BÜNDNIS DER SCHWESTERN

Eine Fan-Fiction-Serie aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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Vorige Story

P R O L O G

Anthelia, die wiedergekehrte Nichte der einstigen Hexenführerin Sardonia, hat im ersten Jahr ihres zweiten Lebens bereits viele gefährliche Situationen überstehen müssen und nur mit besonderer Vorsicht und Verschlagenheit ihre Macht ausdehnen können. Ihr "Netz der Spinne", das aus ihr getreuen Hexen besteht, umspannt bereits einen Großteil der Zaubererwelt. Sie hat sich den nichtmagischen Jugendlichen Benny Calder als Kundschafter in der magielosen Welt gesichert und diesen, als er ihr in zu viele Schwierigkeiten geraten war, mit dem Körper und der Erinnerung des Senatorensohnes Cecil Wellington an einem guten Ort für die Spionage in der amerikanischen Muggelwelt untergebracht. Neben dem alle Zauberer und sogenannten Muggel gleichermaßen bedrohenden Dunkelmagier Voldemort bedroht auch eine aus jahrhundertelangem Schlaf erweckte Kreatur in Frauengestalt, Hallitti, die Tochter des Abgrunds die Welt. Diese unterwirft sich den englischen Wissenschaftler Richard Andrews und macht ihn zu einem gefährlichen und schier unverwüstlichen Massenmörder. Erst Unter Verwendung seines Sohnes Julius, der von Hallitti als Nachfolger Richards auserkoren war, erringt Anthelia den Sieg über dieses Geschöpf und vernichtet es. Um sich mehr Macht anzueignen versucht Anthelia, ein altes Erbe aus einem uralten Reich von Magiern zu erbeuten, den Stein der großen Erdmutter. Doch dieser liegt tief im Meer, sodaß sie eine gefährliche Zauberei benutzen muß, die sie und ihre junge Bündnisschwester Patricia Straton für einen halben Tag in Meerfrauen verwandelt. Sie kämpfen sich an tödlichen Ungeheuern und Zauberfallen vorbei, bis Anthelia alleine in das Labyrinth vorstoßen kann, in dem der Stein verwahrt liegt. Beinahe fällt sie der dem Stein innewohnenden Wächterseele der großen Erdmutter selbst zum Opfer, wenn nicht die in Anthelias dunklem Seelenmedaillon gefangene Sarah Redwood freigekommen und arglos mit dem Medaillon an den Stein gestoßen wäre. Sarah und die große Erdmutter verschmelzen zu einer Einheit und treiben Anthelia aus der Höhle, in der der Stein liegt. Knapp vor Ablauf der Zeit, um sich wieder in eine Frau zurückzuverwandeln erreicht Anthelia um ihren Erfolg geprällt das rettende Boot, wo Patricia Straton schon auf sie wartet. Als sie ihre ursprünglichen Körper zurückbekommen, kehren Anthelia und Patricia in ihr Hauptquartier, einer alten Plantagenbesitzer-Villa im US-Staat Mississippi zurück, wo sie einen brief erhält, dessen Absenderin doch vor kurzem erst von Voldemort getötet worden sein soll.

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Er war ein Kind der Nacht, aus diesem elenden Menschendasein wachgeküßt von seiner Geliebten, der schwarzäugigen Lunova, Hüterin des Mitternachtsdiamanten, neben dem einst großen Blutstein der wichtigste Gegenstand seiner Art. Igor Dserschinski wußte, Lunova hatte nur die Bluthochzeit mit ihm vollzogen, weil sie einen starken Gefährten an ihrer Seite haben wollte, einen, der unter dem fehlenden Licht des Mondes die alte Dynastie der Nachtkinder zu neuer Blüte treiben würde. Das Problem waren nur diese verweichlichten Hellmondler, die meinten, ihm und seinen Getreuen Widerstand leisten zu müssen. Nicht nur das die Hexen und Zauberer seinen Aufstieg zum mächtigsten Vampir Europas andauernd störten mußten sich diese Nachkommen des Verräters Wlad aus den Karpaten auch noch gegen ihn stellen. Tja, und dann war noch dieser im westen so gefürchtete Schwarzmagier Voldemort aus unerfindlichen Gründen zurückgekehrt, von dem es hieß, ein kleiner Junge habe seinen tödlichen Zorn auf ihn selbst zurückgeworfen.

Igor Dserschinski existierte nun schon zwei Jahrhunderte als Vampir und hatte sich immer wieder zum Herren der blutdürstigen Halbmenschen aufschwingen wollen. Doch immer wieder waren zu mächtige Feinde und Feindinnen aufgetaucht. Ja, er hatte noch nicht einmal in den Städten Polens und Böhmens seine Opfer suchen können, ohne bald eine Gruppe von Feinden hinter sich zu haben, die ihn ihre verfluchten Eichenholzgeschosse in den Leib jagen wollten. Dann hatte er mit Grindelwald und danach mit diesem Voldemort einen Pakt geschlossen. Doch Voldemort hatte sich mit diesen stinkenden Mondheulern eingelassen, die nichts halbes und nichts ganzes waren. Kaum daß er von den Toten auferstanden war hatte der sehr gefährliche Zauberer ihm eine Eule geschickt, er möge sich an den alten Pakt erinnern. Dserschinski hatte im Anflug von Überlegenheit geantwortet, er solle sich das mit diesen Mondheulern noch einmal überlegen, bevor er das Bündnis mit ihm und seiner Sippe wieder aufleben lassen wollte. Doch das hätte er sich besser nicht herausnehmen sollen. Denn einen Tag nach seiner Antwort war Voldemort persönlich in seinem Versteck aufgetaucht und hatte ihm mit einen mit eingelagerten Feuerzaubern verstärkten Sonnenquarz höllische Qualen bereitet. Beinahe wäre er in einem Feuer aus unsichtbaren Flammen verglüht. Erst in allerletzter Sekunde hatte Voldemort von ihm abgelassen und gelacht, das schlummerndes Feuer im Sonnenquarz das einzige sei, was ihn wohl zur Besinnung bringen könne. Dieser vermaledeite Wicht hatte noch dazu ein Amulett mit wirksamen Bannzaubern des Mondes und der Sonne dabei, sodaß Dserschinski ihn nicht angreifen und ihm alles Blut aus dem Leib saugen konnte. So hatte er sich wimmernd entschlossen, den alten Pakt wieder zu befolgen.

"Wir können es uns nicht leisten, gegeneinander zu kämpfen, Igor", hatte Voldemort überlegen grinsend geantwortet. "Ich werde in einigen Tagen mit deinem Namensvetter aus Sibirien sprechen, ob der nicht auch vernünftig genug ist, sich mir anzuschließen. Immerhin hat er die Jahre, die ich fort war nicht nutzen können."

"Du willst mit diesem Kerl arbeiten, Bokanowski, dem Naturschänder?" Hatte Igor Dserschinski darauf geantwortet.

"Eben mit diesem, du vermoderte Fledermaus", hatte Voldemort darauf gehässig grinsend geantwortet. "Und du und einige deiner fangzähnigen Artgenossen werdet mich begleiten, damit ich den richtigen Weg finde. Der gute Igor Bokanowski pflegte vor meiner unfreiwilligen Schaffenspause immer in den entlegendsten Regionen dieser Ödnis zu hausen. Alleine will ich da nicht hin."

"Aber warum ich?" Hatte Igor Dserschinski darauf gefragt.

"Weil ich meine treuen Todesser nicht darüber informieren will, wen ich besuche. Sie könnten meinen, ich hätte sie dann nicht mehr nötig und auf die Idee kommen, lieber zu sterben als mir weiterhin zu dienen. Also wirst du mich begleiten."

"Du kannst mich mit diesem verfluchten Feuerstein quälen, Lord Voldemort. Aber dies ziehe ich einem Treffen mit Bokanowski vor. Er jagt uns, verunstaltet uns und versucht, unsere Macht zu seiner zu machen, ohne zu einem von uns werden zu müssen. Ich würde ihn töten, wenn ich ihn sehe und er mich, wenn ich ihn ließe."

"Nicht, wenn ich ihm befehle, dich lichtscheue Kreatur nicht anzurühren", war Voldemorts Antwort darauf gewesen. Als Dserschinski sich immer noch weigerte, drohte Voldemort damit, den heiligen Blutstein und den Mitternachtsdiamanten zu rauben und in der Oder zu versenken, worauf die den Vampiren so wichtigen Heiligtümer nicht nur die eigene Kraft verlieren, sondern allen hier lebenden Vampiren die Kraft entziehen würden, wie ein schleichendes Gift. Ob dies wirklich stimmte wußte Igor Dserschinski nicht. Aber alle Vampire von der Tundra bis zum Balkan glaubten das. Und falls es wirklich so war, würden sie ihm die Schuld geben. Das wollte er nicht. So hatte er sich mißmutig mit die bleichen Fäuste in den weiten Taschen seines schwarzen Seidenumhangs geballt bereiterklärt, diesen rücksichtslosen Zauberer zu begleiten.

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Die auf dem grob gehauenen Holztisch stehende Wodkaflasche war noch zu drei Vierteln voll. Dies bedeutete, daß die beiden Männer, die sich gerade zutranken erst vor fünf Minuten hier in der verschwiegenen Datscha von Maximilian Alexejewitsch Arcadi zusammengekommen waren. Juri Petrov, Leiter der Such- und Ergreifungstruppen gegen bösartige Zauberkundige, hatte um diese ganz private Audienz beim russischen Zaubereiminister gebeten, um mit ihm etwas zu besprechen, daß ihm sichtlich Sorgen bereitete.

"Herr Minister, ich fürchte, der schlafende Drache hat sich aus seinem Versteck getraut und schleicht nun herum."

"Sie meinen Ihren Erzfeind, Igor Bokanowski, den Sie mit der Gefahrenstufe 10 werten", sagte Arcadi, ein vierschrötiger Zauberer, dem man trotz seiner achtzig Jahre noch ansehen konnte, das er einmal zu den athletischsten Exemplaren seiner Art gehört hatte und sich immer noch sehr gut in Form hielt, auch wenn er einen kleinen Spitzbauch nicht ganz verbergen konnte und seine Brille in einem silbernen Gestell, das ganz aus dem Horn eines Einhorns gefertigt worden war, sowie den langsam immer heller werdenden Locken auf dem Kopf und im Gesicht deutlich zeigten, daß Maximilian Arcadi schon etwas länger auf dieser Erde wandelte. Doch er gehörte immer noch zu den mächtigsten Zauberern seines Landes und hatte zwanzig Jahre lang in Durmstrang Flüche und Gegenflüche unterrichtet. Doch nach diesen zwanzig Jahren war ihm die Lust vergangen, weiterhin den Jungdrachenbändiger zu spielen, wie er sich gerne ausdrückte. Da die Gründerväter von Durmstrang ausschließlich reinblütige Zauberer als Schüler und Lehrer verlangten, waren viele dort lernende Kinder und Jugendlichen sehr eingebildet und schwer zu belehren. So hatte Arcadi sich dem Lehrberuf ab- und dem Zaubereiministerium zugewendet. im Alter von 66 Jahren hatte er dort den höchsten zu vergebenden Posten erreicht und behalten, trotz einiger Versuche, ihn politisch oder gar körperlich aus dem Weg zu räumen. Doch als er den fünften auf ihn angesetzten Mörder eigenmagisch in hundert Einzelteile zerflucht hatte, hatten selbst die Anbeter dieses englischen Wichtigtuers Voldemort, den die Leute dort nicht beim Namen zu nennen wagten, erst einmal Ruhe gegeben. Doch von einigen wußte er, daß sie darauf lauerten, diesem entstellten Hexer die russische Zaubererwelt auf einem goldenen Tablett zu servieren. Einer von diesen möglichen Helfern war Igor Bokanowski, von dem es in Durmstrang hieß, er sei gnadenlos und mißachte jedes Leben, sogar das eigene. Wenn dieser "schlafende Drache", der seit dem merkwürdigen Verschwinden dieses Voldemorts vor den Greifkommandos des Zaubereiministeriums in ein unauffindbares Versteck gekrochen war und nur ab und an um zwei oder drei Ecken von sich hören ließ, offen aus dem Versteck herausgetreten war, dann mußte er sich darüber sehr intensive Gedanken machen. Juri Petrov, sein langjähriger Mitarbeiter und Neffe eines guten Schulfreundes, wirkte mit seinem dichten schwarzen Haar und dem Schnurrbart wie ein Krieger aus den wilden Regionen des Balkans, doch hatte er eine kaukasische Hexe zur Mutter und einen sibirischen Zauberer zum Vater. Die nachtschwarzen Augen des Truppenkommandanten blickten sehr angespannt in das Wodkaglas, als könne der hochprozentige Kartoffelschnaps ihm zeigen, was die Zukunft bringen würde.

"Ihnen ist die Sache mit einer Magielosenfamilie bekannt, die vor einer Woche in der Nähe von Wladiwostok verschwunden ist?"

"Ja, es hieß in den Nachrichten der Magielosen, daß sie Opfer einer Verbrecherorganisation wurden, die von den Zeitungen und anderen Nachrichtenverbreitern als "Russische Mafia" betitelt wird. Hat Bokanowski was mit dieser Sache zu tun?" Erkundigte sich Arcadi. Doch er war sich sicher, die Antwort zu wissen, und diese Antwort gefiel ihm absolut nicht. Als er sie dann hörte, mußte er erst einmal einen Schluck trinken, während dem er Petrov berichten ließ.

"Offenbar hat er Versuchsexemplare gebraucht. So hat er wohl seine natürlichen oder künstlichen Handlanger losgeschickt, ihm geeignete Objekte zu beschaffen. Jedenfalls sind die vier Personen wieder aufgetaucht, lebend. Aber ich bin mir sicher, sie wären lieber tot.

Als einer meiner Trupps gegen Soltan Casov vorrückte und ihn endlich dingfest machen konnte, fanden meine Leute in seinem Landhaus einen geheimen Keller, in dem es von handtellergroßen Ameisen wimmelte. Das erschreckende daran war, daß diese Ameisen menschliche Köpfe hatten. Es waren hundert dieser Geschöpfe, alle mit menschlichen Köpfen, die sofort auf meine Leute losgingen. Sie mußten sich aus dem Haus zurückziehen und eine Arrestaura darum errichten, um die sicher schwarzmagisch erzeugte Brut einzusperren. Als dann ein Spezialist für magische Verunstaltungen anrückte und ihm ein Durchlass in die Arrestzone geöffnet wurde, wäre er fast von der Säure dieser kleinen Kreaturen getötet worden. Selbst Rapiddormgas konnte diese Bestien nicht betäuben, so mußte er mit Feuerstrahlen vorgehen. Von der Säure schwer verletzt gelang es ihm, bis vor den geheimen Keller zu gelangen. Zwei weitere Leute aus meinem Trupp halfen ihm. Im Keller selbst fanden sie einen schmalen durchlass, durch den diese Züchtungen gekommen sein mußten und brachen die Wand auf, darauf gefaßt, gleich von tausenden dieser Kreaturen angegriffen zu werden. Doch hinter der Wand fanden sie nur vier menschengroße Exemplare dieser Kreaturen, eines mit einem Frauenkopf, eines mit dem Kopf eines erwachsenen Mannes und zwei wohl gerade halbwüchsige Jungen. Offenbar diente das weibliche Geschöpf als Königin dieser Brut, während die männlichen einerseits Befruchter und Pfleger sein sollten. meine Leute konnten die vier verunstalteten Wesen betäuben und aus dem Keller herausbringen, zusammen mit fünfzig beim Kampf getötete Exemplare. Vergleiche mit den Bildern verschwundener Menschen belegten leider, daß es sich bei den vier eingesperrten Geschöpfen um die Familie Constantin handelte, den Vater Marco, die Mutter Tamara und die Söhne Iwan und Dimitri."

Arcadi erbleichte, trotz der kreislaufanregenden Wirkung des Wodkas. Das war schon grauenvoll genug. Doch was hatte das mit Bokanowski zu tun? Diese Frage stellte er laut.

"Alle vier verunstalteten Menschen hatten Bokanowskis Zeichen auf der Stirn, das schwarze, schräg nach links gekippte B. Als wir Soltan unter Veritaserum verhörten sagte er uns, daß Igor ihm diese vier Ergebnisse seiner neusten Schreckenszüchtungen in weißen Kokons geliefert hatte und sie im Keller eingemauert hatte, nur mit einem handtellergroßen Durchlass für Luft und die wohl zu erwartende Brut. Soltan sollte den Keller nicht öffnen, bevor Bokanowski ihm das Zeichen dazu gab und dann, wenn er es erhielt sofort disapparieren, um der freigelassenen Brut nicht selbst zum Opfer zu fallen", sagte Juri und legte dem Zaubereiminister Pergamentbögen mit dem schriftlichen Bericht und einigen Fotos der gefundenen Geschöpfe vor.

"Hat dieser Kerl also herausbekommen, wie Sardonias Entomanthropen erschaffen werden", seufzte Arcadi. Natürlich kannte er als erwiesener Experte für dunkle Kräfte die Berichte über die Hexenkönigin Sardonia, die ganz Frankreich und einige Regionen darüber hinaus über ein ganzes Jahrhundert unterjocht hatte. Sie hatte es hinbekommen, magische Kreuzungen zwischen Menschen und Insekten zu erschaffen, die eine schlagkräftige Armee zu Lande und zur Luft dargestellt hatten, bis Sardonia sich an einer großen Truppe Dementoren übernommen hatte. Die danach führungslosen Insektenmonster waren von Magiern aus allen Ländern gejagt und niedergekämpft worden. Doch wie Sardonia diese Geschöpfe hervorgebracht hatte wußte keiner. Man munkelte, sie habe dieses Wissen von Salazar Slytherin, einem der vier Gründer von Hogwarts und einem der mächtigsten Zauberer Westeuropas. Mochte es sein, daß auch Bokanowski, der die kunst schwarzmagischer Neuschöpfungen studierte, dieses alte, verderbliche Wissen aus derselben Quelle hatte wie Sardonia? Falls ja, dann konnte dieser Größenwahnsinnige eine ganze Armee dieser Ungeheuer erschaffen und sie gegen jeden führen, der ihm nicht paßte, ja ganze Städte erobern, dann ganz Russland und dann ... Arcadi wollte sich das gar nicht vorstellen.

"Was spricht dafür, daß er, falls er diese Menschen in diese bedauernswerten Geschöpfe verwandelt hat, mit diesem gefährlichen Wichtigtuer Voldemort zusammenarbeiten will?" Fragte Arcadi.

"Das er mit diesem Schwarzkünstler keinen Krieg haben will, zumindest noch nicht", sagte Petrov verbittert. "Wie unter den Magielosen wird der eine Tyrann dem anderen einen Pakt anbieten, sich gegenseitig nicht zu behelligen und die Beute miteinander zu teilen, bis der eine oder der andere mächtig genug ist, den Partner zu besiegen. Natürlich wird Voldemort das vorausahnen und versuchen, Bokanowski zu unterwerfen, solange dieser sich nicht lange gegen ihn wehren kann. Aber wenn dieser Kerl schon jetzt diese Ungeheuer erschaffen kann ... Dann könnte es auch umgekehrt kommen."

"Was ist mit den vier Verwandelten. Können sie noch etwas aussagen?" Wollte Arcadi wissen.

"Wir haben sie natürlich auch befragt, getrennt voneinander und in Käfigen aus magisch gehärtetem Stahl. Die Frau sagte nur, daß sie Kinder haben wolle, ganz viele Kinder, die für sie und ihre direkten Verwandten Nahrung heranschaffen und die Welt für ihren Herrn Igor erobern sollten. Während sie verhört wurde legte sie zwanzig Eier. Der Vater schaffte es fast, den Käfig aufzubiegen. Er rief dabei: "Meine Kinder werden euch alle fressen!" Die beiden Jungs hatten Angst, ihre eigene Mutter würde sie fressen, um weitere Eier legen zu können. Doch der Befehl Igors zwinge sie, ihr zu helfen, die neuen Kinder soweit großzuziehen, bis sie durch den Durchlass entkommen könnten."

"Ist es in den Zeitungen, daß deine Leute Soltan gefaßt und diese unglücklichen Geschöpfe gefunden haben?" Fragte Arcadi besorgt. Juri schüttelte heftig den Kopf. Er nickte und sagte sehr ernst: "Dort darf es auch nicht erwähnt werden. Alles was damit zu tun hat ist absolut geheimzuhalten. Bokanowski darf nicht erfahren, daß wir seine perversen Züchtungen gefunden haben. Vielleicht können wir die Verwandlung rückgängig machen und diesen Menschen ihr Leben zurückgeben und ergründen, wie wir weitere Kreaturen dieser Art lebendig überwältigen und ebenfalls zurückverwandeln können, obwohl es dann Entomanthropen der zweiten Generation sind und ..." Juris Armbanduhr schrillte los wie ein altmodischer Wecker. Er hob sie an und tippte sie mit der Spitze seines Zauberstabes an. Aus dem Uhrenglas stieg blauer Rauch auf, der sich zu einer zwei Meter großen Wolke aufblähte und dann zu einer frei im Raum schwebenden Erscheinung einer um die dreißig Jahre alten Hexe verdichtete. Diese sprach mit ernster Stimme:

"Herr Petrov, die vier gefangenen Geschöpfe sind soeben unter lauten Schmerzensschreien verendet und danach von innen her zu Asche verbrannt. Erbitte weitere Anweisungen!" Dann löste sich die Erscheinung in weißen Rauch auf, der sich keine fünf Sekunden später verflüchtigte.

"Ihr Spielzeug war und ist sehr praktisch, wenn ich mich auch immer wundere, wie es einen Klangkerker durchdringen kann", sagte Arcadi. Juri mußte kurz grinsen, bevor er mit wieder ernster Miene sprach:

"Diese Art der Nachrichtenübermittlung wirkt wie einer dieser Zweiwegespiegel, nur mit dem Unterschied, daß keine Direktverbindung möglich ist und daher keine Probleme mit Abschirmzaubern hat, solange nur die sie benutzen, auf die sie abgestimmt ist. Welche Antwort soll ich übermitteln?"

"Ministerielle Anweisung der obersten Priorität, außer den unmittelbar beteiligten darf niemand über diese Angelegenheit informiert werden. Alle magischen Gemälde in unmittelbarer Umgebung der Verhörräume sind zu instruieren, ihren Gegenstücken nichts darüber mitzuteilen. Zuwiderhandlung wird mit vier Jahren Eishaft bestraft." Petrov erbleichte, nickte und tippte dann mit dem Zauberstab an die goldene Krone der Armbanduhr. Das Zifferblatt verschwand in etwas, das wie ein Strudel aus blau leuchtendem Qualm aussah. Petrov sprach in diesen Strudel hinein und beendete die vom Minister erhaltene Anweisung mit einem weiteren Stubser an die Krone. Der Strudel wurde im Zifferblatt aufgesaugt.

"Dann hat er seine neuesten Kreaturen getötet, offenbar durch den Distignitus-Fluch", knurrte der Zaubereiminister. Er kannte seine dunklen Zauber und wußte, wie man einen Gefolgsmann davon abhielt, Verrat zu begehen oder ihn tötete, wenn dieser sich hatte gefangennehmen lassen und gege den Meister aussagte. Ein Tropfen Blut des Gefangenen in einer verhexten Phiole aus purem Silber zeigte, wann der Verrat drohte und ein Zauberwort mit an die Phiole gedrücktem Stab reichte, um den wertlosen Helfer von innen her verbrennen zu lassen. Damit hätten er und Juri rechnen sollen. Diese späte Erkenntnis machte ihn wütend.

"Juri, kehre besser zurück zu deinen Leuten und sorge dafür, daß wir rauskriegen, wo sich dieser Bastard verkrochen hat oder ob er bereits mit Leuten wie Voldemort Kontakt aufnimmt. Die Magielosen in unserem Land haben den traurigen Ruhm, eine allgegenwärtige Überwachung geschaffen zu haben, offenbar müssen wir diese Methode übernehmen und mit unseren Mitteln vervollkommnen. Übrigens, Igor Bokanowski ist ab sofort ein Gefahrenherd der Stufe 12. Du weißt, was das heißt.""

"Natürlich, Herr Minister", sagte Juri Petrov. "Das heißt, wir sollen ihn auf Sicht töten, nicht erst zu fangen versuchen."

"Genau das", knurrte der Minister und schrieb schnell die neue Einstufung auf ein Pergament, siegelte dieses mit dem kyrillischen Schriftzug auf seinem bei Amtsantritt erhaltenen Ring und vervielfältigte es zehnmal, bevor er die Anweisung an Juri weitergab. Dieser nahm sie hin, verbeugte sich untergeben und verließ die Datscha des Ministers durch die Tür. Erst zweihundert Meter davon entfernt konnte er es wagen, zu disapparieren.

"Igor Bokanowski, was immer du vorhast, du lebst nicht mehr lange genug um es auszukosten", dachte Maximilian Arcadi verdrossen. Vor seinem geistigen Auge sah er blutige Schlachten zwischen Zauberern und abscheulichen Kreaturen, die Bokanowski auf die Menschheit loslassen wollte. Was, wenn dieser gefährliche Zauberer starke Verbündete gewann? Was wäre, wenn er mit diesen allen friedliebenden Zauberern überlegen würde und damit unaufhaltbar? Sie mußten ihn finden und töten, bevor er seine Macht ausdehnte, und wenn es ihm, Arcadi, das Leben kosten sollte.

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In der Nacht zum dreizehnten August überquerten vier dunkle Gestalten die polnisch-russische Grenze. eine von ihnen war hager und trug einen langen Kapuzenumhang. Unter der Kapuze lugten zwei glutrote Augen tückisch hervor. Die zweite Gestalt trug einen schwarzen Umhang aus grobem Stoff und einen ebenso dunklen Schlapphut. Die schmalgewordene Silbersichel des abnehmenden Mondes schien vom Gesicht des Mannes wider, als sei es eine blütenweiße Leinwand. Die beiden anderen Geschöpfe waren muskulöse, an die zwei Meter große Männergestalten in nachtschwarzer Lederkleidung, die ebenfalls total bleiche Gesichter besaßen. Das waren Goran und Carol, Igor Dserschinskis getreue Leibwächter. Der Vampirfürst selbst hatte sie vor fünfzig Jahren in seine Dienste genommen, als sie Vampirjägern aus Montenegro entkommen mußten.

"Wie weit soll das weg sein, wo Euer erhoffter Partner uns antreffen soll?" Fragte Igor Dserschinski gegen seine Art sehr verängstigt.

"Wir müssen nur fünf Meilen zurücklegen und einen hohlen Baum suchen. Also los", schnarrte Voldemorts kalte Stimme. Die drei Vampire folgten ihm. Der dunkle Lord wußte, sie würden ihn allzugern in der Luft zerreißen und ihm ihre messerscharfen Fangzähne in den Hals schlagen. Doch Ein Amulett mit Zaubern wie Segen der Sonne und dem Schutz des Blutes umgab ihn mit einer unsichtbaren Aura, die jeden Vampir sehr schmerzhaft zurückprällte, wenn er auch nur mit einer Haarspitze daranstieß. Voldemort galt als der größte schwarze Magier seiner Zeit, unter anderem auch deshalb, weil er sich gegen dunkle Kreaturen zu behaupten verstand.

Fünf Meilen weiter fanden sie wirklich den hohlen Baum. Die Vampire schnüffelten unvermittelt wie Wölfe, die Beute witterten. Auch Voldemort fühlte die Nähe einer lebenden Person. Er hob seinen Zauberstab und murmelte "Vivideo!" Ein grüner Lichtstrahl trat aus dem Stab aus und bestrich den Baum, der bereits abgestorben war. Darin war niemand versteckt. Also mußte sich wer immer hier war ...

"Du suchst an der falschen Stelle, Voldemort", kam ein höchst amüsierter Ruf einer sonoren Baritonstimme von hinten. Voldemort verwünschte seine Unvorsicht, nicht vorher schon die Gegend mit dem Zauber abgesucht zu haben. Er wirbelte herum, ebenso die drei Vampire. Da stand ein Mann, klein, gedrungen, in einem Bärenfellumhang und einem schwarzen Zylinder auf dem dunklen Schopf. Kleine, dunkle Augen blickten sehr argwöhnisch aus dem schmalen, beinahe dreieckigem Gesicht umher. In der rechten Hand hielt der Fremde einen knorrig wirkenden Zauberstab.

"Hallo, Igor, du alter Wolf. habe mir schon gedacht, daß du dich wieder von hinten anschleichst. Ich wollte dich nur dazu bringen, dich frühzeitig zu verraten", tat Voldemort so, als sei Igor Bokanowskis Anschleichen erwartet und geduldet worden. Er merkte, daß sein Russisch leicht eingerostet war.

"Du hast dir diese drei Blutschlürfer mitgebracht, Voldemort? Sind die beiden Gorillamänner tot, die du bei unserem Treffen vor sechzehn Jahren dabei hattest?"

"Du wagst es, mich ohne meinen Titel anzureden, Igor Bokanowski. Ich bin Lord Voldemort. Merke dir das und bleib am leben!"

"Och, natürlich, wie konnte ich es vergessen", erwiderte der etwas kleinere Zauberer erheitert. "Lord Voldemort. Aber dann möchte ich, um diesem Treffen gleich die diplomatische Erhabenheit zu geben, die es verdient hat, daß du mich mit Doktor Bokanowski ansprichst. Immerhin habe ich mir meinen akademischen Titel genauso hart erarbeitet wie du deinen Titel."

"Du bist ganz allein hier und wagst es, mir frech zu kommen, Igor?" Knurrte Voldemort.

"Das ist eine Frage der Höflichkeit unter Gesinnungsbrüdern, Lord Voldemort und keine Frechheit", widersprach Bokanowski. Voldemort hielt seinen Zauberstab auf den Zauberer im Bärenfellumhang gerichtet. Doch dieser machte dazu passende Verteidigungsbewegungen. Nur der Todesfluch würde ihn so erwischen.

"Dein schöner Ollivander-Stab", sagte Bokanowski. "Wie hast du den denn all die Jahre behalten können?"

"Mein Ding, Igor", schnarrte Voldemort.

"Wie heiß ich?" Fragte Bokanowski und machte eine rasche Zauberstabbewegung gegen Voldemort. Dieser riss seinen Stab hoch und dachte an den großen Schild, keine Sekunde zu früh. Denn da schwirrte bereits ein blau flirrender Lichtstrahl auf ihn zu und zersprühte an dem gerade heraufbeschworenen silbernen Schild, hinter dem Voldemort Deckung nahm. Die drei Vampire sahen dem nur sekunden dauernden Geplänkel zu und überlegten, ob sie nicht das Weite suchen sollten. Doch Voldemorts Drohung hing über ihnen, ihre heiligen Steine in einem Fluß zu versenken.

"Gut, für den Moment heißt du eben Doktor Bokanowski, damit wir uns weiter unterhalten können", knurrte Voldemort, dessen Zauberstabarm bei Bokanowskis Attacke heftig gewackelt hatte.

"Das ist auch besser so, Lord Voldemort. Immerhin bist du in meinem Land", sagte Igor Bokanowski selbstsicher.

"Das wird sich noch erweisen, wessen Land es ist", dachte Voldemort bei sich und hielt seinen Geist wohl verschlossen.

"Du möchtest mir etwas anbieten? Dann schicke die drei Blutsauger weg. Die stinken mir zu sehr", forderte der russische Zauberer.

"Sie bleiben als meine Leibwache hier, Doktor Bokanowski. Außerdem will ich, daß Dserschinski hier erfährt, was wir beschließen und sich entscheiden kann, wem von uns beiden er dann dient", erwiderte Voldemort und sah den Vampir Igor überlegen an. Dieser warf ihm einen haßerfüllten Blick zu. Der Zauberer Igor lachte darüber.

"Igor Dserschinski, der Blutfürst von Krakau. Freut mich, dich mal richtig zu sehen! Sonst habe ich ja nur deine Lakeien vor den Stab oder meine schnuckelige Armbrust bekommen. Wie geht's deiner Gefährtin, Igor? Der Angesprochene schwieg. Angst und Verachtung spiegelten sich in seinem Gesicht, bis einer seiner Leibwächter sagte:"

"Der Meister dient keinem von euch Rotblütlern. Ihr dient ihm."

"Goran", zischte Dserschinski warnend. Da schwirrte aus der Dunkelheit etwas heran, kein Zauber, sondern ein Geschoss, das mit großer Wucht und Genauigkeit in Gorans Brust einschlug und aus dem Rücken des Vampirs wieder herausstach. Goran röchelte eine Sekunde lang und stürzte um wie ein Gefällter Baum. Voldemort erkannte, daß der Blutsauger mit einem Eichenholzbolzen aus einer Armbrust getötet worden war. Ihm wurde in diesem Moment klar, daß Bokanowski nicht so leichtsinnig gewesen war wie es den Anschein hatte. Auch er hatte Helfer dabei, die nur nicht offen auftraten. Voldemort deutete mit dem Zauberstab blitzschnell in die Richtung, aus der der Bolzen gekommen war und rief: "Avada Kedavra!" Ein gleißender grüner Blitz sirrte laut in die Dunkelheit. Offenbar fand der tödliche Fluch ein Ziel, denn Voldemort konnte einige Dutzend Schritte entfernt etwas niederfallen hören, das bestimmt ein menschlicher Körper war.

"Auge um Auge, Doktor Igor", knurrte Voldemort.

"Gut gezielt, alle Achtung, Lord Voldemort", lobte Bokanowski den englischen Schwarzmagier scheinheilig. "Aber das war mir die Sache wert, diesen aufsässigen Blutsauger zum Schweigen zu bringen", sagte er dann ganz ruhig, als sei der Tod eines seiner Helfer nicht die Rede wert. Voldemort wußte, daß Bokanowski keine Achtung vor irgendeines anderen Leben hatte. Deshalb schenkte er dieser gelassenen Bemerkung keine weitere Beachtung und sagte:

"Ich möchte, daß wir beide uns zusammentun. Du mit deinen Kenntnissen in der Zoonekromantik und ich mit meinen Kenntnissen alter Flüche und Vernichtungszauber werden die Zaubererwelt endlich vom Unrat dieser Muggelfreunde und Schlammblüter reinigen. Ich weiß, daß du dieses Ziel auch verfolgst. Irgendwann wäre es zwischen uns zu einem Mißverständnis gekommen, von dem dann diese schleimigen Verwässerer der wahren Zaubererwelt profitiert hätten. Also, ich biete dir ..." Der zweite Diener Dserschinskis sprang mit gefletschten Zähnen vor und ging zum Angriff auf Bokanowski über. Offenbar hatte es in seinem Gehirn geklickt, daß der Zauberer jetzt keinen hinterhältigen Scharfschützen mehr hatte und angreifbar war, solange er sich mit dem anderen verhaßten Zauberer unterhielt. Bokanowski schien den Angriff nicht erwartet zu haben. Denn erschrocken aufschreiend fiel er hin. Lächzend näherte sich der Vampir dem Hals des Zauberers. Voldemort rief noch, er solle ihn lassen, da schrie Igors Dserschinskis Leibwächter laut auf. Ein sonnenheller Lichtstrahl bging von Bokanowski aus, der dem Vampir genau zwischen die Augen stach und sich wie ein dünner Strahl aus besonders heißem Feuer darin eingrub, immer tiefer in den Schädel des Vampirs bohrte. Dserschinski schlug die Hände vor die Augen. Das Licht blendete ihn und schien auch ihm, der fünf Schritt entfernt war, starke Schmerzen zu bereiten. Er hörte, wie sein zweiter Diener unter tierhaften Schmerzenslauten sein Leben aushauchte, roch den Gestank verbrannten Fleischs, der von dem sterbenden Vampir ausging, als der konzentrierte Lichtstrahl sich ganz in den Schädel seines Dieners hineingebrannt hatte. Ein letzter Schrei, dann erlosch das Licht, und der muskulöse Vampir glitt leblos vom niedergeworfenen Körper Bokanowskis herunter. Voldemort zielte mit seinem Zauberstab auf den am Boden liegenden.

"Das war nicht nötig", knurrte er.

"Er wollte mich mit seinen fauligen Zähnen beißen", spie Bokanowski zurück und stand auf. "Mein kleiner Goldstern voll Sonnenlicht schützt mich vor diesen Blutsaugern. Also, Igor, verschwinde oder ich drück dir das Ding direkt ins Gesicht!"

"Tu was er sagt!" Schnarrte Voldemort gereizt. "Du hast erlebt, daß er deine Leute nicht mag. Vorher wird er nicht vernünftig."

Igor Dserschinski sah Voldemort an, glaubte wohl nicht, daß er einfach abrücken durfte. Doch dann lief er wie ein Hase davon. Irgendwo würde er sich wohl in eine große Fledermaus verwandeln und den Heimweg durch die Luft antreten.

"Was umgibst du dich mit diesen Kreaturen, Lord Voldemort", grummelte Bokanowski. "Du weißtt doch, daß ich keine Vampire mag, wenn ich sie nicht in meinem Labor auf den Untersuchungstisch genagelt habe. Was wir beide miteinander zu besprechen haben ist für den nicht wichtig. Ich bitte also um deine Vorschläge, wie wir das, was du als unser gemeinsames Ziel formuliert hast, durchsetzen können, und zwar als gleichberechtigte Partner."

"Ich treibe dir deine Impertinenz noch aus, Igor", knurrte Voldemort. Dann legte er Bokanowski seine Bedingungen vor. "Du wirst mir eine Liste von Hexen und zauberern geben, die für dich arbeiten oder deine erklärten Feinde sind. Das gleiche werde ich tun. Dann werden wir einen gemeinsamen Schlachtplan entwickeln, das britische und russische Zaubereiministerium zu vernichten und die Zaubererwelt in Aufruhr und Chaos zu stürzen. Aus diesem Chaos werden wir als die Allianz des reinen Blutes hervorgehen, deine treuen Gefolgsleute zusammen mit meinen werden dann die Verwaltung der Zaubererwelt und die Auslöschung aller zaubereiunwerten übernehmen. Deine Kreationen und meine Zauber werden uns beide zur absoluten Macht führen, du in Ost- und ich in Westeuropa. Und wenn ich das kleine Problem, daß ich in Amerika habe beseitigt habe, dann werden wir auch dort Fuß fassen. Also?"

"Du möchtest eine Allianz, eine doppelköpfige Streitmacht gegen die Schlammblüter und Muggelfreunde? Klingt schön, Lord Voldemort. Aber wer sagt dir, daß ich nicht schon längst die Macht in Russland habe und Arcadi nur deshalb noch Minister sein darf, weil ich seine Verwaltungsstrukturen unterwandert habe oder bereits genug Macht angehäuft habe, um ohne fremde Hilfe alles niederzumachen, was mir nicht paßt?"

"Die Tatsache, daß du hier bist und nicht gewagt hast, meiner Aufforderung zu widerstreben", sagte Voldemort überlegen. "Die russischen Jäger sind dir immer hinterher, belauern dich, vereiteln deine Pläne und werden dir bald das Leben nehmen, wenn du dich ihnen offen als Ziel anbietest. Wahrscheinlich sind sie sogar schon unterwegs hierher, weil du mit mir Streit angefangen hast."

"Sollte dies passieren wirst du erleben, daß ich sie nicht zu fürchten habe", erwiderte Bokanowski ebenfalls überlegen lächelnd. "Denn es ist wohl eher so, daß ich nicht gekommen wäre, wenn ich dich oder die Jäger des Ministeriums zu fürchten hätte. Dann wäre ich nämlich in meinem Versteck geblieben, daß weder sie noch deine Leute je finden werden. Erzähl mir auch nicht, daß du einen gleichstarken Partner suchst. Dafür bist du doch viel zu ehrgeizig, besonders nachdem dich dieser Bengel Harry Potter dreimal besiegt hat. Du hättest ihn sofort umbringen sollen, als du seinen widerwärtigen Schutz durchbrochen hast. Jetzt läuft er noch rum, und sein großer Beschützer Dumbledore triumphiert immer weiter über dich. Du suchst wen, der dich stärkt, nicht um mit jemandem brüderlich zu teilen, Bruder."

"Wagst du es, mir vorzuhalten, daß ich diesen Rotzbengel Potter nicht töten konnte und dieser alte Tattergreis Dumbledore sich mir immer noch überlegen fühlt?" Schrillte Voldemort, der schon versucht war, den tödlichen Fluch auszusprechen, um Bokanowskis Frechheiten ein endgültiges Ende zu machen. Doch Bokanowski war nicht dumm. Er würde niemals so frei heraus Voldemorts Niederlagen erwähnen, wenn er dafür sterben konnte. Irgendwas stimmte hier nicht, und Voldemort wußte nicht, was es war. Und bis er es herausfand durfte er seine Beherrschung nicht verlieren. Dann grinste er überlegen. Er sah Bokanowski an und sprach weiter: "Ich möchte dir was verraten, weil ich weiß, daß du es ihm bestimmt nicht weitererzählen wirst. Der alte Zausel Dumbledore wird nicht mehr lange leben, so oder so, und dieser Mischblüter Harry Potter wird auch nicht mehr lange leben. Wenn du diese ekelhafte Impertinenz nicht ablegst, Igor, wirst du es nicht mehr mitbekommen, wie ich, Lord Voldemort, diesen Triumph auskosten werde. Ist heute ein schöner Tag zum sterben?"

"Das kannst du herausfinden, Lord Voldemort", sagte Igor unbeeindruckt. Unvermittelt erklangen aus drei Richtungen gleichzeitig die verderblichen Worte "Avada Kedavra!" Voldemort zuckte zusammen, als drei Todesflüche gleichzeitig heransirrten und ihn knapp verfehlten und in den hohlen Baumstamm einschlugen. Krachend explodierte der Baum in einem Wirbel aus Feuer und glühenden Holzspänen. Voldemort lag bereits in Deckung, ebenso Bokanowski. Als der Schauer davonfliegender Funken und glühender Holzstücke abgeebbt war und die nun lichterloh brennenden Trümmer des Baumes die Nacht erleuchteten, erkannte der dunkle Lord, daß Bokanowski wahrlich genug Helfer mitgebracht hatte, ihn zu beschützen. Selbst wenn er ihn tötete würden sie ihn angreifen und vielleicht mit mehreren Todesflüchen gleichzeitig überwinden, auch wenn Harry Potters Blut ihn vor diesem Schicksal schützen sollte. Dann war da noch was, daß dem englischen Dunkelmagier in den Sinn kam. Die drei Rufer hatten so geklungen wie Bokanowski.

"Du siehst, ich habe genug Macht angesammelt, Lord Voldemort. Du kannst mit dem Fluch nur einen zur Zeit angreifen. Aber es sind mindestens noch drei im Dunkeln, die du nicht finden kannst. Denn sie tragen neuere Tarnumhänge, die selbst den Lebensquellfinder blockieren. Also sage es mir, großer Meister, willst du wirklich Partner oder Diener an deiner Seite haben?"

"Wie gesagt, Igor, Osteuropa bis runter nach Zypern und vielleicht sogar die ganze Türkei für dich, der Westen und Amerika für mich. Was Australien angeht, es ist noch zu weit weg und zu öde, als daß wir uns darum streiten sollten. Wenn ich England habe, fällt mir Australien auch in den Schoß. Was du dann davon haben willst klären wir später."

"Eines klären wir sofort, Lord Voldemort: Du wirst dich in Russland und dem übrigen Osteuropa nicht mehr in Zauberersachen einmischen, das betrifft auch die Kolonie der Riesen, und ich lasse dich westlich der Oder-Neiße-Linie machen, wonach dir gerade ist. Keiner von uns oder ein Helfer von ihm betritt mehr das Territorium des anderen. Wenn was zu besprechen ansteht, werden wir einen neutralen Treffpunkt aushandeln oder Parlamentäre schicken. Wenn du damit einverstanden bist, Lord Voldemort, dann schlag ein!"

"Da es meinem Angebot entspricht, nehme ich an", sagte Voldemort leicht ungehalten. Dann nahm er Bokanowskis Hand. Dieser lächelte zufrieden und sagte:

"Noch was, Lord Voldemort: Vergiss Igor Dserschinski! Er hat es gewagt, ohne meine Einladung in mein Land zu kommen, hat zwei seiner Diener gegen mich angehen lassen und ist noch dazu ein stinkender Blutsauger. Dafür werde ich ihn büßen lassen. - Habe ich dir schon erzählt, daß ich keine Vampire mag? - Also Dserschinski ist nicht mehr für dich zu haben. Höchstwahrscheinlich werde ich dir seinen Kopf bald zuschicken. Du kannst mir den von Dumbledore ja als Gegengeschenk zuschicken."

"Dserschinski gehört nicht zu unserer Abmachung", knurrte Voldemort. "Du magst keine Vampire. Ich will sie aber in meiner Streitmacht haben. Er ist sehr anerkannt unter ihnen und soll mein Unterbefehlshaber sein."

"Such dir andere Blutsauger, die nicht in meinem Territorium herumfleuchen! Frage doch Hirudazo, den Blutsauger aus Asturien, ob er sich von dir herumkommandieren läßt!"

"Hirudazo hat sich selbst an die Wand von Espinados Burg geklatscht wie eine dumme, blinde Schmeißfliege gegen eine Fensterscheibe", schnaubte Voldemort wütend. Bokanowski grinste sehr feist und feixte:

"Oh, das wußte ich noch nicht. Schön für Espinado. Öhm, wußtest du, daß er ein Werwolf ist? Mag ich zwar auch nicht sonderlich, aber deren Blut ist so gut brauchbar."

"Espinado und dieser Hirudazo haben sich gegenseitig ausgelöscht", fauchte Voldemort.

"Ui, dann hoffe ich, daß du da noch genug Freunde findest, die ihnen nicht nacheifern und sich gegenseitig umbringen wollen. - Nun, ich gebe dir zehn Minuten, mein Land zu verlassen. Ansonsten würde unsere Partnerschaft in den Krieg münden, den du nicht haben willst. Wie gesagt: Finger weg von Dserschinski! Jeder weitere Ansatz, mit dem zusammenzuarbeiten würde mich sehr sehr wütend machen. - Oh, nicht doch." Voldemort zielte mit dem Zauberstab auf Igor Bokanowski. Doch dieser wies mit der freien Hand über seine Schultern, willkürlich. Irgendwo da draußen standen seine Leute. Sollte Voldemort es darauf anlegen, dem Todesfluch ausgesetzt zu werden? Da fiel ihm ein, daß sie auch Feuerkugeln auf ihn schleudern konnten, wenn er ihren Anführer tötete. So senkte er seinen Zauberstab und spie zum Abschied:

"Auch wenn es dir nicht paßt, Igor Bokanowski, werde ich meine Vampirstreitmacht aufbauen, mit oder ohne Dserschinski. Wenn er sich in mein Land verirrt, läßt du deine Finger von ihm. Ab jetzt ist jeder von beiden ein Jäger der im Revier des anderen zur Jagdbeute wird. Kein Burgfrieden, keine Fehde, nur ein Status quo." Er stampfte auf den Boden und wollte disapparieren. Doch irgendwas hielt ihn wie an starken Ketten zurück.

"Ach, das habe ich vergessen. Unter dem Baum ist ein Apparitionshemmer verbuddelt, damit nicht doch irgendwelches Ministeriumspack herkommen kann. Also lauf, Lord Voldemort. einen Kilometer mußt du zurücklegen, bevor du endgültig abreisen kannst. Du hast jetzt etwa neun Minuten Zeit."

Voldemort schnaubte wütend. Doch dann besann er sich. Er wollte nicht Weglaufen. Diesen Gefallen wollte er diesem russischen Frechling nicht tun. Er hob seinen Zauberstab und rief: "Accio Nimbus!" Zehn Sekunden später sauste ein Nimbus 2001 herbei und hielt bereit zum aufsteigen neben seinem Beschwörer. Voldemort saß auf und trieb den Besen zu einem Blitzstart an. Bokanowski sah ihm grinsend nach, tippte sich mit seinem linken Ringfinger an die Stirn und konnte ihm in die Dunkelheit nachspähen. Auch sah er aus der Ferne anfliegende Besen mit Leuten in Wolfsfellumhängen und kegelförmigen Pelzmützen auf den Köpfen. Das waren Ministeriumszauberer.

"Mann, seit ihr langsam", dachte er spöttisch. Dann konzentrierte er sich: "Alle zurückziehen, Ministeriumszauberer im Anflug!" Dachte er. Dann drehte er sich auf dem Absatz und verschwand. Denn er hatte Voldemort nicht die ganze Wahrheit gesagt. Der Hemmer unter dem Baumstumpf blockierte das Apparieren und Disapparieren, aber nicht von dem, der etwas von seinem Blut in den Hemmzauber eingebracht hatte.

Als die Ministeriumszauberer den immer noch brennenden Trümmerhaufen erreichten fanden sie niemanden mehr vor außer drei Leichen, zwei in schwarz mit bleichen Gesichtern, bei einer ein häßlich verkohltes Loch zwischen den Augen, aus dem es immer noch nach verschmortem Fleisch stinkend qualmte. Die zweite bleichgesichtige Leiche hatte einen Armbrustbolzen aus Eichenholz in der Brust stecken, dessen Spitze links von der Wirbelsäule aus dem Rücken stak. Die dritte Leiche erregte die angerückten Zauberer am meisten. Denn es handelte sich bei dem zwanzig Meter entfernt liegenden Toten, der keine äußerliche Verletzung aufwies um einen kleinen, gedrungenen Mann mit dunklem Schopf und kohlschwarzen Augen, die aus einem langen, beinahe dreieckigen Gesicht ausdruckslos in die Nacht starrten.

"Die beiden bei dem Feuer waren Vampire", sagte einer der pelzmützigen Zauberer.

"Offenbar hat das befürchtete Treffen hier stattgefunden. Diese verdammte Tarnung hier", knurrte ein weiterer Zauberer. Es war Juri Petrov persönlich. "Wahrscheinlich kam es zu einer Meinungsverschiedenheit, und dabei starben die Vampire, bestimmt Begleiter dieses Voldemort und ... ich mag es gar nicht glauben, auch er hier." Er deutete auf den dritten Toten, der zweifelsfrei Igor Bokanowski war. Zweifelsfrei? Juri mochte sich nicht vorstellen, daß die beiden gefürchteten Zauberer sich hier einen Kampf geliefert hatten. Sicher, Voldemort galt als übermächtig und skrupellos. Doch selbes galt auch für Igor Bokanowski. Hinzukam, daß beide nicht so dumm waren, den jeweils anderen zum äußersten zu reizen. Doch hier vor ihm lag der leblose Körper von Igor Bokanowski, dem kurz zuvor auf Gefahrenstufe 12 aufgewerteten Schwarzmagier.

"Offenbar hat sich Igor Bokanowski zu viel herausgenommen, war sich seiner Sache wohl zu sicher", sagte ein drahtiger Zauberer, dessen Vater einst von Bokanowski getötet wurde. Daraus resultierte das hämische Grinsen des gerade dreißigjährigen Zauberers, der seinen rechten Fuß anhob und auf den Toten zubewegte.

"Na, so nicht, Pawel. Auch wenn er ein gemeingefährlicher Folterer und Massenmörder war müssen wir seine sterbliche Hülle so respektieren wie jeden anderen Toten auch", maßregelte Juri seinen Mitarbeiter, der nach der Leiche treten wollte. "Außerdem sollte es uns nicht freuen, wenn ein anderer Massenmörder hier in unserem Land seinen Konkurrenten auslöscht, um dessen Platz und Revier zu übernehmen. Drei Leichensäcke. Wir bringen die Toten zur Untersuchung. Nicht das noch unklar wäre, woran sie gestorben sind."

"Können wir den Alarm dann aufheben?" Fragte ein anderer Zauberer, der sichtlich froh zu sein schien, daß die Gefahrenquelle Bokanowski beseitigt war.

"Was Bokanowski angeht noch nicht, weil wir nicht wissen, wer alles für ihn gearbeitet hat und was sich in seinen teuflischen Labors noch an höchst gefährlichen Hinterlassenschaften befindet, die sich Voldemort oder ein anderer aneignen könnte. Denn wir wissen nicht, ob Bokanowski ihm nicht alles verraten hat, was seine Macht ausmacht. Also bleibt die Alarmbereitschaft bestehen, bis wir diese Fragen alle geklärt haben."

Die Ministeriumszauberer schafften die drei Leichen fort und löschten den brennenden Trümmerhaufen, der einmal ein hohler Baum gewesen war.

__________

Voldemort näherte sich auf dem Besen dem Eingang zum unterirdischen Stollensystem, in dem Dserschinski und seine Vampirbrüder und Schwestern vor der Sonne sicher waren. Er wäre gerne in unmittelbarer Nähe appariert. Doch frühere Erfahrungen hatten ihm schmerzhaft gezeigt, daß die Höhle von einem Wall umgeben war, der das plötzliche Auftauchen von Feinden vereitelte. Zwar würde der Dunkle Lord einen Weg finden, diese Sperre zu umgehen, ähnlich wie er es bei der Befreiung seiner in Askaban gefangenen Mitstreiter geschafft hatte, aber es galt zunächst, sich diesen stolzen Blutfürsten als willigen Knecht zu sichern. Jetzt, wo Bokanowski Vergeltung an ihm üben wollte, konnte Voldemort sich sicher sein, die Widerspenstigkeit dieses Nachtgeschöpfes auszutreiben. So flog er auf den verborgenen Höhleneingang zu und setzte bereits zur Landung an, als der Boden unter ihm aufriss und ein großer Schwarm menschengroßer Fledermäuse aus dem Boden emporschwirrte und in alle Richtungen davonstob wie von einem Gewehrschuß aufgescheuchte Wildvögel. Da wußte er, daß Igor Dserschinski nicht abwarten wollte, wer von den beiden Zauberern wie über ihn befand. Der Schwarm flüchtender Fledermauswesen trieb Voldemort dazu, etwas höher zu steigen und zu beobachten, wie die das Versteck räumenden Vampire sehr rasch fortflogen. Dann sah er eine etwas größere Fledermaus, die aus dem Schwarm der anderen ausscherte und genau auf den Besen zuhielt, der einige Dutzend Meter über dem weit aufgerissenen Erdboden seine Kreise zog. Dahinter flog ein weiterer Vampir. Voldemort fühlte die Nähe eines bekannten Bewußtseins.

"Na, bist du gekommen, um mich zu töten oder mir anzubieten, mich deiner Gnade zu unterwerfen und wie ein Knecht zu dienen?" Klang Dserschinskis lautlose Stimme in Voldemorts Geist. Der dunkle Lord knurrte verächtlich und steuerte auf den in Riesenfledermausgestalt anfliegenden Vampir zu.

"Er wird dich wie eine Laus zwischen den Fingern zerquetschen, wenn du dich hier weiterhin herumtreibst", mentiloquierte Voldemort dem Vampirfürsten. Dieser zirkelte einmal um ihn herum, während die zweite Fledermausgestalt sicheren Abstand hielt.

"Vergiss es, dunkler Lord. Wie anmaßend dieser von dir selbst beanspruchte Titel doch ist. Ich wußte, daß ihr beiden mich nicht länger als nötig braucht. Leb wohl!" Erwiderte Dserschinski.

"Komm sofort zurück!" Brüllte Voldemort und zückte seinen Zauberstab. Doch da verdichtete sich der Schwarm der Vampire genau um ihn herum und wuselte so wild durcheinander, daß der schwarze Magier nicht hätte sagen können, wer von denen jetzt Igor Dserschinski war oder nicht. Die Überlegenheit des Schwarms gegenüber einem einzelnen Feind trieb Voldemort fast zur Weißglut. Er rief noch, daß Igor noch auf Knien zu ihm kriechen würde, sollte Bokanowski ihn solange leben lassen. Dann stürzten sich sechs Vampire gleichzeitig auf den dunklen Lord. Dieser zog sein Vampirabwehramulett unter dem Umhang hervor, das sofort sonnenhell aufglühte. Der Ansturm der Blutsauger brach sich zwei Meter vor dem dunklen Lord, und die Angreifer sackten wie abgeschossene Flugenten nach unten durch. Dann sah Voldemort, wie sich die übrigen Vampire in kleineren Schwärmen absetzten. In welchem die beiden Anführer mitflogen konnte der dunkle Lord nicht sehen. Denn Dserschinskis Bewußtsein war nicht mehr zu fühlen. So flog Voldemort davon, unbehelligt von weiteren Vampiren. Er gab für das Leben des Vampirfürsten keinen Knut mehr. Doch wer wußte schon, ob dieser Blutsauger nicht doch noch sein getreuer Helfer werden mochte. Immerhin konnte er sich auf die englischen und deutschen Vampire verlassen, deren Anführer bereits ihre Untergebenheit bekundet hatten. Sollte dieser Bokanowski doch seinen Spaß mit den Vampiren haben. Voldemort wußte ja schon, daß er sich nicht allzu lange an das getroffene Abkommen halten mußte. Wenn ihm erst die Waffe Yanxothars in die Hände fiel, von der er nun endlich wußte, wo sie war, würde er dem Russen eine unbesiegbare Streitmacht entgegenschicken, die ihn vor die gleiche Wahl stellte wie den Vampirfürsten, Unterwerfung oder Tod.

Er flog einige Dutzend Kilometer weit, landete und disapparierte, um in seinem Versteck, dem alten Riddle-Haus, zu erscheinen, wo er am nächsten Morgen erfuhr, daß sein Feldzug gegen die Hexen der Nachtfraktion einige seiner eifrigen Todesser das Leben gekostet hatte, zumindest das Leben, das sie noch vor einigen Tagen geführt hatten.

"Verdammt, wer führt diese Huren an. Ich habe diese Ursina doch erledigt!!" Brüllte er seinen Diener McNair an.

"Wir haben versucht, die Verwandten dieser Underwood zu erwischen. Aber sie haben sich wohl schnell versteckt. Könnte sein, daß sie in Rainbowlawn sind."

"Medeas Stammsitz", knurrte Voldemort. "Dann werden wir sie da eben ausradieren. Wir machen dasselbe wie bei dieser Ursina."

"Herr, bitte bestraft mich nicht für diese Nachricht, aber Rainbowlawn wurde unortbar und Fideliusbezaubert."

"Na und? Das war das Underwood-Haus auch", fauchte Voldemort. "Trotzdem habe ich dieses Weib mit dem Sanguirogum-Fluch herausgetrieben und sie ausgelöscht. Wir wissen doch ungefähr, wo Rainbowlawn liegt, oder?"

"Nicht mehr da, wo es vor sechzehn Jahren noch lag, Herr", sagte McNair sehr ängstlich. Der sonst so gnadenlose und unerschütterliche Henkersknecht, der vor Voldemorts Rückkehr als gefährlich eingestufte und verurteilte Tierwesen hingerichtet hatte bangte nun um sein eigenes Leben, das mit jedem weiteren Wort ein grausames Ende finden konnte.

"Rainbowlawn ist ein großes Anwesen mit einem Waldstück und diesen weibischen Blumengärten. Du willst mir doch nicht erzählen, daß das einfach spurlos verschwunden sein soll", schnaubte Voldemort.

"Die Wälder sind auch noch da. Aber dort, wo die Gärten und die Gebäude gestanden haben, ist jetzt ein kleiner See."

"Illusionszauber, nichts anderes", fauchte Voldemort verächtlich. "Ich werde denen schnell beikommen. Schließlich wurde dem Ritter Lanzelot nachgesagt, eine Magierin habe ihn in Merlins Auftrag vor Unheil beschützt, indem sie seinen Feinden einen See vorgespiegelt hat. So wird das auch laufen. Morgen werde ich das regeln."

"Nein, Herr, es ist ein richtiger See. Kurz nachdem ... öhm, nachdem Ihr uns für unbestimmte Zeit verlassen mußtet haben Fudges Leute diesen See eben auf solche Zauber untersucht. Er ist aber echt, und auf seinem Grund ist nichts zu finden. Es heißt nur, daß Rainbowlawn nicht ganz verschwunden ist, sondern anderswo neu errichtet wurde, jedoch bis heute nicht zu finden war."

"Spatialis Commutatus", knurrte Voldemort, dem einfiel, wie ein solcher Umsiedlungsvorgang unbemerkt und vor allem schnell geschehen konnte. "Diese Rainbowlawn-Hexen haben einen unberührt daliegenden See gefunden und ihn mit langwierigen Zaubern umgeben, die sie auch auf ihr Grundstück selbst anwandten. Bei Erreichen einer bestimmten Planetenkonstellation tauschten die beiden umfaßten Gebiete ihren Platz im Raum. Ich hätte mir denken müssen, daß diese Medea-Anbeterinnen diesen mächtigen Zauber wirken können. Vermaledeit seist du, Harry Potter und alle deine dreckigen Vorfahren!"

"Ihr könnt ihn nicht verfluchen, solange er ..."

"Stupor!" Schnarrte Voldemort und schockte den Henker. Natürlich konnte er Harry Potter nicht aus der Ferne verfluchen, weil Dumbledores Zauber ihn schützte. Aber das mußte er sich nicht von diesem Kopfabschläger vorhalten lassen. Der sollte froh sein, daß er ihm nicht gleich den Todesfluch übergebraten hatte. Er ärgerte sich. Seine Pläne, in Osteuropa wichtige Verbündete zu finden waren gerade einmal halb erfolgreich verlaufen, und diese Hexenbrut der Nachtfraktion hatte sich heftig gegen die gerechtfertigte Auslöschung gewehrt, ja hatte einige seiner Todesser umgebracht, beziehungsweise in ihre einzelnen Körperteile zerlegt, die durch den alten babylonischen Zergliederungsfluch nicht starben. Woran erinnerte ihn das? Auf diese Frage fand er rasch die Antwort. Nach Halloween im letzten Jahr war es passiert, daß in Amerika ein völlig unsinniger Streit zwischen dunklen Orden ausbrach, bei dem auch Zauberer derartig zergliedert wurden. Die Schwarzbergs und die Anhänger Mortitius Cobleys hatten sich dabei fast restlos vernichtet. Aber wenn dabei auch die umgekommen waren, die den Zergliederungsfluch konnten ... Ein wütender Aufschrei entfuhr dem bleichen Schädel Voldemorts. Das hätte ihm früher klarwerden müssen. Natürlich hatte jemand diesen Streit angefacht, um rivalisierende Bruderschaften zu vernichten, ohne selbst dabei in Erscheinung treten zu müssen. Unmittelbar mit dieser Erkenntnis sah er diese Hexe in Rosa vor sich, die ihn in den Sümpfen Floridas eine schmachvolle Niederlage beigebracht hatte. Ja, die war es, erkannte Voldemort und kochte vor Wut. Die hatte seine möglichen Verbündeten in den Staaten gegeneinander aufgehetzt, um sie loszuwerden, um deren Gebiet zu übernehmen, ohne eigene Verluste, eine bewährte Kriegstaktik, noch dazu typisch für durchtriebene Weiber, die sich daran ergötzten, wenn Männer ihretwegen zu wild aufeinander einprügelnden Halbaffen wurden. Aber mit dieser Hexe hatte er eh noch ein großes Huhn zu rupfen. Doch bei diesen Gedanken des Zorns schwang auch eine unleugbare Beklommenheit mit, daß es vielleicht jemand war, gegen den selbst er, Lord Voldemort, auf verlorenem Posten stehen konnte. Denn daß die ihm mindestens einmal ebenbürtig erschienene Hexe die körperliche Erscheinungsform einer Schwester von Barty Crouch Junior hatte, deutete darauf hin, daß es eine Wiederkehrerin war. Also hatte eine Hexe aus vergangener Zeit eine Methode gefunden, ihren natürlichen Tod zu überdauern, wie er. Doch sie hatte wohl kein Horkrux benutzt, denn dann wäre sie wie er am Körper immer mehr verunstaltet gewesen, wie er, der den Preis der beinahen Unsterblichkeit bezahlt hatte. Was hatte dieses Weib ihm gesagt, er solle ja nicht über die Grenzen Englands hinausgehen? Aber sie meinte, in seinem Land herumfuhrwerken zu können. Das durfte er sich nicht gefallen lassen. Doch wenn er wieder nach Amerika ging, würde dieses Weib die Gunst der Stunde nutzen und weitere Todesser umbringen, um denen zu zeigen, daß er sie nicht beschützen konnte, sie ihm wirklich egal waren. So wollte er erst überlegen, wie er sein hier angeknackstes Bild als grausamer Vollstrecker reparieren konnte. Außerdem, wenn er Yanxotahrs Erbe hatte, konnte er jeden Feind und vor allem jede Feindin mit einem Schlag aus der Welt stoßen. Sollte sich diese Wiederkehrerin doch noch in dem kurzfristigen Erfolg sonnen. Doch dann dachte er daran, wer sie wohl sein mochte. Sie hatte ihm angedeutet, sie spreche Französisch. Außerdem hatte ein Angriff mit dem Imperius-Fluch nicht mehr bewirkt als daß er einen widerlichen Frauenchor hörte, der die Hymne dieser Sardonia gesungen hatte. Sardonia! Falls sie es war, die da wiedergekehrt war, dann hatte er allen Grund, sehr behutsam gegen sie vorzugehen. Doch Sardonia war von Dementoren getötet worden. Deshalb konnten die als einzige in den gegen dunkle Kräfte ausübende Personen oder Kreaturen schützenden Bereich um Millemerveilles eindringen. Doch was, wenn sie vorher eine Möglichkeit gefunden hatte, ihre Persönlichkeit zu verdoppeln, also eine dem Horkrux überlegene Seelenmagie erfunden hatte? Dann mochte sie wahrlich überdauert haben. Immerhin würde es erklären, daß sie sich ihm so gut widersetzen konnte, ja sogar einen eigenen Avatar rufen konnte, der ihm den Rest gegeben hatte. Das wollte wohl bedacht sein, wie er gegen eine solche Gegnerin vorgehen sollte. In diesem Fall war es klug, sich erst auf die offiziell gegen ihn arbeitenden Hexen und Zauberer, wohl besser erst die Zauberer, zu besinnen und sie auszuradieren. Er wollte Dumbledores Phönixorden zerschlagen, ihn mit Stumpf und Stiel ausrotten. Wenn er sich jetzt auf einen direkten Schlagabtausch mit dieser sehr mächtigen Hexe einließ, fand der alte Muggel- und Schlammblutbeschützer genug Zeit, den Widerstand gegen ihn zu stärken, und das durfte er sich nicht gefallen lassen. So wollte er einstweilen so tun, als sei er nicht über die Entwicklung in England informiert worden oder habe keinen Grund, zurückzuschlagen, weil seine Leute ohne seine Anweisungen gehandelt und dafür die gerechte Strafe erhalten hätten. Sollte er die Gelegenheit bekommen, diese Hexe und die ihr folgenden Bundesschwestern auf dem falschen Fuß zu erwischen, wie sie es mit ihm geschafft hatten, würde er keine Gnade üben und sie ohne weiteres Wort töten.

__________

Der Ahornholzzauberstab lag warm und einsatzbereit in ihrer linken Hand. Vor ihr, keine zwanzig Schritte entfernt, gähnte der schwarze Schlund eines aufgegebenen Förderschachtes. Hier hatten die Muggel vor fünfzig Jahren einmal nach Gold gegraben, wußte die Hexe, die in ungewohnter derber Kleidung auf den Eingang zuschritt, langsam und immer auf einen plötzlich aus dem Schacht emporfahrenden Angreifer gefaßt. Hier sollte er sich also verstecken, Mongrull, der König der Schwarzfelskobolde. Diese Abart, die nur hier in Australien vorkam und durch etwas entstanden war, daß erst die Muggel dieser Tage richtig enthüllt hatten, floh das Licht und bezog ihre Kraft aus Edelmetallen.

"Auf das ich dich gleich endgültig erledige, du Abschaum", knurrte Nimoe Fungrove, die Führerin der entschlossenen Hexenschwestern Australiens. Sie wollte diese Schwarzfelsler davon abhalten, sich dem Emporkömmling Voldemort zu unterwerfen, jetzt, nachdem die Shadelakes erledigt waren. Doch es war nicht so einfach gewesen, den Unterschlupf Mongrulls zu finden. Denn die Schwarzfelsler wurden auch von den anständigen Kobolden gemieden. Denn sie waren doppelt so groß wie die üblichen Kobolde und hatten Fähigkeiten, mit denen diese schwer fertig wurden, so zum beispiel sich mit massiven Felsen zu verschmelzen oder mit ihren eigenen Schatten zu einer halbstofflichen Einheit zu werden, die, solange sie nicht in einen erleuchteten Bereich geriet, wie ein bösartiger Geist angreifen konnte, ohne selbst verletzt werden zu können. Diese Kreaturen durften sich dem Emporkömmling nicht unterordnen, wenn er es wagen sollte, nach Australien zu kommen. Also mußte sie den König dieser Geschöpfe besiegen und damit die streng hierarchisch lebenden Schwarzfelskobolde empfindlich treffen, ihnen gewissermaßen den Kopf abschlagen.

Ihre Verbündete, die Sonne, schickte bereits die letzten purpurroten Strahlen über den Horizont. Gleich würde das Tagesgestirn versinken, und ob Nimoe es wieder aufgehen sehen würde, war dann fraglich. Denn sie wußte, hier und heute mußte sie Mongrull bezwingen, jetzt, wo sie seinen Stützpunkt ausgekundschaftet hatte. Einige ihrer Bundesschwestern hielten sich in etwa einem Kilometer Abstand bereit. Doch Nimoe wußte, ein durchschlagender Erfolg gegen diese Abart der Kobolde war ihr nur sicher, wenn sie, die oberste Führerin der entschlossenen Schwestern, den König alleine vernichtete.

Sie dachte auch daran, daß die Schwarzfelskobolde die unheimliche Macht jenes Erzes bündeln und gegen ihre Feinde richten konnten, dem sie ihre Entstehung verdankten, dem, was die Muggel Uranium nannten und von ihnen in besonderen Brennöfen verheizt wurde, weil es hundertmal mehr Wärme als die gleiche Menge Steinkohle hervorbringen konnte.

"Heute wird sich zeigen, wer von uns beiden weiterleben darf", dachte Nimoe Fungrove, als sie den Förderschacht erreichte. Schnell wirkte sie den Vivideozauber, der die Ausstrahlung lebender Wesen anzeigte und schwenkte ihren Zauberstab einmal herum. Ja, unten war etwas, vier Lebewesen. Da verschwand eine Quelle. Mochte es sein, daß an den Behauptungen doch etwas dran war, daß Schwarzfelskobolde sich total tarnen konnten, für Menschenaugen, sowie Aufspürzauber? Dann würde sie gleich mit einem unsichtbaren Angreifer zu tun kriegen. Doch Schwarzfelskobolde mieden das Tageslicht. Es schwächte ihre Körper, wenngleich sie nicht von ihm verletzt wurden wie Vampire. Dann würde in dem Moment, wo die Sonne endgültig versunken war der entscheidende Kampf losgehen. Sie löschte den Lebensquellenfinder und überlegte, welchen Zauber sie benutzen konnte, um einen unsichtbaren Gegner sichtbar zu machen, auch wenn dieser jedem Aufspürzauber entging. Jedenfalls mußte sie eine starke Lichtquelle erschaffen, um die Schattenform des Kobolds abzuwehren. Vielleicht konnte sie aber auch mit einem mehrfach gestaffelten Feuerring um den Schacht den Angreifer bändigen, ob unsichtbar oder nicht. Ja, so mußte es gehen. Sie murmelte: "Initio incantatem!" Dann ging sie mit auf den Boden deutendem Zauberstab um die Schachtöffnung herum, wobei sie immer wieder "Praeparo Flammanulum" wisperte. Als sie den Schacht umkreist hatte, verglühte der letzte Sonnenstrahl genau auf dem Horizont. "Flammanulus!" Rief Nimoe. Mit einem lauten Fauchen schoss um dem Schacht eine mehr als zwei Meter hohe Wand aus orangen Flammen nach oben und blieb leise zischend stabil stehen. Nun eilte die Führerin der australischen Nachtfraktionshexen um diesen Feuerring herum und beschwor einen zweiten solchen Flammenkreis. Sie wußte, daß selbst die Schwarzfelskobolde nicht fliegen konnten. Wie auch immer Mongrull aus dem Schacht herauskommen würde, die beiden Flammenringe würden ihm bestimmt nicht gefallen.

"Was fällt dir ein, hier Feuer hinzumachen!" Schnarrte eine wütende Stimme aus dem Schacht. Durch die beiden Flammenwände konnte sie so oder so niemanden erkennen. Sie schwieg. "Ey, mach dieses verdammte Feuer aus!" Bellte die wütende Stimme wie ein angriffslustiger Schäferhund. "Das ist mein Reich hier. Da hat keiner Feuer hinzumachen. Ekelhaftes Zauberfeuer, Sauzeug!" Schimpfte die aus dem Schacht kommende Stimme wie ein Rohrspatz. Dann knisterte es ziemlich laut. Aus der inneren Flammenwand flogen blaue und rote Funken heraus. Nimoe hielt den Zauberstab bereit, den Gegner anzugreifen. Da fiel die innere Feuerwand mit lautem Knall in sich zusammen. "Tja, das Strahlenerz ist eben gegen jedes Feuer gut", triumphierte die Stimme, die nun außerhalb des Schachtes war. Jetzt konnte Nimoe das nachtschwarze Geschöpf mit den eisblauen Augen erkennen, das einen Kopf größer als sie war und neben einem dichten Pelz zwei spitze Ohren, lange Finger und Zehen wie ein auf Bäumen lebender Affe besaß. Im Schein des zweiten Feuerrings starrte die Kreatur auf die Hexe hinter der Absperrung aus Zauberfeuer. Dann wurde die Kreatur unsichtbar. Nimoe hörte sie noch wild schnauben. Dann schlugen blaue Blitze von innerhalb des Flammenrings in die stetige Feuerwand und brachten sie zum flackern und schließlich zum Zusammenbrechen. Die beiden Barrieren waren fort. Jetzt konnte und würde der Schwarzfelskobold angreifen, wußte Nimoe. Doch schnell rief sie den Todesfluch aus, bevor der Kobold sich in seine Schattenform verwandeln würde. Der grüne Blitz sirrte auf die Stelle zu, wo das Geschöpf eben noch zu sehen war und zersprühte laut prasselnd. Ein kurzer Aufschrei und dann ein überlegenes Lachen erscholl.

"So kriegt mich keiner. Ich bin unbesiegbar!"

"Der kann sich gegen den Todesfluch schützen?" Fragte sich Nimoe, bevor ihr einfiel, in Deckung zu springen. Gerade noch rechtzeitig lag sie am Boden, als ein kaum leuchtender bläulicher Strahl über sie hinwegzuckte. Sie fühlte ein leichtes Kribbeln auf dem Rücken. Dann sah sie die beinahe flache Erscheinung auf sich zukommen. Der Kobold hatte es vorgezogen, nicht unsichtbar anzugreifen. Das war sein Fehler, dachte Nimoe, als sie wortlos einen gleißenden Lichtblitz in die anstürmende Schattengestalt hineinschickte. Laut jaulend prallte der eigenständige Schatten zurück, bekam wieder dreidimensionale Konturen und verschwand. "Ich kriege dich, Weib! Mein nächster Todesstrahl macht dich alle!"

"Glaube ich nicht", dachte Nimoe und rollte zur Seite weg, wobei sie sich auf einen Punkt auf der anderen Seite des Schachtes konzentrierte. Mit lautem Knall disapparierte sie, um im gleichen Moment am ausgesuchten Zielpunkt zu reapparieren. Sie wirbelte herum und erwartete den Angriff des Schwarzfelslers, der eindeutig Mongrull war mit einer vor sich errichteten breiten Feuerwand, die an die drei Meter hoch aufloderte.

"Verdammtes Feuerhexenweib. Läßt du diese widerlichen Flammen mal weg, wenn du mit mir kämpfen willst!" Brüllte der Kobold. Da rumpelte es im Boden. Nimoe erschrak. Da schoss links und rechts von ihr eine Staubfontäne hoch und das höhnische Gelächter zweier unsichtbarer Feinde scholl schmerzhaft in ihren Ohren. Mongrull verließ sich nicht darauf, alleine mit der Gegnerin fertig zu werden. Fairness war für diese abartigen Kobolde auch ein Fremdwort.

"Macht sie tot!" Brüllte Mongrull jenseits der Feuerwand. Nimoe Fungrove rechnete damit, daß die beiden Unsichtbaren sie sofort anspringen und niederreißen würden. Sie riss den Stab hoch und dachte "Sensofugato!" In dem Moment, wo ein gleißender Blitz und ein lauter Knall vom Zauberstab aus losgingen prallten die beiden unsichtbaren Angreifer auf sie. Die nicht mehr ganz so junge Hexe fiel zu Boden. Doch mehr passierte ihr nicht. Den Angreifern war durch ihren raschen Zauber Hören und Sehen vergangen. Eine Minute würde dieser Flächenschockzauber vorhalten. In dieser kurzen Zeit mußte die Lady das Blatt wenden. Ihr fiel ein, was die vor kurzem unter merkwürdigen Umständen verschwundene Delila Pokes ihr noch erzählt hatte. "Schwarzfelskobolde meiden alles, was Blei enthält. Es wirkt auf sie wie fließendes Wasser auf Sabberhexen und Vampire." Deshalb hatte sie, wenn ihre Flüche nicht richtig wirkten, noch etwas in ihrer Tasche, eine kurze, vorne scharf und spitz geschliffene Bleistange. Sie rappelte sich auf, sah auf die Feuerwand, hinter der jedoch nichts zu erkennen war. Links und rechts von sich konnte sie zwei affenartige Kreaturen mit tiefschwarzer Hautfarbe und dichter Behaarung sehen. Das waren die Angreifer, die durch die Berührung mit ihr ihre Unsichtbarkeit verloren hatten. Sie holte die kurze, angespitzte Bleistange aus ihrer Umhangtasche und stieß sie entschlossen in die Haut des rechten Angreifers. Dieser zuckte zusammen und verfiel in eine totenähnliche Starre. Sie zog das Blei wieder aus der Haut des Schwarzfelskoboldes. Dann rammte sie dem zweiten Angreifer das angespitzte Blei in den Leib, mit demselben Resultat.

"Ich zerstrahle dich!" Brüllte Mongrull, der sich offenbar von seiner Betäubung erholt hatte. Nimoe warf sich zur Seite, als wieder dieser schwach blau leuchtende Strahlenstoß auf sie zuschnellte, keinen Laut von sich gebend. Wenn damit jemand getötet werden konnte ...

"Vorbei!" Brüllte Nimoe. "Jetzt bist du fällig! Bolligius!" Sie deutete mit ihrem Zauberstab in die Richtung, wo der Angreifer gestanden haben mochte und schickte einen Feuerball dorthin, der ungebremst über den Zielpunkt hinausfauchte und fünfzig Meter weiter fort mit dumpfem Knall in rotgoldenen Flammen auseinanderplatzte.

"Tja, zielen kannst du nicht!" Triumphierte der Koboldkönig von rechts. Nimoe machte eine rasche Drehung und sah nichts. Ohne genau zu überlegen riss sie die Bleistange vor sich hoch. Ein Erschreckter Aufschrei ertönte. Die Luft vor ihr flimmerte wie über kochendheißem Sand. Dann ertönte ein lauter Ruf, nicht wie ein Befehl sondern eher wie ein Hilferuf klingend, vermutete Nimoe. "Relaschio!" Rief sie und schickte einen hellen Strahl aus Funken los, der vor ihr gegen ein unsichtbares Hindernis prallte. Dann erschien Mongrull wieder in der Schattenform.

"Jetzt mach ich dich tot!" Brüllte er. und schoss auf Nimoe zu, die das angespitzte Blei vorstreckte. Die Schattengestalt schnaubte verächtlich, wurde aber langsamer.

"Flammurus Altus!" Rief sie und deutete genau dort hin, wo der Schatten gerade auf sie zuglitt. Wieder entstand eine Feuerwand vor ihr, in die der Schatten hineingeriet und durchscheinend wurde, bevor er laut schreiend zurückfederte und wieder zu einem festen Körper verstofflichte. Dann sah sie wie Mongrull eine hühnereigroße Kugel aus silberweißem Material an einer goldenen Kette vorstreckte und wie mit einer Waffe auf Nimoe zielte. Die Kugel begann bläulich zu pulsieren. Nimoe wußte, daß sie die Quelle für die ihr geltenden blauen Strahlen sah und diesmal nicht entrinnen konnte, wenn sie nicht sehr rasch handelte. Sie riss den Zauberstab hoch, zielte auf die Kugel und rief: "Expelliarmus!" Ein roter Blitz schnellte aus dem Stab, traf die Kugel und wurde förmlich darin eingesogen. Dabei entwand sie sich Mongrulls Händen und prallte gegen seinen Brustkorb. Das blaue Leuchten war einem blutigrotem Glühen gewichen.

"Die Kraft des Machtmetalls schluckt deine blöden Zauber", knurrte Mongrull. Offenbar konnte er die behexte Kugel nicht mehr anfassen. Vielleicht war sie ihm zu heiß geworden. "Gleich erwische ich dich damit", schnaubte der Kobold. Nimoe wollte es nicht darauf anlegen. Sie ahnte, daß Mongrull im Moment angreifbar war. Denn der Schein der Feuerwand hinderte ihn daran, seine Schattenform anzunehmen, und wenn er diesen fremdartigen Gegenstand nicht berühren konnte ... Mit einer schnellen Handbewegung ließ sie die Flammenwand vor sich zusammenbrechen, richtete die angespitzte Bleistange auf Mongrull und tippte sie mit dem Zauberstab an, wobei sie "Impactum" Murmelte. Wie von einem starken Katapult abgefeuert schoss die Bleistange wie ein überschwerer Armbrustbolzen in gerader Linie nach vorne und schlug keine halbe Sekunde später in den Brustkorb des total entsetzt darauf starrenden Mongrull ein. Der Schwarzfelskobold schrie kurz auf. Dann erstarrte er und fiel steif wie ein Brett nach hinten über. Nimoe war sich sicher, daß der Gegner tödlich getroffen war. Doch noch hatte sie zwei andere Gegner, womöglich noch mehrere Schwarzfelskobolde zu erwarten. Sie blickte sich um, auch wenn das bei unsichtbaren Gegnern nicht viel bringen mochte. Da sah sie, wie die beiden, die sie gerade überwältigt hatte, immer noch völlig starr dalagen. Ihre Körper wirkten nicht nur steif, sondern gehärtet wie Metall.

"Koangadaidash!" Schrie eine Stimme aus zehn Schritt Entfernung. Nimoe sah einen Schwarzfelsler in Schattengestalt auf der Stelle verharrend und zitternd. Sie verstand Koboldisch so weit, daß sie auch den sehr abgewandelten Dialekt der Schwarzfelskobolde im Ansatz verstehen konnte. Dieser Ruf brachte ein überlegenes Lächeln auf ihr Gesicht. Was der gerade auf der Stelle zitternde Schatten da gerufen hatte hieß nichts anderes als: "Der König ist tot!"

"Da habt ihr nicht mit gerechnet", knurrte Nimoe, als weitere Schattenformen vor ihr auftauchten. Sie alle umstellten sie, rückten jedoch nicht vor. Alle schienen auf den niedergestreckten Körper Mongrulls zu starren, als sähen sie ihren größten Schrecken wahr werden. Auch Nimoe konnte sich eines gewissen Schauderns nicht erwehren. Denn der König der Schwarzfelskobolde war nicht einfach gestorben. Sein ganzer Körper hatte sich verwandelt. Die Bleistange, die aus dem Brustkorb ragte, war mit der Leiche zu einem einzigen Bleikörper geworden. Deshalb starrten die Schatten um sie herum auch so entsetzt auf den Toten. Er hatte sich in das Material verwandelt, daß sie so scheuten wie der Vampir die Sonne, ja, und jetzt wußte Nimoe auch, daß der Grund dafür derselbe war. Denn die neben ihr liegenden Körper der anderen Schwarzfelsler waren ebenso zu Gebilden aus massivem Blei verformt worden.

"Das habt ihr davon, wenn ihr euch mit diesem Emporkömmling einlassen wollt!" Rief Nimoe. Die Kobolde rückten nun vor, um sie anzugreifen. Schnell schloss sie sich in einen Feuerring ein, der die sie bedrängenden Schatten zurücktrieb.

"Schwester Lorna, besorge Feuerwaffen der Muggel. Damit können wir diese Brut auslöschen", mentiloquierte Nimoe, während die Schwarzfelskobolde in ihre ursprüngliche Form zurückkehrten. Nimoe disapparierte. Ihr Feuerring blieb jedoch erhalten. Die Schwarzfelsler ließen sich in die Erde einsinken, um in ihren Unterschlupf zurückzukehren. Ihr König war tot. Sie mußten aus ihren Reihen einen neuen Herrscher wählen. Aber dies ging nur, wenn sie herausfanden, wer die Kräfte des Machtmetalls am besten bündeln konnte. Eine Kugel davon ruhte noch auf Mongrulls Brust und konnte von seinesgleichen nicht entfernt werden, ohne daß sie dabei die zu Blei gewordene Leiche berührten und dann die eigenen Kräfte verloren oder wie Mongrull starben.

Die wartenden Schwestern Nimoes beglückwünschten ihre Anführerin, als diese einen Kilometer vom Schacht entfernt apparierte.

"Sie sterben, wenn sie von Blei berührt oder durchdrungen werden", triumphierte Nimoe. "Ich weiß nicht warum, aber ihre Körper werden selbst zu Blei, wenn sie von diesem Stoff durchdrungen werden. Also holen wir uns die Feuerwaffen der Muggel, die Bleikugeln verschießen. Damit rotten wir diese abartige Brut endgültig aus."

"Wie Ihr meint, Mylady", sagte eine der Nachtfraktionshexen.Alle freuten sich, daß sie Mongrull und die Schwarzfelskobolde damit entscheidend getroffen hatten. Die Lady berichtete davon, wie sie gegen den Koboldkönig gekämpft hatte und erwähnte auch die merkwürdige Kugel, aus der wohl die blauen Strahlen gekommen waren. Maura Dawson, eine muggelstämmige Bundesschwester, die über eine gute Schulfreundin aus Redrock-Zeiten in die Gemeinschaft der schweigsamen Schwestern gefunden hatte, sah leicht verängstigt auf Nimoe. Dann sagte sie:

"Es heißt, diese Kobolde benutzen Uranerze als Machtfokus. Uran zerfällt im Lauf von Jahrmillionen zu anderen Stoffen, unter anderem auch Blei. Kann sein, daß deshalb Blei für die Schwarzfelskobolde gebündelte Todeskraft enthält. Und diese Kugel, das könnte reines Uran gewesen sein. Dieser Kobold kann wohl damit die Strahlung vervielfachen und gebündelt auf ein Ziel richten. Das ist wie ein Fluch, Lady Nimoe. Hoffentlich habt Ihr den Sieg über den Koboldkönig nicht teuer erkauft, Mylady."

"Ich hörte von diesem Einfluß, Schwester Maura. Wer zu lange in der Nähe dieses Stoffes bleibt erkrankt und stirbt. Ich habe gehört, daß die Muggel diesen Stoff als Brennstoff für besonders mächtige Feuerwaffen benötigen und übergroße Öfen damit beheizen, die ihnen zur Herstellung von elektrischem Strom dienen. Ich hoffe, ich bin dieser Verheerung entronnen, Schwestern. Wenn nicht, werden wir eben herausfinden, wie ich dem Tod entkommen kann. Wie kann man diese eigene Strahlung, die nicht wahrnehmbar ist eindämmen, Schwester Maura?"

Durch dicke Metallwände, eben aus Stahl oder Blei, soweit ich weiß, und wenn man diese Stoffe tief im Erdboden oder tief unter Wasser lagert."

"Dann werde ich diese Kugel bergen und an einem weit entfernten Ort verstecken", erwiderte Nimoe entschlossen. Sie wollte den übrigen Schwarzfelskobolden keine Gelegenheit geben, die Kugel zu bekommen und die darin schlummernde Kraft gegen sie anzuwenden. So disapparierte sie mit Maura in die nächste Stadt, wo sie auf Mauras Vorschlag hin einen Leichenbestatter suchte, der Bleisärge anbot. Mitten in der Nacht drangen die beiden Hexen nach Ausschaltung der Alarmanlage in die Lagerräume des Bestattungsunternehmers ein, suchten und fanden einen noch nicht benötigten Bleisarg, hoben diesen mit Bewegungszaubern an, hielten sich daran fest und disapparierten mit der schweren Totenlade in Richtung altes Goldbergwerk. Mongrulls großer, muskulöser Körper lag immer noch im Freien. Es wirkte so, als habe jemand den Schwarzfelskoboldkönig mit einem dicken Bleiüberzug umkleidet. die im Licht der Zauberstäbe schwach schimmernde Kugel lag in einer kleinen Mulde auf der Brust des toten Feindes. Offenbar hatte sie sich mit eigener Hitze in das Blei eingeschmolzen. Sie hievten den getöteten Feind per Schwebezauber hoch, bugsierten ihn in den Sarg und verschlossen diesen. Nimoe verschweißte mit einem Feuerstrahl aus dem Zauberstab Deckel und Unterteil, bevor sie den Centigravitus-Zauber auf den Sarg legten, um ihn auf ein Hundertstel seines Gewichtes zu erleichtern. Dann disapparierten sie mit ihrer unheimlichen Fracht. Die beiden anderen zu Blei gewordenen Toten blieben zurück.

"Versenken wir ihn hier", sagte Nimoe, als sie eine Viertelstunde später mit dem Sarg in einem Tragegeschirr zwischen zwei Flugbesen über einem Bergsee dahinflogen. Maura nickte. Sie lösten die Halterungen um den Sarg, der federleicht herabsank und auf dem Wasser aufschlug, etwas unterging und dann wie eine leere Flasche wieder auftauchte.

"Verdammt, bei seinem verringerten Gewicht ist das Wasser, das er verdrängt viel schwerer als der Sarg selbst", fluchte Nimoe. Dann richtete sie den Zauberstab auf die bleierne Totenkiste und rief: "Finite Centigravitus!" Der Bleisarg leuchtete für eine Hundertstelsekunde in einem grünen Licht, bevor er schneller als ein Stein im See versank. Das dabei in Aufruhr geratene Wasser schwappte für einige Sekunden in kreisförmigen Wellen auseinander. Dann beruhigte sich die Oberfläche wieder und erschien im schwachen Mondlicht wie ein mehrere Meilen großer Spiegel. Mongrulls Leiche und die geheimnis- und unheilvolle Kugel, der Ausdruck seiner Vorherrschaft, würden nun auf dem Grunde dieses Sees ruhen, keinem bekannt außer Lady Nimoe und Maura Dawson, die nun den Heimflug antraten.

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Lea Drake fragte sich, ob und wie sie nach Hogwarts zurückkehren konnte, jetzt wo ihre Familie auf dem Anwesen Rainbowlawn untergekommen war. Die vierzehnjährige Hexe dachte immer wieder daran, daß ihre Eltern und sie nun auf der Liste der Todesser standen, weil sie mit Ursina Underwood verwandt waren, die dem Emporkömmling wohl heftig in die Quere gekommen war. Daß einige Hexen von den sogenannten Todessern umgebracht worden waren machte ihr, die sich sonst so selbstsicher fühlte etwas Angst. Doch als sie dann hörte, jemand habe Vergeltung geübt und einige Todesser ziemlich übel verflucht, ja in ihre Einzelteile zerlegt, konnte sie eine gewisse Schadenfreude nicht verheimlichen.

"Wenn die wirklich hinter uns her sind, Proserpina, dann sollten wir Lea nicht mehr in diese Schule zurückschicken. Wenn du recht hast, würde sie da von ihren Kameraden im Namen dieses Mörders drangsaliert und womöglich umgebracht", hörte sie ihren Vater zu ihrer Mutter sprechen. Diese Langziehohren von den Weasleys waren schon praktisch, wenn man was mithören wollte, was man nicht sollte.

"Tom, ich gebe dir soweit recht, daß Lea nicht wie die anderen nach Hogwarts fahren kann. Unterwegs könnte so viel passieren, und ich traue diesem Malfoy-Bengel und seinen Halbaffen zu, daß sie meinen, im Auftrag des Emporkömmlings handeln zu müssen. Aber Lea ist gut vorgebildet und weiß sich zu wehren. Aber bevor ich irgendwelche Privatstunden arrangiere, möchte ich genau wissen, ob es keinen Weg gibt, sie nach Hogwarts zu bekommen. Sie wäre ja nicht die einzige, die in Gefahr ist, leider."

"Proserpina, sieh es ein, daß diese Ausbildung vorbei ist. Wir sollten hier wegziehen und anderswo neu anfangen. Lea kann doch schon gut genug hexen und zaubern. Was soll sie da noch groß lernen. Außerdem habe ich es satt, mich auf diesem blöden Gut zu verstecken, immer wieder von den anderen Hexen und Zauberern hier als bemitleidenswertes Exemplar angeglotzt zu werden und den ganzen Tag nichts anderes zu tun zu haben als blöd rumzusitzen. Ich habe eine Arbeit gelernt, die ich machen will. Ist ja schon unverschämt, daß ihr mich von meiner Firma weggeholt habt und die mich bestimmt nicht so schnell wieder einstellen, weil ihr das ja auch hingedreht habt, daß ich wohl auf unbestimmte Zeit verschwunden bin. Es geht nicht alles so, wie ihr das meint, gehen zu lassen, und ich will nicht unschuldig in einem Gefängnis sitzen, während die Verbrecher draußen herumlaufen und machen was ihnen gerade einfällt. Ich sehe ein, daß ich alles tun muß, was Lea schützt. Aber gerade deshalb meine ich, wir sollten uns anderswo ansiedeln, Amerika oder Kanada."

"Erstens, Tom, ist Lea noch lange nicht fertig mit der Ausbildung. Das sieht für dich so aus, weil der kleinste Bewegungszauber für dich schon überragend ist. Zum zweiten ist das hier kein Gefängnis, sondern eine Zuflucht, und du solltest froh sein, daß sie dich hier aufgenommen haben. Das ist nämlich keine Selbstverständlichkeit. Zum dritten ist es keine Lösung, vor diesem Emporkömmling wegzulaufen. Denn dann würde er einen immer jagen und jagen und jagen. Du könntest dich nirgendwo in Ruhe ansiedeln. Deshalb will ich auch prüfen, ob Lea nach Hogwarts zurück kann oder nicht. Das Ministerium hat ja so groß getönt, daß alle Schüler sicher zur Schule zurückkehren können. Das gilt dann auch für Lea. Ich habe Dumbledore persönlich angeschrieben, und der will auch haben, daß alle Schüler zurückkommen, sofern ihre Eltern das wollen."

"Alle Eltern, Proserpina. Ich sehe es eben so, daß wir Lea nicht mehr dahinschicken sollten, wenn echt Kinder von diesen Gangstern da rumlaufen. Ich habe das selbst mitbekommen, wie schnell ein Schüler bei den anderen unten durch ist und dann nirgendwo mehr richtig klarkommt. War ja vorher schon schlimm genug, was Lea uns über ihre Hauskameraden erzählt hat. Wenn dieser Verbrecher, den du verächtlich einen Emporkömmling nennst, seiner Bande befiehlt, deren Bälger sollten Lea tyrannisieren oder bei der ersten sich bietenden Gelegenheit abmurksen, hätte sie nix von dieser noch fehlenden Ausbildung."

"Ich denke schon, daß es in Hogwarts und auch in Slytherin einige Idioten gibt, die meinen, jemanden vor aller Augen drangsalieren zu müssen, aber gerade dann müssen wir gegenhalten. Lea will nach Hogwarts, und das weißt du."

"Nichts für ungut, Proserpina, aber wenn es da wirklich so heftig zugeht, ist mir das egal, ob Lea dahin will oder nicht. Ich habe auch gute Bekannte in den Staaten und Kanada. Wenn ich denen sage, wir hätten Probleme hier, bringen die uns bestimmt unter, bis wir da selbst ein Haus anschaffen können. Ich habe die Schnauze voll, wegen dieses verdammten Hexenmeisters auf dieser altmodischen Farm rumzulungern, wo es noch nicht einmal Radio oder Fernseher gibt."

"Und auch kein Telefon", warf Proserpina Drake gehässig ein. "Wie möchtest du also deinem Onkel Mike in Cleveland sagen, daß du hier in England nicht mehr ruhig leben und arbeiten kannst? Was möchtest du ihm darüber erzählen, warum du hier nicht mehr friedlich leben kannst?"

"Natürlich, jetzt kommst du mir wieder überheblich", hörte Lea ihren Vater knurren. "Ich bin ja nur ein blöder Muggel, der keine Chance hat, in eurer Welt was anschieben zu können, nicht wahr? Wenn Lea nach Hogwarts will, und du das irgendwie zurechtfummeln kannst, ist meine Meinung völlig unwichtig. Ich habe dir immer gesagt, dich nicht mit irgendwem anzulegen, wenn es in deiner Welt so wild zugeht und habe immer gesagt, daß ich nicht will, daß Lea Ärger kriegt und dann vielleicht besser nicht diesen Zaubereikrempel lernt. Es gibt genug Kinder und Jugendliche, die ganz ohne Hokuspokus zurechtkommen und ein glückliches Leben haben. Aber nein, Lea is' 'ne Hexe, die muß das alles können, was deine Eltern, deine herrschsüchtige Tante und du gelernt haben. Bloß nicht den Eindruck erwecken, als hätte der Vater des Kindes was zu sagen. Dann kam dieser Voldemort wieder, der unsereins wohl total haßt oder lieber als niedere Sklaven halten will, aber Lea hat gefälligst hier zu bleiben. Ich habe mich gefälligst deiner netten Verwandtschaft zu unterwerfen."

"Bevor du weiter so unsinnig daherredest, Tom, möchte ich dir gerne was vorführen, was du offenbar vergessen hast, als wir diese Unterhaltung schon mal führten", erwiderte Leas Mutter. Offenbar wollte sie gerade was zaubern, doch sie schwieg für mehrere Sekunden. Dann sagte sie: "Oh, wir kriegen gleich Besuch."

"Ach, hat dir mal wieder wer eine telepathische Botschaft geschickt?" Hörte Lea ihren Vater gehässig fragen. Offenbar nickte ihre Mutter, denn er grummelte was von wegen: "Sage dem beziehungsweise der, wir müßten noch was klären und wir hätten keine Zeit für Besuch!"

"Zu spät", erwiderte Proserpina, als es im Kamin des gemütlichen Wohnzimmers laut rauschte."Lea, nimm dieses Langziehding weg!" Brüllte es unvermittelt laut in Leas Ohr hinein. "Ich habe dir schon hundertmal gesagt, du sollst mich damit nicht abhören." Es war die Stimme ihrer Mutter, offenbar direkt am anderen Ende des Langziehohres.

"Ich dachte, du bist tot", hörte Lea mit schmerzendem Ohr noch ihren Vater ausrufen, bevor sie in Windeseile die lange, fleischfarbene Schnur einholte, deren eines Ende sie bis dahin im rechten Ohr gehabt hatte.

"Wenn du schon gelauscht hast, Kleines, omm bitte zu uns. Tante Ursina ist da", erscholl Proserpinas Stimme im Geist der Junghexe. Diese erstarrte für einen Moment. Dann mußte sie nicken. Also hatte ihre Großtante dem Emporkömmling ihren Tod nur vorgegaukelt. Natürlich, denn sie wußte ja schon lange, daß er sie jagen würde. Offenbar hatte sie was angeleiert, als dieser glaubte, sie sei weg vom Fenster. So verließ Lea ihr Zimmer und ging in den Salon, wo eine ältere Frau mit graubraunem Haar und großen, blauen Augen in einem dunkelblauen Glitzerkostüm gerade auf einem der hochlehnigen, mit Federkissen gepolsterten Stühle platznahm.

"Hallo, Lea", grüßte die Besucherin. Lea sah sie an und erwiderte:

"Hallo, Tante Ursina. Willkommen zurück im Diesseits!" Die Besucherin mußte darüber lachen, während Tom Drake seine Tochter befremdet anguckte.

"Also haben wir diesen ganzen Zirkus für nix und wieder nix gemacht", knurrte Leas Vater noch, bevor die Besucherin ihn sehr warnend anblickte und sagte:

"Das, was du Zirkus nennst hat dir und deiner Familie das Leben gerettet. Aber wahrscheinlich findest du, daß du lieber unter den Trümmern deines hart erarbeiteten Hauses begraben liegen möchtest als von meinen guten Freundinnen in beherbergt zu werden und weiterhin für deine Tochter da zu sein. Ich bin nicht gestorben, wie du richtig erkannt hast, sondern habe einen Kunstgriff angewendet, um diesem mordlüsternen Bastard eins auszuwischen. Ich habe mich wie ihr einige Wochen verstecken müssen. Aber langsam wird es Zeit, die Fäden wieder fest in die Hände zu nehmen, bevor es gut meinende Gefährtinnen noch um meine Nachfolge kämpfen und diesem Emporkömmling damit geben, was er haben will. Außerdem bin ich hergekommen, weil ich mit euch über Leas weitere Ausbildung reden will."

"Das ist doch wohl unser Ding", knurrte Thomas Drake. "Wir redeten gerade davon, Nach Amerika umzusiedeln."

"Das denkst auch nur du", erwiderte Ursina Underwood überlegen lächelnd. "Da wäret ihr doch völlig einsam und verlassen. Lea, möchtest du weiter nach Hogwarts oder hast du auch Angst vor den Leuten da, wie dein Vater?"

"Vor Malfoy? Ich habe doch keine Angst vor Malfoy, Crabbe und dem anderen Gorilla Goyle, Tante Ursina", antwortete Lea sehr entschlossen und warf sich in eine selbstsichere Pose. "Und die Ridges hat's im letzten Jahr doch gemerkt, daß man mir auch keine derben Streiche spielen sollte, wenn man nicht dafür auf Mausgröße eingeschrumpft werden will."

"Weswegen Hogwarts?" Fragte Ursina, während Leas Vater Anstalten machte, irgendwas zu sagen. Doch er brachte kein Wort heraus. Der Blick der großen blauen Augen hielt seinen Blick fest.

"Weil es trotz einiger merkwürdiger Typen da immer noch die beste Schule in Europa ist. Dann kriegen wir wohl demnächst noch einen gescheiten Verteidigungslehrer. Außerdem will ich nicht, daß die blöden Gänse und die Kronprinzen der Nachläufer des Emporkömmlings denken, sie könnten jeden endgültig rausekeln."

"Dann ist es klar, daß du wieder nach Hogwarts kommst", sagte Ursina, und Leas Mutter nickte. Ihr Vater schüttelte heftig den Kopf und wollte aufstehen. Da hob Ursina ihren Zauberstab und ließ ihn sacht nach unten auspendeln. Thomas Drake meinte, eine Zentnerlast drücke ihn nach unten und nagele ihn auf dem Stuhl fest.

"Wie soll sie zurückkehren, Tante Ursina?" Fragte Proserpina Drake.

"Kurz bevor die anderen mit dem Zug und den Reisewagen eintreffen soll Proserpina mit ihr außerhalb der Ländereien apparieren. Am besten sorgst du dafür, daß Minerva McGonagall oder Dumbledore persönlich sie empfängt, Prooserpina!"

"Du traust diesem wetterwendischen Burschen auch nicht mehr, Tante? Dann bin ich ja beruhigt", sagte Proserpina Drake. Offenbar erfolgte die Antwort nur für sie vernehmlich, weil sie einige Sekunden schweigend dasaß. Dann wandte sie sich an Lea:

"Ich kläre das mit Dumbledore ab, daß ich dich kurz vor dem Eintreffen der anderen bei ihm und nur ihm abliefere, Lea. Sage ihm aber ja nicht, daß Tante Ursina noch lebt. Das muß keiner wissen, dem sie es nicht selbst sagt." Lea verstand. Offiziell war Ursina Underwood weiterhin tot und begraben. Aber wie sie dem Emporkömmling vorgegaukelt hatte, er habe sie erwischt, wollte sie zu gerne wissen. Überneugierig fragte sie.

"Ich habe vor zeiten ein Simulacrum von mir angefertigt und in einem Zaubertiefschlaf in meinem Haus kultiviert, für diesen Fall, Kind. Als mir klar wurde, daß der Emporkömmling mich wirklich anzugreifen wagte, habe ich alle wichtigen Dinge in einem von den Elementen nicht zu erschütternden Raum gebracht und kurz bevor ich mich abgesetzt habe mein Simulacrum mit einem Gedankenbefehl aus dem Tiefschlaf geweckt, das dann ganz planmäßig dem Emporkömmling in die Arme gerannt ist. Schade, daß er nicht in meiner Feuerfalle verbrannt ist. Morgen habe ich übrigens mein Haus wieder aufgebaut und kann meine Habseligkeiten wieder einräumen. Dieser Irre ist doch tatsächlich darauf hereingefallen."

"Ach, und das erzählst du uns so locker, als gäbe es in eurer Welt keinen, der das nicht aus ihr herausholen könne?" Fragte Tom Drake verbittert. Zur Antwort holte Ursina Underwood einen linsenförmigen Bernstein hervor und gab ihn Lea.

"Ich weiß, daß deine Mum dir die Okklumentik beigebracht hat. Aber zur Sicherheit drücke dir diesen Stein an den Kopf, damit du es am besten verbergen kannst", hörte Lea die Gedankenstimme ihrer Großtante in sich flüstern. sie sah ihre Mutter an, die nickte.

"So, dann ist die Sache wohl entschieden, und der unfähige Muggel muß mal wieder nicht dazu gefragt werden", schnaubte Leas Vater. "Aber wehe euch, wenn Lea was passiert."

"Komm, jetzt fang nicht an zu drohen", erwiderte Ursina Underwood ungehalten. "Ihr wird nichts passieren, solange sie im Schloß oder hier ist. Sollte sich allerdings ergeben, daß Hogwarts kein sicherer Ort mehr ist, werden Megara und ich Leas Ausbildung fortsetzen. Oder wäre es dir lieber, ich würde deine Tochter gleich zu mir mitnehmen?"

"Nichts für ungut, aber dann kriegst du wirklich Ärger mit deinen Leuten", knurrte Thomas Drake. "Es interessiert bestimmt genug Leute, daß du diesem Voldemort von der Schippe gesprungen bist."

"Das mag ich so an meinen Kerzenleuchtern und Bronzevasen, das sie mir keine Widerworte geben", bemerkte Ursina Underwood halblaut. Lea erschrak. Das war eine Drohung. Hoffentlich verstand ihr Vater das auch so.

"Du wirst es nicht wagen, mich anzugreifen", knurrte Tom Drake. Zur Antwort holte Ursina einen schwarzen, klobigen Stein aus der kleinen Handtasche, die sie über ihren Stuhl gehängt hatte.

"Damit du weiterhin was von deiner Familie hast wirst du mir hier und jetzt den Schwur leisten, daß du niemandem verrätst, daß ich nicht tot bin, weder im direkten Gespräch, noch schriftlich oder in Form einer Tonaufzeichnung. Lege deine Hände hier drauf und schwöre, daß du niemandem davon berichten wirst, daß ich nicht gestorben bin!"

Schweren Herzens leistete Leas Vater diesen Eid und nahm es hin, wie der Eidesstein nach dem Schwur kurzzeitig fast unerträglich heiß wurde und dann wieder abkühlte.

"Ich habe diesen Stein dahingehend verändert, daß du dich beim geringsten Versuch, den Eid zu brechen körperlich und geistig zum Baby zurückverwandeln wirst, nur, damit du weißt, daß dieser Eid dich bindet. Ich hätte auch mit dir den unbrechbaren Schwur vollziehen können, aber dann wärest du tot umgefallen, wenn du den Schwur nicht einhalten wolltest."

"Tolle Aussichten", knurrte Leas Vater. Dann wurden er und seine Tochter vor die Tür geschickt.

"Wehe, du trittst dieser Bande bei, zu der deine Mutter wohl gehört", knurrte Leas Vater verbittert. Lea sagte:

"Die bequatschen jetzt bestimmt, wie Tante Ursina ohne groß wieder aufzutauchen den Chefinnensessel zurückbekommt."

"Am liebsten würde ich mit dir heute noch abreisen. Aber von diesem vermaledeiten Anwesen kommt ja keiner runter", sagte Thomas Drake. lea grinste. Ja, Rainbowlawn war nach außen hin so abgesichert, daß nur davon fortkonnte, wer den korrekten Freigabezauber benutzen konnte oder eben durch die Verbindung der beiden Verschwindeschränke, von denen einer im Keller von Ursina Underwood stand.

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Die Fenster des schnittigen Maseratis waren so heftig beschlagen, daß man glauben konnte, es handele sich um ein Treibhaus für Tropenpflanzen. Doch die Stoßdämpfer des weißen Sportwagens konnten anderes vermelden, waren sie doch in den letzten zwei Stunden mehrmals sehr heftig durchgerüttelt worden. Mit hochroten Gesichtern und an schweißnass von den Haaren bis hinunter zu den Füßen räkelten sich zwei erschöpfte Körper auf der auf den ersten Blick so schmal wirkenden Rückbank. Phil Dunning, ein athletischer junger Mann mit dunkelblondem Haar, hatte bis vor drei Stunden nicht zu träumen gewagt, dies hier zu erleben. Doch als er, bereits gelangweilt vom Abend, einen Spurt nach Hause einlegen wollte, war diese dunkelbraunhaarige, grünäugige Lady mit dem italienischen Wunderwagen angekommen und hatte ihn gefragt, wo er denn hinwolle. Er hatte ihr seine Adresse verraten und sich nichts wildes denkend zu ihr in den Wagen gesetzt. Sie waren ins Gespräch gekommen, über Musik, die San Francisco 49er und das Phil in einer Woche nach Stanford gehen und dort ein Medizinstudium beginnen würde. Liberty, wie die nicht so übel aussehende Lady hieß, hatte ihm erzählt, sie sei Kunstturnerin in ihrem College und hatte ihn dabei so verrucht angesehen. Die Unterhaltung hatte sich darauf hin in eine nicht ganz so akademische Richtung entwickelt, bis sie sich darauf einließen, es auf dem Rücksitz des Wagens so richtig zu treiben. Beide sahen es als unverbindlich, zumal Phil für diesen Glücksfall vorgesorgt hatte und immer die notwendige Ausstattung in der Jackentasche mitführte. Zwei Stunden hatten die beiden sich so wild wie er es vorher nie erlebt hatte ausgetobt, und der Maserati hatte sich als geräumiger erwiesen als von außen zu erkennen war. Liberty war wohl völlig ausgehungert und konnte nicht genug bekommen. Doch irgendwann waren beide zu sehr ausgelaugt, um eine weitere Runde durchzuhalten. So lagen sie von der Anstrengung keuchend aneinander und fühlten gegenseitig ihren Herzschlag durch ihre Körper dringen.

"Du willst wohl mal Profi-Football spielen, wie", schnaufte Liberty und zwinkerte Phil zu. Dieser grinste und antwortete sichtlich geschafft:

"Woran machst du das fest. Ui, morgen kann ich meine ganzen Muskeln einzeln fühlen. Interessanter Einstieg für'nen werdenden Arzt."

"Glaube ich nicht, daß du so'n Muskelkater kriegen wirst", erwiderte Liberty müde aber ganz zufrieden. "Du kannst dich ja morgen ausschlafen. War auf jeden Fall sehr schön mit dir."

"Wenn ich so nach Hause komme tickt meine Mom aus. Die will dann wissen, wo ich unter die Räder gekommen bin", schnaufte Phil.

"Du bist erwachsen und kannst doch machen wonach dir gerade ist", erwiderte Liberty.

"Hoffentlich haben die Verhüterlis gehalten. Zwischendurch war's ja richtig heftig."

"Keine Sorge, das hat schon geklappt. Denkst du, ich würde mich auf was einlassen, was mir ungewollte Folgen einbringt? Kannst also ganz beruhigt sein, daß unser kleines Spiel keine weiteren Folgen hat."

"Hui, Mädel, du bist voll heiß. Hast du keinen Freund, der dich bei Laune hält?"

"Freunde schon, aber keiner, der mich so richtig toll liebhaben will wie du das gerade geschafft hast", erwiderte Liberty. Dann strich sie sich ihre schweißnassen Haare aus dem Gesicht und gab Phil noch einen langen Kuß, bevor sie ihre auf dem Fahrersitz hingelegten Sachen nahm und sich wieder öffentlichkeitstauglich anzog. Phil, dessen spärliche Sommerkleidung auf dem Beifahrersitz zusammengeknüllt war, mußte erst einen leichten Schwindelanfall niederringen, weil die Erschöpfung seinen Kreislauf sehr heftig beanspruchte, schaffte es aber noch, in seine Sachen zu schlüpfen und ließ sich von Liberty bis einhundert Meter vor sein Haus heranfahren. Dort wünschte er ihr noch alles gute und bedankte sich für das mit ihr erlebte Abenteuer und ging davon.

"Es hat schon was für sich, wenn man einen Burschen ohne Zauberei zu sowas kriegen kann", dachte die Frau auf dem Fahrersitz und wendete ihren Wagen, um dann in Richtung San-Rafael-Berge davonzufahren, wo sie erst die Sitze gründlich reinigte und dann den Wagen einschrumpfen ließ und ihn in einer Hand haltend aus einer schnellen Drehung heraus verschwand.

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Anthelia, die Anführerin des Spinnenordens, erwachte am Morgen des achtundzwanzigsten Augustes um sechs Uhr morgens. Sie dachte daran, wie sie die letzten Tage verbracht hatte. dieses vermaledeite Musikstück, das Cecil Wellington bei seinem Cousin in Paris zu hören bekommen hatte, geisterte frech wie seine Sängerinnen durch ihren Verstand. "Sag mir was du willst, was du wirklich wirklich willst! So sag mir was du willst, was du wirklich wirklich willst ..."

"Auch eine Form weiblichen Aufbegeherens", knurrte Anthelia. Sicher, sie kannte die modernen Sängerinnen von Cecil her, und wenn dann gleich fünf junge Frauen auf einmal meinten, die alten Strukturen mit Dreistigkeit und Stärke auszuhebeln, sollte sie als Verfechterin einer von Frauen geführten Weltordnung das gutheißen. Andererseits waren das keine Hexen, und ob sie wirklich so authentisch freizügig waren bezweifelte Anthelia auch. Vielleicht waren es auch nur dumm gackernde Hühner, die das Bild eines geschäftigen Bauernhofes vermittelten, ohne das der eigentliche Bauer zu sehen war. Aber wenn die jungen Leute sowas hören wollten, sollten sie es eben kriegen. Irgendwann würden sie erfahren, daß die Welt, die sie bisher kennengelernt hatten, zum scheitern verurteilt war und nur eine Neuordnung der Zivilisation das Überleben der Menschheit sichern konnte.

Anthelia dachte aber auch daran, wie ein weiteres Lied auf der gerade auf dem Markt konservierter Musik gehandelten silbernen Scheibe sie tief durchdrungen hatte und die seit ihrem Ausflug in die Tiefen des Atlantiks lodernde Lust angeheizt hatte. "Zwei werden eins", ein herrlicher, wohltuender Gedanke. An für sich hatte Anthelia vor, Cecil als den jungen, starken Mann heranzuziehen, der dieses Verlangen befriedigen sollte. Doch dann hatte sie sich eines besseren besonnen. Sie wollte diesem Jungen nicht den Eindruck vermitteln, auch nur eine Frau mit körperlichen Bedürfnissen zu sein. Abgesehen davon wollte sie ihn auch nicht als männliche Hure halten. So hatte sie, wie zwei Tage zuvor ihre gleichfalls bedürftige Mitschwester Patricia, weit fort von ihrem Wohnsitz einen für derlei Abenteuer begeisterungsfähigen Jüngling ausgesucht und ihn mehr als eine Stunde zu sich genommen. Anders als Patricia hatte sie dem Burschen nach seiner Aufopferung einen Erholungstrank und einen Gedächtniszauber verabreicht, sodaß er sich anderntags nicht mehr daran erinnern konnte, mit dieser blondhaarigen, sommersprossigen Frau im rosaroten Kleid geschlafen zu haben. Immerhin hatte das Verlangen nach geschlechtlicher Befriedigung spürbar nachgelassen, für's erste. Anthelia hielt Sex nie für eine Sache, die man so nebenbei und zum reinen Vergnügen erledigen sollte. Doch nach den zwölf Stunden im Körper einer Meerfrau, als die sie bbeinahe hätte weiterleben müssen, hatte ihr zurückverwandelter Körper dieses Verlangen bekundet, und sie hatte es stillen müssen, um wieder frei denken zu können. Das war auch nötig, denn kaum daß sie in die alte Daggers-Villa, ihrem Hauptquartier und Wohnsitz, zurückgekehrt war, hatte sie den Brief einer Toten erhalten. Lady Ursina Underwood, die vor einigen Wochen angeblich von Voldemort ermordete Führerin der britischen Nachtfraktionsschwestern, hatte ihr geschrieben:

Sehr geehrte Schwester im Geiste,

sicher habt Ihr davon gehört, daß mich der Emporkömmling Voldemort in seiner grenzenlosen Mordlust getötet hat. Nun, viel hat nicht gefehlt. Allerdings war ich auf dieses Vorhaben vorbereitet, um nicht zu sagen, ich habe ihm freie Hand gelassen, es durchzuführen. Allerdings bin ich bei diesem heimtückischen Anschlag nicht verstorben. Solltet ihr gehofft haben, ich sei tatsächlich tot, so wird dieses Schreiben wohl eine herbe Enttäuschung sein. Vielleicht fragt Ihr euch dann auch, ob ich nicht übermütig sei, Euch auf die Nase zu binden, daß ich noch unter den Lebenden weile. Andererseits hat unser Gespräch auf der Gipfelhöhe des Teide in der Nacht des 28. Aprils in mir die Hoffnung geschürt, Ihr und ich könnten einträchtig zusammenarbeiten, jetzt, wo zu befürchten steht, der Emporkömmling suche nach neuen Getreuen oder bediene sich ihrer bereits. Ich weiß, daß Ihr zu Beginn dieses Monats, wo ich noch in einem sicheren Versteck verbleiben mußte, meinen Schwestern geholfen habt, den Feldzug der Todesser wider alle ihm nicht genehme Hexen Einhalt zu gebieten. Höchstwahrscheinlich haben jene, die aus meinen Reihen Eurem Ruf gefolgt sind, Euch um Beistand angerufen. Nun, ich beabsichtige, die mir zugedachte Rolle wieder zu übernehmen, wenngleich ich im Verborgenen handeln möchte. Da ich jedoch weiß, daß ich auf lange Sicht nicht agieren kann, solange die anderen ehrenvollen Ladies der entschlossenen Schwestern mich für tot halten müssen, und weil ich mir sicher bin, daß der Emporkömmling in finsteren Zeitgenossen wie Igor Bokanowski und Zauberern seines Schlages weitere Verbündete gewinnen könnte, schlage ich vor, daß wir beide aus unseren Verstecken treten und uns den übrigen Ladies der entschlossenen Schwestern offenbaren, um eine geschlossene Front wider den sogenannten dunklen Lord und seine Untergebenen und Verbündeten zu errichten, bevor er endgültig zum Sturm auf die Welt ansetzen kann.

Ich kann und werde euch nicht dazu zwingen, eure Heimlichkeit aufzugeben, dies weiß ich. Aber wenn Ihr mit der Klugheit und Entschlossenheit ausgestattet seid, die ich aus der Geschichte unserer Schwesternschaft kenne, so mögt Ihr wohl befinden, daß es bald an der Zeit ist, dem Emporkömmling die Grenzen aufzuzeigen, bevor er in seinem Machthunger alles und jeden um sich herum niedermacht. Die Tatsache, daß jene mir entschlüpften Schwestern, die nun Eurem Wort folgen Euch bewegen konnten, ihnen zu helfen, zeigt mir, daß Euch nicht daran gelegen ist, still in Eurer Zuflucht zu sitzen, während alle, die Eure Ansichten teilen niedergemacht werden. Sicher habt Ihr auch mitbekommen, daß ich gezwungen war, eine Verräterin zu bestrafen, die meinte, die Angst vor dem Emporkömmling rechtfertige sie, die Treue zu unserer Schwesternschaft zu verleugnen. Wenn Euch daran liegt, den Weg fortzusetzen, von dem Ihr mir erzählt habt, so ist mein Angebot wohlbedacht und könnte Eure Zustimmung finden.

Wie Ihr euch entscheidet, ich bin mir sicher, bald wieder von Euch zu hören.

Hochachtungsvoll

                    Lady Ursina Underwood

Ja, Anthelia hatte wirklich vor, sich den übrigen Führerinnen der Nachtfraktion zu zeigen, ihnen zu erklären, daß sie beabsichtigte, sie alle zu vereinen und den vor Jahrhunderten begonnenen Weg endlich fortzusetzen, auch und vor allem gegen den Widerstand mordgieriger Zauberer wie diesen Tom Vorlost Riddle. Mittlerweile wußte sie auch, wie er es angestellt hatte, seinen Tod zu überwinden. Ein Auszug in Pacidenyus' Buch hatte ihr die Augen geöffnet. Demnach hatte dieser Waisenknabe nicht wie sie einen Aufbewahrungsbehälter für seine Seele gefunden, sondern seine Seele durch selbstverachtende Rituale in mehrere eigenständige Fragmente gespalten, die jedes für sich in einem Objekt verankert worden waren. Diese Art der Verhaftung der Seele an diese Welt war erst im Jahre 1704 erfunden und wohlweißlich sehr lange geheimgehalten worden, bis Pacidenyus ihm dieses Wissen abgerungen hatte. Doch damit hatte sich Pacidenyus Nitts einen erbitterten Todfeind geschaffen, weswegen er über den Ozean fliehen mußte. Denn wer von dieser als Horkrux bezeichneten Erfindung wußte, sollte sterben. Damit erklärte sich für Anthelia auch, warum in den letzten Jahren ihres ersten Lebens viele überneugierige Hexen und Zauberer spurlos verschwunden waren. Doch irgendwie mußte Riddle dieses Wissen erworben haben, denn sein Erscheinungsbild und die Tatsache, daß er seinen Körper verlieren und wiederbekommen konnte, sprachen ganz dafür, daß er gelernt hatte, Horkruxe zu erschaffen und seine Seele damit aufzusplittern. Also würde dieser Widerling nicht einfach zu töten sein, zumal er jetzt etwas von Harry Potters Blut im Körper hatte und damit einen Teil des von Harrys Mutter erbrachten Opfers als eigenen Schutz besaß. Dennoch wollte sie nicht tatenlos zusehen, wie dieser alles und jeden verachtende Bastard die Welt in tausend Stücke schlug und dann noch niederbrannte.

Tage nachdem sie den Brief erhalten hatte befand Anthelia, auf Ursinas Vorshlag einzugehen. Sie wollte am 30. August die regionalen Führerinnen der entschlossenen Schwestern darauf bringen, daß jemand sie alle treffen wollte. Ihre von diesen regionalen Gruppen abgeworbenen Getreuen würden es wie ein Gerücht ausstreuen, daß eine Hexe meinte, eine neue Gruppe zu begründen, die entschlossener sei als die entschlossenen Schwestern. Sie war gespannt, wer dieser inoffiziellen Einladung folgen würde. Die Frage war nur, wo sollte sie die anderen treffen und welche Vorkehrungen galt es zu treffen?

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Igor Bokanowski hatte erst vor Wut geschäumt, als er mit einigen Getreuen den Schlupfwinkel seines vampirischen Namensvetters angreifen wollte und das unterirdische Höhlenversteck leer vorgefunden hatte. Doch dann hatte er gegrinst. Sollte sein neuer Freund Voldemort mit diesem Blutsauger glücklich werden. Seine neueste Kreation, die Antivampire, würden bald über Osteuropa hinaus vorstoßen und alles, was bleichgesichtig und langzähnig war von der Erdoberfläche vertilgen. Anders als Voldemort sah er keine Verwendung in diesen lichtscheuen Gestalten, die vom Blut anständiger Menschen lebten wie Mücken und ähnliches Geschmeiß. Apropos, Arcadis Zauberer waren doch zu dämlich, fand er. Sie hatten zwar seine Prototypen Menschenameisen gefunden, aber jetzt glaubten sie, er sei bei dem Treffen mit dem schlangenschädeligen Engländer gestorben. Dieser Irrtum würde denen noch sehr bitter aufstoßen.

Der skrupellose Magier, dessen Spezialität die magische Manipulation an und mit Lebewesen war, prüfte gerade die Einrichtung seines unterirdischen Laboratoriums, das sich aus langen Gängen und mit magisch verstärkten Stahltoren versperrten Verliesen zusammensetzte. Aus einigen Verliesen drangen gequälte Laute, die sowohl menschlicher als auch tierischer Natur waren. Igor hatte einen Ganzkörperschutzanzug aus der nachtschwarzen Haut eines ungarischen Hornschwanzes angezogen und begutachtete etwas, das sich hinter armdicken Gitterstäben aus magisch gehärtetem Eisen bewegte. Das Geschöpf wirkte wie ein kranker Mensch, dessen Haut an vielen Stellen gelblich und schuppig glitzerte. Aus der Stirn der bedauernswerten Kreatur wuchsen Beulen, die immer wieder ruckten und zuckten. Im Kerker daneben hockte ein ebenso bedauernswertes Geschöpf, das noch viel Ähnlichkeit mit einer Menschenfrau hatte. Doch die Brüste bildeten sich zurück, und der Unterleib nahm langsam die Form eines insektoiden Hinterleibs an. Zwischen Armen und Beinen hatten sich Auswüchse gebildet, die wie ein drittes Paar Gliedmaßen aussahen und dann noch etwas, das wie die Enden von noch im Körper eingelagerten Flügel aussah. Das Lebewesen stöhnte qualvoll, als Bokanowski vor ihm stand. Er grinste feist, als die Gefangene ihn mit sich mehr und mehr in Einzelsegmente auflösenden Augen anstarrte und knurrte:

"Du vermaledeiter Bastard. Was soll das?"

"Och, das weißt du doch, Irina. Du hast die Ehre, die erste Heuschreckmenschenkönigin der Zaubereigeschichte zu werden. Damit wird diese Sardonia endgültig in den tiefsten Schatten gestellt. In zwei Tagen dürfte die Wandlung vollendet sein, und dann wirst du sehr froh sein, was du alles kannst. Dein zukünftiger ist noch nicht annähernd so weit wie du. Ich weiß nicht woran das liegt. Aber ich kriege das noch raus, ob es am Zauber oder den Körpereigenschaften liegt."

"Ich bring dich um, du Dreckskerl!" Fauchte die immer mehr verunstaltete Frau unter einer Welle von Schmerzen.

"Das denke ich nicht, Süße. Wenn der Prozess vollendet ist, wirst du mit einem meiner kleinen Lieblinge zusammengebracht, damit du nur machst, was ich will, wie meine anderen hilfreichen Diener", sprach Bokanowski sehr überlegen grinsend. Er hütete sich davor, näher als auf Armlänge an das Gitter heranzutreten. Irina Custlova, die Tochter eines Rivalen aus Durmstrang, mochte bereits über die übermenschliche Stärke eines menschengroßen Insektes verfügen. Sie war die erste Versuchsperson, bei der er sein erworbenes Wissen um die Herstellung von Entomanthropen anwendete. Doch er war noch nicht ganz zufrieden mit den Ergebnissen. Sicher, die vierköpfige Nichtmagierfamilie, die er in Ameisenwesen transformiert hatte, war ein anerkennenswerter Zwischenerfolg, und wenn Arcadis Bluthunde nicht deren Versteck gefunden hätten hätten sie eine unbesiegbare Streitmacht produzieren können. Doch wenn die Verschmelzung von Menschen und Wanderheuschrecken funktionierte, waren die Myrmekanthropen nicht mehr nötig. Er hatte dann etwas besseres. Nebenbei wollte er die Wanderheuschrecken mit Treiberameisen verschmelzen, um flugfähige, allesfressende Schreckenswesen zu züchten, doch dabei sah er eine Schwierigkeit. Diese Kreuzungen würden nicht so leicht zu kontrollieren sein. Wollte er nicht selbst zum Opfer dieser Neuzüchtungen werden, mußte er was erfinden, was sie sofort abtötete, wenn sie sich gegen ihn wandten oder er und alle, die er für auserwählt befand für diese Wesen unangreifbar beziehungsweise ungenießbar waren. Für alles, was die Größe einer Katze überragte, hatte er etwas, um das ihn bestimmt viele Zauberzüchter beneiden oder ihn wie die Pest fürchten und hassen mochten. Dagegen waren die Willenswickler, wie sie vor Jahrhunderten gezüchtet worden waren träge und schwer zu führende Dinger.

"Mein Vater wird dich dafür umbringen", schnarrte Irina. "Er weiß bestimmt, daß du mich entführt hast."

"Natürlich weiß er das", lachte Bokanowski. "Das ist ja gerade der Spaß an der Sache. Er weiß nur nicht, wo ich mit dir hin bin. Und der Spaß wird groß, wenn du ihn für mich umbringst, damit du genug Nahrung für die Brut kriegst, die du mir zur Verfügung stellen wirst. Voldemort wird sich noch wundern, wie rasch ich Russland mit dir und deinen Nachkommen erobern werde."

"Dafür wirst du noch büßen, du Höllenhund", schrillte Irina. "Das wirst du bitter bereuen."

"Denke ich nicht", erwiderte Bokanowski feist grinsend und ging weiter, während Irina unter den Qualen der fortschreitenden Verwandlung immer gepeinigter stöhnte und kurze Schreie ausstieß.

"Wie hat Sardonia das hinbekommen, ihre Bienenmenschen so rasch und perfekt zu erschaffen. Slytherins Methode war wohl noch nicht gut genug. Das dauert zu lange", dachte der russische Hexenmeister, der vom Zaubereiministerium auf die Gefahrenstufe 12 gesetzt worden war. Die ersten Versuchsobjekte waren ihm verendet, als die Umwandlung gerade interessant wurde. Nur bei der Familie aus Wladiwostok hatte es funktioniert. Mochte es daran liegen, daß sie magieunfähig waren? Dann würde er bald weitere Menschen fangen müssen, und das war nicht ganz risikolos. Andererseits war seit dem Zerfall der Sowjetunion vieles möglich geworden, was vor zehn Jahren noch Probleme bereitet hatte. Im Grunde konnte er die aus den Trümmern des roten Imperiums hervorgegangenen Verbrecherbanden beauftragen, ihm Versuchsobjekte zu liefern. Ob sie ermordet und fortgeschafft worden waren oder ihm hier in seiner heimlichen Festung in Zentralsibirien für interessante Experimente zugeführt wurden war für die dummen, magielosen Menschen doch völlig gleich.

In einem großen Käfig wuselten kalkweiße Fledermäuse herum, die ständig die mit vier nadelfeinen Fangzähnen gespickten Mäulchen aufrissen und bestimmt schrille, aber für Menschenohren unhörbare Schreie ausstießen. Bokanowski merkte davon nur was, weil er dann, wenn ein solches Geschöpf genau in seine Richtung blickte, leichte Ohrenschmerzen verspürte. Das war seine neue Geheimwaffe gegen Vampire. Bald würde jeder halbmenschliche Blutsauger diese bleichen Flattertiere als schlimmsten Alptraum kennenlernen. Denn Bokanowski hatte diese aus nichtmagischen Vampirfledermäusen der Tropen und mit geraubtem Vampirblut gezüchteten Tiere erschaffen. Ihr Biss war pures Gift für magisch entstandene Vampire. Menschen griffen sie nur an, wenn sie von diesen in die Enge getrieben wurden. Passierte dies dann, verblutete der gebissene Mensch, weil der giftige Speichel der Antivampire die Blutgerinnungsstoffe unterdrückte und die Wundheilung behinderte. Doch in der zeit waren sie für ausgewachsene Vampire ungenießbar, ja, sie verströmten einen Geruch, der wie eine Überdosis Knoblauch auf die bleichgesichtigen Blutsauger wirkte. Diese netten kleinen Tierchen wollte Igor bald ausschicken, um Dserschinski und seine Artgenossen heimzusuchen.

Er ging weiter und kam vor einer Tür an, hinter der es leise gluckerte und blubberte. Hier waren die gläsernen Tanks, in denen er seine Seelensterne hielt, schleimige, vielarmige Kreaturen von der Größe einer Kopeke, die sich an Menschen festsaugten und unter ihre Haut fraßen, um dann die Kontrolle über den Willen zu übernehmen. Auf diese Züchtung war er fast so stolz wie auf seinen Durchbruch bei der Vervielfältigung von lebenden Personen ohne die bisher übliche Simulacrum-Zauberei. Auch mit diesen kleinen Geschöpfen würde er bald zum unumschränkten Herren der Zaubererwelt werden, sofern es ihm gelang, die Empfindlichkeit der Seelensterne gegen die Auswirkungen elektrischer Felder zu schützen. Er hatte nämlich festgestellt, daß diese Kreaturen abstarben, wenn in ihrer Nähe eine elektrische Entladung stattfand. Also konnte er sie noch nicht so einsetzen, wie er wollte. Aber er war sich sicher, daß er diesen Mangel bald beheben würde. Auch davon wußte Voldemort nichts, und Bokanowski fand, daß der es auch nicht wissen mußte. Denn wenn all diese Züchtungen, die hier in seinem Laboratorium des Schreckens entstanden ausgereift waren, würde er das Stillhalteabkommen mit dem sogenannten dunklen Lord vergessen. Allerdings, und das mußte sich Bokanowski bei aller Überlegenheit immer wieder klarmachen, war Voldemort als guter Fernfluchspezialist und Meister direkter Vernichtungszauber gefürchtet. Ihn zu hintergehen und zu besiegen wollte er erst dann wagen, wenn seine Schöpfungen allen Widrigkeiten standhielten und er seine Armeen schwarzmagischer Züchtungen für alle Feinde unüberwindlich machen konnte.

"Ich habe nur einen Herrn und Gebieter, Igor Bokanowski! Ihm muß ich gehorchen. Ihn darf ich nicht angreifen!" Tönte eine geisterhafte Stimme hinter der Tür zum Raum mit den Seelensterntanks. Diese magische Stimme erklang immer dann, wenn die für diese Wesen nötigen Nährstoffe in die auf Menschenkörpertemperatur gehaltenen und mit frischer Luft durchmengtem Salzwasser einflossen. Damit wurde jeder Seelenstern darauf konditioniert, seinem zukünftigen Wirtskörper diese fundamentale Botschaft ins Bewußtsein zu pflanzen, daß er nur Igor Bokanowski gehorchen und ihn zu keiner Zeit angreifen durfte.

"Wenn die in England ihren Halloweentag haben, werde ich wohl die verbesserte Form haben", dachte Bokanowski. Dann setzte er seinen Rundgang durch sein unterirdisches Reich gnadenloser Experimente fort.

Er war gerade bei einem großen Käfig angelangt, aus dem es knurrte und brummte wie aus einem Pferch zusammengedrängter Bären, als ein langgezogener Aufschrei durch das Labyrinth hallte. Das war Irina, fuhr es Bokanowski durch den Kopf. Offenbar war ihre Umwandlung in ein entscheidendes Stadium eingetreten. Er beschloss, sie noch einmal zu besuchen und lief rasch zu der Gittertür, hinter der sie hockte. Unterwegs sah er faustgroße Geschöpfe, die teils springend, teils fliegend hin- und herwuselten. Bokanowski bekam einen Schreck. das waren rosarote Kreaturen teils menschlich teils großen Heuschrecken ähnelnd, die mit kräftigen Beißwerkzeugen klickten und auf ihn zukamen. Er zog seinen Zauberstab und schoss einen armdicken Flammenstrahl daraus ab, der die ihn nun direkt angreifenden Geschöpfe traf und verkohlte. Er mußte zwanzig dieser Kreaturen vernichten, bevor er bei Irinas Verlies ankam. Dort sah er mit einer Mischung aus Angst und Enttäuschung, wie mehrere Dutzend dieser faustgroßen Kreaturen den in den letzten Minuten schlagartig veränderten Körper Irinas bevölkerten und daran fraßen, während in rascher Folge weitere dieser Wesen aus ihrem weit geöffneten Unterleib heraussprangen. Irina starrte mit zu drei Vierteln in Facettenaugen verwandelten Sehorganen auf Bokanowski. Um ihren gelblich gewordenen Mund lag ein merkwürdiges Lächeln, so als habe sie Erlösung gefunden. Sie war tot. Doch immer noch quollen diese Wesen aus ihr heraus und begannen sofort, ihren Körper weiter und weiter aufzufressen. Einige Exemplare dieser Brut schlüpften durch die Gitter und sprangen Bokanowski an, der erschrocken zurücksprang. Als ihn messerscharfe Mandibeln am Arm erwischten schrie er vor Schmerz auf. Das durfte nicht sein! Seine eigene Schöpfung griff ihn an! Schnell sprang er weiter zurück, schlug nach den ihn beißenden Unwesen und warf sie von sich. Doch sie kamen wieder. Schnell errichtete er genau vor dem Verlies eine Feuerwand, in der die Brut laut krachend zerplatzte, als sie in den Gang auszubrechen versuchte. Die entkommenen Ungeheuer bekamen einen weiteren Feuerstrahl ab und vergingen darin. Erst als Bokanowski kein Exemplar merh sah, atmete er auf. Er sah mit großem Unbehagen, wie Blut aus zentimetergroßen Wunden quoll und fühlte den pochenden Schmerz. Diese Kreaturen hatten ihn böse verletzt. Die Wunden mußte er sofort behandeln. Doch er konnte seinen Blick nicht von dem Verlies lassen. Durch den blauen Vorhang aus Zauberfeuer sah er die immer mehr von ihrer eigenen Brut aufgefressen werdende Irina Custlova, die er als erste Königin aus Menschen und Wanderheuschrecken verschmolzener Kreaturen heranreifen lassen wollte. Sein Experiment war mißlungen. Die unerwartet entstandene Brut scherte sich nicht darum, daß der Körper, an dem sie fraß der eigenen Mutter gehörte. Dann barst der ganze untere Körper der grausam verunstalteten Irina, und eine Woge dieser widerlichen Nachkommen trat aus. Prasselnd vergingen die kleinen Bestien im Zauberfeuer, doch Bokanowski fürchtete, daß die Brut das beschworene Hindernis durchbrechen und sich in den Gang ergießen würde. Über das alptraumhafte Geschehen, das er selbst heraufbeschworen hatte vergaß er seine Verletzungen und Schmerzen. Erst als kein Exemplar der Insektenwesen mehr lebte und von Irina nur noch zersplitterte Knochen übrig waren, dachte er wieder daran, daß er gerade übel zugerichtet war. Er disapparierte, eine häßliche rote Lache am Boden zurücklassend, um in einem Raum zu landen, in dem eine große, goldene Wanne stand. In dieser Wanne schwappte eine zähflüssige Suspension aus einem von ihm entwickelten Heilelixier und körperunabhängig vermehrter Hautzellen von ihm selbst. Rasch warf er den Drachenhautpanzer vom Leib. Er ärgerte sich, daß er ihn nicht mit dem Unangreifbarkeitszauber verstärkt hatte, der körperliche Gewalt von ihm fernhielt. Das war ein unverzeihliches Versäumnis, eine schwere Unterlassungssünde, wie er nun wußte. Denn die sonst sehr widerstandsfähige Drachenhaut hatte den scharfen Beißwerkzeugen der unvorhergesehenen Brut nicht standhalten können. Er nahm sich nicht die Zeit, das volle Ausmaß seiner Verletzungen zu begutachten, sondern stieg sofort in die Wanne, hielt die Luft an und tauchte ganz in die zähe Brühe ein, die sich sofort um ihn legte wie eine Moorpackung und zu pulsieren anfing. Bokanowski konnte ganze drei Minuten die Luft anhalten. Die Zeit sollte reichen. Er fühlte, wie seine Wunden Pulschlag für Pulsschlag weniger schmerzten und wie ihn neue Kraft durchströmte. Er zählte in Gedanken zwei volle Minuten ab, bevor er seinen Kopf aus der zähen Brühe hob. Auf seinen Augen lag ein rötlicher Schleimfilm, der auch seine Haare verklebte. Doch erst, als er von den beigebrachten Bisswunden nichts mehr fühlte, wagte er, aus der Wanne zu steigen. Er besah sich. unter einem Mantel aus rötlichem Schleim war keine Spur einer Verletzung zu sehen. Seine grandiose Erfindung hatte ihn vollständig geheilt, ohne umständliche Heilungszauber anbringen zu müssen und vor allem ohne einen berufsmäßigen Heiler aufzusuchen. Die Suspension hatte alle verletzten Körperpartien durchdrungen und sie narbenlos verheilen lassen. Jetzt hatte er Zeit, sich zu fragen, was eigentlich fehlgeschlagen war. Wie konnte es zu dieser spontanen Nachkommenschaft kommen? Ihm war nicht bekannt, daß Wanderheuschrecken sich durch Jungfernzeugung vermehrten, was eine Erklärung gewesen wäre. Dann mußte dieser Vermehrungsprozess eine Folge der Umwandlung sein. Vielleicht war es zu einer kaskadierenden Reifung aller Eizellen in Irinas Körper gekommen. Falls ja, dann stand er mit seinem Versuch noch ganz am Anfang. Doch bei der Ameisenverschmelzung hatte es doch keinen solchen Rückschlag gegeben. Er beschloss, ein nicht ganz verbranntes Exemplar genauer zu untersuchen. Womöglich kam er der Rätsellösung damit auf die Spur.

Zwei Stunden später hatte er die Antwort, die er suchte und die ihn wütend machte. Denn von fünf untersuchten Kadavern waren vier männlich gewesen. Das ließ nur den einen Schluß zu, daß Irina kurz vor ihrer Entführung noch mit einem Mann geschlafen hatte. Offenbar hatte die eingeleitete Umwandlung eine Massenempfängnis bewirkt, die bei fortschreitender Verwandlung zu dieser fast verhängnisvollen Brut geworden war. Igor schäumte vor Wut, daß er das nicht vorher überprüft hatte. Er war davon ausgegangen, daß Irina noch unberührt war. Er mußte also Ersatz beschaffen.

Als er an dem Verlies des ebenfalls der Wanderheuschreckenumwandlung unterworfenen Mannes vorüberging, lag dieser tot in der Zelle. Es schien zuerst so, als habe er sich wie eine Insektenlarve gehäutet. Doch statt nur die Haut abzustreifen war das ganze Fleisch von ihm abgefallen. Igor, der die grausamsten Bilder ohne mit der Wimper zu zucken ansehen konnte, grummelte nur, daß er offenbar etwas entscheidendes übersehen hatte und die Forschung mit den Heuschrecken wohl noch gründlicher und vor allem behutsamer betreiben mußte, bis er alles über die Natur dieser Tiere und der richtigen Prozedur ihrer Verschmelzung mit lebenden Menschen wußte. Das ärgerte ihn insofern, weil er bereits vier Monate gebraucht hatte, um den Entomanthropisierungsprozess Slytherins in den ersten Ansätzen nachzuvollziehen. Jetzt noch weitere Experimente machen zu müssen mochte ähnlich lange dauern. Sein großer Angriff auf die Zaubererwelt war damit noch in weiter Ferne, selbst wenn er die aus harmlosen Knuddelmuffs gezüchteten Mördermuffs bald soweit hatte, das er sie auf die Menschheit loslassen konnte. Ihm fehlte dafür noch die richtige Methode zur Massenabtötung. Blieb ihm im Moment also nur sein Schwarm von Antivampiren und sein Durchbruch in der Selbstvervielfältigung. Doch damit konnte er den Pakt mit Voldemort nicht gefahrlos brechen. Bokanowski war sich sicher, daß der Engländer seinerseits darauf hinarbeitete, sich von keinem anderen Zauberer der Welt aufhalten zu lassen. Die Zeit lief, für oder gegen ihn, das wußte Igor Bokanowski nicht. Diese Ungewißheit machte ihm etwas Angst. Doch Angst war für den Meister der grauenhaften Versuche mit lebenden Wesen ein Ansporn, den eingeschlagenen Weg noch verbissener zu verfolgen und ans Ziel zu kommen. Das er Neider und sogar Feinde hatte war für ihn ein alltägliches Ding. Die Neider zu verängstigen und die Feinde zurückzudrängen gehörte für ihn zum tagtäglichen Geschäft. Außerdem, so erkannte er, war jeder Versuch eine Bereicherung, ob er das gewünschte Ergebnis brachte oder nicht. Immerhin wußte er jetzt, daß die Brut der mit Wanderheuschrecken verschmolzenen Menschen sogar Drachenhaut durchbeißen konnte, und das war doch schon was, worauf er stolz sein konnte. So würde er weiterexperimentieren, und zwischendurch eines seiner zwei Dutzend Ebenbilder aussenden, um die Lage zu erkunden. Vielleicht sollte er auch eine freundliche Geste an Voldemort richten, ihm etwas von seiner Kunst überlassen, das ihm selbst nicht schaden konnte. Er dachte da an ein Pulver, das er erfunden hatte, um herkömmliche Abbilder von Menschen zu enttarnen. Auch dachte er an das von ihm erfundene Werwolfwehrelixier, das einem Menschen einen Schutz vor dem Biss eines Werwolfs gab, weil der Mensch einen nur für Werwölfe wahrnehmbaren Geruch verströmte, der sie anwiderte und gleichzeitig die Werwutkeime im Blut unterdrückte, wenn es vor dem Biss eines Werwolfs eingenommen wurde. Oder er gab ihm den Lykanthropiebeschleuniger, der zehnmal so heftig wirkte wie ein Biss eines Lykanthropen in Wolfsgestalt. Als wachsartiger Wirkstoff auf Nadeln, Messerspitzen oder Pfeile aufgetragen wurde ein damit vergifteter Mensch sofort zum Wolf, auch wenn gerade Tag war. Erst nach einer Stunde klang dieser Anfall dann ab, der Mensch blieb jedoch für den Rest seines Lebens ein Werwolf. Leider konnte er nicht mehr herausfinden, ob an dem Gerücht etwas dran war, daß Alfonso Espinado einen Trank erfunden hatte, der einem Werwolf einen gewollten Gestaltwechsel und den Verbleib des eigenen Willens ermöglichte. Dieser Dummkopf mußte sich ja unbedingt mit einer Armee aus Vampiren anlegen und hatte diese und sich dabei selbst vernichtet.

So trieb Igor Bokanowski in Gedanken daran, ob er Voldemort etwas nützliches schenken sollte und welche Arbeit er demnächst zu erledigen hatte. Denn sein Schaffensdrang war noch lange nicht befriedigt.

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Daianira Hemlock drückte den Hebel für die Wasserspülung. Laut plätschernd schwämmte frisches Leitungswasser das in die Kanalisation, was sie gerade in der Toilettenschüssel unter sich gelassen hatte. Die Hexe mit dem oberkörperlangen, haselnusbraunen Haar öffnete die Tür der Toilettenzelle und trat in den gefliesten und gekachelten Flur hinaus, wo zwei weitere Frauen vor den Waschbecken standen.

"Da seid ihr ja, Ardentia und May. Warum wolltet ihr euch hier mit mir treffen und nicht bei mir?" Fragte Daianira und blickte in den Spigel über einem freien Waschbecken, aus dem ihre grauen Augen sehr ungehalten zurückblickten. Warum mußten sie sich hier in dieser Muggelbedürfnisanstalt treffen, nur weil die gegen Zaubererfassung geschützt war?

"Mylady, ich fürchte, das mit der anderen Schwesternschaft ist kein Gerücht mehr", sagte Ardentia. "Ich bekam mit, wie Stella Goldsmith mit Beryl Corner diskutiert hat, daß es an der Zeit sei, daß die Bündnisse der Hexen ihre eigentliche Stärke ausloteten. Beryl Corner hat das natürlich zurückgewiesen und gemeint, nach der Sache mit Hallitti sollten sich alle hinter Davenport stellen und weitere Übergriffe aus dem Ausland vereiteln."

"Stella Goldsmith? Die ist doch keine von uns", erkannte Daianira. Mit "uns" meinte sie die schweigsamen Schwestern, und hier vor allem die von ihr selbst geführte Gruppe der entschlossenen Schwestern, die anderswo böswillig als Nachtfraktion bezeichnet wurde. May Tylor, die für die amerikanische Sektion der entschlossenen Schwestern in der Magtrans, der Abteilung für magischen Personenverkehr und Transport Augen und Ohren offenhielt erwiderte:

"Stella wäre wohl gerne beigetreten. Aber sie hatte keine Fürsprecherin, und deshalb bekam sie keinen Kontakt. Stuhlmeisterin Sevenrock hat es ja abgelehnt, sich Hexen zu offenbaren, die keine eigenen Fürsprecherinnen haben."

"Was auch völlig in Ordnung ist. Ich finde zwar nicht alles gut, was die nette Bobbie so anstellt, aber das beruht wohl auf Gegenseitigkeit", erwiderte Daianira. Dann fragte sie: "Du bist dir ganz sicher, das Jennifers Tochter versucht hat, Beryl Corner anzuspitzen?"

"Ich bin mir sicher", sagte Ardentia Truelane. "Wenn ihr möchtet, könnt Ihr ja die Erinnerung daran einsehen."

"Ich werde darauf zurückkommen, Ardentia", wies Daianira dieses Angebot einstweilen zurück. May Tylor fragte:

"Habt ihr schon was von den Thalianerinnen gehört, ob die mit denen aus dieser neuen Schwesternschaft Kontakt bekommen konnten?"

"Falls ja, dann würde ich das bestimmt nicht hier erzählen", sagte die Hexenlady kategorisch. "Ich möchte von euch beiden wissen, wer was von wem außerhalb unserer Schwesternschaft mitbekommen hat und was daran aus erster Hand ist oder nur Hörensagen. Wir sollten ..."

Die massive Eingangstür der Bedürfnisanstalt schwang auf, und zwei junge Mädchen mit bauchfreien Sommerblusen traten leise miteinander tuschelnd ein. Als sie die ältere und die beiden jüngeren Frauen vor den Waschbecken sahen, stellten sie das Getuschel ein und besetzten zwei Kabinen. Daianira sagte nur:

"Wieder raus an die Sonne! Der Tag ist zu schön, um ihn hier zu verquatschen."

Schweigend verließen die Hexen die öffentliche Toilette und schlenderten ein wenig durch die von Abgasen verpestete Luft in Columbus, Ohio. Ardentia dachte daran, wie sie vor knapp einem Monat ihre offizielle Arbeitskollegin Jane Porter und den muggelstämmigen Jungen Julius Andrews hier abgeliefert hatte, damit sie der Spur des von Hallitti versklavten Richard Andrews folgen konnten. Daß diese Bestie nun vernichtet werden konnte, hing unmittelbar mit dem öffentlichen Toilettenhaus hier zusammen, weil es gegen Aufspürzauber gesichert war.

May Tylor dachte daran, daß sie vor zwei Tagen von einer ehemaligen Schulkameradin angesprochen worden war, die sie fragte, ob sie sich das noch lange bieten lassen wolle, daß Zauberer und Muggel ihr Leben bestimmten. Deshalb hatte sie sich hier mit der Lady getroffen. Doch wo sollten sie sich darüber unterhalten, ohne belauscht zu werden? So gingen sie eine geraume Weile nebeneinander her, bis Lady Daianira sagte:

"Wir klären die Angelegenheit in deinem Haus, May. Sind dein Bruder und seine Familie gerade da?"

"Nein, Mark ist mit Lena und den kleinen gerade bei meiner Mutter. Die hat doch morgen geburtstag", sagte May.

"Gut, dann treffen wir uns da. Ich denke, die beiden zeigefreudigen Mädchen haben mittlerweile erledigt, weshalb sie unseren heimlichen Ankunftsort besucht haben."

Dem war so. So trafen sie sich bei May Tylor, die zusammen mit ihrem Bruder, der Schwägerin und den beiden Neffen Raul und Simon ein großes Haus in der Zauberersiedlung Cloudy Canyon bewohnte. Hier berichtete May der Anführerin leise, was sie selbst erlebt hatte. Lady Daianira meinte dann:

"Es ist also schon so weit, daß diese neue Schwesternschaft offen an die herantritt, von denen sie weiß, wem sie eigentlich folgen. Nun, wenn du das nächste Mal angesprochen wirst, May, dann gehe zum Schein darauf ein! Berichte mir dann, wo ihr euch treffen sollt und wann!"

"Verstanden, Lady Daianira", wisperte May Tylor. Dann verschwanden Ardentia und Daianira. May wußte nicht, daß sie nicht mehr war als eine verschlüsselte Einladung Anthelias, die über der üblichen Schwesternschaft außenstehende Anhängerinnen Kontakt zu Daianiras Gruppe suchte, ohne selbst in Erscheinung treten zu müssen.

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Es hatte sich rasch unter den Schwarzfelskobolden herumgesprochen, daß eine mächtige Hexe ihren König besiegt und die ganz in Todesmetall verwandelte Leiche und seine Herrscherkugel weggetragen hatte. Da die Schwarzfelsler nur einem Anführer folgten, der allen anderen überlegen war, kam es während der zwei Wochen nach Mongrulls Ende zu heftigen Machtkämpfen zwischen den Häuptlingen der in Australien lebenden Schwarzfelsstämme. Die sonstigen Kobolde nutzten dieses Chaos so gut es ging aus und schürten durch Waffenlieferungen Neid und Machthunger unter den sonst so verhaßten Kobolden. Lady Nimoe Fungrove ließ es nicht darauf ankommen, daß ein neuer König groß wurde. Sie und ihre Schwestern besorgten sich Handfeuerwaffen der Muggel und drangen bei Tag in die Wohnhöhlen der Schwarzfelsler ein, wo sie die Bewohner meistens im Schlaf überraschten und mit den Bleikugeln aus den Waffen nur treffen mußten. Mit einer Mischung aus Schrecken und Faszination konnten die australischen Nachtfraktionshexen beobachten, wie die getroffenen Kobolde innerhalb einer Minute zu massiv bleiernen Skulpturen ihrer selbst wurden. So gelang es innerhalb einer Woche ganze Sippen auszurotten. Doch die Kobolde erkannten, daß sie einen übermächtigen Feind gewonnen hatten. So wurde es immer schwieriger, einzelne Stämme aufzuspüren. Irgendwann schien es, daß sie alle verschwunden waren. Doch Lady Nimoe ahnte, daß sie sich nur in ein geschütztes Versteck zurückgezogen hatten und darauf warteten, sich wieder über das ganze Land ausbreiten zu können.

Nimoe war nicht sonderlich glücklich über diesen Sieg. Denn während sie alle Hände voll zu tun hatte, die Schwarzfelskobolde zu bekämpfen, drangen immer wieder Gerüchte zu ihr vor, daß es eine neue, weltumspannende Schwesternschaft gebe, von der nicht klar sei, ob sie eine Abspaltung der bereits existierenden Schwesternschaften war oder eine heimliche Organisation, die von Gehilfinnen des Emporkömmlings begründet wurde, um vornehmlich die Hexen zu rekrutieren, die einerseits nicht direkt dem sogenannten dunklen Lord folgen wollten, aber auch nicht mit den althergebrachten Sororitäten verbunden sein wollten. Nimoe erfuhr am zweiten September, gerade als sie einige australische Bundesschwestern zusammengerufen hatte, daß wohl schon einige ihrer Getreuen dieser neuen, unbekannten Hexentruppe beigetreten waren. Wer das war, wußte niemand.

"Schwestern, ich weiß, wir müssen uns nach außen bedeckt halten und sind daher schwer bis gar nicht zugänglich für Hexen, die keine Fürsprecherinnen in der engeren oder ferneren Verwandtschaft haben", sagte sie bei diesem Treffen, das auf dem unortbaren und Fidelius-Zauber geschützten Fungrove-Anwesens stattfand, welches 160 Kilometer von Melbourne entfernt lag. "Ich bin mir zwar sicher, daß viele nicht zu uns vordringende Hexen dieser neuen Gruppe beitreten, da diese womöglich gerade wegen einer möglichst schnellen Verbreitung und Verflechtung offen für jede entsprechend gesinnte Hexe ist. Ich bin mir aber auch sicher, liebe Schwestern, daß auch welche von uns dieser Organisation beigetreten sind, wir also bereits heimliche Kundschafterinnen in unserer Mitte wähnen müssen. Denn so erklärt sich das mysteriöse Verschwinden unserer bisher so vorbildlichen Delila Pokes, die mir und einigen anderen bei der Bezwingung der Shadelakes geholfen hat, als auch andere Merkwürdigkeiten, die mir in den letzten Monaten aufgefallen sind, sowie Hinweisen aus den nordamerikanischen Staaten, Deutschlands und Frankreichs. Ich wurde sogar schon gefragt, ob ich wüßte, wer diese neue Hexensororität führt und welche Ziele diese Führungshexen verfolgen, sofern es nicht eine einzige Führerin ist, die alle Fäden in Händen hält und daher wohlweißlich gut verborgen lebt. Da ich mir ebenso denken kann, daß diese neue Gruppe ihre Mitglieder vor Entlarvung sichert, wäre ich schlecht beraten, alle und jede hier zu verdächtigen. Ich will nur klarstellen, daß ich nicht besonders begeistert bin, daß da jemand ist, der, besser die meint, unserer altehrwürdigen Verbindung Konkurrenz zu machen. Deshalb sage ich euch allen, ob immer noch loyal oder bereits anderweitig verpflichtet, daß ich jede hart bestrafe, die sich gegen unsere Ordensgesetze vergeht. Gelingt es mir, eine zu erwischen, tritt sie endgültig aus, und zwar aus unserer und der anderen Organisation. Ich kann, will und werde es nicht hinnehmen, sollte eine Bande von unzufriedenen Weibern meinen, dem Emporkömmling unsre fähigsten Schwestern anzudienen, egal aus welchem Grund sie ihm nachlaufen. Wenn es jemand ist, die wie wir nichts mit den Machenschaften des Emporkömmlings zu tun haben will, dann sollte sie sich darüber im klaren sein, daß kein Nachbar es mag, wenn in seinem Revier gewildert wird. Ich gedenke, abzuwarten, wer in Großbritannien die neue Sprecherin unserer Schwesternschaft wird und dann über unsere Verbindungen ein Treffen aller Sprecherinnen zu erbitten. Sollte es sich fügen, daß wir keine oder unzureichende Auskünfte über die konkurrierende Hexengilde erhalten, dann werde ich persönlich davon ausgehen, daß sie mit unseren Feinden paktiert, also mit dem Emporkömmling aus England und den Erben der dekadenten Bande um Grendel und Perdita Shadelake. Ich hörte auch, daß dieser größenwahnsinnige Zauberer, der um den Preis eines verunstalteten Körpers sein Leben schützen wollte, mit einem gefährlichen Magier Osteuropas in Kontakt getreten ist." Sie sah sich um. Ihre Ansprache und die direkte Drohung an die Adresse der Abtrünnigen erschütterte ihre Zuhörerinnen. Als sie dann erwähnte, daß Voldemort einen gefährlichen Verbündeten suchte, sahen sie alle sehr erschrocken aus. Einige von ihnen schienen zu ahnen, wen sie meinte. Maura Dawson bat ums Wort. Nimoe nickte ihr zu.

"meint Ihr den Zauberer, der sich Igor Bokanowski nennt? Ich ging davon aus, er sei bereits von den dortigen Heschern besiegt worden."

"Dieser Meister der widernatürlichen Manipulationen hat ein Talent, sich totzustellen, wenn ihm die Luft zu dick wird, Schwester Maura. Er wäre dem Emporkömmling entweder ein tödlicher Gegner oder ein äußerst hilfreicher Verbündeter. Da wir nicht wissen, wie dieses Treffen ausgegangen ist, müssen wir in unserem vitalen Interesse vom zweiten Fall ausgehen, zumal es keiner Hexe gelingen würde, diesen russischen Widerling zu bekehren, sein Können anders einzusetzen als zur Befriedigung seines Machthungers. Deshalb haben wir in den letzten Tagen die Schwarzfelskobolde so rigoros bekämpft und bis auf weniger als einer Handvoll ausgerottet. Deshalb mißfällt es mir, wenn da eine andere Schwesternschaft entsteht oder schon in die Geschicke unserer Welt hineinfuhrwerkt. Also, liebe Mitschwestern, hütet euch davor, unserer Sache untreu zu werden! Wer bereits für diese obskure Gruppe tätig ist und dies bereut, mag sich überlegen, umzukehren. Vielleicht sollte sie dann auch ein Geständnis ablegen, sofern kein unbrechbarer Schwur oder ein Fluch der unerschütterlichen Treue sie nicht sofort tötete." Sie machte eine Pause, in der die versammelten Mitschwestern tuschelten. Einige von ihnen mochten wohl auch mentiloquieren. Nach einer Minute klatschte sie in die Hände und beendete ihre Ansprache mit den Worten: "Falls bereits Abtrünnige hier und jetzt anwesend sind, so stelle ich sie vor die Wahl, umzukehren oder auf die eine oder andere Weise aus dem Leben zu scheiden. Sich andauernd zu verbergen wird nicht gelingen, und mir nach dem Leben zu trachten wird auf die zurückschlagen, die dies versuchen. wie unsere amerikanische Mitschwester Daianira beschirmt mich der Schutz der rechtmäßigen Fürsprecherin gegen jede, die gewaltsam die Amtsnachfolge erringen will. Soviel dazu, Schwestern. Damit ihr wißt, woran ihr bei mir seid." Mit diesen Worten und einer Handbewegung entließ sie die einbestellten Hexen zwischen achtzehn und hundert Jahren. Als sie sich schweigend, wie ihr Ordensname es besagte aus dem großen Salon und durch den von Bewässerungszaubern mit ausreichender Feuchtigkeit versorgten Park mit den hohen Bäumen und den bunten Blumenwiesen entfernten, überlegte Nimoe, wie sie sich vor möglichen Mordanschlägen schützen sollte. Nach dem Sieg über Mongrull hatte sie eine Zeit lang mittelschwere Kopfschmerzen verspürt und sich von einer Mitschwester aus der Heilzunft behandeln lassen, zumal Maura Texte über die Auswirkungen jener geheimnisvollen Strahlung aus dem Uranerz beigebracht hatte. Nach einigen Blutauffrischungstränken und einer Körpergewebetherapie hatte Flora Honeydew, die Heilerin, sie für vollständig gesund befunden. Aber was, wenn jemand auf die Idee kam, Fernflüche auf sie zu legen? Sicher wußte sie sich davor zu schützen. Doch andauernd darauf zu horchen, daß in ihrem Körper, ihrem Geist oder um sie herum unangenehme Dinge geschahen war ihr auch zu wider. So bereitete sie sich darauf vor, entweder die Drahtzieherin dieser heimlichen Schwesternschaft aus dem Versteck zu locken oder während des Versuchs den Tod zu finden.

Um so erstaunter war sie, als sie am Abend dieses Tages von einer Sumpfohreule besucht wurde, die einen kleinen Brief mitbrachte. Natürlich untersuchte sie den Briefumschlag auf Flüche. Sie fand jedoch keinen. Als sie dann in voller Alchemistenausrüstung mit Säure- und Hitzebeständigen Drachenhauthandschuhen und einer Ätzstaubabhaltenden Gesichtsmaske den Umschlag öffnete zog sie nur einen kleinen Pergamentzettel hervor, auf dem in königsblauer Schrift stand:

"Gruß dir, Nimoe Fungrove. Willst du mehr in Erfahrung bringen über jene Sororitas, welche seit nun einem Jahre besteht, so stelle dich mit einer Begleiterin deiner Wahl am siebenten Tage dieses Monates in der Grotte von Aylon, dem alten vom Weißen Berge ein. Andere hohe Schwestern deines Bundes werden ebenfalls zu diesem Treffen geladen sein. Erwähle dir eine Begleiterin und komme an besagtem Tage zu benanntem Orte! So wirst du die gewünschte Kunde erlangen."

Es fehlte die Unterschrift. Auf der Rückseite des Zettels prangte eine schwarze Spinne in einem silbernen Netz.

"Soso, hat irgendwer von meinen achso treuen Mitschwestern bereits weitergemeldet, was ich angekündigt habe", schnaubte Nimoe. "Es wäre müßig herauszufinden, wer genau das war. Allerdings werde ich nicht blindlings in eine Falle hineinstolpern wie eine neugierige Katze. Ich werde mir diese Grotte genau ansehen, bevor dieses ominöse Treffen ansteht."

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Anthelia war zufrieden. Teils offen, teils über vershlungene Pfade hatte sie dreißig sogenannte Ladies der entschlossenen Schwestern wissen lassen, daß sie am siebten September in einer alten Höhle unterhalb des Gipfels des Mont Blanc vor sie alle hintreten würde. Ursina hatte sie unverhüllt eingeladen, indem sie von Belgien aus eine Eule zu ihr nach England geschickt und offen um das Treffen gebeten hatte. Sie könne, so schrieb sie, eine ihr vertraute Begleiterin mitbringen. Andere, wie Argonie Villefort, die amtierende Sprecherin der französischen Nachtfraktionshexen, also die Vermächtnisverwalterin Sardonias, mußte sie über zehn verschiedene Umwege darauf bringen, daß in der Höhle des Druiden Aylon etwas großes stattfinden würde. Sie hatte der ihr als ziemlich gemütlich und stämmig beschriebenen Hexe mehrere Ansatzpunkte hingeworfen. So mochte sie nun glauben, jemand wolle von England aus die französischen Bundesschwestern unterwerfen, wobei auch der Name Lestrange fiel. Oder sie mochte annehmen, es käme zu einer Vollversammlung aller Sprecherinnen, um eine einheitliche Linie gegen alle ausländischen Feinde zu finden. Natürlich bekam Argonie auch zu hören, daß es da eine neue Schwesternschaft geben sollte, die versuchte, in Frankreich Fuß zu fassen. Dieses, so mußte Anthelia zugeben, kam der Wahrheit am nächsten. Denn auf kurz oder lang wollte sie nach Millemerveilles zurückkehren, um dort das Erbe ihrer Tante zurückzugewinnen. Vorerst mußte sie sich damit begnügen, Aylons Höhle als Treffpunkt unter ihre Kontrolle zu bringen. Denn die alten Wehrzauber des Druiden waren bereits unter Sardonias Herrschaft sehr nützlich gewesen, und Anthelia hatte von Sardonia selbst gelernt, wie man sich die alten Zauber Untertan machen konnte. In Krähengestalt war sie immer wieder in der Nähe der schwer zugänglichen Höhle herumgeflogen. Dabei hatte sie amüsiert festgestellt, daß einige geladene Hexen das Terrain auskundschafteten. Wie konnten die wissen, daß die Grotte, in die sie alle eintretn sollten, ein Wandelraum war, der durch eine passende Zauberformel zu einer ganz anderen Höhle umgestaltet werden konnte. Sicher, sie prüften auch alles auf versteckte Zauber. Doch Anthelia hatte die alte Brosche Aylons, die in einem Steinsockel eingeschlossen war, rechtzeitig an sich genommen. Nur mit ihr würden sich die in der Höhle wirkenden Zauber in ihrer wahren Ausprägung offenbaren. Als wohl alle mißtrauischen Hexen die Höhle inspiziert und die darin schlummernde Magie für überwindlich angesehen hatten, waren sie an ihre Wohnorte zurückgekehrt. Anthelia lächelte, das Treffen, auf dem es entweder zu einem Gesamtbündnis aller entschlossenen Schwestern kommen oder für die Teilnehmerinnen ein unangenehmes Erwachen geben würde, konnte stattfinden.

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"Sag mir was du willst, was du wirklich wirklich willst ...", sang Cecil Wellington zu der Musik aus der Stereoanlage. Sein Vater, beziehungsweise, der mann, der glaubte, sein Vater zu sein, protestierte laut aber vergeblich:

"Mach diese verdammte Schulmädchenmusik leise!"

"Würzmädchen, Daddy!" Korrigierte Cecil amüsiert. Andererseits kamen die fünf jungen Damen aus England doch noch nicht ganz an Madonna heran. Deshalb legte er das 1984er-Album seiner Lieblingssängerin in den CD-Spieler. Der Senator rief nur hinauf:

"In zehn Jahren will dieses Luder von diesem Schund selbst nichts mehr wissen, geschweige denn du."

"Kann sein, aber erst in zehn Jahren", trällerte Cecil gehässig zurück. Dann dachte er: "Wenn ich in zehn Jahren noch leben sollte." Es war schon lange her, etwas mehr als einen Monat, daß die Hexe Anthelia ihn mitten in der Wildnis hatte aussetzen lassen, um zu sehen, ob er durch eine magische Barriere kam. Das war ihm mißlungen, und stattdessen hatten ihn schattenhafte Dämonen überfallen, die eisige Kälte und totale Dunkelheit um sich verbreiteten und dabei die schlimmsten Erinnerungen in sein Bewußtsein hochgespült hatten. Diese Monster aus einer düsteren Welt machten ihn nachdenklich. Würde er irgendwann von Anthelia in die Hölle geschickt? Sie hatte ihm immer erzählt, sie brauche ihn noch, aber er solle sie nicht dazu bringen, es sich anders zu überlegen. Diese Hexe hatte ihn in ihrer Hand, kontrollierte ihn aus sicherer Entfernung, hörte ohne sein Wissen in ihn hinein oder gab ihm telepathische Befehle. Wenn es ihr wichtig war, tauchte sie aus dem Nichts heraus bei ihm auf oder schickte ihre Bundesschwestern Patricia oder Pandora. Ja, sein Körper und das Leben hier waren auch auf Anthelias Mist gewachsen. Weil sie ihn brauchte, als Spion in der magielosen Welt, war er nun Sohn eines erzkonservativen Senators, athletisch und wenn er schön artig Männchen vor seinem Vater machte auch mit üppigem Taschengeld ausgestattet. Morgen fing die Schule wieder an. Er dachte daran, was weiter südlich wohl passierte. Stand Dropout wieder, seine eigentliche Heimatstadt? Da kannte jeder jeden, war ein hilfsbereiter Nachbar und fand immer Zeit und Ruhe, sich zu unterhalten. Hier, in diesem Nobelvorort von Harrisburg, galt man nur, weil man Geld oder 'nen wichtigen Beruf hatte, besser beides gleichzeitig. Er lebte ein fremdes Leben, und keiner außer ihm und diesen Hexen merkte das. Was und wer er früher war war nun bedeutungslos. Für seine natürlichen Eltern war er wohl schon seit mehr als einem Dreivierteljahr tot. Vielleicht waren die jetzt im neuen Dropout und richteten sich neu ein, versuchten den brutalen Bandenkrieg zu vergessen, der die Stadt in Brand gesetzt hatte. Ja, und was war mit dem wirklichen Cecil Wellington, dem Jungen, der vor fast einem Jahr von einem durchgehenden Pferd gestürzt war? Hatte Anthelia ihn getötet? Oder hatte sie ihn in einer überdauernden Form versteckt, bereit, ihn vielleicht wieder in sein Leben zurückzuschicken? Nein, das glaubte der Junge nicht, während Madonna ihr Lied von der Materiellen Welt trällerte, in der doch alle lebten. Er war nun Cecil Wellington, Sohn von Reginald Cecil Wellington und Henriette Annemarie Wellington geborene Lacrois. Er lebte das Leben eines anderen, weil dessen Leben und sein eigenes vorbei waren und eine Gruppe von machthungrigen Hexen wollte, daß er für sie die nichtmagische Welt auskundschaftete, ihnen half, die Menschen zu verstehen, die sie eines Tages beherrschen wollten, der Wegbereiter einer Weltherrin, die sich in diesem Nobelvorort niemand in seinen Träumen vorzustellen wagte. Doch er wußte, sie war nicht die einzige, die im geheimen ihre Fäden sponn und daran zog. Es gab wohl noch andere wie sie, mochten sogar noch schlimmer sein. Er erinnerte sich noch daran, daß er sich gefragt hatte, ob der Mensch aus England, Richard Andrews, nicht auch unter einem Zauberbann gestanden hatte und deshalb so viele Menschen ermorden konnte.

Das lockerleichte Lied verklang "Leben in einer materiellen Welt" sang ein Hintergrundchor aus Bassstimmen und verstrich mit der Musik. Cecil kehrte aus seinen trübseligen Gedanken zurück. Das brachte ihm doch nichts, sich andauernd selbst runterzuziehen. Morgen fing das neue Schuljahr an, morgen würde er seinen neuen Schulfreunden viel zu erzählen haben.

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Anthelia dachte daran, daß es jetzt genau ein Jahr und zwei Monate her war, das sie in diesem Körper wiedergekehrt war. Ein Jahr und zwei Monate hatte sie sich im Hintergrund betätigt, hatte ihren Spinnenorden gegründet und mit dessen Hilfe einige wichtige Entscheidungen herbeigeführt, einen Krieg schwarzmagischer Bruderschaften entfacht, um den Emporkömmling Voldemort um jeden möglichen Helfer zu bringen, hatte über Delila Pokes die Auslöschung der Shadelakes in Australien angeregt und danach mehrere Monate darauf hingearbeitet, die Tochter des dunklen Feuers zu vernichten. Zwischendurch hatte sie sogar ein Duell mit jenem Zauberer ausgefochten, den andere aus Angst nicht bei seinem selbstherrlichen Namen nennen wollten. Schließlich hatte sie es geschafft, Hallitti zu finden und ihren Lebenskrug zu zerstören. Der Junge Julius Andrews hatte ihr dabei nolens volens geholfen, als Köder für diese beinahe unsterbliche Bestie. Der Junge selbst war nun wieder in Beauxbatons, der behütenden aber auch gestrengen Maman Beaux, wie sie und auch ihre Eltern diese Schule anerkennend genannt hatten. Mochte es sein, daß die dort wirkenden Lehrer erahnten, wer ihn in letzter Sekunde errettet hatte. Doch dies war ihr nun nicht mehr so wichtig. Denn hier und heute würde sie einen weiteren großen Schritt tun, das Erbe ihrer ehrwürdigen Tante Sardonia anzutreten. Hier und heute würde sie einen Teil dessen zurückfordern, was sie zu ihrer ersten Lebzeit errungen und verwaltet hatte. Hier und heute würde sie sich den Gesinnungsschwestern zeigen und erklären. Eine Mischung aus Anspannung, Vorfreude, aber auch Unbehagen füllten ihre Seele aus, die nun die eigentümerin des ihren Bedürfnissen angepassten Leibes eines kleinen, aber ehrgeizigen Handlangers dieses Emporkömmlings war. Es mochte sein, daß einige der direkt oder indirekt hierherbestellten Hexen nicht einsehen würden, daß Anthelia das Vermächtnis Sardonias zurückforderte, um es zur endgültigen Blüte zu treiben. Sie hatte keine Angst vor dem Tod. Denn der würde sie in dieser Höhle nicht erreichen, mit oder ohne den Gürtel der zweiundzwanzig Leben. Zwar galt Aylon, der diese Grotte vor zweitausendeinhundert Jahren gefunden und als seine Zuflucht eingerichtet hatte, als einer der menschenfreundlichen Druiden. Dennoch war er so klug, wirksame Abwehrzauber zu errichten, die über alle Jahrhunderte immer noch wirkten, um dem zu helfen, der sie rufen konnte und dabei die Brosche Aylons benutzte.

Die Sonne stand schon mehr als eine Handbreit über dem östlichen Horizont. Die Gipfel der französischen Alpen glänzten in ihrem Schein wie weiße Zaubererhüte. Welche erhabene Kulisse für ein so epochales Treffen, dachte Anthelia, die als große Krähe etwa zwanzig Meter über dem Eingang zur alten Grotte hockte.

Die ersten die eintrafen waren Grande Soeur Argonie Villefort zusammen mit einer Hexe, die Antehlia eigentlich noch rekrutieren wollte, aber von Louisette Richelieu eines besseren belehrt worden war, denn Lucille Dumont war die Nichte der französischen Führerin der entschlossenen Schwestern. Anthelia hatte geschmunzelt, als sie sich vorstellte, daß die beiden ein ähnlich inniges Verhältnis hatten wie sie und ihre Tante Sardonia. Die beiden Hexen ritten auf Ganymed 10, den bisher schnellsten Flugbesen der französischen Zaubererwelt. Die beiden Hexen mit den hochgesteckten schwarzen Haarschöpfen in ihren roten Umhängen stellten sich vor die Höhle. Offenbar trauten sie sich nicht hinein. Mochte es sein, daß sie ahnten, welche Falle diese Grotte für die feinde derjenigen sein mochte, die die alten Zauber aufrufen konnte. Anthelia lauschte auf jedes Wort, daß die beiden wechselten. Sie hielten ihre Bewußtseine wohl verschlossen. Doch Anthelia machte sich darum erst einmal keine Gedanken. Wenn es sein mußte, würde sie schon alles an wichtigen Gefühlen und Erinnerungen hervorzerren können, was die beiden Hexen dort unten wohl verborgen hielten.

"Die Brosche Aylons ist aus dem Altarstein verschwunden, Lucille. Keiner konnte sie da rausholen. Sie hat allen Elementarzaubern widerstanden", sprach Argonie auf ihre Nichte ein.

"Mag sein, daß jemand den Zauber erlernt hat, sie da rauszuholen, Tante Argonie."

"Psst, nicht zu laut. Mag sein, daß wir schon beobachtet werden", zischte Argonie. "Und wende bloß immer Occlumentie an, egal wielange wir hier bleiben!"

Mehr verstand Anthelia nicht. Hinter dem Felsen, wo sie Deckung genommen hatte, hörte sie nicht mehr, was sich die beiden Hexen zuflüsterten.

Zehn Minuten später schwirrten weitere Besen heran. Es hatte sich also herumgesprochen, daß die Grotte einen Schutz vor dem Apparieren hatte. Etwas, daß Sardonia selbst eingerichtet hatte. Ob Argonie und ihre Nichte davon wußten? Anthelia sah Lady Ursina, die in Begleitung einer Hexe anreiste, die ihr ähnlich sah. Es war nicht ihre Schwester Megara, soweit war Anthelia informiert. Ja, es mußte ihre Nichte Proserpina sein, eine begnadete Zaubertrankmeisterin und Ehefrau eines Unfähigen, Mutter einer Tochter, die gerade in Hogwarts in die vierte Klasse ging, sofern die beiden englischen Hexen sie dorthin zurückzuschicken wagten. Argonie sah die Besucherin von der angelsächsischen Insel an und schien sichtlich verwirrt zu sein. Vielleicht, vermutete Anthelia innerlich amüsiert, meinte Argonie nun, Ursina sei jene welche sie hier treffen wollte. So konnte Anthelia einige erregte Wörter hören:

"Du bist nicht tot, Schwester Ursina. Aber der Emporkömmling hat dein Haus niedergebrannt."

"Eben nur mein Haus, Schwester Argonie", erwiderte Ursina in astreinem Französisch. "Du hättest dich auch vorbereitet, wenn dieser Kerl dir so augenfällig nach dem Leben trachten würde."

"Dann könnte es eine Falle sein, Schwester. Vielleicht will er uns alle hier zusammenbringen und dann ermorden. Ich weiß nicht, wer noch hier hinkommt."

"Wahrscheinlich Nimoe Fungrove, wenn die einen Besen findet, der sie um die halbe Welt bringt", spottete Ursina, während ihre Nichte die Grotte mit dem Zauberfinder bestrich.

"Proserpina, die alte Grotte wird dir nicht erzählen, was sie mal konnte. Warte bitte, wer uns nachher hier begrüßt!" Sagte Ursina.

"Er vielleicht?" Erwiderte Argonie mißtrauisch. "Oder hast du uns hierher bestellt, damit wir sehen, daß du ihn überlebt hast, Ursina?"

"Ich weiß, wer uns hier erwartet, kann es aber nicht sagen. Die Person hat mich wohl mit einem verflixten Eidesstein festgenagelt", knurrte Ursina, die wohl die Katze aus dem Sack lassen wollte.

Weitere Besen flogen an, Anthelia erkannte die Sprecherin der deutschen Hexen und ihre leibliche Schwester, sowie die kleine, drahtige Arista Casarossa aus Italien, die offenbar keine vertrauenswürdige Mitschwwester mitgebracht hatte.

Als die zwölf wichtigsten Nachtfraktionshexen Europas versammelt waren, trudelte Daianira Hemlock zusammen mit Pandora Straton ein. Anthelia nickte zustimmend. Immerhin war schon einmal eine ihrer eigenen Getreuen hier. Dann kam Nimoe Fungrove zusammen mit der muggelstämmigen Hexe Maura Dawson, die offenbar die neue rechte Hand der linkshändigen Hexenlady war. Anthelia hatte auch daran gedacht, sie für sich zu werben. Doch ähnlich wie bei Lucille Dumont hatte sie davon abgesehen, weil Maura Nimoe zu sehr verbunden war. Vielleicht ergab sich am Ende dieses Tages die Gelegenheit, eine weitere Bundesschwester auf dem fünften Kontinent zu haben, ja vielleicht die gesamten entschlossenen Schwestern dort anzuführen. Auffällig an Nimoes Bekleidung war der weite violette Mantel mit sechs großen Knöpfen. Anthelia sah genauer hin. Irgendwie war ihr, als sei dieser Übermantel lebendig. Mochte es sein, daß Nimoe einen teilbelebten Mutationsmantel trug, der sich an das Wetter, die Umgebungstemperatur oder die gerade besuchte Umgebung anpasste wie ein tragbares Chamäleon?

Ach, die Schwarzfelsschlächterin ist auch geladen", feixte Gerda Rübsam, die deutsche Nachtfraktionsführerin, welche britisches Englisch sprach, um von Nimoe auch ja verstanden zu werden.

Als die letzten geladenen Hexen aus Südafrika und Patagonien ankamen stand die Sonne bereits knapp unter dem Zenit. Keine traute sich in die Höhle hinein. Offenbar witterten alle darin eine Falle. Doch Anthelia wollte haben, daß sie in die Grotte gingen. So mentiloquierte sie Pandora Straton:

"Frage bitte, was es mit der Höhle auf sich hat und betrete sie dann!" Sie wartete, bis Pandora Straton, die den Höhleneingang genau musterte die Frage an alle gerichtet hatte. Argonie erzählte ihr, daß ein alter Druide sie mit diversen Zaubern belegt habe, von denen aber heute keiner mehr so recht wisse, was es damit auf sich hatte. In der Haupthöhle sei eine silberne Brosche in einem altarartigen Stein fest verankert gewesen. Doch seit ihrem letzten Besuch vor vier Jahren, wo sie meinte, dem Höhlengeheimnis endlich auf die Spur gekommen zu sein, fehle die Brosche. Pandora, als Expertin für Zaubereigeschichte den Schwestern hier wohl bekannt, tat so, als müsse sie diesen Kultstein unbedingt begutachten und ging in die Höhle hinein.

"Wenn dies eine Falle ist", hörte Anthelia Daianira knurren.

"Ich habe diese Höhle untersucht. Welche Magie immer darin wohnt, sie ist nur noch statisch", erwiderte Nimoe und tat damit Kund, die Höhle genau überprüft zu haben. Auch andere Sprecherinnen der entschlossenen Schwestern hatten die Höhle wohl vorher genau untersucht. Als Pandora unversehrt wieder herauskam und sagte, sie habe außer einem Gesteinshärtungszauber und besagtem Kultstein nichts finden können, nickten alle. Nimoe hob ihren Zauberstab und zielte über den Höhleneingang.

"Mal sehen, was sonst noch unterwegs ist", sagte sie und rief den Vivideozauber auf. Anthelia hatte damit gerechnet. Deshalb hatte sie den Felsen, hinter dem sie hockte vorsorglich mit einem Umlenkzauber belegt, der sie unauffindbar machte. Als Nimoe niemanden und nichts lebendiges finden konnte, was größer als ein paar Insekten war und nicht aus fest im Boden verwachsenen Wurzeln spross, betraten alle die Höhle, ihnen voran Argonie, die "Hausherrin". Ganz zum Schluß schlüpfte Paulina Rayo in die Höhle, die zentralamerikanische Nachtfraktionssprecherin, die in den Bergen Ecuadors ein stattliches Haus besaß. Eine volle Minute wartete Anthelia noch. Dann flog sie hinter ihrem Felsenversteck auf, segelte beinahe lautlos zu Boden und verwandeltete sich in ihre ursprüngliche Gestalt. Dann zog sie die silberne Brosche Aylons aus ihrem weißen Kapuzenumhang, verbarg ihr Haar und ihr Gesicht und betrat die Höhle. Die Brosche vibrierte, und Anthelia wisperte zwei alte Worte, die den äußeren Schutzbann aus langer Untätigkeit erweckten. Als sie vor der Haupthöhle stand blickte sie in sehr erwartungsvolle Gesichter hinter erleuchteten Zauberstäben. Sie sagte auf Englisch, von dem sie wußte, daß es hier alle konnten:

"Ich heiße euch herzlich willkommen, Schwestern. Danke, daß ihr alle meiner Einladung gefolgt seid."

"Bevor du dich als unsere Schwester ausgibst, will ich dein Gesicht sehen", schnarrte Argonie Villefort sehr verärgert und bewegte ihren Zauberstab. Anthelia machte mit ihrem silbriggrauen Zauberstab eine geschmeidige Abwehrbewegung, und Argonies Arm sackte wie von einer Zentnerlast gezogen nach unten.

"Verdammt", knurrte die französische Hexe. Nimoe und Ursina blickten erstaunt aber auch argwöhnisch auf die noch vermummte Nachzüglerin.

"Erst wenn wir alle in der erhabenen Höhle sind und wir nicht mehr von außenstehenden belauscht oder heimgesucht werden können, werde ich euch mein Aussehen und meinen Namen offenbaren", sprach Anthelia mit raumfüllender Stimme. Alle fühlten, daß eine unleugbare Kraft von dieser Fremden in Weiß ausstrahlte, eine Kraft, die einer zu herrschen gewohnten Person innewohnt und ständig darauf lauert, gegen jeden Widerstand anzustürmen, der sich ihr bot. Anthelia winkte mit der freien Hand, weil Nimoe und Maura ihr nicht aus dem Weg gehen wollten. Tatsächlich blieb die australische Hexenlady stehen wo sie stand. Anthelia seufzte verdrossen und konzentrierte sich auf die grauhaarige Hexe, deren Zauberstab einsatzbereit in der linken Hand lag. Unvermittelt verlor Nimoe den Boden unter ihren Füßen, stieg erschrocken aufschreiend nach oben, hoch genug, daß Anthelia unter ihr durchgehen konnte, ohne von ihr getreten werden zu können. Erst als sie sicher bei dem Kultstein ankam, neben dem Pandora Aufstellung genommen hatte, als wolle sie ihn bewachen, ließ sie Nimoe wieder absinken.

"Ich bin es nicht gewohnt, um freie Wege zu betteln", schnarrte Anthelia ungehalten und machte damit klar, daß sie keinen Spaß verstand und sich hier nicht herablassen würde, irgendwen um irgendwas zu bitten. Außerdem hatten es alle gesehen, wie spielerisch sie Nimoe hatte hochsteigen lassen. Dieses eigentlich nicht beabsichtigte Kunststück ihrer telekinetischen Kraft beeindruckte die Hexenladies lange genug, daß Anthelia sich hinter den Kultstein stellen und Pandora mit einer lässigen Handbewegung zwei Schritte zurückscheuchen konnte. Dann ergriff sie wieder die Brosche Aylons, zeigte sie allen vor, wobei das magische Schmuckstück grünlich zu leuchten begann. Eine der Ladies zielte mit dem Zauberstab darauf und rief: "Accio!" Doch Anthelia hielt die Brosche mit ihrer telekinetischen Kraft fest und sagte "Asharka!" Die Hexe, welche die Brosche hatte zu sich holen wollen, schrie auf und verlor ihren Zauberstab aus der Hand.

"Die gehört mir und wird mir auch keine von euch entwinden", bemerkte Anthelia wieder mit dieser kraftvollen Überlegenheit sprechend. Dann legte sie die Brosche in eine genau passende Mulde im Zentrum des Altarsteins und sprach vier Zauberworte, die drei Dinge bewirkten: Die Brosche leuchtete nun sonnengelb auf und verband sich fest mit dem Stein. Kleine Blitze schlugen von ihr zu Anthelia über, die sie mit weiten Armen auffing und unter ihnen regelrecht aufgeladen wurde. Der Boden der Höhle bebte und verschob sich, und da, wo eben noch ein einzelner Durchgang gewesen war, verzweigten sich nun fünf schmale Gänge wie ein in das uralte Gestein eingearbeiteter Drudenfuß. Die Grotte zeigte nun ihr wahres Gesicht. Mit einem weiteren, nun wesentlich leichteren Telekinese-Vorgang, folgte Anthelia dem Beispiel der Grotte. Ihre Kapuze flog zurück, ihr sommersprossiges Gesicht unter dem strohblonden Haarschopf glänzte nun im Schein eines warmen, flammenlosen Lichtes, das großflächig von der Decke herableuchtete. Außer Ursina, die ja wußte, wen sie da treffen würde, starrten alle auf die sich ihnen gerade zeigende Hexe, die sie warm und ruhig anlächelte. Proserpina Drake stieß aus:

"Sie sieht dem jungen Crouch sehr ähnlich. Womöglich ist sie seine Schwester. Dann hilft sie ...."


"Bestimmt nicht", bellte Anthelia. "Weder bin ich dieses fehlgeleiteten Jünglings Schwester, noch diene ich diesem Wicht, den ihr wie ich einen Emporkömmling heißt und meint, durch blindwütige Gräueltaten und unstillbaren Machthunger die Welt der Hexen und Zauberer unterwerfen zu können. Dieser Leib, dem ich innewohne, gehörte einst diesem jungen Mann, dessen Vaters Wut und dessen Mutters Gnade ihn zu einem Leben in Gefangenschaft verurteilten. Er kam frei, weil jener unwürdige Zauberer, der sich überheblich Lord Voldemort nennt, ihn für einen heiklen Auftrag benötigte, den dieser Bursche auch in todesverachtender Treue befolgte, dabei entlarvt und von einem der düsteren Wesen, die ihr heute Dementoren nennt, seiner angeborenen Seele beraubt wurde. Dieser Leib wurde jedoch nicht getötet, und so konnte ich ihn übernehmen, nachdem ich, weil es meinem natürlichen Geschlecht behagte den seelenlosen Leib in den einer Frau habe wandeln lassen."

"Du lügst!" Schrie Argonie erbost und wollte den Zauberstab wieder anheben. Doch Anthelia sah nur konzentriert auf den Arm der französischen Nachtfraktionsführerin, und der Stab wurde niedergedrückt.

"Ich war noch nicht fertig, Madame Villefort", schnaubte Anthelia. "Es ist die lautere Wahrheit, die ich euch deshalb kundtue, weil ich die Zeit für gekommen erachte, unsere Kräfte zu bündeln."

"Dann sage uns doch ganz einfach mal, wer du bist, wenn du schon behauptest, du seist eine Wiederkehrerin", schlug Nimoe vor und erntete von allen ein zustimmendes Nicken.

"Nun gut, darum seid ihr hier. So höret und merket auf! ich bin Anthelia vom Bitterwald, Tochter der Nigrastra und des Polonius, Nichte der großen Sardonia, der mächtigsten Hexe der Neuzeit."

Diese Offenbarung schlug in die Reihen der Schwestern wie ein schwerer Stein in einen ruhigen See. Alle sahen sie verwirrt und ungläubig an, bis auf Ursina, die sich früher schon davon überzeugt hatte, es mit Anthelia zu tun zu haben. Sie tuschelten und öffneten für mentiloquistische Botschaften auch ihre Bewußtseine, so daß Anthelia sporadische Gedanken erspüren konnte. Ja, viele glaubten es nicht, von Pandora Straton abgesehen, die maßgeblich an Anthelias Wiederkehr beteiligt gewesen war und nun neben Daianira Hemlock stand und mit ihr aufgeregte Worte Wechselte, ihre Rolle der überraschten Hexe ausspielend.

"Anthelia ist in England im Alter von einhundertvierzig Jahren an einer Herzschwäche gestorben", warf Proserpina ein. "Wenn du sie bist, was hast du dann getan, um zurückzukehren?"

"ich fand einen Weg, meine Seele aus dem Körper zu lösen, bevor dieser endgültig seinen Dienst versagte. Ich fand ein magisches Gefäß, in dem mein pures Sein bestehen bleiben konnte. Später erlangte eine meinen Zielen sehr zugetane Hexe dieses Gefäß, trat mit mir in Verbindung und wurde von mir geheißen, mir einen neuen, lebendigen Körper anzubringen, was sie dann auch schaffte. Wer diese Hexe ist, werde ich nicht preisgeben."

"Du Hochstaplerin", schnarrte Argonie, nun Französisch sprechend. "Du kannst unmöglich Anthelia oder Sardonia sein. Es gibt nur einen Weg, den eigenen Tod zu überdauern, und das ist der Weg, den der Emporkömmling ging. Da dieser Weg jedoch einen hohen Zoll fordert, weiß ich, du kannst unmöglich aus dem Totenreich wiedergekehrt sein oder den Tod überdauert haben, und das noch über so lange Zeit. Wer bist du?" Sie riss nun den Zauberstab hoch und wollte den Imperius-Fluch anbringen. Doch Anthelia ging hinter dem Altarstein in Deckung, und anstatt von der alle Gedanken fortwischendn Glückseligkeit übermannt zu werden, erzitterte der Stein vor ihr, und Argonies Zauberstab sprang ihr aus der Hand und klapperte zu Boden. Dann war es an Anthelia, einen Zauber zu wecken. Mit einem Wort und einer blitzartigen Schlagbewegung des Zauberstabs ließ sie mit lautem Fauchen vor jedem der fünf schmalen Ausgänge eine violette Feuerwand aufflammen. Nun waren alle, die sie hier drinnen waren eingesperrt, weil es nicht möglich war, zu disapparieren.

"Ich habe euch gerade bewiesen, daß ich die bin, die zu sein ich euch offenbarte. Denn nur meine Mutter, meine Tante und ich vermochten, die Zauberkräfte dieser Höhle in unseren Dienst zu stellen. Ich hielt euch nicht für so blind, daß ihr es nicht sehen konntet, wie rasch ich die Brosche mit dem Opferstein verband und wie gehorsam die magische Grotte ihr Inneres wandelte. Und jetzt, wo dein Imperius-Fluch dir den Zauberstab fortgeprällt hat, weil die Macht von Brosche und Opferstein jede Gewalt wider meinen Leib oder meinen Willen zurückschlägt, sollte euch einleuchten, daß ich eine der drei sein muß, die die Macht der Höhle zu befehligen vermag. Wäre ich Sardonia, so hätte ich jede von euch schon gezüchtigt, die mich als Hochstaplerin beschimpfte. Wäre ich Nigrastra, hätte ich euch nicht zusammen hier einbestellt, sondern jede einzeln. Meine ehrwürdige Mutter setzte Klugheit über Mut und tat nichts, was ihr entgleiten konnte. Meine hochrespektable Tante, auf die ihr alle euch immer noch besinnt und beruft, wenn ihr dieses befindet und jenes anschafft, sowie ich haben stets genug Entschlossenheit und Wagemut aufgeboten, um uns drohende Nachteile zu verdrängen und unsere Vorteile bis zum letzten zu nutzen, auch wenn dabei ein großes Maß Gefahr im Spiel war. Ich wäre jetzt nicht hier, hätte ich damals nicht gewagt, mich dem besagten Gefäß anzuvertrauen, in welchem ich unbestimte Zeiten reglos warten mußte. Ihr wäret nicht hier, hätte ich euch nicht geheißen, herzukommen. Denn wenn ich nicht befunden hätte, daß die Zeit gekommen sei, mich euch zu offenbaren, würdet ihr immer noch ahnungslos eure kleinterritorialen Geplänkel ausfechten, jede für sich, nicht im Verbund einer großen Gemeinschaft, die einst gegründet wurde, die Menschheit vom Irrweg männlichen Ungestüms und Händels abzubringen und auf einen besseren Weg unter Obhut und Leitung der Hexenheit in eine friedliche Zukunft im Einklang zwischen Menschen und Natur zu führen. Nach großen Hexen wie Medea von Rainbowlawn, Kunigunde Geißblatt, Lorella Cinquesoli und Sardonia zerfiel der große Bund zu einem Gebilde aus beinahe abgelösten Fragmenten, nur noch zusammengehalten durch die Ehrfurcht vor der glorreichen Geschichte und der Verpflichtung gegenüber den Vorgängerinnen. Heute beschränkt sich euer Werk auf örtliche Veranstaltungen, beinahe kraftlosem Widerstand gegen einen zur Zeit nur auf die britischen Inseln beschränkten fehlgeleiteten Magier und Berufung auf eine lange und ruhmreiche Geschichte. Ihr habt euch von den unentschlossenen Mitschwestern zügeln und an Führstricke binden lassen, anstatt sowas wie diesen Voldemort, diesen Tom Vorlost Riddle, davon abzuhalten, sich derartig unflätig breitzumachen. Die Folge ist, ihr könnt euch nicht lange behaupten. Immerhin wurde ich von Getreuen, die ich mit Leichtigkeit in euren Reihen werben konnte, zu Hilfe gerufen, um einen Gräuelfeldzug wieder alle Hexen zu unterbinden. Ursina, du beschränktest dich darauf, dich totzustellen, natürlich in bester Absicht, deine Familie vor Nachstellung zu schützen. Nun, wo er sich selbst Verbündete gesucht hat, die jeder einzelnen von euch und auch mir gefährlich werden können, dürfen wir uns nicht länger in territorialen Beschränkungen einigeln. Es wird wieder Zeit, daß unsere große Gemeinschaft mit einer starken Führung die Wehr gegen die zerstörungssüchtigen Machenschaften solcher Leute wie Voldemort stärken."

"Ich glaube dir kein Wort", schrillte Gerda Rübsam. "Du bist nur eine unzufriedene, vielleicht von zu viel Glück betrunkene Hexe, die nun meint, alte Größen zu beschwören, um die eigene Kleinheit zu überspielen. Ich ging davon aus, hier wen zu treffen, die uns erzählt, was das soll mit dieser angeblichen neuen Schwesternschaft. Langsam denke ich, daß wir uns umsonst gesorgt haben. Ich fürchte diese Feuerwand nicht. Ich werde jetzt gehen und zu meinen anständigen Schwestern zurückkehren."

"Versuch es. Die Flammen werden dich nicht durchlassen", erwiderte Anthelia. "Wenn du meinst, meine Zeit durch deine Sturheit lächerlich zu machen, dann sieh zu, wie du in der Barriere verglühst. Außerdem weißt du nicht, welchen Weg du nehmen mußt, um den Ausgang wiederzufinden. Diese Grotte hat sich eben gründlich gewandelt. Wo vorher der Ausgang war, wird wohl nur massiver Fels sein."

"Das werden wir sehen", knurrte Gerda und wandte Anthelia den Rücken zu, schlüpfte aber so zwischen den anderen Schwestern hindurch, daß ein heimtückischer Angriff eher eine von den unbeteiligten treffen würde. Vor der Feuerwand hob sie ihren Zauberstab und sprach einige Worte. Um ihren Körper entstand eine gleichfalls violette Feueraura. Anthelia nickte. Sie hatte die Natur der Feuerbarriere erkannt und sich nicht in den Flammengefrierzauber eingehüllt, sondern in einen Mantel aus gleichwertigem Zauberfeuer, um die Wand durchbrechen zu können. Doch sie wußte, wie tückisch die von ihr beschworene Feuermagie war. Wer die Wände nicht mit den eigens dafür vorbereiteten Zaubern erlöschen ließ, entkam dieser Halle nicht. Als Gerda nun selbstsicher auf die Flammenwand zuschritt, dachten alle, sie könne sie unbehelligt durchschreiten. Doch keinen halben Schritt vor der lodernden Wand wechselte diese übergangslos die Farbe und wurde giftiggrün. Gleichzeitig sprühten violette und grüne Funken zwischen der Feueraura und der Flammenbarriere. Gerda hielt für einen winzigen Moment inne. Dann tat sie den Schritt genau auf die Feuerwand zu, den letzten Schritt ihres Lebens. Denn kaum daß die violette Feueraura die grüne Feuerwand berührte, wurde Gerda von grellen, blauen Feuerzungen umschlungen. Ihr entsetzter und schmerzgepeinigter Aufschrei hallte nur eine halbe Sekunde in der Höhle. Dann erloschen die blauen Flammen. Dort wo Gerda Rübsam eben noch gestanden hatte, lag nur noch ein grauer Aschenhaufen. Gerda war innerhalb einer Sekunde restlos verbrannt, wie ein dünner Reisigzweig in einem Feuermeer.

"Sagt mir ja nicht, ich hätte sie nicht gewarnt!" Kommentierte Anthelia die gerade stattgefundene Vernichtung Gerda Rübsams. Gerdas Begleiterin, eine grauhaarige Hexe, sah sich verängstigt umm. Sie erhob ihre Arme flehend zu den anderen Schwestern, als sollten diese sie vor Anthelias Vergeltung beschützen. Doch Anthelia war nicht nach Vergeltung. Gerdas abrupter Tod erschien ihr einschüchternd genug. Denn sie hatte nie vorgehabt, auch nur eine der hier versammelten zu töten. Doch nun, wo eine es darauf hatte ankommen lassen, sagte sie entschlossen:

"Hier geht nur hinaus, wer mir und allen anderen öffentlich Zeugnis ablegt, daß wir alle von nun an zusammenarbeiten. Da ich, wie es euch langsam endlich klar sein sollte, die direkte Erbin Sardonias bin, erhebe ich Anspruch auf die oberste Führung. Jede von euch mag in den Landen wo sie wohnt weiterhin die Geschicke lenken, sich aber regelmäßig mit mir abstimmen, wenn es um weltumspannende Aufgaben geht."

"Dein Feuerzauber war schon beachtlich, Hochstaplerin", schnarrte Argonie. "Wahrscheinlich reagierten die Flammenwände auf ihnen gleichwertige Hüllzauber mit schlagartiger Verkehrung und Potenzierung gemäß den Gesetzen von Pyrogaster Bonaires. Aber ich weiß, daß diese Magie nur solange wirkt, solange das körperlich-geistige Agens besteht, welches sie erzeugt hat. Ich werde weder mich, noch meine getreuen Schwestern deiner Führung unterwerfen. Denn nur ich hüte das wahre Erbe Sardonias, die hier in diesem, meinem Land gewirkt hat. Wenn du wirklich Anthelia bist, so warst du immer nur eine Befehlsempfängerin und hast dich nach England abgesetzt, weil Sardonia zu mächtig war, um sich von jemandem in ihre Angelegenheiten reinreden zu lassen. Also ist es mir egal, ob du Anthelia bist oder eben nur eine geltungssüchtige Hochstaplerin. Uns hier einzusperren und zu nötigen war dein letzter Fehler. Avada ....!" Argonie hielt ihren Zauberstab wie einen Wurfspeer gegen Anthelia und rief das erste der zwei verbotenen Worte. Doch bevor sie den tödlichen Fluch vollständig ausrufen konnte, schlug eine grüne Feuersäule, vom Licht her ähnlich jenem tödlichen Blitzstrahl, den Argonie gerade schleudern wollte, mit dumpfem Knall zur Decke empor und blieb genau eine Sekunde wild flackernd stehen. Dann, mit einem tiefen Wuff-Laut, stürzte die Feuersäule in einer Zehntelsekunde in sich zusammen. Eine Spirale aus Asche, die knapp unter der Decke schwebte, glitt sich langsam in immer dünnere Spiralarme auflösend hernieder. Argonie Villefort gab es nicht mehr. Sie hatte nicht einmal mehr den Mund zu einem letzten Schrei öffnen können. Lucille fiel wie vom Schlag getroffen auf die Knie und begann zu weinen.

"Bevor jemand hier glaubt, ich hätte Argonie willentlich vernichtet erinnere ich gerne daran, daß diese Höhle mächtige Wehrzauber besitzt, die ich bei unserer Ankunft hier erweckte. Einer davon, die Todeswehr, beseitigt unmittelbar und unbarmherzig jeden, der genug Mordlust und Tötungsabsicht gegen die Gebieterin über diesen Zauber schleudert. Argonie hätte das bedenken können und müssen. Ich hoffe inständig, daß keine weitere von euch diese Höhle auf eine ähnliche Weise und ohne Wiederkehr verlassen will", sagte Anthelia, als alle sich wieder ihr zuwandten. Ursina ergriff nun das Wort, wo die französische Kollegin nicht mehr da war.

"Lady Anthelia, ich weiß, daß ihr seid, wer zu sein Ihr uns erzählt habt. Aber versteht bitte, daß ohne alle Details zu kennen, wie Ihr euren ersten Tod überdauern konntet und nun wieder vor uns stehen könnt, keine hier so recht hinnimmt, daß ihr Anthelia seid. Doch auch ich kenne die Geschichte dieser Grotte und hörte von Zaubern, die jeden töten, der selbst töten will. Ich wundere mich, daß Argonie diese Geschichte nicht kannte oder sie schlicht weg verdrängt hat. Offenbar ging sie davon aus, daß Ihr nicht über diese mächtige Abwehr verfügt, die jeden Todfeind gnadenlos beseitigt. Auch ich wollte nicht recht glauben, daß Aylon derartig drastische Absicherungen erdacht hat."

"Er war von Feinden umringt, Lady Ursina", sagte Anthelia ruhig. "Er befand, daß es unter schweren Umständen nötig sei, keine Gnade zu üben und die Feinde damit zum Nachdenken zu bringen, ihm nicht nach dem Leben zu trachten. Das hat auch funktioniert, nachdem fünf seiner Todfeinde diesem Sofortvernichtungszauber anheimfielen, dem Argonie leider zum Opfer fiel, weil sie meinte, mich töten zu müssen. Wäre Euer Tod mein Ziel, um mir mit Gewalt zu nehmen, was ich auch mit Überzeugung und Besonnenheit erlangen kann, hätte ich euch nicht hergerufen. Ich hätte mir jede von euch vornehmen und hinrichten können. Wie viele von euch ja mitbekommen haben, gelang es mir, auch aus euren Reihen getreue Schwestern für meinen Orden zu werben, der mit eurem zusammen eine starke Gemeinschaft bilden und damit die Machenschaften des Emporkömmlings vereiteln kann. Diese Schwestern schlossen sich mir an, weil sie erkannten, daß nur in einer größeren und vor allem gebündelten Entschlossenheit der Schlüssel zur Vollendung dessen liegt, was Medea und meine hochrespektable Tante erreichen wollten. Ihr könnt es nicht leugnen, daß wir den magieunfähigen Menschen dieser Welt zu lange zu freie Hand gelassen haben, sodaß sie durch Zaubereiersatzartefakte davor stehen, sich und uns zu vernichten. Nur wenn wir jetzt zusammengehen und erst in der Zaubererwelt, und dann nach Aufhebung der unsinnigen Geheimhaltungsvorschriften auch in der Welt der sogenannten Muggel unsere Ziele verankern, haben wir die Chance, das Ungleichgewicht zwischen Menschheit und Natur zu korrigieren und diesen Planeten wieder zu einem großen, blühenden Garten zu machen, in dem zu leben eine Freude ist und in dem die Menschheit über Jahrtausende friedlich fortbestehen kann", sprach Anthelia und vollführte um Aufmerksam und Zustimmung bittende Gesten. Dann wartete sie. Es dauerte eine Minute. Dann sagte Daianira:

"Ich bekomme Euer Wort, daß Ihr mir nicht in die amerikanischen Angelegenheiten reinredet, solange das große Ganze nicht betroffen ist?"

"wie gesagt, ich möchte Euch nicht von Euren hart errungenen Plätzen verdrängen. Mir geht es nur darum, daß es wieder eine Einheit zwischen den Schwesternschaften gibt. Der von mir und den mir zugesellten Schwestern gegründete Orden wird der Dreh- und Angelpunkt der neuen gemeinsamen Verbundenheit sein. Ansonsten mag jede ihre erreichte Position behaupten. Ich weise nur darauf hin, daß jeder Versuch, mich zu hintergehen und meinen Anspruch auf Sardonias Erbe streitig zu machen von mir ohne jede Gnade bestraft wird, und ich muß nicht immer jemanden töten, um zu strafen."

"Erzähl mir sofort, wer von meinen Schwestern bereits hinter dir herläuft", schnarrte Nimoe. Sie wußte wohl, daß kein gegen Anthelia gerichteter Fluch wirken mochte, doch sie schien sich ihrer Sache sicher zu sein, Anthelia mit Drohgebärden einschüchtern zu können. Dann machte sie eine rasche Schwenkbewegung mit dem Oberkörper, und ihr Mantel rutschte von den Schultern. Anthelia konnte in diesem Moment einen Gedanken der australischen Hexe erhaschen, der ihr verriet, was an diesem Kleidungsstück so besonderes war. Kaum landete es auf dem Boden, sprangen die großen Knöpfe abund schwirrten auf Anthelia zu, wobei sie sich zu großen Schlangen auswuchsen. Hatte Delila Pokes ihr nicht einmal erzählt, daß es für mehrere hundert Galleonen Kleidung mit besonderen Eigenschaften gab? Also hatte Nimoe sich nicht darauf verlassen, daß sie mit dem eigenen Zauberstab was ausrichten würde. Da kam auch schon die erste Riesenschlange auf sie zugeglitten, schnell und sicherlich zum töten abgerichtet. Doch Anthelia sah Nimoe nur an, die sich wohl anstrengte, nicht in grenzenlosen Hassgefühlen zu entbrennnen, weil dies dann wortwörtlich geschehen würde.

"Ein nettes Spielzeug hast du da mitgebracht", sagte die Führerin des Spinnenordens, als die erste Schlange vorschnellte und krachend in einer blauen Stichflamme verglühte. "So kann man die eigene Vernichtung auch umgehen, Nimoe", lachte Anthelia, als die zweite, die dritte und die vierte Schlange sofort verglühte, als sie gerade gegen Anthelia vorschnellte. Dann waren alle zu Schlangen gewordenen Mantelknöpfe vergangen, und mit leisem Knistern zerfiel der Übermantel selbst zu rauchendem verkohlten Faserstoff. Nimoe sah schreckensbleich auf Anthelia und hielt den Zauberstab gegen sich selbst und bewirkte den Schockzauber, gerade als es zu ihren Füßen grünlich aufflackerte. Sie kippte um, und das grüne Flackern erlosch. Doch Nimoes Schuhsohlen waren bereits angesengt, konnte jede hier sehen.

"Sowas heißt bei den Unfähigen, also den Muggeln wohl Notbremse", sagte Anthelia amüsiert. "Nun, sie zu verlieren wäre auch zu viel für heute. Ich gehe davon aus, daß du, Maura, deine Patin nachher wieder erweckst, wenn ich euch alle in Frieden eures Weges ziehen lasse." Sie sah Maura Dawson an, die angsterfüllt auf Anthelia starrte, die ihr aber nur ein mütterliches Lächeln entbot. Dann fragte sie laut und vernehmlich in die Runde:

"Wer von euch erklärt sich bereit, mich als oberste Fürsprecherin, als höchste Schwester anzuerkennen? Wer dies nicht will, der sei versichert, daß ich keine Gräuel gegen sie üben werde. Allerdings heißt das auch, daß mir die Angelegenheiten jeder, die nicht mit mir gehen will, von dieser Stunde an bedeutungslos sind und sie keine Hilfe von mir oder anderen, die mit mir sind zu erwarten hat."

"Wir sind immer noch mehr als du", sagte Daianira selbstsicher. "Wir können uns auch ohne dich einigen. Denn so wie es aussieht, willst du uns nicht verraten, wer sich dir schon angeschlossen hat. Du wirst verstehen, daß wir das nicht sonderlich schätzen, wenn jemand treue und wichtige Mitschwestern abwirbt. Also tu bitte nicht so, als seien wir auf dich angewiesen!"

"Du hast natürlich recht, Schwester, wenn du darauf verweist, daß ihr in der Mehrzahl seid. Du hast aber auch erkannt, daß ich dann, wenn ihr euch mir nicht anschließen wollt, zusehen müßt, wie fähige Hexen mich als neue Anführerin akzeptieren. Dann wird eure Macht schwinden, und die Überzahl wird dann bedeutungslos. Ich bin von einem Körper zum anderen übergegangen, über einen Abgrund von mehr als zweihundert Jahren hinweg. Dies kann und werde ich wenn es nötig ist wiederholen, bis ich entweder unwiederbringlich gefangen bleibe oder in einer Welt neue Gestalt annehme, die bereits so geschunden ist, daß niemand mehr auf ihr leben will, weil sie die Strafe für alle Sünden wieder die Natur ist. Außerdem bietet sich euch durch meine Kontatkte die Möglichkeit, fähige Mitschwestern aus anderen Landen um Hilfe anzurufen. Etwas, daß ihr seit meiner Tante und meiner Zeit in England verlernt und verachtet habt. Ich habe den Schwestern Britanniens beigestanden, weil sie mich um Hilfe baten. Wider den Emporkömmling sind reine Abwehrzauber nicht mehr angebracht. Wir müssen unsere Kräfte bündeln, ihn zurückzuschlagen, bevor seine Macht zu groß wird. So steht es euch jetzt frei, mit mir und allen anderen zusammen, oder jede für sich und im Bewußtsein, nicht mehr lange über genug Macht zu gebieten. Ich werde die Schwestern nicht preisgeben, die sich mir freiwillig angeschlossen haben, weil diese mein Vertrauen verdient haben. Sie werden aber auch nicht gegen euch arbeiten, egal, wie ihr euch zu meinem Vorschlag entscheidet. Ich biete jeder an, die sich freiwillig zu mir bekennt, jede Anfrage, ob eine Schwester aus euren Reihen zu mir stoßen will zu erörtern und zu entscheiden, ob sie dann noch bei euch bleiben oder aus eurem Orden austreten mag. Die welche mir hier und jetzt und für alle Zeiten keine Gefolgschaft zusagen möchten haben dieses Angebot nicht. Ich denke auch nicht, daß ständige Drohung und Überprüfung nicht viel bringt, nur weitere Ablehnung. Leider hat meine Tante dies sehr sehr spät lernen müssen, das Macht, die auf reiner Angst fußt, auf rutschigem Sand gebaut ist, der sich zerstreut, wenn ein Windstoß aus der ungeschützten Richtung bläst. Daß ich keine Hemmungen habe, euch gefährlichen Fallen auszuliefern, habt ihr erleben müssen. Ich bin aber auch sehr großmütig, indem ich jeder hier die Hand zum Bund reiche und verspreche, ihr immer beizustehen, was immer geschieht. Nur dies möchte ich auch als Gegenversprechen, aber nicht mir mir gegenüber, sondern auch allen anderen, die mit mir sein wollen. - Also, entscheidet euch!"

Wieder verging eine Minute. Anthelia sah sie alle an, immer und immer wieder. Dann sagte Ursina:

"Ich habe erlebt, daß du dne Tod nicht als legitimes Machtmittel gebrauchst, weil ich sonst schon längst tot wäre. Ich traue dir also dahingehend, daß dein Wort gilt, egal worauf es sich bezieht."

"Verdammt, es kann doch nicht sein, daß wir uns dann unterwandern lassen, wenn ...", protestierte Arista Casarossa. Doch dann besann sie sich eines besseren. So stimmten von den noch übriggebliebenen 27 Nachtfraktionsführerinnen 23 Anthelias Vorschlag zu. Lediglich die Führerin der russischen Sektion, jene aus Brasilien und die aus Südafrika beschlossen, daß es auch ohne Anthelias Mithilfe gehen würde. Danach ließ Anthelia alle auf einen Eidesstein schwören, keinem und keiner außenstehenden zu berichten, daß Anthelia vom Bitterwald wieder da war. Dann drückte sie jeder einen Bergestein in die Hand. Ursina ging mit gutem Beispiel voran. Damit wurde Anthelias Existenz in den Gedächtnissen der Anwesenden verborgen wie mit einem Fidelius-Zauber oder dem Divitiae Mentis. Erst als alle, Befürworterinnen und Ablehnerinnen von Anthelias Vorschlag ihren magischen Eid geleistet und die Bergesteine benutzt hatten, erweckte Maura Nimoe. Diese sah sich um und erkannte, sie war in der Unterzahl. So sagte sie auch zu, sich Anthelias Führung zu unterwerfen, sofern diese außerhalb von Australien beansprucht wurde. Danach ließ Anthelia die Feuerwände verschwinden und die Höhle wieder zu einer Grotte mit einem breiten Durchgang werden, durch den alle hinausgingen. Anthelia blieb alleine in der Höhle. Sie wollte die neuen Verbündeten nicht in Versuchung führen, sie draußen niederzufluchen. Immerhin würde jede nun durch den magischen Eid gezwungen sein, keine Absprache gegen sie zu treffen. So konnte Anthelia warten, bis draußen nichts mehr zu hören war. Dann mentiloquierte sie Pandora, wo sie gerade sei.

"Alle sind weg, höchste Schwester. Ich muß mit Daianira in die Staaten zurückkehren, um ihr Vertrauen weiterhin zu verdienen. Sie ist wohl nicht gerade begeistert, daß sie nicht erfahren wird, wer alles für dich arbeitet."

"Damit wird sie leben müssen. Immerhin konspirieren wir nicht mehr gegen sie", schickte Anthelia zurück. Dann verließ sie die Höhle Aylons. Etwas wehmütig sah sie noch einmal auf den Boden. Gerdas und Argonies Tod war absolut unnötig gewesen. Aber sich ihrer Wut auszuliefern war auch völlig unnötig. So verdrängte sie rasch, daß in Deutschland und Frankreich bald eine neue Sprecherin der entschlossenen Schwestern gekürt werden mußte. Hoffentlich waren es starke und besonnene Hexen, die nur gegen wirkliche Feinde den Kampf suchten und nicht, weil sie ihre Interessenssphären gefährdet sahen.

Anthelia flog in Krähengestalt einige hundert Meter weit, bevor sie disapparierte, zurück in die Daggers-Villa. Für wahr, dieser Tag hatte eine wichtige Entscheidung gebracht. Wie sich diese Entscheidung nun auswirkte, vor allem, was die erklärten Feinde des neu geschmiedeten Bündnisses der Schwestern unternahmen, würde die Zukunft zeigen. Doch Anthelia war sich sicher, daß sie den richtigen Schritt getan hatte. Wenn sie an Ursina und ihre Nichte dachte, oder auch an Daianira, so war sie guten Mutes, mit starken, klugen und verlässlichen Partnerinnen gegen die heraufziehende Unwetterfront bestehen zu können, die mit der offenen Rückkehr des Emporkömmlings, seinen neuen Verbündeten und möglichen noch unbekannten Gefahren einherging.

ENDE

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