana in die Spielfeldmitte und sprach von ihrer Mutter als warmherzige, aber auch mal sehr unerbittliche Gefährtin, Lehrerin und Rückhalt. Danach kam das Lied vom ewigen Bande, das Seelen vereinte und kein Zauberspruch knüpfen konnte, nur die Liebe und das Mitgefühl. Danach trat noch einmal Nodberry als Redner auf und wandte sich an die Stadionbesucher. Ihnen sprach er die Hoffnung aus, daß sie in diesem Oval den Spaß am schnellen Spiel zurückgewinnen mochten. Denn das sei Regan Dawns wille und Vermächtnis. Darauf folgte die Hymne der Harpies, die rasch von jedem im Stadion mitgesungen wurde. Genau während des vieltausendstimmigen Gesangs holten die Spielerinnen der Harpies ihre Besen unter den Sitzen hervor, schwangen sich darauf und flogen los. In wildem Flug ging es immer wieder in von außen nach innen und von innen nach außen führenden Elipsen über das Feld. Sie wechselten die Flugrichtung und sausten über den gläsernen Sarg hinweg und formierten die Worte: "Regan Dawn ist immer noch bei uns" in der Luft. Dann landeten die Harpies neben dem gläsernen Sarg und stellten sich zu einem Ring um die durchsichtige Totenkiste. Sie legten sich gegenseitig die Arme um die Schultern und vollführten einen zweiminütigen Tanz, bei dem sie wellengleich durchwechselnd auf- und abhüpften. Danach kehrten sie mit ihren Besen auf die Sitzplätze zurück. Das war für Nodberry das Zeichen, mit einem Zauberstabwink den Sarg vollständig verdunkeln zu lassen, so daß er nun wirkte wie schwarz glänzender Marmor. Unauffällig bei der Tribüne wartende Zauberer in langen, schwarzen Umhängen erschienen und bauten ein Tragegestell aus mehreren hölzernen Streben zusammen, auf das sie den gerade undurchsichtig gezauberten Sarg wuchteten und festmachten. Dann bat Nodberry die Angehörigen zu sich und verkündete für das Publikumm:
"So nehmen wir Abschied von unserer Mitschwester der magischen Welt, und tragen sie zu dem Ort, wo sie in ihrem wohlverdienten Frieden schlafen möge. Ich danke Ihnen allen, daß Sie mit mir und den Hinterbliebenen diese so wichtigen Minuten geteilt haben! Bitte erweisen Sie den leiblichen Anverwandten der Entschlafenen den Respekt, sie mit ihr an die Stätte der letzten Ruhe reisen zu lassen und gehen Sie mit der Gewißheit, daß Regan Dawn weiterhin in und bei uns ist!" Dann gebot er den Angehörigen, die Griffe des Gestells zu berühren. Einige Fans stürmten die Sitzreihen hinunter. Doch Nodberry winkte nur mit dem Zauberstab und baute damit eine silbrige Barriere auf, die die Fans zurückhielt. Im nächsten Augenblick erglühte das Gestell im blauen Licht und verschwand mit dem Sarg und den sich an den Griffen haltenden Angehörigen. Nur die geladenen Gäste wußten, wo der aktivierte Portschlüssel hinreisen würde.
Feierlich wurde Regan aus der gläsernen Totenlade in die hölzerne umgebettet. Aurora konnte sehen, daß ihr auch der Zauberstab in die Hände gelegt wurde. Weil Regans alter Besen beim Unfall zerstört worden war, hatte Aurora darauf bestanden, ihrer Großmutter den Nimbus 1700 mit ins Grab zu geben, auf daß sie im anderen Reich weiterhin Quidditch spielen konnte. So bettete man den schnittigen Rennbesen neben den zurechtgemachten Leichnam Regan Dawns. Dann schloß sich der Deckel mit einem dumpfen Klong. Die Träger hoben den Sarg nun ohne jede Magie zu benutzen auf und trugen ihn zur vorbereiteten Grabnische, bugsierten ihn unter leisen Trauerklängen aus mitgebrachten Trompeten hinein und schoben die zentnerschwere Grabplatte davor, die auf Wunsch der Kinder nur den Namen enthielt. Das Geburts- und das Sterbedatum waren fortgelassen worden.
Die ausdrücklich geladenen Gäste trafen sich dann im Haus von Arco Dawn zu einem feierlichen Leichenschmaus, bei dem Aurora mit ihrer Mentorin und Ireen sprechen konnte. Aurora paßte eine günstige Gelegenheit ab, wo Hugo Dawn mit ehemaligen Schulfreunden im Gespräch war, um Ireen über ihre Tante Lynn zu unterrichten.
"Das mit dieser Kette ist wie eine fixe Idee, Aurora. Wenn sie sie in der Hand hat muß sie sich mit dem Ereignis auseinandersetzen. Allerdings birgt diese Konfrontation die Gefahr in sich, daß sie unrettbar den Verstand verliert. Die Lebensrückführung wäre die bessere Methode", sagte Ireen.
"Ja, aber ich kann mich nur erkundigen. Anweisungen erteilen kann ich hier in Großbritannien nicht, zumal ich zu weit unterhalb von Miriam Strout oder ihrem Chef Professor Bonham stehe", erwiderte Aurora. Ireen nickte mitfühlend.
"Bleibt nur zu hoffen, daß sie deiner Tante helfen können, wieder ganz gesund zu werden", sagte Auroras Ausbildungskameradin. Dann kam Aurora auf etwas zu sprechen, was ihr im Zuge der Beerdigungsvorbereitungen erst einmal unwichtig gewesen war.
"Ich habe in den letzten Tagen immer wieder überlegt, wie das mit mir weitergehen wird, Ireen. Ich meine, durch den Heilereid darf ich nicht mal eben so ausprobieren, ob ich einen Partner finde und wenn ja, kann ich nicht entscheiden, wohin ich mit ihm ziehen soll. Wenn ich meine Großmutter so betrachte hat diese in jeder Hinsicht ein erfülltes Leben gehabt. Sie hat ihren Sport gehabt, ihre Hobbys und auch ihren Beruf. Aber vor allem hat sie eine Familie gegründet. Ich meine, wenn sie Heilerin geworden wäre wie ich, gäbe es mich vielleicht gar nicht, und ich hätte das mit Resting Rock gar nicht aufklären können. Wenn ich mir jetzt vorstelle, daß ich womöglich wie Mel Thornapple mehr als sechs Jahrzehnte nur als niedergelassene Heilerin arbeite, ohne selbst Familie haben zu können, was bleibt dann mal von mir?"
"Du hast es erwähnt, die Erfindung dieses Strahlenspürers und der kleine Hexengarten und was du noch alles entdecken oder erfinden magst, Aurora", sagte Ireen. "Guck dir Meisterin Herbregis oder Zunftsprecherin Morehead an! Die konnten das auch, ihren Beruf mit Familienpflichten verbinden. Insofern bin ich da zuversichtlich, daß wir zwei auch mal die Männer finden, die es mit uns aushalten und die von der Heilerzunft akzeptiert werden."
"Vielleicht", erwiderte Aurora grüblerisch. "Nach meiner bisher einzigen Beziehung weiß ich ja nicht, ob ich mir sowas wirklich noch mal antun soll. Aber dann denke ich, daß ich nicht nur Bücher schreiben kann."
"Du hast schon einige neue Kinder geholt, richtig?" Fragte Ireen. Aurora nickte. "Die werden womöglich irgendwann auch mal was wichtiges machen und auch eigene Kinder haben. Das werden sie dann dir verdanken. Insofern bleibt auf jeden Fall was von dir in der Welt." Aurora überlegte kurz und nickte. Dann sagte Ireen noch: "Und vergiß nicht, wie vielen Leuten du schon geholfen hast, denen von Resting Rock, diesem Typen, der sich in eine Pflanze zu verwandeln drohte, denen an Halloween. Die alle leben jetzt, weil es dich gibt. Das ist das beste, was man je von dir behaupten kann. Du hast mir doch mal die Sache von diesem Kronprinzen überheblicher Leute erzählt, den du vor Leuten dieses Unnennbaren gerettet hast. Der lebt doch auch nur, weil du in dem Moment da warst, oder?"
"Wobei ich mich bei diesem Bengel frage, ob sich das wirklich gelohnt hat. Er ist ein überhebliches Bürschchen geworden, wenn meine Verbindung nach Hogwarts nicht übertrieben hat. Aber in letzter Konsequenz gibt es den ja wirklich nur, weil ich ihm damals geholfen habe. Und das St.-Mungo hatte durch dessen Eltern ein paar hundert Galleonen mehr, als ich deren Goldgeschenk weitergab", grummelte Aurora noch." Ireen nickte.
Das feierliche Beisammensein zu Ehren von Regan Dawn klang am späten Nachmittag aus. Aurora sagte Laura Morehead, daß sie übermorgen wieder ihren Dienst antreten würde.
Zwei Tage später kehrte Aurora in ihre neue Heimat zurück. Sie reiste mit dem unguten Gefühl nach Australien, daß die Geschwister ihres Vaters sich belauerten und ihr Großvater Arco nun von seinen eigenen Kindern umzingelt sein mochte. Doch was genau Regan Dawn in ihrem Testament bestimmte würden sie erst Ende November mitbekommen, wenn Adda ihr Kind weitertragen durfte. Das mit ihrer Cousine veranlaßte Aurora, eine Anfrage an die Sana-Novodies-Klinik zu schicken, welche von den verheirateten und gerade schwangeren Heilerinnen ihr den Transgestatio-Zauber beibringen wollte und konnte. Denn ihr fiel ein, daß auch sie einmal in die Lage geraten konnte, einer werdenden Mutter die süße Last für einige Tage abzunehmen. Außerdem wollte sie endlich die nur theoretisch erarbeiteten Dinge einmal praktisch nachempfinden, und sei es nur für wenige Tage.
Die nächsten Wochen verliefen wieder routiniert. Laura Moreheads Vermutung, Aurora habe durch die Tage bei ihrer Familie die notwendige Auseinandersetzung mit dem Verlust erlebt, mochte wohl stimmen. Hier, weit weg von allem, was an Regan Dawn erinnerte, konnte sie einfach als Heilerin Aurora Dawn weitermachen. Das Leben hielt nicht an, wenn jemand starb. Es verlangte nach Fortsetzung.
Am 30. November bekam Aurora die Einladung des britischen Zaubereiministeriums, am 1. Dezember bei der Testamentseröffnung ihrer Großmutter anwesend zu sein. Noch einmal ließ sich Aurora vertreten, um an diesem Tag in London zu sein, wo das Testament verlesen werden sollte.
Das erste, was Aurora auffiel war, daß Lynn Murray unter den Angehörigen Regan Dawns wartete. Sie hatte zwar mitbekommen, daß die Kristallkette wieder zusammengefügt worden und ihr unter Heileraufsicht übergeben worden war und daß ihre Tante Dana und ihr Vater mit Onkel Humbert einen wilden Streit gehabt hatten. Doch wie es nun anging, daß ihre Tante Lynn als geheilt entlassen werden konnte wußte sie noch nicht. Das hatten die Heiler im St.-Mungo-Hospital schön für sich behalten. Jedenfalls wirkte sie nur so, als habe sie die Nachricht vom Tode ihrer Mutter von Dritten erfahren, ähnlich wie Aurora Dawn selbst.
Der Raum, in dem sich alle trafen, war dunkel und irgendwie nicht so recht heimelig. Jeder Quadratzoll Boden, Wand und Decke atmete kalte Bürokratie. Außer den mit dunkelblauem Stoff bespannten Stühlen, die sich um einen klobigen Schreibtisch mit schwarzem Ledersessel gruppierten, gab es hier nur drei dunkelbraune Aktenschränke. Und der Zauberer mit dem grauen Haarkranz, der in einem regenwolkengrauen Umhang und nachtschwarzen Lackschuhen hinter dem Schreibtisch thronte und eher für eine in einem silbernen Ring steckende Pergamentrolle und eine Liste Augen hatte, paßte in diesen Raum. Aurora sah die Versammlung der Erben an. Außer ihren Eltern und ihr selbst waren Tante Lynn, ihr Mann Humbert, Adda und Collin, Tante Dana mit Onkel Kelvin und den beiden Söhnen Chester und Barney sowie Arco Dawn erschienen. Der Verwaltungszauberer überblickte die Anwesenden mit seinen tiefbraunen Knopfaugen und begann mit monotoner Baritonstimme zu sprechen:
"Ich stelle hiermit fest, daß heute, am zweiten Dezember des Jahres neunzehnhundertzweiundneunzig die vorgeladenen Hinterbliebenen der am ersten November selbigen Jahres bei einem Unfall auf dem Quidditchfeld der Holyhead Harpies tödlich verunglückten Regan Dawn vollzählig anwesend sind und beginne gemäß der mir vom britischen Zaubereiministerium erteilten Vollmachten und in Befolgung von Paragraph sieben Absatz eins Satz Eins Familienstandsgesetz die öffentliche Verlesung des dem Ministerium seit dem dritten Juli neunzehnhundertneunundachtzig von der namentlich erwähnten Verstorbenen niedergelegten letzten Willens." Er pausierte zwei Sekunden. Dann fuhr er auf derselben Tonhöhe weitersprechend fort: "An jene, die nach mir weiterleben. Ich, Regan Dawn, die zum Zeitpunkt dieser Niederschrift Gesund an Geist und Körper ist, teile hiermit meinen letzten Willen mit, auf daß dieser nach meinem Tod unbestritten erfüllt werden möge.
Wenn ihr, meine Kinder, Schwiegerkinder, Enkel und vielleicht auch schon Urenkel, dieses hier vorgelesen bekommt, bin ich hoffentlich auf eine sinnvolle und vielleicht auch spektakuläre Art aus dem Leben abgetreten. Die Vorstellung, als uralte Hexe mit verkümmerten Knochen im Bett wegzudämmern bereitet mir die schlimmsten Alpträume. Deshalb hoffe ich, daß es mich irgendwo sonst und noch gut bei Körper und Geist abberufen hat. Wie auch immer, ich bitte euch alle, nicht zu lange um mich zu trauern. Denn ich habe immer ein fröhliches und abwechslungsreiches Leben geführt, an dem nichts trauriges zu sein hat. Da ich weiß, daß es bei Familien mit mehreren Erbberechtigten immer Krach gibt, wenn kein Testament vorliegt, habe ich mich zum Zeitpunkt dieser Niederschrift dazu aufgerafft, doch was zu meinem Nachlaß zu sagen, auch wenn ich selbst meine, noch mitten im Leben zu stehen. Also hört nun genau zu und wehe dem oder der, die meint, daran herummeckern zu müssen." Aurora mußte fast grinsen, wenn dieser Testamentsvollstrecker nicht so gefühllos wie eine Magicomechanische Plapperpuppe gesprochen hätte.
"Arco, falls du mir nicht schon längst vorausgeflogen bist, du erinnerst dich sicher daran, wie viele schöne Jahre wir in unserem Haus verbracht haben. Lynn, Dana, Dustin und Hugo sind dort geboren worden und wuchsen dort auf. Ich fürchte, dir wird die Decke auf den Kopf fallen, wenn du da ohne mich leben sollst. Andererseits will ich dich auch nicht aus unserem gemeinsamen Haus rausjagen und verbitte mir das auch von den genannten Leuten, dich da rauszujagen, um es mal eben verkaufen oder anderweitig benutzen zu können. Damit aber irgendwie immer Leben in der Bude ist, verfüge ich hiermit, daß unser gemeinsames Haus jedes Wochenende als Clubhaus der Cruel Claws, dem englischen Fanclub der Holyhead Harpies, als Sitzungsraum dient. Natürlich sind deine Privaträume von diesen Sitzungen strickt ausgeschlossen, Arco. Ich möchte nur, daß dieses Haus nicht als reines Trauerhaus und Grab für einen Lebendigen endet. Damit du da nicht mit den ganzen Fans alleine überfordert bist soll meine gute Kameradin Gwendolyn Morgan die Sitzungen beaufsichtigen und dir danach mit den bestimmt fälligen Aufräumarbeiten helfen." Onkel Humbert und Onkel Kelvin verzogen die Gesichter, während Auroras Großvater Arco den Kopf wiegte, als gelte es, die ganzen Schwierigkeiten abzuwägen, die dieser Abschnitt mit sich brachte.
"Und wo das jetzt mit dem Haus und dem Grundstück geklärt ist kommen wir zu den Sachen, die ich nun einmal nicht mitnehmen konnte. Ich habe schon vor diesem Testament verfügt, daß ich mit meinem Zauberstab in der Familiengruft der Donovans bei Ten Hills beigesetzt werden möchte. Sollte ich während eines Quidditchspiels sterben, so weiß der Bestatter schon, daß ich im Spielerumhang beerdigt zu werden wünsche. Dazu hätte ich dann auch gerne meinen Zauberstab und einen Rennbesen, bestenfalls den Silberpfeil von mir, mit im Sarg. Zu den anderen Sachen komme ich jetzt: Die große Bibliothek aus Koch- und Quidditchbüchern teile ich wie folgt auf: Da Lynn die älteste Tochter von mir ist, erhält sie alle gedruckten und von mir selbst geschriebenen Kochrezepte und Tipps für eine gelungene Haushaltsführung." Lynn verzog das Gesicht. Offenbar wurde ihr nun klar, daß ihre Mutter nicht mehr wiederkommen würde. "Die Quidditchbücher bekommt Adda, damit sie mit ihrem Collin und mit deren hoffentlich mal kommenden Kindern rausfindet, wie schön dieser Sport doch ist." Adda nickte nur. "Die ganzen Bücher über die europäischen Tiere, die ich von meinen Eltern bekommen habe, überlasse ich Hugo, weil der mit seiner Arbeit bestimmt mehr damit anfangen kann. Arco, du kannst sehr gerne die Bücher über die berühmten Maler und Musiker der Zaubererwelt behalten. Du hast da eh mehr drin gelesen als ich. die Enzyklopädie der magischen Heilkräuter und das Buch "Herbologische Hierarchie - über die Entstehung und Bedeutung der Zauberpflanzen" bekommt meine Enkeltochter Aurora Dawn, die mir schon als junges Mädchen einiges an Kräuterkundewissen voraushatte, aber sicher in den beiden erwähnten Büchern noch einiges interessante nachschlagen kann. Die gesammelten Jahrgänge der Hexenwoche bekommt meine Tochter Dana. Wenn Arco mich überlebt, soll er das ganze Geschirr behalten oder von sich aus weitergeben, an wen er möchte. Vor allem Lynn und Dana, fangt bloß nicht an, euch um dieses oder jenes zu zanken! Und falls ihr damit schon angefangen habt, stellt sofort alles wieder dahin zurück, wo ihr es hergenommen habt!" Aurora grinste innerlich. Chester und Barney kicherten und glubschten ihre Mutter an, die hochrot angelaufen war. Denn in Lynns Abwesenheit hatte sie wahrhaftig schon damit begonnen, sich teueres Porzellan und die besten Kochtöpfe zu reservieren.
"Arco, du hast mir immer schöne Bilder gemalt und ich dir auch. Es wäre schön, wenn die Sammlung auch nach deinem Tod noch komplett bliebe. Deshalb verfüge ich, daß für den Fall, daß mein Mann Arco nicht mehr leben sollte, wenn dieses Testament veröffentlicht wird, die Bildersammlung an die Zauberkunstabteilung der geheimen Fakultät von Dublin gehen soll, auf daß die Studenten dort mitbekommen, wie schön Zauberermalerei sein kann. Das soll für alle Bilder gelten bis auf eines, das ich als Teil einer Viererserie für meine vielversprechende Enkeltochter Aurora Dawn gemalt habe. Aurora, da ich weiß, daß alle, die dir wichtig sind schon so ein Bild von dir haben, weiß ich nicht, wem ich es überlassen soll. Daher vermache ich es dir, auf daß du irgendwann in der Zukunft jemanden findest, der würdig ist, mit dir auf diese Weise in Verbindung zu treten. Vielleicht, so hoffe ich mal, kann diese Bilderverbindung zwischen dir und den anderen eines Tages überaus hilfreich sein. Das kann, will und muß ich dir überlassen, Kind." Der Vollstrecker pausierte, weil Aurora einige Tränen wegtupfen mußte. Dann las er weiter: "Kommen wir zu dem, um das sich andauernd irgendwelche Erben gerne zanken, das Geld. Mitnehmen konnte ich nichts. Für die Beerdigung habe ich schon bezahlt, falls mir die Harpies nicht noch was dabeilegen. So bleibt nur noch das, was im Verlies Nummer neunhundertzweiunddreißig aufbewahrt ist. Der Schlüssel zu diesem Verlies bleibt bei Arco oder Hugo, da ich euch, Lynn und Dana, nicht gerade zutraue, daß ihr das Gold und Silber in diesem Verlies anständig und ohne Zank untereinander aufteilt. Wenn du mich überlebst, Arco, dann gehören drei Viertel des gesamten Inhaltes dir, Arco. Das letzte Viertel gibst du bitte unserem erstgeborenen Urenkel, wenn er oder sie schon volljährig ist! Ansonsten legst du es als Ausbildungsrücklage für ihn oder sie an. Damit dürfte also auch diese leidige Angelegenheit klar sein. Achso: Meine Kleider und Festumhänge könnt ihr euch gerne unter den Nagel reißen, ohne daß ich dazu was sage, Lynn, Dana, Regina, Aurora und Adda. Soviel von mir für euch. Schade, daß ich mir womöglich nicht ansehen kann, wie ihr jetzt dreinschaut. Es grüßt aus dem Grabe eure Frau, Mutter, Großmutter und was-weiß-ich-noch, die goldene Harpyie, Regan Dawn."
"Klar, daß die Alte uns keinen Knut gönnt", schnarrte Kelvin. Seine Frau schnarrte dazu nur, daß sie sich noch darüber lustig gemacht hat, daß die beiden Schwestern sich häufig uneinig waren. Aurora überlegte nur, was sie mit ihrem bescheidenen und doch so persönlichen Erbteil machen würde. Sicher, die Kräuterkundebücher würde sie mitnehmen. Nachschlagewerke konnte sie ja nie genug haben. Doch wohin mit dem Bild? Sollte sie es Ireen oder Heather geben? Eigentlich nicht nötig, weil die beiden doch kontaktfeuern konnten. Sollte sie es ihrer Tante June geben? Das mußte auch nicht sein, weil sie außer zu Ostern oder Weihnachten nichts mehr von ihren Verwandten mütterlicherseits hörte. Vielleicht, wenn Arcadia auszog und eine eigene Bleibe fand. Mit ihren Cousins von der mütterlichen Seite hatte sie sich immer blendend verstanden. So befand sie, daß sie das Bild zunächst in der Obhut ihrer Mutter lassen würde, bis ihr einfiel, wem sie es überlassen konnte. Ihre Oma hoffte, daß die Bilderverbindung eines Tages nützlicher sein würde, als nur miteinander zu reden. Sicher, eine schnelle Verbindung zwischen England und Australien war schon schön. Aber wie wäre es mit einer Verbindung zwischen Australien und Frankreich? Sollte sie dann nicht eher das nun leider freigewordene Bild an Camille Dusoleil schicken? Nein! Im Moment konnte sie sich nicht entscheiden. Darum sollte es erst einmal bei ihrer Mutter bleiben.
So kam es dann, daß Aurora dem doch noch aufkommenden Gezänk ihrer älteren Tanten entwischte und mit Arco Dawn ihr Bild von der Wand in Regan Dawns Trophäenraum nahm. Über die Trophäen hatte sie nichts geschrieben. Aber die würden dann eben das schmückende Beiwerk bei den Fanclub-Sitzungen sein. Sie gab das große Stück Leinwand und den in Einzelteile zerlegbaren Rahmen ihrer Mutter und bat sie darum, es gut zu verwahren, bis sie wußte, wem sie es zum Aufhängen geben konnte. Danach unterhielt sie sich noch ein wenig mit ihrer Tante Lynn. Sie wirkte wieder ganz in dieser Welt und Gegenwart. Wie das kam erfuhr Aurrora, als sie Lynn fragte, wie sie mit Oma Regans Tod umging.
"Es ist bedauerlich, daß ich an dem Tag nicht im Stadion sein konnte. Aber ich hatte da anderswo zu tun und konnte deiner Oma nicht mit der Glückskette helfen. War schon sehr schlimm, als ich es hörte, daß sie mit dem Besen gegen den Torring geflogen ist. Ich habe Humbert die Kette zwar mitgegeben. Aber der hat sie nicht frei hängen gelassen. Aber womöglich hätte die das auch nicht aufhalten können." Aurora nickte sachte. Sie dachte sich nun ihren Teil. Man hatte einfach die entscheidende Erinnerung verändert, so daß sie nicht mehr traumatisch wirken konnte.
"Schreibst du mir, wenn du ihm in die Augen sehen kannst, Adda?" Fragte Aurora ihre Cousine, die nun wieder rundlich herumlief.
"Ich frage mich, ob du das Kleine nicht auch hättest tragen wollen, Aurora. War schon 'ne komische Sache, Tagelang rumzulaufen und zu wissen, daß das Kind noch lebt aber im Moment nicht bei mir ist. Deine Kollegin Newport meinte, ich hätte den Umstandswechsel jedoch gut überstanden, und die Gefahr, daß es vor der Zeit rausgefallen wäre sei größer gewesen als die seelische Umstimmung. Aber irgendwie bin ich doch froh, daß ich die Kleine nun selbst fertig austragen kann. Ich werde ihr Oma Regans Namen als einen der Vornamen geben."
"Ich wünsche dir auf jeden Fall alles Glück für euch drei, Adda. Wenn wir durch Oma Regans Unfall zwei Sachen gelernt haben, dann, daß wir das Leben genießen mögen, so lange wir können, weil wir nie wissen, wann und wo es endet."
"Das sagst du mir, wo ich gerade ein neues Leben ausreifen lasse?" Fragte Adda etwas verstimmt.
"'tschuldigung, ich wollte dich nicht verunsichern, Adda. Es geht mir nur darum, daß wir uns glücklich schätzen dürfen, immer wieder einen neuen Tag erleben zu dürfen."
"Da hast du ja den richtigen Namen für: Aurora Dawn", erwiderte Adda. Dann umarmte sie ihre Cousine und wünschte ihr auch viel Glück in Australien. Daß es gefährlich werden konnte, Heilerin zu sein, hatte die Sache mit Resting Rock ja bewiesen.
Eine Stunde später kehrte Aurora in ihre Niederlassung zurück. Weihnachten würde sie im Land unten drunter bleiben, um Diana Silverlake zu vertreten, die endlich einmal zu ihrer Cousine nach Kanada reisen wollte, um dort echten Schnee zur Weihnachtszeit zu erleben. Aurora gönnte es ihr. Das Lied von den Klingelglöckchen im heißen Hochsommer paßte ja doch nicht so ganz, auch wenn es eine australische Version davon gab. Sie dachte an Schneeballschlachten, Rodeln und das Knirschen von frischem Pulverschnee unter dicken Stiefelsohlen. Bald würde ihre Cousine Adda ein kleines Mädchen bekommen, das bereits vor der Geburt dreieinhalb Wochen Urlaub gemacht hatte. Und bei ihrer Mutter Regina lag nun ein eingepacktes Bild von ihr, Aurora und wartete darauf, eines Tages an einer anderen Wand zu hängen. Dann dachte sie wieder an ihre eigene Zukunft. Jahrzehnte lang Heilerin zu sein, ohne eine eigene Familie zu haben wie ihre Oma Regan und jetzt bald Adda und Collin? Sie hatte es sich ausgesucht, in einen Club einzutreten, dessen Regeln sehr strickt waren. Doch wenn sie genau darüber nachdachte, fiel ihr ein, daß sie sich heute nicht anders entscheiden würde, wenn ihr jemand anbot, die Heilerausbildung zu machen. Daran dachte sie auch, als sie die Garfield-Brüder hundert Meter von ihrem Haus entfernt mit dem kleinen, weißen Hund Terry entlanglaufen sah. Sie dachte noch an den Brief, den ihr der junge Jimmy in den Briefkasten gelegt hatte. Sie holte ihn noch einmal heraus und las ihn.
Hallo Madam Aurora!
Vilen Dank, das sie mir gesagt haben, das Terry hinter unseren Eltern hergelaufen sein kann. Jake und ich haben mit Mrs. Gilbert, der Nachbarrin, die auf uns aufzupassen hatte, den Weg runtergefahren, den Mumm und Dadd genommen haben müsen. Da haben wir Terry echt gefunden. Der war schon soo ganz weit gelaufen. Jake sagt, ich sol mich bei der Hexe bedanken. Das mache ich mit dem Brief hier. Danke schöhn.
Dafür lohnte es sich also, ansprechbar zu sein, für andere Leute, Zauberer oder Muggel, ein offenes Ohr und eine helfende Hand zu bieten. Vielleicht sollte sie nun, wo sie aus dem gröbsten der Niederlassung heraus war, ihre alten Muggelkundekenntnisse auffrischen und das laute und übervolle Sydney erforschen. Denn die Sache mit den Pinewoods hatte ihr deutlich gezeigt, wie wichtig es sein mochte, sich dort auszukennen.
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