DER LETZTE DER GROßEN FÜNF

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Die Schulzeit ist für Julius Latierre vorbei. Mit seiner Frau Mildrid und der gemeinsamen Tochter Aurore beginnt er jetzt das Leben als erwachsener Zauberer. Hierfür will er möglichst bald einen einträglichen Beruf ergreifen. Zwar versucht die Heilzunftsprecherin Antoinette Eauvive, ihn zu einer Ausbildung zum Medimagier zu überreden, scheitert jedoch daran, daß Heiler nach der Ausbildung an einem von der Zunft festgelegtem Ort praktizieren müssen und Julius nicht für vier Jahre so gut wie ohne seine kleine Familie leben möchte. Während der Verlobungsfeier von Julius' Mutter mit dem amerikanischen Zauberer Lucky Merryweather rät ihm seine künftige Stiefgroßmutter, die selbst als Schulheilerin in Thorntails arbeitet, nur die Arbeit zu machen, in die er nicht nur seinen Verstand, sondern auch sein Herz einbringen kann.

Julius wird einen Tag nach seinem achtzehnten Geburtstag von Tiberius Odin gerufen. Denn ein würfelförmiger Zeittresor ist erschienen, der letzte Erbstücke der körperlich verstorbenen Aurélie Odin enthält: Ein magischer Pokal, ein altes Buch und eine große Flasche ausgelagerter Erinnerungen. Julius weiß, daß er sich damit endgültig auf das schwere Erbe aus dem alten Reich einläßt. Doch er nimmt die drei Gegenstände entgegen. Die Erinnerungen, die er in sein Denkarium umfüllt, lassen ihn und Millie fünf Generationen von Aurélies weiblichen Vorfahren erleben. Dabei erfahren sie von noch bestehenden Gegnern, sowie einem zweiten Lotsenstein, der in den Besitz einer Zaubererweltfamilie namens Steinbeißer gelangt ist.

Mit überragenden UTZ-Ergebnissen spricht er bei verschiedenen Stellen im Zaubereiministerium vor. Vertreter der Abteilung für magische Geschöpfe zeigen sich sehr interessiert, der Leiter der Truppe zur Behebung von Zaubereiunglücken reagiert überheblich und abweisend, weil Julius keinen offiziellen Unterricht in Muggelkunde hatte, was Monsieur Lesfeux für eine nicht auszuschließende Arbeitsbedingung hält. Am Ende unterschreibt Julius einen Arbeitsvertrag bei der Zauberwesenfachhexe Ornelle Ventvit.

Minister Grandchapeau lädt alle die Hexen und Zauberer zu einer geheimen Unterredung ein, die die vier Schutzzauber aus dem alten Reich erlernt haben und erläutert diesen, daß er eine geheime Truppe ins Leben rufen möchte, die als Service Silent, der stille Dienst, nur ihm persönlich zu berichten hat. Neben Julius sind Catherine Brickston, ihre Mutter, ihre Tante, die Hebamme Hera Matine und Belle Grandchapeau sowie Julius Frau Millie, Sicherheitszauberer Pierre und Professeur Delamontagne in die alten Zauber eingeweiht. Auftrag des geheimen Kommandos ist das Aufspüren, Sicherstellen oder Beseitigen von Hinterlassenschaften aus dem alten Reich, die nicht in unbefugte Hände fallen dürfen.

Die erste Bewährungsprobe läßt auch nicht mehr lange auf sich warten. Als der norwegische Archäologe Arne Björnson in einer freigelegten Gletscherhöhle einen gigantischen Metallhammer mit einer jede Elektronik störenden Aura entdeckt und dieser vom norwegischen Militär aus dem Versteck entfernt wird, droht ein uraltes Ungeheuer aus jahrtausendelangem Tiefschlaf zu erwachen. Julius erfährt davon, weil seine frühere Schulkameradin Moira Stuard ihren Vater vermißt, der Björnsons Fund überprüfen wollte. Von ihm fehlt seit dem 10. August jeder Hinweis. Julius und Catherine reisen mit der geflügelten Kuh Artemis, in der der Geist der altaxarroischen Lichtzauberin Darxandria wiederverkörpert ist, nach Nordostland, einer Insel im Svalbart-Archipel. Dort finden sie die gewaltige Schlange, die Temmie für einen alten Wächter hält, von denen vier von den Altaxarroin getötet worden sein sollen. Catherine und Julius fliegen in den erstarrten Leib der mehrere Dutzend Meter langen Schlange und entdecken dort die gleichsam erstarrten und am Untergrund festgewachsenen Körper norwegischer Soldaten, Ministeriumszauberer und auch den von Moiras Vater. Solange die gigantische schlange nicht erwacht ist hoffen Catherine und Julius darauf, die von ihr einverleibten lebend und unversehrt zu befreien. Doch bevor sie näher darüber nachsinnen können, wie dies gelingen soll, werden sie von schwarzen Schattensphären angegriffen.

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"Sie können ja nach Nordostland hinapparieren, Herr minister", grummelte der stämmige Flügelkutscher, als Lasse Sigurson mit wilden Gesten auf die schwer keuchenden Asgardschwäne deutete, die mit schlaff herabhängenden Flügeln am Boden kauerten. Die gigantischen, schneeweißen Zaubervögel waren geradeso noch am ausgemachten Landeplatz auf Spitzbergen niedergegangen. Der Umstand, daß die von ihnen gezogene Reisekutsche eigene Flügel besaß, um einen eigenen Auftrieb zu erzeugen, hatte den norwegischen Zaubereiminister und seine drei Leibgardisten vor einem all zu frühen Tod bewahrt.

"Diese Tiere sollten die doppelte Strecke schaffen", blaffte Sigurson und blickte vorwurfsvoll auf die beiden geflügelten Zugtiere. Das linke im Gespann hängende streckte den schlanken Hals aus und senkte den Kopf mit dem langen roten Schnabel in den großen Wassertrog, den der Kutscher vor die beiden Vögel hingestellt hatte.

"Ich weiß auch nicht, warum die beiden schlapp machen, Herr Minister. Ich weiß nur, daß die mindestens eine Stunde Pause nötig haben, bevor wir weiterfliegen."

"Ich werde nicht hinapparieren, Tyrson. Die Meldungen sind eindeutig, daß in der Höhle, garantiert im Zentrum der dunklen Kräfte, ein Locattractus-Zauber wirkt. Insofern muß ich Ihren Vorschlag als Aufforderung zum Selbstmord werten. Nehmen Sie Ihren sogenannten Vorschlag also unverzüglich zurück!"

"Wir können nix dafür, daß die Schwäne sich schon auf dieser Strecke kaputtgeflogen haben. Geben Sie denen noch die eine Stunde mehr als geplant, damit wir ohne Absturz nach Nordostland kommen! Gut, ich nehme meinen Vorschlag von eben zurück. War nicht so gemeint."

"Dann sagen Sie gütigst nur Sachen, die Sie auch so meinen!" wies der norwegische Zaubereiminister seinen Gefolgsmann zurecht. Dieser wußte, was den Minister so verstimmte. Immer noch war keine Meldung von der auf schnellen Besen vorausgeeilten Vorhut eingetroffen. Das war kein gutes Zeichen. Vor allem, wo bereits bald zwanzig hervorragend ausgebildete Ministeriumszauberer verschwunden waren.

"Da es auf Spitzbergen keine Besenflugstaffel gibt muß ich wohl die nötige Pause akzeptieren", knurrte Sigurson.

"Ich will auch, daß wir rausfinden, was mit unseren Leuten passiert ist, Herr Minister", sagte Tyrson. "Aber dazu will ich da auch lebend ankommen." Dem konnte und wollte der Zaubereiminister nicht widersprechen.

Eine Stunde später waren die beiden Zugtiere wieder soweit erholt, daß sie die geflügelte Reisekutsche über das Nordmeer ziehen konnten, um Nordostland zu erreichen.

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Catherines Zauberwort war kaum verhallt, als aus dem Zauberstab ein silberweißer Lichtstrahl brach und mit Wucht auf die schwarze Unheilskugel prallte. Diese erstrahlte ihrerseits in silbernem Licht und schrumpfte dabei. Sie sackte durch und schlug auf den Boden, der in Wirklichkeit die Magenwand der schlafenden Schlange war. klirrend zersprang die Kugel in Millionen winziger Funken, die unmittelbar erloschen. Doch da waren bereits drei weitere Schattensphären heran. Catherine rief erneut den Todesbann. Auch Julius rief "Catashari!" Er fühlte die kalten Finger der Todesangst um seinen Hals. Dieses Gefühl und das Bild, ein schreckliches Ungeheuer von sich fortzustoßen entfachten die volle Kraft des alten Zaubers. Die in seiner Ausrichtung heranfliegende Schattenkugel wurde zu einer wie der Vollmond schimmernden Kugel, die wie ein Stein durchsackte und klirrend auf dem Boden zersprang. Die dritte Sphäre war den beiden knapp zwei Metern über dem gefährlichen Untergrund fliegenden bereits auf Handbreite nahegekommen. Julius fühlte eisige Kälte von ihr ausgehen. Da erstrahlte sie unter Catherines dritter Anrufung der Todeswehr und zerbarst genau unter Julius' Nase. Auch sie hinterließ keine Scherben.

"Wir müssen raus hier!" rief Julius. Die auf seinem rücken reitende Catherine sagte nichts. Sie zielte bereits auf ein Pulk weiterer Schattenkugeln und rief den Zauber gegen tödliche Angriffe auf. Wieder zerschellte eine in leuchtendes Silber verwandelte Kugel am Boden. Die Wände erzitterten. Julius dachte daran, auf dem Punkt zu wenden. Doch dann würden sie die ihnen nachfliegenden Schattensphären nicht mehr richtig anzielen können. Auch er zauberte eine heranschwebende Sphäre in eine silberne Lichtkugel um, die klirrend ihr Dasein aushauchte.

"Nicht tiefer sinken, Julius!" rief Catherine erschreckt. Mit der von ihrer Tochter entliehenen Stimme klang das richtig schrill. Tatsächlich hatte Julius bei seiner Aktion gegen die Schattenspphären an Höhe verloren. Sofort dachte er daran, wieder einige Zentimeter aufzusteigen. Rückwärts fliegend, was nicht mit jedem Besen möglich war, trieben sie wieder über den erstarrten Statuen dahin. Aus dem spiralförmigen Darm der versteinerten Schlange schnellten weitere Schattensphären. Sie formierten sich zu einem Netz aus Schattenkugeln, das bedrohlich rotierend auf die beiden Eindringlinge zutrieb. Julius sah, daß Professor Stuard und sein Mitgefangener ihre Köpfe bewegten. Oder war es nur eine Einbildung gewesen?

"Zu viele für euch! Singt mein Lied des Schutzes!" durchflutete Temmies Gedankenstimme Julius' aufgewühltes Bewußtsein. Der junge Zauberer wußte, daß Temmie recht hatte. Denn jetzt waren es mehr als zwanzig Schattensphären, die auf sie zutrieben. Er machte eine Punktwende. Dann zielte er auf sich und rief

"Alaishadui Siri,
Alaishaduan a sogaharan Iri.
U Alaishaduim Godiri,
san Arwoxaran Laishandan Miri!"

Als er das letzte Wort gerufen hatte, waren die Schattenkugeln bereits bedrohlich nahe. Julius meinte, die Kälte des Nordpols würde nun mit aller Macht in ihn eindringen. Doch da fühlte er einen starken Hitzestoß durch seinen Körper. Um ihn herum glühte es weißgolden. Eine konturgenaue Aura umfing ihn und das kleine Mädchen auf seinem Rücken. Die erste Schattensphäre traf darauf und prallte ab wie ein Tennisball von einer Betonwand. Julius empfand die Berührung als kurzen Stoß. Dieser trieb ihn an, weiter nach vorne zu fliegen. Weitere Schattensphären berührten ihn und prallten ab. Diesmal wurden sie nicht zu silbernen Leuchtkugeln. Aber sie verloren deutlich an Größe und durchflogen die netzartige Formation. Die Wände der unheimlichen Leibeshöhle zitterten. Da hörte Julius eine erschrockene Männerstimme: "Zum Teufel, was passiert hier?" Die Stimme kannte er. Es war Professor Stuard, Moiras Vater. Julius verlor fast die Kontrolle über seinen Flug. Sein Herz pochte wild. Immer noch hüllte ihn und Catherine die goldene Schutzaura ein, die sein letzter Zauber erzeugt hatte. Doch sie flackerte bereits bedenklich.

"Catherine, er ist wieder wach!" rief Julius.

"Ich seh's!" hörte er Catherine rufen und fühlte, wie sie sich auf seinem Rücken wandte. "Flieg weiter. er ist gerade frei! Catashari!" Julius flog weiter. Er konnte jetzt nicht nach hinten sehen, weil er sonst mit den bebenden Wänden des Schlangenbauches zusammenstieß. Passierte das war es aus.

"Wir können ihn nicht hierlassen!" keuchte Julius.

"Geht nicht. Habe es schon versucht", hörte er Catherine voller Unbehagen. "Wo zum Teu-fel--bin---ich----hier-----ge------lan-------det?" klang Professor Stuards Stimme aus dem Hinterleib der Schlange. Doch sie sank in der Tonhöhe ab, als ginge dem Archäologen gerade die Batterie aus. Die letzte Silbe klang tief brummend wie von einem nur mit einem Viertel Abspielgeschwindigkeit laufendem Tonträger.

"Raus hier, sie kommen jetzt dichter!" rief Catherine. Julius fühlte die Eiseskälte im Wechselspiel mit der belebenden Wärme der ihn umschließenden Schutzaura. Er blickte kurz nach hinten und erkannte, wie zwei dicht folgende Wellen aus schwarzen Schattenkugeln alle die, die sich gerade zu bewegen versuchten umfingen und sie sofort wieder erstarren ließen. Dabei wäre Catherine beinahe mit dem Kopf an die Decke des unheimlichen Tunnels gekommen. Ihr schriller Schreckensschrei ließ Julius automatisch durchsacken. Dann waren sie wieder im weit geöffneten Maul. Julius bekam es gerade noch hin, durch die Lücke der abgebrochenen Zähne zu gleiten. Catherine hatte sich flach nach vorne geworfen und klammerte sich mit den gerade kurzen Armen und Beinen fest an ihn. Jetzt waren sie in der Höhle, in der wohl die alte Waffe gelegen hatte. Julius wagte es, sich umzublicken. Die Schattensphären füllten das gräßliche Maul aus wie pechschwarzer Qualm. Doch sie konnten offenbar nicht hinaus. Julius peilte schnell den Höhlenausgang an und brachte sich und Catherine hinaus. Er nahm sofort Höhe. Dabei merkte er, wie ihm schwindelig wurde. Die Anstrengung, sowohl den Flugzauber aufrechtzuhalten, wie auch mehrere Todeswehrzauber und am Ende die mächtige Anrufung der Leben erhaltenden Kraft ehrlicher Liebe kosteten zu viel Kraft. Er fühlte bereits, wie er in die Tiefe sank. Rote Ringe tanzten vor seinen Augen. Nur der kalte Flugwind hielt ihn noch wach genug. Über den schroffen Boden am Rande des Gletschers flog er dahin, wobei seine Flugbahn immer schlingernder wurde.

"Jetzt runter und ausruhen!" drang Temmies Gedankenstimme in Julius' Kopf ein. Er keuchte heftig, während Catherine sich immer noch an ihm festklammerte. Die goldene Aura zerfloß zu roten Schlieren, die sich in davontreibenden Lichtpartikeln verloren.

Julius kämpfte darum, nicht der Schwerkraft nachzugeben. Er sackte jedoch schneller als gesund war durch. Knapp acht Meter vor dem Boden sah er etwas blütenweißes. Er bekam den Geruch eines vollbesetzten Kuhstalls in die Nase und mußte niesen. Das raubte ihm die letzte Konzentration. Der Flugzauber verflog, er fiel einen Meter und landete relativ weich auf dem wolligen Rücken Temmies, gleich hinter den zwei Reisesitzen. Reflexartig krallte er sich im dichten Wollkleid der treuen Gefährtin fest. Diese schwang ihre Flügel und hob ab. Sie flog sachte von der Höhle fort. Catherine hielt sich noch auf Julius' Rücken fest, bis Temmie sicher gelandet war. Julius fühlte nun, wie ihm die Kräfte schwanden. Alles um ihn schien sich immer schneller zu drehen. Er merkte, wie seine Finger den Halt verloren. Wenn er jetzt abrutschte war es auch aus, dachte er. Ob es überstarker Überlebenswille oder pure Verzweiflung war wußte er nicht. Jedenfalls schnappten seine Zähne nach dem unter ihm weggleitenden Wollkleid und bissen sich darin fest. Er fühlte einen Ruck in seinem Nacken. Dieser rüttelte ihn wortwörtlich wieder auf. Er packte mit den Händen fest zu und bekam die dichte Wolle zu fassen. Catherine rutschte von seinem Rücken und klammerte sich an der Rückenlehne des linken Reitsitzes. "Lass dich fallen, Julius! Ich bremse dich ab", schrillte Catherine mit ihrer Kleinmädchenstimme. Julius gehorchte. Er ließ los und rutschte vom Rücken der geflügelten Kuh hinunter. Doch kaum fiel er frei, fühlte er etwas wie eine unsichtbare Hand, die ihn umklammerte und sanft zu Boden senkte. Als er festen Boden unter seinem Bauch fühlte, blieb er erst einmal liegen.

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Der Leiter für Operationen auf NATO-Gebiet blickte auf die Fotoausdrucke. Sowas konnte es nicht wirklich gegeben haben. Er läutete nach seinen Experten für Bildbearbeitung und veranlaßte sie, die Bilder auf ihre Echtheit zu prüfen. Als er eine Stunde später erfuhr, daß die Bilder keine Fälschungen waren griff er zum Telefon, um dem leitenden Direktor Meldung zu machen. Doch da klopfte es an die Tür.

"Gerade beschäftigt!" rief der Leiter der Abteilung für Einsätze auf NATO-Gebiet. Er wollte noch einmal nach dem Telefon greifen, als die eigentlich von innen verschlossene Tür mit leisem Klick aufsprang und eine zierliche Frau im Hosenanzug hereinschritt. Ihr rotblonder Schopf war hinter dem Nacken von einem elastischen Band zusammengehalten. Ihre stahlblauen Augen blickten entschlossen auf den Büroinhaber, der ein sehr verdutztes Gesicht machte.

"Habe es befürchtet, daß Sie auch von der Sache was mitbekommen. Obleviate!" hörte der Büroinhaber die Frau, die er als eine Kollegin aus dem Innendienst erkannte. Woher die den Holzstab hatte und warum sie damit auf seinen Kopf zielte wußte er nicht. Da überkam ihn etwas wie ein Schwindel, etwas, das durch seinen Kopf tastete. Dann schwand ihm vorübergehend das Bewußtsein.

Als der Leiter der Operationen auf Freundesgebiet wieder klar denken konnte sah er auf den Bildschirm und las die Meldung: "Intoxikationsversuch seitens MI6. Sollte wohl unseren geheimen Vertrauensmann auffliegen lassen. Möglicherweise Maulwurf im eigenen Garten", las er die rot geschriebene Warnung. Er blickte auf die Fotos mit dem Riesenhammer. Ja, das war wirklich klug eingefädelt worden. Offenbar hatte der britische Geheimdienst es herausgefunden, daß Wilkins auch für die Firma arbeitete. Oder sie hatten an alle Verdächtigen solche getürkten Fotos weitergeleitet, um zu prüfen, ob sie einen Maulwurf im Garten hatten. Gut, daß die Bildbearbeitungsfachleute die ungenaue Pixelübereinstimmung entdeckt hatten. Daß er vor fünf Minuten von seiner Kollegin Brenda Brightgate heimgesucht worden war wußte er nicht mehr.

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Der Gebannte träumte. Er träumte von brennenden Speeren, die ihm in den Leib getrieben wurden. Er fühlte, wie etwas von ihm weggerissen wurde. Nein, seine Gefangenen, sein Vorrat, ohne den er nicht richtig frei werden würde, sollte ihm entrissen werden. Etwas war in seinen Leib eingedrungen, ohne von ihm dort festgehalten zu werden. Das stach ihm in die Eingeweide. Das riß an seinen festgehaltenen Leben. Nein! Zwei Leben wehrten sich, bei ihm zu bleiben. Er wurde wütend und erzitterte. Da fühlte er, wie die aus seinem inneren stammenden Abwehrkräfte die ihm zu entschlüpfenden Leben umschlossen und wieder fest mit ihm verbanden. "Ihr seid mein. Wo ihr seid gehört ihr hin!" brüllte der Gebannte in Gedanken, daß seine Stimme aus weiter Ferne widerhallte. Er fühlte, wie Übelkeit ihn überkam und würgte. Dann war das Gefühl wieder weg. Die Eindringlinge, die es geschafft hatten, in ihn vorzustoßen, ohne ihn zu berühren, waren wieder aus ihm heraus. Sie hätten ihm fast die einverleibten Leben weggenommen. Das sollten die ihm büßen. Er hatte es gefühlt, daß sie mit einer widerlichen Kraft gegen ihn vorgegangen waren, einer Kraft, die nicht vom Sog der großen Mutter aufgezehrt werden konnte. ER fühlte die andere, das weibliche Etwas, das groß und sehr stark war. Es war plötzlich da und im nächsten Augenblick wieder weit von ihm weg, zu weit, um es mit seinem Atem einzusaugen. Er fühlte, wie die in ihn zurückgekehrten Fremdleben sich noch einmal wanden und dann wieder Teil seiner Traumwelt wurden. Diese nahm ihn erneut auf. Doch er fühlte die Wut und den Drang, endlich wieder frei handeln zu können.

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JULIUS IST MIT DER IN IHRE EIGENE TOCHTER VERWANDELTEN CATHERINE IN SICHERHEIT. DOCH ER HAT ZU VIEL VON SEINER KRAFT AUFGEBRAUCHT. WENN ER JETZT EINSCHLÄFT KANN DER WÄCHTER IHN IN SEINEN TRÄUMEN RUFEN. ER MUß WACH BLEIBEN! ER DARF NICHT EINSCHLAFEN!! ICH KANN UND WILL IHM HELFEN. IMMERHIN IST ER JA JETZT AUCH MIT MIR VERBUNDEN. DOCH ICH DARF IHN NICHT ZWINGEN. ER MUß MEINE HILFE GANZ FREI VON ANDEREM WILLEN ANNEHMEN. ICH SPÜRE DAS AUCH, DAß ICH GENUG DRUCK HABE, UM IHM GENUG VON MIR ABZUGEBEN:

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Julius kämpfte gegen die Müdigkeit. Temmies Stimme warnte ihn, nicht einzuschlafen. Er wußte, daß die Riesenschlange in der Höhle ihre Opfer am besten zu sich hinlocken konnte, wenn diese eingeschlafen waren. Er mußte wach bleiben. Schlief er jetzt ein, war er der Bestie ausgeliefert.

"Julius, du mußt wieder stark werden. Laß dir von Catherine das lange Kletterholz hinstellen und trink an meinen Milchknubbeln! Dann kann ich dir von meiner Kraft abgeben, ohne selbst schwach zu werden", drang Temmies Stimme in Julius' Kopf ein.

"Verdammt, wir haben doch den Eimer", dachte Julius zurück, dem die Vorstellung unheimlich war, wie Orion an Temmies Zitzen saugen zu sollen. Abgesehen davon, daß ihre Milch für ihn viel zu fetthaltig war widerte es ihn schon an ..."Ihr habt mich doch da richtig Saubergemacht. Was ich rausgeworfen habe ist nicht dagegengekommen. Du kannst das. Aber wenn du einschläfst kann der alte Wächter Skyllians dich zu sich rufen, und niemand kann dich dann zurückhalten." Julius hörte Temmies eindringliche Gedanken. Ja, wenn er einschlief war es aus. Dann war die ganze Flucht aus dem Schlangenmonster für nichts und wieder nichts gewesen. Nicht ganz. Catherine hatte er immerhin noch rausbringen können. Aber er wollte nicht zu einer fest mit dem Schlangenbiest verbackenen Statue von sich selbst werden. Er war Halliti nicht aus der tödlichen Umarmung entwischt, um jetzt von einem womöglich noch gefährlicheren Monster gefressen und mit Leib und Seele verdaut zu werden. Dann hätte er auch bei Naaneavargia bleiben oder sich als ewiger Gast der Vogelmenschen in ein Quartier der Himmelsburg stecken lassen können. Nein, er mußte wach bleiben. Er durfte nicht einschlafen!!

"Catherine. Stell bitte die Melkleiter an Temmie dran! Ich glaube, sie hat druck", keuchte Julius und kämpfte darum, auf die eigenen Beine zu kommen. Die irdische Schwerkraft zerrte zwar an ihm. Doch seiner überragend trainierten und durch Halbriesenblut gestärkten Muskulatur gelang es, ihn auf die Füße zu bringen. Doch gegen das Schwindelgefühl, daß ihn befiel, konnte er im Moment nichts machen. Catherine blickte aus ihrer Kleinmädchenwarte zu ihm auf, den Zauberstab in der Hand haltend.

""Julius, das ist jetzt irgendwie ein seltsamer Augenblick, um deine Pflichten als Kuhhüter zu erfüllen. Du schwankst richtig. Ich würde dir gerne was von meiner Ausdauer übertragen. Aber in dem Körper geht das gerade nicht. Setz dich wieder hin und atme ruhig!"

"Catherine, bitte bau die Leiter auf!" preßte Julius mit dem Rest Entschlossenheit hervor, den er in seinem geschwächten Zustand noch hatte. Catherine wollte was sagen. Doch etwas in ihr hielt sie ab. Es war Temmies Gedankenstimme. die körperlich gerade drei Jahre alte Hexe erbleichte, wiegte den Kopf und sah dann Julius an. "Ich sichere dich ab, Julius, wenn du das tun willst. Du mußt es nicht tun, hat Temmie gemelot. Ich kann auch dafür sorgen, daß das Monstrum in der Höhle dich nicht in deinem Schlaf zu sich rufen kann. Hier draußen geht es wohl, was bei dem Muggelzivilisten in der Bestie nicht ging."

"Dann mache ich das lieber, was Temmie will, auch wenn ich danach wohl alle meine Innereien auskotzen muß", seufzte Julius. Temmie schnaubte rhythmisch. Julius empfand dieses Geräusch irgendwie so, als wenn Temmie lachte.

Catherine entfaltete die auf vier Beinen mit breiten Füßen stehende Leiter, die im Zubehör vom Latierre-Hof enthalten war. Das obere Ende enthielt zwei Seile, eines, an dem der Melkeimer befestigt werden konnte, das andere mit einem Haltegurt für den Melker oder die Melkerin. Julius legte sich den Gurt um und mühte sich Sprosse um Sprosse nach oben. Der Eimer blieb jedoch auf dem Boden stehen.

Julius mußte sich sehr beherrschen, nicht vom Geruch Temmies angewidert zu sein. Auch erkannte er jetzt, wo er die vier prallen Zitzen der geflügelten Kuh genau vor sich hatte, wie groß diese waren. Er dachte an Millie, ob sie das mitbekommen würde. Dann erst fiel ihm auf, daß sein Herzanhänger gerade nicht pulsierte. Der Kontakt zu seiner Frau war unterbrochen. Das machte ihm Angst.

"Diese Handlung darf nur dir und mir gehören. Millie ist ganz entspannt bei eurer Tochter. Ich habe ihr gesagt, gut auf dich aufzupassen", hörte er Temmies sanft nachhallende Gedankenstimme in sich. Er begriff, daß Temmie nicht nur als Verbindungsverstärkerin zwischen Millie und ihm handeln konnte, sondern die Verbindung über die Herzanhänger auch unterbrechen konnte, wenn sie das für richtig hielt. Natürlich wollte sie nicht, daß Millie daran beteiligt wurde, was Julius und die in der imposanten Zauberkuh verkörperte Altaxarroia nun vorhatten. Er dachte noch einmal daran, daß er gleich von der Leiter fallen würde oder im nächsten Moment als irgendwas unbewegliches in Catherines Handtasche landen mochte, um nicht in die Schlangenhöhle schlafzuwandeln. Das hier war dann doch das kleinere Übel.

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Tim Abrahams blickte Kingsley Shacklebolt an. Der britische Zaubereiminister hatte den Leiter des Büros zur friedlichen Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie zu sich gebeten, um einen vorläufigen Abschlußbericht über die Angelegenheit mit dem britischen Geheimdienst und Professor Stuard zu erhalten. Tim hatte erwähnt, daß seine zugeteilte Mitarbeiterin Edwina Silverlake die Stuards gesondert überwachte. Shacklebolt wußte, daß Edwina von Tim in dessen Abteilung geholt worden war, obwohl sie im Appariertestzentrum auch gut aufgehoben war. Was Tim dazu bewogen hatte, sie für seine Abteilung anzufordern, und warum sie diesem Ersuchen so bereitwillig zugestimmt und ihren Posten gewechselt hatte wußte der dunkelhäutige Zauberer mit dem goldenen Ring im linken Ohr nicht.

"Nun, können oder müssen wir davon ausgehen, daß die Stuards noch immer von den Geheimdiensten behelligt werden?" fragte Shacklebolt mit seiner tiefen Stimme. Tim wiegte den Kopf.

"In- und Auslandsgeheimdienst haben alle mit den Stuards verknüpften Datenverbindungen geprüft. Fairbanks ist zwar immer noch sehr störrisch, wenn er mir was berichten soll. Aber ich habe noch ein paar andere Verbindungen zum MI6 und zur Londoner Polizeibehörde Scotland Yard, die mir das bestätigt haben. Demnach haben Amanda und Moira Stuard in den letzten Wochen keine elektronischen Nachrichten, Anrufe oder Mobilfunk-Kurzmitteilungen von Jonathan Stuard erhalten. Miss Silverlake bestätigt auch, daß Moira Stuard keine anderen Möglichkeiten ausprobiert hat, mit ihrem Vater in Verbindung zu treten."

"Nun, wie ist es mit Briefen?" wollte Shacklebolt wissen. Tim schüttelte den Kopf.

"Weder mit der regulären Post, noch per Kurierboten, noch per Brieftaube", sagte er.

"Die Muggel benutzen Tauben, um Briefe zu verschicken?" wunderte sich Shacklebolt. Tim grinste und erwähnte, daß sein Großonkel dieses Verständigungsmittel fleißig benutzt habe, um mit einem Kollegen in Dortmund, Westdeutschland, gebührenlose Briefe auszutauschen.

"Ach, das ist da, wo es diesen schwarz-gelben Fußballverein gibt, von dem mir der Kollege Güldenberg bei der Quidditch-WM erzählt hat", erwiderte Shacklebolt. "Das Thema interessiert mich. Wenn Ihre anderen Aufgaben Ihnen genug Zeit lassen verfassen Sie mir bitte einen kurzen aber alles erschöpfenden Bericht über diese Brieftauben. Am Ende sind die so gelehrig und überall anwendbar wie unsere Posteulen."

"Das wohl eher nicht, weil Brieftauben nur zwischen ihnen bekannten Orten hin und herfliegen können. Aber das dürfen Sie dann in dem von Ihnen erwünschten Bericht nachlesen, Sir", erwiderte Tim Abrahams.

"Also können wir davon ausgehen, daß Professor Stuard womöglich diesem unbekannten Etwas auf Nordostland zum Opfer fiel und starb und die beiden Angehörigen keine weitere Nachricht von ihm erhalten haben, die für uns relevant wäre", sagte Shacklebolt mit leichtem Bedauern in Stimme und Gesichtsausdruck.

"Im Moment spricht leider alles dafür, daß Professor Stuard das Opfer dieser unbekannten Kraft wurde, die durch das Entfernen des Riesenhammers aufgeweckt wurde, Sir", bestätigte Tim Abrahams mit unverhohlenem Mißfallen. Andererseits mußte er in seinem Beruf immer damit rechnen, daß Menschen unter den Auswirkungen böser Magie starben und er das nicht verhindern oder umkehren konnte. Das wußte natürlich auch der Ex-Auror Kingsley Shacklebolt. Deshalb verloren sie beide keine weiteren Worte über diese Angelegenheit. Der Zaubereiminister nickte Tim noch einmal zu und erlaubte ihm dann, in sein eigenes Büro zurückzukehren.

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Das erste Saugen war anstrengend gewesen. Wohl aus Angewidertheit und Schwäche hatte er es nicht gleich geschafft. Doch dann ging es. Und als er den ersten Schluck Milch im Mund hatte, empfand er keinen Widerwillen. Er schluckte. Wie bei der vollzogenen Verbindung durch den Pokal überkam Julius ein wohliges Gefühl. Er meinte, eine Stimme im Kopf zu hören: "Leben wird zu Leben und Kraft wird zu Kraft!" Im Rhythmus dieser wie ein indisches Mantra wiederholten Worte trank Julius mit immer größerer Sicherheit. Daß ihm dabei Milch über Kinn und Wangen floß störte ihn nicht. Er sog Temmies warme Gabe in sich ein und hörte ihre sanfte Stimme jenes merkwürdige Mantra sprechen, während alle Schwäche und aller Schwindel von ihm abfielen. Jeder Schluck brachte ihm seine alte Kraft zurück. Mehr noch, es stärkte ihn, machte ihn hellwach und straffte seinen Körper. Dann setzte er ab. Er stieß ungeniert auf wie seine kleine Tochter, wenn sie genug hatte. Dann merkte er erst, wie heftig er sich besudelt hatte.

"Hoffentlich muß ich das nicht andauernd machen", dachte Julius Temmie zu.

"Wenn Catherine wieder sie selbst ist darf sie auch von mir trinken, um neue Kraft zu erhalten. Auch wenn sie nicht so mit mir verbunden ist wie du kann ich ihr mit der Gnade der Stillmutter neue Kraft und Ausdauer geben."

"Ich habe mich heftig bekleckert", stellte Julius fest.

"Mit den Reinigungsflüssigkeiten von Babs der Jüngeren kriegst du das alles wieder weg. Nur schade, daß du es nicht alles hast trinken können", amüsierte sich Temmie in seinen Gedanken. Julius sagte dazu nichts. Er kletterte die Leiter wieder hinunter und ließ sich von Catherine das Gesicht und den Umhang säubern, der zum Glück keine Feuchtigkeit in sich aufnahm.

"Wie bist du auf die Idee gekommen?" wollte Catherine wissen. Julius erklärte ihr, was Temmie ihm in seine Gedanken eingegeben hatte. "Darfst du deiner Frau aber nicht auf die Nase binden, weil die sonst wohl probleme haben könnte, dich noch mal zu küssen", meinte Julius' Begleiterin dann noch. Dann lauschte sie, als habe sie gerade einen weit entfernten Ruf gehört. Sie erstarrte, wurde erst bleich und dann knallrot. Sie wiegte den Kopf noch mehr. Dann entspannte sie sich wieder, nickte und schnallte sich den Haltegurt um, mit dem Julius sich an der bombenfest stehenden Leiter gesichert hatte. Da fühlte er den kleinen Herzanhänger wieder pulsieren. Es war jedoch ein langsames Pulsieren. Das kannte er, wenn Millie tief und fest schlief. Hatte Darxandria/Temmie seine Frau in Tiefschlaf gelullt, während sie ihn von ihrer Milch hatte trinken lassen? Er konnte es Temmie wirklich zutrauen, daß sie Millie auf diese Weise erst einmal außen vor geschickt hatte. Wollte er sie wecken? Nein, nicht jetzt. Er ging einige Meter fort und wandte sich ab. Er wollte Catherine nicht zusehen. Um nicht auch zuhören zu müssen lenkte er sich mit Gedanken an die schlafende Schlange ab.

Er hatte es gesehen, daß Professor Stuard und einige andere sich bewegen konnten, nachdem die ersten Schattensphären vernichtet worden waren. Daß der Todeswehrzauber auf solche Gebilde so wirkte hatte ihm keiner gesagt. Überhaupt, daß der Zauber auf diese scheinbar ferngesteuerten Gebilde gewirkt hatte, wo Ianshira ihm doch erklärt hatte, daß damit die Tötungslust lebender Wesen niedergekämpft wurde. Waren diese Schattenkugeln also handlungsfähige Wesen gewesen. Dann hätten sie aber nicht unbedingt zu silbernen Lichtkugeln zusammenschrumpfen und am Boden zerspringen müssen. Er dachte daran, was Temmie, die gerade wohlig brummte, weil noch jemand ihr den aufgestauten Milchdruck absaugte, von vier bereits vernichteten Schlangen dieser Art gesprochen hatte. Sie waren Wächter des finsteren Erzfeindes Darxandrias gewesen, der selbst noch nach Jahrtausenden so viel Angst unter den Eingeweihten verbreiten konnte, daß sie seinen Namen nicht aussprechen wollten. Der hatte sich damals mit den dunkelsten Ausprägungen Leben verändernder Zauberei beschäftigt. Soweit er wußte hatte dieser finstere Erzmagier den Stein erschaffen, mit dem Vampire unterworfen werden konnten, ja die Vampire selbst wohl in die Welt gebracht. Ebenso hatte er seinem Diener Skyllian bei der Züchtung der Schlangenmenschen geholfen. Wenn das gerade noch versteinert wirkende Ungetüm in der Höhle auch von Iaxathan erschaffen worden war, dann mußte es unter allen Umständen daran gehindert werden, freizukommen. Die Bilder der scheinbar wahllos herumstehenden Versteinerten machten ihm klar, wie gefährlich das Monstrum war, wenn es selbst in dieser Erstarrung noch lebende Menschen versteinern konnte. Damit kam er wieder auf Professor Stuard und die anderen, die sich fast wieder frei bewegt hätten, als die Schattensphären zu Boden gekracht waren. War es möglich, daß sie alle Eingeschlossenen befreien und die schlafende Schlange in ihren jahrtausendelangen Tiefschlaf zurückversetzen konnten, wenn alle, die die alten Zauber konnten, in dieses Monstrum hineinflogen und mit Todeswehrzaubern die Schattensphären restlos auslöschen konnten? Doch die Antwort fiel ihm sofort ein: Nein! Temmie hatte ihn eindeutig gewarnt, nicht den Boden oder eine der Wände der steinartigen Leibeshöhle zu berühren. Außerdem hatten sie vor der Landung mehrere Dutzend zerschmetterte Menschen und zersplitterte Besen sehen müssen. Mit Flugzaubern belegte Gegenstände kamen nicht an die Höhle heran. Nur weil er den Freiflugzauber konnte war es Möglich, in dieses Ungetüm hineinzufliegen und es auch wieder zu verlassen, wenngleich sie dazu mächtige Schutzzauber benutzen mußten. Ihm war klar, daß die Schattenkugeln die Funktion hatten, fliegende Beute zu umschließen und zur Landung zu zwingen, damit sie von diesem Ungeheuer einverleibt werden konnte.

Ich muß mir die ganze alte Geschichte erzählen lassen, dachte Julius bei sich. Anders konnte er diese gewaltige Bedrohung nicht aus der Welt schaffen. Er dachte daran, daß die vier alten Zauber nur solange von ihm verwendet werden konnten, solange er kein menschliches Leben auslöschte. Catherine hatte ihm aber erzählt, daß es wohl erlaubt sei, niedere Kreaturen mit bösartiger Lebensweise zu töten, nachdem ein diese bannender Zauber verflogen war. Also mußte er erst herauskriegen, wie die in der schlafenden Schlange gefangenen Menschen befreit werden konnten. Danach konnte er das Ungetüm womöglich auch umbringen, ohne die Macht über die vier alten Zauber einzubüßen. Und selbst wenn er die vier alten Zauber danach nicht mehr anwenden konnte, war das noch ein vertretbarer Preis, wenn dafür dieses brandgefährliche Monster aus der Welt verschwand. Er dachte an Helden erfundener und ihm selbst passierter Geschichten. Die hatten für ihre größten Taten immer irgendwelche Opfer bringen müssen, sei es, die eigene Familie verlassen zu müssen, Haus und Hof zu verlieren, ja sogar Finger, Arme oder Beine zu verlieren. Harry Potter hatte seine Eltern verloren, um für Voldemort gefährlich genug zu werden. Luke Skywalker hatte bei einem Kampf mit seinem zur dunklen Seite verführten Vater eine Hand verloren, Frodo Beutlin hätte den Meisterring eines anderen dunklen Herrschers fast nicht mehr ablegen können. Mit gewissem Unbehagen fragte er sich nun, welchen hohen Preis er bezahlen mußte, um diese Schlange zu vernichten? Um Hallitti loszuwerden mußte sein Vater sein bisheriges Leben verlieren. Würde er so etwas ähnliches hinnehmen müssen oder womöglich sogar ganz ... nein! Das wollte und durfte er nicht denken. Sicher mußte er wohl dieses Ungetüm da in der Höhle bekämpfen. Aber er mußte dafür nicht gleich draufgehen. Das war nicht Ziel der Mission.

Als Julius nach knapp einer Viertelstunde doch mal nachsehen wollte, was mit Catherine war, konnte er sehen, wie sie in einer bequemen Haltung unter Temmies Euter hockte. Offenbar war Catherine auf den Geschmack gekommen. Erst nach weiteren fünf Minuten hörte er, wie Catherine die Leiter herunterturnte. Er sah sie nun wieder. Sie wankte und balancierte einen sichtlich prallen Bauch aus, als erwarte sie demnächst ihr drittes Kind. Überhaupt wirkte sie rundlicher, aber auch kraftstrotzender. Sie ließ ihren Zauberstab mit flinken Bewegungen vor Gesicht und Oberkörper schwingen, tränkte ihren ebenfalls gut besudelten Umhang mit der Reinigungslösung von Barbara Latierre, die gerade fettreiche Milch aus der Kleidung und von Möbeln fortbekam. Dann erkannte sie wohl, daß Julius noch da war. Sie lächelte ihn an.

"Das darfst du weder deiner Frau noch deiner Mutter erzählen, und ich nicht Maman, Joe, Babette oder Claudine, daß wir zwei fast ungeniert direkt aus dem Euter einer Latierre-Kuh getrunken haben. Ich wußte nicht, daß dieser Zauber auch ohne Zauberstab und zwischen verschiedenen Säugetierarten ausgeführt werden kann. Hmm, sage es auch nicht Babs Latierre, wie wir zwei unsere Milchration zu uns genommen haben!"

"Ich werde den Teufel tun. Dann ist es in einer Stunde in der ganzen Latierre-Familie rum, und jeder von denen will dann nur noch an Temmies voller Milchbar saufen", antwortete Julius.

"Ach, dann hast du auch diesen Rauschzustand erlebt? Deshalb konnte ich ja gar nicht aufhören. Offenbar wirkt das Ritual auf bereits Mutter gewordene Hexen noch stärker als auf Vater gewordene Zauberer." Sie erklärte ihm dann, daß es nicht nur im Zusammenhang mit Blut viele heil-, Schutz-, Bann-, und Zerstörungszauber gab, sondern auch mit frischer Milch verschiedene gut- und bösartige Zauber gab. Julius erwähnte, daß er schon im Zusammenhang mit einem Buch namens Potentia Matrium davon gehört habe. Catherine nickte und erwähnte, daß dort wohl auch der Zauber beschrieben stand, dem sie beide gerade ihre Erholung verdankten. Da das Buch aber mehr für Menschen verderbliche Zauber enthielte dürfe es nicht in Schulbibliotheken bereitgehalten werden. Julius nickte und erinnerte sie und sich an den Gerichtsprozeß gegen die Carrow-Geschwister, wo das auch erwähnt worden war. "Versuchung, Julius, so haben sowohl meine Mutter als auch Professeur Tourrecandide mir gesagt, ist das gefährlichste aller Gifte, vor allem in Verbindung mit der "Droge Macht". Deshalb mußte ich, mußtest du und müssen Babette und Claudine das lernen, die uns innewohnenden Zauberkräfte mit Bedacht einzusetzen und nicht, um die Mitmenschen zu quälen und zu unterwerfen. Aber soviel zu dem, was du ja auch schon weißt, Julius. Wie heftig Versuchung und Machtgier sich auswirken können haben wir ja vorhin erleben müssen. Denn dieses Ungeheuer ist garantiert aus einer solchen Idee heraus erschaffen worden. Während eure große Gefährtin Artemis mich zu deiner und Orions Milchschwester gemacht hat bekam ich von ihr mentiloquiert, daß diese Schlange da in der Höhle nicht mal eben so getötet werden kann. Offene Flammen können nicht entstehen, sobald die Feuerquelle in den Bereich der Ausstrahlung der dunklen Erdmagie geraten sind. Nur lebende Wesen können deshalb ihren Stoffwechsel weiterbetreiben, weil dieser nicht auf offenem Feuer beruht und die Schlangen ja intaktes Leben als Nahrung in sich aufnehmen müssen. Sie dürfen keine toten Tiere fressen und auch keine Pflanzen, Julius. Mir schwebte schon vor, das Problem damit zu lösen, daß wir diesem Ungeheuer jede Menge ausgerissener Bäume und Tonnenweise Fleisch in den Leib treiben. Aber das bekommen wir nicht her, weil alle auf tote Dinge wirkende Flugzauber versagen, wie wir ja leider schon mitbekommen haben."

"Was weißt du über diese Wächter, Temmie? Kann man sie töten?"

"Wollt ihr das, und die in ihr gefangenen und noch nicht unrettbar von ihr aufgezehrten gleich mit umbringen?" gedankenantwortete Temmie. Damit traf sie genau den wunden Punkt in Julius' Entschlossenheit. Weil sie das jedoch wußte legte sie nur für ihn hörbar nach: "Ich weiß, daß die Wächter von denen getötet werden konnten, die nicht wie ich den Kräften des Lichtes verbunden waren. Zwar kann kein Feuer gemacht werden, um diese Schlangenwesen zu töten. Aber sie können mit Waffen, die der Kraft der großen Mutter Erde entstammen zerlegt werden. Es geht aber vielleicht, daß der Schlaf dieses Wächters auch ohne die Waffe fortdauern kann, mit der sie besiegt worden ist. Aber weil ich als Darxandria keine Hüterin der Erdkräfte war weiß ich nicht, wie dieser Schlaf erneut verstärkt werden kann."

"Sowas wie bei Naaneavargia im Uluru?" wollte Julius wissen.

"Genau das, Julius. Ich kann diese Kraft nicht aufrufen, zumal hierfür wohl doch ein Kraftausrichter nötig ist, weil ich die Kraft auf andere Dinge oder Lebewesen legen muß. Aber es müßte jemanden geben, der dir diesen Zauber beibringen kann."

"Die einzige, die das vielleicht weiß ist die Verschmelzung von Anthelia und Naaneavargia", dachte Julius Temmie zurück.

"Willst du sie suchen und fragen?" kam Temmies sehr argwöhnische Frage zurück.

"Ich hoffe, daß ich das nicht muß. Wollen will ich garantiert nicht", gedankenseufzte Julius. Doch dann durchzuckte ihn eine Erkenntnis hell und kraftvoll wie ein Blitz: "Können mir die damaligen Erdmeister in der Halle der Altmeister das erzählen, ob und wie ich die Leute aus dem Wanst der Schlange holen und dieses Untier dann erledigen oder für die nächsten zehn Millionen Jahre aus dem Verkehr ziehen kann?" gedankenfragte er Temmie.

"Du hast nicht nur mit der Schwestertochter meiner Mutter gesprochen, sondern auch mit Kailishaia. Die Träger der blutroten Kleidung der Naturkräfte waren damals die Vermittler zwischen unserer erhabenen Gruppe der Bewahrenden und der sehr macht- und zerstörungssüchtigen Grupppe der Mitternächtigen. Sicher wird es von den Meistern der Erdkräfte welche geben, die dir die Fragen beantworten, wie du den großen Wächter besiegen kannst, ohne die von ihm festgehaltenen opfern zu müssen."

"Was rät sie dir, Julius? Müssen wir das Ungeheuer töten, oder können wir es vielleicht in etwas friedvolleres verwandeln?" wollte Catherine wissen, die den Gedankenaustausch zwischen Julius und Temmie nicht hatte stören wollen, bis er sie genau ansah.

"Ich muß nach Millemerveilles zurück und von da aus in die Pyrenäen und dann in diese alte Stadt, wo ich die vier Zauber herhabe", mentiloquierte Julius und wunderte sich nicht schlecht, seine Gedankenstimme so laut und lange nachhallen zu hören, als habe er mit der Kraft einer läutenden Kirchenglocke gesendet. Offenbar war das Temmies jetzt auch in Catherines Körper steckender Milch zu verdanken.

"Mußt du da unbedingt alleine hin?" wollte Catherine wissen. Julius fragte Temmie und erhielt von ihr die Antwort, daß sie und Catherine ihn begleiten könnten, da er ja bis zu vier Leben auf einmal über die alten Straßen befördern könne und sie und Catherine ja gerade keine neuen Kinder trügen. Catherine mußte darüber Lachen und deutete auf ihren Bauch und ihren Brustkorb. "Ich fühle mich aber gerade so, als sei da wer neues unterwegs ins Leben. Aber ich komme mit dir mit. Sollen wir Millie auch mitnehmen?" Julius hatte fast dieselbe Frage gestellt. Temmie erwiderte in seinen Gedanken:

"Nein, laß Millie in eurem Haus. Auch wenn die Wächter von Khalakatan nicht zu schwer zu besiegen sind ist es besser, wenn sie in der Nähe meiner Nachfahrin Camille und dem Erbe ihrer Vormutter Ashtaria bleibt und auf euer gemeinsames Kind aufpaßt." Das teilte Julius Catherine auch mit. Diese nickte.

"Können wir von hier aus den kurzen Weg gehen?" wollte Julius wissen.

"Besser nicht, weil der Sog des Wächters jedes den kurzen Weg gehende Wesen in ihn hineinzieht. Wir müssen erst aus der Wirkungsweite seiner Kraft heraus", erwiderte Temmie.

"Wir müssen uns aber beeilen. Die toten da könnten vor ihrem Absturz noch dem norwegischen Zaubereiminister gemeldet haben, daß sie gerade im Anflug sind", erkannte Catherine. Julius erschauerte, als sie auf die in der Ferne liegenden Leichname abgestürzter Besenreiter deutete.

"Dann laufen die hier voll in die Falle, wenn sie apparieren oder mit Besen kommen", stellte Julius fest. "Wir müssen Sigurson warnen, damit nicht noch mehr von seinen Mitarbeitern draufgehen. Die da und die im Bauch der Bestie sind schon viel zu viele."

"Dann müssen wir aber rausbekommen, wie wir unsere Namen dabei aus dem Spiel lassen können", meinte Catherine mit nachdenklicher Miene. Sie steckte in einem Zwiespalt. Julius hatte völlig recht. Das norwegische Zaubereiministerium mußte gewarnt werden. Allerdings durften sie diesem nicht auf die Nase binden, daß sie gerade in Norwegen waren und mehr über die schlafende Schlange wußten. Dann fiel Julius noch was ein: "Wenn die armen Kerle da zu so vielen auf Besen angerückt sind statt zu apparieren war dem Minister das mit dem Locattractus-Zauber wohl schon bekannt, sonst wären die ja alle in Etappen appariert, um möglichst schnell hier anzukommen. Vielleicht schickt er noch mal Leute her, die das nachprüfen sollen, warum sich die Kundschafter nicht mehr gemeldet haben."

"Oder die Toten waren sein Vorauskommando, eine Aufklärungsmannschaft und Vorhut zugleich", erwiderte Catherine leicht erblaßt. "Dann könnte er auf einem der nächsten Besen sitzen und ... oder mit einem oder mehreren Asgardschwänen reisen. Jedenfalls wäre eine Eule, wenn wir sie irgendwo auftreiben, nicht rechtzeitig bei ihm."

"Ich habe die Flotte-Schreibe-Feder mit, Catherine. Damit kann ich anonyme Briefe ohne magische Verfasseraufspürung schreiben. Außerdem hatten wir in den beiden letzten Jahren ja eine sehr mitreißende Verwandlungslehrerin. Die hat uns von den UTZ-Klassen den von ihr erfundenen Zustellzauber beigebracht, um Briefe ohne Eulen zu verschicken, wenn der Standort des Empfängers nicht bekannt ist", fiel es Julius ein. Catherine nickte. Sie hatte ja über verschiedene Stellen mitbekommen, wie begabt und einsatzfreudig Professeur Eunice Dirkson war. So schrieben Julius und sie eine kurze, auf englisch verfaßte Warnung an den norwegischen Zaubereiminister:

Herr minister Sigurson. Ihre auf Besen fliegende Truppe ist wegen Flugzauber neutralisierender Kraft abgestürzt. Die Gletscherhöhle auf Nordostland auf keinen Fall mit Besen anfliegen. Ebenso auf keinen Fall apparieren, weil Locattractus-Zauber mit unmittelbarer Versteinerung des Apparators wirksam!

Kenner der schlafenden Schlange

Nach einer Minute verwandelte Julius das beschriebene Stück Pergament mit Dirksons Drei-Stufen-Verwandlungszauber in einen Falken mit dem Auftrag, nach dem Zaubereiminister Sigurson zu suchen, dessen Erscheinungsbild und Namen er in den Zauber einfließen ließ. Wenn er überlegte, daß er damit schon Nachrichten verschickt hatte, als sie in der letzten Klasse Verwandlung hatten, mußte er immer noch grinsen.

Der zu einem schnellen Wanderfalken gewordene Brief flog sofort los. Wenn der Greifvogel auf Zeit erschöpft war oder Hunger hatte, würde er landen, fressen, trinken und schlafen, als wenn es ein natürlicher Vogel wäre. Er würde aber immer von dem Drang beseelt bleiben, den Empfänger zu finden, dessen Name und Gesicht in seinen Kopf eingepflanzt waren. Berührte dieser ihn, würde aus dem Vogel wieder ein beschriebenes Stück Pergament.

Als der Falke gerade einen halben Kilometer weit geflogen war, umtosten ihn violette Blitze. Der Greifvogel verschwand. Julius sah noch, wie der von ihm beschriebene Pergamentzettel zu Boden glitt und dabei zerfiel. Catherine und der junge Zauberer tauschten ratlose Blicke aus. "Offenbar wirkt die Kraft dieser Schlangenbestie auch auf in was anderes verwandelte Gegenstände", seufzte Catherine. Julius nickte betrübt. "War immerhin einen Versuch wert", grummelte er. Er wußte, daß sie so keine Chance hatten, den norwegischen Zaubereiminister rechtzeitig zu warnen. Sie konnten nur hoffen, daß dieser noch in seinem Büro in Oslo saß und die gefährliche Arbeit doch lieber seinen fachkundigen Mitarbeitern überließ.

Um endlich von hier fortzukommen bestiegen Catherine und Julius ihre geflügelte Gefährtin. Sie mußten die Höhle der schlafenden Schlange zurücklassen, sich der Gefahr bewußt, daß sie in der Zeit, die sie nun unterwegs sein würden, weitere Opfer finden und vielleicht doch noch ihre Handlungs- und Bewegungsfreiheit zurückgewinnen mochte.

__________

Dr. Heiko Petersen blickte auf den wuchtigen Plasmabildschirm, der die Grafiken des Seismografennetzes darstellte, daß er und seine skandinavischen Kollegen rund um den Nordpol, sowie auf den Nordpolarinseln bis hinunter zum nordeuropäischen Festland betreuten. Gerade eben hatte sich ein Mikrobeben auf Nordostland ereignet, allerdings eines mit einer sehr langsamen Frequenz. Petersen, der vor fünf Jahren frisch aus Hamburg in die Zentrale nach Oslo gekommen war, prüfte noch einmal, was in den letzten Stunden auf dieser Insel passiert war. Da hatte es mehrere kleine, aber lange anhaltende Beben mit zeitlupenartigen Auslenkungen gegeben. Das Beben jetzt hatte gemäß den Sensoren die Stärke 1,3 erreicht. Sicher waren Mikrobeben keine Seltenheit. Aber so regelmäßig wie diese Stoßwellen erzeugt wurden war es schon merkwürdig. Die Frequenz lag mit gerade 0,05 Hertz zwar im Bereich rein geologischer Aktivitäten. Doch die Zahl der regelmäßigen Höchstwerte wunderte ihn. Er rief seinen norwegischen Kollegen Harald Mortensen zu sich und zeigte ihm die ausgedruckten Werte.

"Da ist ein Gletscher auf der Insel. Kann sein, daß dieser gerade kalbt", vermutete Mortensen. Er sprach mit dem hamburger Kollegen Norwegisch, auch wenn sie beide zuerst nur mit Englisch über die Runden gekommen waren. Der graublonde Jungakademiker Petersen ließ sich dann auf der Landkarte den bewußten Gletscher zeigen. Allerdings warf er ein, daß ein kalbender Gletscher sicher keine so regelmäßigen Erdwellen erzeugen würde. Das mußte auch sein Kollege einsehen. Als sie dann bei ihren Kollegen von der Wetterüberwachung anriefen erfuhren sie, daß der auf einer geostationären Umlaufbahn über dem Polargebiet geparkte Wetter- und Radarsatellit den Gletscher nur noch optisch erfassen, aber nicht mit Radarstrahlen abtasten konnte. Das machte die Wissenschaftler stutzig. Dann trat ein neues Erdbeben auf, diesmal mit der Höchststärke drei. Damit war es hundertmal stärker als die bisher verzeichneten Beben. Auch hatte sich die gleichförmige Wiederholung der Erdstöße beschleunigt. Es waren wieder zwanzig Erdstöße. Doch diesmal hatten sie nur eine Minute gedauert.

"ich fürchte, das ist nichts natürliches", raunte Mortensen. "Könnte es sein, daß unter dem Gletscher was verborgen ist?"

"Sie meinen, da könnte was vorgeschichtliches sein oder gar ein gestrandetes UFO, das da vor Jahrtausenden im Eis verschlossen wurde?" lachte Petersen. Mortensen konnte jedoch nicht darüber lachen. Ihm fiel jener Star-Trek-Film ein, wo ein Teil eines Borg-Schiffes im Nordpolarbereich aufgeschlagen war. Auch kannte er andere Science-Fiction-Filme, wo unter dem Polareis die Hinterlassenschaften außerirdischer Kulturen verborgen gewesen waren, vor allem den Film aus den 1950er Jahren, wo sie einen auf pflanzlicher Basis existierenden Außerirdischen aus dem Eis gebuddelt hatten.

"Wäre zu schön, wenn wir das beweisen könnten", sagte Petersen nach fünf Sekunden schweigen.

"Vielleicht ist dort auch was vom Militär, eine gegen Radarerfassung abgeschirmte Anlage, die jetzt hochgefahren wird", präsentierte Mortensen eine für ihn als realen Wissenschaftler besser zu vertretende Vermutung.

"Ihr könnt sowas?" fragte Petersen, nun die förmliche Anrede auslassend.

"Weiß ich sowas?" fragte Mortensen und erklärte dann, daß er geradeso noch gelernt hatte, unterirdische Kernwaffentests von Entspannungsbeben und magmatischen Verlagerungen unterscheiden zu können. Sein Professor hatte damals die Zündung der Zar-Bombe in der Sowjetunion seismologisch dokumentiert. Dreimal war die Druckwelle der gigantischen Wasserstoffbombenexplosion durch die Erdkruste gelaufen, was für die Geologen damals auch ein gewisser Segen war, weil sie dadurch weitere Erkenntnisse über die Beschaffenheit der tieferen Erdschichten gewonnen hatten. Hoffentlich lagerte unter dem Gletschereis auf Nordostland nicht auch sowas gewaltiges.

Das Telefon läutete. Mortensen nahm den klobigen Hörer ab. Für neue kleine Schnurlosapparate hatte ihr Arbeitgeber kein Geld ausgeben wollen. Er meldete sich und erbleichte.

"Moment, bevor ich Ihre Anweisungen umsetze möchte ich mich erst rückversichern, daß Sie wirklich weisungsberechtigt sind", sagte er und tippte einige Codezahlen in den Computer. Dann rief er eine Liste auf den kleineren Bildschirm und suchte mit der Maus nach einem Eintrag. Er las eine Nummer hinter einem Namen und sagte: "Bitte vervollständigen Sie folgende Nummer!" Dann gab er die ersten fünf von zehn Ziffern durch. Er lauschte und nickte. Er bestätigte und bekundete, die Anweisungen punktgenau auszuführen. Dann legte er den Hörer wieder auf.

"Wer war's?" wollte Petersen wissen.

"General Bergström von der Armee. Er hat den Auftrag, alle ungewöhnlichen Vorkommnisse auf Nordostland zu überwachen. Die Insel steht unter Quarantäne, weil dort etwas sein soll, daß gefährliche Viren in die Umwelt abgibt. Unsere Mithorcher von der Armee haben das letzte Beben gemeldet bekommen. Deshalb mußte Bergström nun anrufen.

"Was für Anweisungen hat dieser Kumisskopf dir aufgeladen, Harald?"

"Das wir über die Aufzeichnungen dieser Beben Stillschweigen zu bewahren haben und alle Aufzeichnungen unverzüglich vernichten sollen und die zukünftigen Beben ignorieren, bis wir vom Militär eine anderslautende Anweisung erhalten."

"Klar, die Knallerbsenklausel. Haben wir bei uns in Deutschland auch und anderswo in den Instituten. Die gilt aber doch nur, wenn zweifelsfrei nachgewiesen werden kann, daß es zu unterirdischen Kernwaffenversuchen gekommen ist."

"Offenbar beruft sich Bergström darauf, daß alle mit Erdbeben zusammenfallenden Aktivitäten militärischer Art unter diese Regel fallen. Ich kann da nichts machen. Der Staat hängt mit sechzig Prozent in unserem Jahresetat und hat daher Vetorechte, was die Veröffentlichung unserer Daten angeht." Petersen nickte. So konnte man auch ohne größeren Kostenaufwand Nukleartests überwachen, ohne dafür ausgebildete Soldaten abstellen zu müssen. Daß das von den Wissenschaftlern registrierte Beben jedoch keine militärische sondern magische Ursache besaß hätten sie niemals geglaubt.

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Er zitterte vor wut, bis die Erschöpfung des noch nicht ganz erwachten Körpers ihn erneut erstarren ließ. Nur ein kurzer, heftiger Stoß war ihm durch den eingeschlossenen Körper gefahren. Der Gebannte kämpfte darum, die fast aus seiner Umschließung entkommenen Opfer zurückzuhalten. Er träumte die Leben der Gefangenen. Sie überlagerten seine eigenen Erinnerungen. Er mußte sie wieder zurückdrängen und in seinem inneren Selbst einschließen, bis er sie endlich ganz und gar in sich aufgehen lassen konnte. Er hatte die gewaltige Kraftquelle, die in der Nähe seines Versteckes gewartet hatte, wieder davonfliegen gespürt. Er hatte vorher sogar gespürt, wie einer der Eindringlinge, die in seinen Leib hineingeflogen waren, ohne von ihm berührt zu werden, fast eingeschlafen war. Er hätte ihn gerne zu sich geholt und in sich hineingezogen. Doch irgendwas hatte den sofort wieder stark und wach werden lassen. Jetzt war die große Kraftquelle wieder losgeflogen, raste davon, hinaus aus seiner Aufspürreichweite. Seine Wut wurde von kurzen aber heftigen Wellen fremder Wollust überflutet. Er sah den kraftlosen Mann, der mit seinem jüngeren Begleiter zuerst von ihm aufgenommen worden war, wie er sich mit einer Gefährtin herumwälzte. Auch bekam er die Wogen der Wonne mit, die einem Träger der Kraft in seinen Träumen überkamen. Das waren beides starke Männchen, wie er. Doch er wollte kein Männchen mehr sein. Er wollte einen der noch lebenden großen Wächter suchen, mit ihm um die Rollen der Paarung streiten und dann als fruchtbares Weibchen all diesen starken Gefangenen neue Körper geben, damit sie mit ihm, den anderen großen Wächtern und wohl auch den Nachkommen des großen Meisters diese Welt vertilgen konnten. Er wollte sie alle fressen und als seine Kinder zurück auf die Welt werfen. Doch man hatte ihm fast seine Opfer entrissen, ihn damit wieder geschwächt. Die Wut kehrte zurück. Doch dann überflutete ihn erneut geschlechtliche Begierde, weil ein anderer Gefangener gerade davon träumte, sich mit gleich drei Artgenossinnen zusammenzutun. Er fühlte, daß die Gefangenen dadurch wieder mehr von sich erkannten und somit aus der inneren Umklammerung freikommen konnten. Er wollte sie aber nicht mehr freilassen. Sie gehörten ihm und hatten gefälligst bei ihm zu bleiben. So kämpfte der in wilden Träumen treibende Gebannte mit den Seelen seiner Opfer, wütend, weil ihm die große Kraftquelle nicht zur Beute geworden war.

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Millie erwachte aus einem kurzen Schlaf. Sie hatte geträumt, wieder ein kleines Mädchen zu sein und in den Armen ihrer Mutter zu liegen. Als sie aufwachte fühlte sie den warmen, sanft pulsierenden Körper Aurores auf Bauch und Brustkorb. "Hui, hast du mich doch echt in den Schlaf genuckelt, Kleines", säuselte Millie. Aurore schlief weiter. Offenbar war sie bei ihrer letzten Mahlzeit selbst eingeschlafen. Behutsam bettete Millie ihre Tochter in die kleine, weißmagisch gesicherte Wiege zurück. Dann fühlte sie, wie ihr Herzanhänger pulsierte. Julius lebte noch. Sie fühlte auch, daß er entschlossen, aber auch erschüttert war. Sie mentiloquierte mit ihm und erfuhr, daß er gerade auf dem Rückweg nach Millemerveilles war, um den Lotsenstein abzuholen. Denn was er unterwegs mitbekommen hatte konnte nur durch die Altmeister von Khalakatan geklärt werden.

"Ach, dann willst du mit den beiden Mädels in die alte Stadt. Darf ich mitkommen?"

"Temmie sagt, daß es für die Kleine besser ist, wenn du bei ihr bleibst, weil ich sie nun einmal nicht füttern kann. Temmie hat mir aber genug von ihrer Milch für uns drei abgegeben."

"Ich müßte jetzt eingeschnappt sein, weil du mich nicht mitnehmen willst. Aber ich will auch nicht, daß Aurore hier alleine bleibt", mentiloquierte Millie. Dann hörte sie Temmies Gedankenstimme: "Am besten gehst du zu Camille hin, weil die den Stern trägt. Schreibe ihr auf, was Julius und Catherine herausfinden müssen und daß es vielleicht wieder so wie bei dem zur Schlacht gewordenen Fest sein muß, daß du und sie ihm helft!"

"Wenn Julius wegen dir und den Sachen aus dem alten Reich draufgeht und mich mit der Kleinen alleine läßt wirst du filetiert, Artemis vom grünen Rain."

"Mein Fleisch ist schon zu zäh für deine Zähne, vor allem, wenn es dann noch gebraten werden soll. Außerdem will ich ihn selbst nicht sterben lassen. Denn ihr seid ja beide auch Milchkinder von mir", erwiderte Temmies Gedankenstimme. Dagegen konnte Millie nun nichts mehr einwenden.

Sie wartete noch eine halbe Stunde, bis mit einem lauten Knall das gigantische Zaubertier im weißen Wollkleid auf der großen Wiese hinter dem Apfelhaus auftauchte. Catherine und Julius saßen auf Temmies Rücken. Millie wollte gerade hinuntergehen, um ihren Mann an der getarnten Haustür zu erwarten, als dieser bereits die Sicherungsketten löste und dann aus dem Sitzen heraus disapparierte. Keine Sekunde später ploppte es, und Julius stand in der Wohnküche im dritten Stockwerk des Apfelhauses.

"Wir bleiben nur fünf Minuten. Temmie kann noch bis zum Startpunkt der alten Straßen apparieren", sagte Julius. Millie nickte.

"Ich gehe dann zu Camille rüber. Was soll ich ihr erzählen, Julius?"

"Du gibst ihr bitte diesen Brief", sagte Julius und holte ein beschriebenes Pergamentstück aus seiner Polarkleidung heraus. Hier war sie für ihn wohl zu warm. Millie fragte ihn, ob er sich nicht umziehen wolle. Er nickte und wechselte die Kleidung, während Millie den Brief für Camille las:

hallo Camille,

wenn Millie dir diesen Brief gibt muß ich mal wieder wegen der Sachen aus dem alten Reich durch die Weltgeschichte reisen. Aber keine Angst! Catherine und Temmie begleiten mich. Wie gut Temmie uns damals geholfen hat weißt du ja noch. Und Catherine kann auch sehr gute Abwehrzauber wie ihre Mutter. Ich habe Millie nur gebeten, bei dir zu sein, damit du über sie die Kraft des Heilssterns zu mir schicken kannst, wenn ich sie nötig haben sollte. Ich hoffe allerdings, daß das nicht nötig sein wird.

Ich hoffe, daß ich diesen Ritt in die alte Stadt und das was danach nötig ist heil überstehe. Falls nichtt - und ich bin der letzte, der will, dass das eintritt - möchte ich, daß millie dir hilft, das zu übernehmen, was deine Mutter mir ohne deinen Verwandten was davon zu sagen überlassen hat. Wenn ich wiederkomme - und das will und hoffe ich ganz stark - möchte ich mit dir in Ruhe darüber sprechen, was deine Mutter meinte, mir Jahre nach ihrem körperlichen Tod noch überlassen zu müssen. Dein Vater hat mir erlaubt, die Sachen zu übernehmen. Ich möchte auch, daß du das weißt, was ich von deiner Mutter bekommen habe. Aber zunächst muß ich klären, ob es möglich ist, eine brandgefährliche Kreatur aus dem alten Reich unschädlich zu machen. Temmie hat mir mitgeteilt, daß dieses Geschöpf durch alte, dunkle Erdzauber entstanden ist und Feuer und Wasser da nichts gegen machen können. Sonst wäre es ja einfach, in das Biest ein paar Tonnen TNT einzulagern und das Biest von innen her zu sprengen. Doch Temmie sagt, daß es anders gehen muß. Wie genau muß ich in der alten Stadt nachfragen, wo ich die alten Zauber gelernt habe und auch mitbekommen habe, wie die alten Straßen zu benutzen sind.

Sollte das hier meine letzte Nachricht an dich sein - und die Wahrscheinlichkeit ist ja leider da - möchte ich, daß du weißt, daß ich dir für alles danke, was du und deine Familie für mich getan und durchgestanden haben. Sollte ich es selbst nicht mehr können bestellt meiner Mutter bitte einen Gruß von mir und daß es mir leid tut, sie nicht mehr im Brautkleid bewundern zu dürfen. Ich hoffe dann, daß Lucky Merryweather gut auf sie aufpaßt und sie mit ihm glücklich wird.

Aber am meisten hoffe ich, daß ich nach diesem Wahnsinnsausflug wiederkomme und immer noch weiß, wer ich bin. Dann möchte ich wie erwähnt gerne mit dir über das alles sprechen, was deine Mutter mir noch hinterlassen hat.

Ich werde mich hoffentlich bald wieder bei dir melden. Bis dahin

alles liebe

Julius

"Das hat dir damals wohl ziemlich zugesetzt, als du diese Kiste mit Slytherins Bildern erlebt hast, wie, Monju?" fragte Millie ihren Mann, während er den gesicherten Schrank aufschloß und den kugelförmigen Stein mit den metallisch glänzenden Linien darauf herausholte.

"Ich habe mir nach der Sache damals geschworen, niemals mehr ohne gescheiten Abschied loszuziehen, Mamille."

"Ich paß mit Camille auf dich auf. Wenn du diese alte Magie aufrufen mußt und dafür Kraft brauchst, helfe ich dir. Aber sieh zu, dich nicht von irgendwem von diesen alten Biestern zerbröseln zu lassen! Ich will nicht mit Aurore allein bleiben und ihr irgendwann erzählen müssen, daß ihrem Vater irgendwelche Hinterlassenschaften wichtiger waren als sein Leben."

"Ich liebe euch beide auch", sagte Julius und küßte seine Frau. Er hatte ihr nicht erzählt, daß sein Mund vor nicht einmal einer Stunde Temmies pralle Zitzen umschlossen hatte. Unterwegs hatte er sich gründlich die Zähne geputzt und erfrischendes Mundreinigungswasser getrunken, genauso wie Catherine.

"Komm bald wieder nach Hause, Monnju!" hauchte Millie ihrem Mann zu. Dann drückte sie ihn noch einmal an sich. Er sah die gemeinsame Tochter Aurore, die friedlich in ihrer Wiege lag und schlief. Er verzichtete darauf, sie noch einmal herauszunehmen, um sich von ihr zu verabschieden. Er schulterte seinen Rucksack, in dem nun auch der Lotsenstein lag und disapparierte aus dem Apfelhaus. Er reapparierte am Fuße der auseinanderfaltbaren Treppe, die zu dem Zweiersitz hinaufführte. Als er diesen erstiegen hatte falteten sich die Treppenstufen zusammen, als bestünden sie aus dünnem Papier. Dann ertönte ein neuer dumpfer Knall wie eine abgefeuerte Kanone, und Temmie war mit ihren beiden menschlichen Begleitern im Nichts zwischen hier und dort verschwunden. Millie fühlte, wie ihr Mann sich auf die neue große Aufgabe konzentrierte. Sie wollte jetzt garantiert nicht mehr einschlafen.

"Camille, darf ich für einige Stunden zu euch herüberkommen?" fragte Millie per Kontaktfeuerverbindung. Camille Dusoleil wollte natürlich wissen, warum Millie alleine zu ihr kommen wollte. "Julius ist mal wieder unterwegs auf diesen verstaubten Wegen, die er dir auch mal gezeigt hat, Camille. Irgendwo auf der Welt ist mal wieder mehr los als bei uns, und ich darf hier nicht weg, wegen Aurore."

"Oha! Ich komme dann besser zu euch, Millie. Bei euch sind wir ungestörter. Florymont ist in seiner Werkstatt, und die beiden kleineren sind bei Jeanne. Uranie ist mit dem kleinen Philemon und ihren Eltern auf einem Ausflug auf Tenerifa. Aber Es könnte jemand jederzeit zu mir hin wollen. Zieh den Kopf ein! Ich fauche gleich zu dir rüber." Millie bedankte sich und beendete die Kontaktfeuerverbindung.

Knapp eine Minute später wirbelte Camille aus einer smaragdgrünen Funkenwolke und einem Aschewirbel aus dem Kamin der Latierres. Sie umarmte Millie. Dann las sie den Brief, den Julius geschrieben hatte.

"Gut, ich will im Moment nicht fragen, was meine Mutter meinte, ihm eher geben zu müssen als mir. Das soll der mir selbst erzählen. Braucht die Kleine demnächst wieder was von dir?"

"Neh, die schläft tief. Könnte erst in zwei Stunden wieder Hunger kriegen, Camille", erwiderte Millie. Dann lauschte sie in sich hinein. Danach sagte sie: "Sie sind jetzt am Ausgangspunkt in Frankreich und machen sich jetzt auf die Reise über die Straßen."

"Wie war das, wenn er in dieser alten Stadt bei diesem Turm ist ist die Verbindung weg?" wollte Camille wissen.

"Hmm, vielleicht jetzt auch nicht mehr, weil Temmie zwischen ihm und mir Verstärkerin ist."

"Ich würde diese alte Stadt auch gerne mal besuchen. Hoffentlich kann Julius mich mal dahin mitnehmen", erwiderte Camille. Millie stimmte ihr zu und mentiloquierte:

"Camille läßt grüßen und sagt klar an, daß du sie auch mal in die alte Stadt mitnehmen möchtest."

"Ich sehe zu, daß das geht, Mamille. Ich mach jetzt den Weg auf", fing Sie Julius' Antwort auf.

Camille und Millie setzten sich auf ein Sofa. Camille hatte das vorgeschlagen, weil sie so schnell ihren Heilsstern auf Millies Körper legen und dessen mächtigen Zauber wachrufen konnte. Unter Umständen konnten wenige Sekunden über Leben und Tod entscheiden. Millie teilte Camille mit, daß Julius bereits mit Catherine und Temmie in der alten Stadt unterwegs war. Dort war es für ihn noch ungefährlich. Richtig gefährlich würde es erst, wenn er mit dem dort zu findenden Wissen gegen diese Monsterschlange antrat. Camille, die ihr silbernes Schmuckstück an der Kette offen vor der Brust trug, seufzte einmal, daß die alten Zeiten besser ganz vergessen würden, wenn solche Ungeheuer daraus entstanden waren.

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Bevor sie den Zugang zu den alten Straßen öffnen wollten, bat Temmie noch einmal darum, überschüssiges Wasser loszuwerden und unverdauliches abzuwerfen. Dies tat sie weit genug fort von dem Zugang. Julius gab ihr noch einmal zu trinken, damit sie auf der Reise durch die alte Stadt nicht verdursten mochte. Dann suchten sie den genauen Abreisepunkt auf.

"Giarmirin Pantiakhalakatanir Kenartis!" rief Julius, als sie genau auf der bekannten Stelle in den Pyrenäen appariert waren, von wo aus der französische Zugang zu den alten Straßen geöffnet werden konnte. Wie schon einige Male zuvor entstand um Julius Latierre und seine Begleiter ein goldener Lichtzylinder. Die tief unter der Erde liegende Plattform erstrahlte golden. Das Licht umschloß selbst den gigantischen Körper Temmies und formte sich zu einem festen Zylinder. Das alles verlief innerhalb nur einer Sekunde. Dann stürzte der goldene Lichtzylinder in die Tiefe, hinein in einen Tunnel aus roten, silbernen und blauen Lichtringen. Catherine, die diese Art der magischen Fortbewegung bisher nur vom Hörensagen kannte blickte mit geweiteten Pupillen nach vorne. Kurven und Steigungen, Gefällstrecken und Biegungen wechselten in rascher Folge. Temmie blieb ganz ruhig. Julius wußte, daß sie einen auf das Erdmagnetfeld abgestimmten Orientierungssinn besaß. Doch anders als Goldschweif machte sie die rasante Reise nicht so wild.

"Wir reisen halb außerhalb des gewohnten Raumes, Julius. Ich fühle erst wieder, wo ich bin, wenn wir wieder vollständig in das gewohnte Gefüge zurücktreten", schickte Temmie ihm in Gedanken zu.

Als der Lichtzylinder mit einem Ruck nach oben stieß und über den drei Reisenden aufklaffte sah Julius den gewaltigen Torbogen, unter dem er zum ersten Mal nach seiner ersten Reise dieser Art angekommen war.

Catherine Brickston warf ihren Kopf in den Nacken. Sie kam sich wohl wieder wie das kleine Mädchen vor, das sie vor knapp zwei Stunden noch gewesen war. Der Torbogen wölbte sich mindestens hundert Meter über ihrem Kopf. Die Säulen des Tores waren breiter als das eigene Haus in der Rue de Liberation.

"Und da sagen wir immer, die Amerikaner und Asiaten seien größenwahnsinnig", seufzte Catherine, als ihr wortwörtlich vor Augen geführt wurde, welche Ausmaße die Bauten des alten Reiches erreichen konnten.

"Das Bestreben, auch im Bauen alles so groß wie möglich hinzukriegen war aus den Trägern der Kraft nicht mehr hinauszukriegen, als die ersten großen Städte entstanden", mentiloquierte Temmie. Julius gab es an Catherine weiter.

"Gigantomanie führt aber selten zu einem dauerhaften Wohlstand", mußte Catherine einwerfen. Julius erkannte, daß Catherine da nicht ganz unrecht hatte. Die Pyramiden, Römerstraßen, die chinesische Mauer, die Kathedralen des Mittelalters und modernen Wolkenkratzer hatten immer viel Schweiß, Blut und Tränen gekostet, um es mal mit Winston Churchills Worten zu umschreiben. Wie viel Opfer mochten die Riesenbauten von Altaxarroi, der Turm des Wissens, die Stadt Khalakatan und die alten Straßen gekostet haben? Die Fragen hatte sich Julius bis heute nie wirklich zu stellen getraut, weil ihn die Machtfülle des alten Reiches auf andere Weise überwältigt hatte.

"Wenn Catherine hier schon Schwierigkeiten hat, wird sie wohl in der Nähe des großen Turmes erst recht verzweifeln", gedankensprach Temmie. Dann sah Julius Catherine in sich hineinlauschen.

"Ich sehe es ein, daß die postatlantischen Menschen nichts aus den Fehlern der Altaxarroin gelernt haben, Temmie. Baulicher Größenwahn ist ja nicht wirklich nur auf dein früheres Volk beschränkt geblieben", hörte Julius Catherines Gedankenstimme leicht verschwommen klingen. Er stutzte, wieso hörte er Catherines Gedankenstimme nun auch, wenn sie ihn nicht gezielt anmentiloquierte? Das fragte er Temmie.

"Solange meine Milch in ihrem Körper wirkt und Catherine mich mit der inneren Stimme anspricht kann ich machen, daß du sie durch mich auch hörst. Womöglich kann ich auch, daß ihr mich beide zugleich versteht. Hörst du mich auch, Catherine?" Catherine Brickston erstarrte. Dann schickte sie für Julius wieder leicht verwaschen klingend zurück: "Jeder Tag eine neue Erkenntnis."

"In Ordnung, Catherine und Temmie. Da ich nicht weiß, ob die alten Stadtwächter noch hier herumspuken möchte ich jetzt gerne zum großen Turm hin", warf Julius ein. Temmie schnaufte. Dann hob sie ab und flog unter dem Tor hervor los.

"Müssen wir hinfliegen?" wollte Catherine wissen. Julius verstand sie auf Anhieb.

"Khalakatan ist über den Kurzen Weg nicht zu betreten. In jeder Zehnerlänge Weg und jedem zweiten Haus stecken die Steine der Verwehrung, die ihr als Apparationswälle kennt. Nur wenige durften die Stadt auf diese Weise betreten, weil sie auf die Wegeswehrsteine abgestimmt waren", gedankenantwortete Temmie, und Julius war sich sicher, daß auch Catherine die Botschaft aufgefangen hatte. Millie klinkte sich nun auch in den mentalen Funkverkehr ein und fragte, ob Julius gut angekommen sei. Dieser bestätigte es. Dann deutete er nach links. "Ich habe sie schon gespürt, als wir losflogen und kann sie jetzt sehen, die flammenden Hüter", schickte Temmie zurück. Sie beschleunigte. Jetzt spielte die mit Darxandrias Geist besetzte Latierre-Kuh alle Beweglichkeitszauber aus, die sie auch ohne Zauberstab wirken konnte. Sie erreichte mindestens fünfhundert Stundenkilometer Geschwindigkeit. "Catherine, bau die rosarote Schutzblase bitte auf!" rief Julius, als er neben den beiden aus reinem Feuer bestehenden Ungeheuern, die zu raketengleichen, langgezogenen Leuchtgeschossen wurden, auch jene riesenhaften Wassertropfen auftauchen sah. Julius fragte Temmie, ob sie nicht doch den kurzen Weg gehen könne, wie sie das doch auch durch Sardonias Schutzglocke konnte.

"Sardonias Glocke der Kraft besteht nur aus dreizehn zu einer Kraft zusammenfließenden Quellen. Hier sind aber mehrere hundert unterschiedliche und unabhängige Quellen", schickte Temmie zurück, während Catherine den Amniosphära-Zauber wirkte. Sie kombinierte die um sie entstehende Blase aus leuchtender Zauberkraft noch um die Komponente, die die Anhangskraft von Wassertropfen aufhob. Die Lichtblase wurde silbern. Da krachten auch schon die ersten gigantischen Wassertropfen gegen den Schutz. Laut krachend barsten die aus reinem Wasser bestehenden Wächter, die Temmie als "die flüssigen Hüter" bezeichnete. Die vergehenden Wasserwesen, die Catherine als Hydromorphe bezeichnete, löschten im Zerfließen sogar einen der Feuerdämonen aus, der Julius und Catherine nachsetzte. In einer weißen Dampfwolke erschienen rote und blaue Blitze, die laut prasselnd in den Boden schlugen.

Als ein lautes Sturmgeheul um die silberne Leuchtblase erklang, bremste Temmie ihren Flug ein wenig. Das silberne Leuchten um ihren Körper, das ein genialer Luftwiderstandsabweisezauber war, flackerte ein wenig, hielt aber doch, weil die Hauptwucht der Elementargewalten an der silbernen Schutzblase aufgehalten wurden. Catherine zitterte, weil die Belastung ihres Zaubers auch sie körperlich auszehrte. Doch sie straffte sich und widerstand der Versuchung, schlaff im Sitz zu hängen und ohnmächtig zu werden.

Offenbar war Temmie für die wie ein Tornado über ihnen hängende Luftelementargewalt zu schnell unterwegs. Denn der brüllende Wirbelsturm blieb nach nur einer Minute hinter ihnen zurück. "Die flüchtigen Hüter können nur so schnell ziehen, wie der schnellste Sturm der Welt wehen kann", begründete Temmie im Zwei-Kanal-Mentiloquismus, wie Julius es heimlich nannte, daß nun auch Catherine Temmies Botschaften mithören konnte.

Allerdings tauchten nun wieder mehrere dieser übergroßen Wassertropfen auf. Und das Brummen und Schwirren verriet Julius, daß von den kugelrunden Wesen mit den Stilaugen auch noch welche unterwegs waren. Diese feuerten Zauberstrahlen aus ihren Augen ab, die die Schutzblase bedenklich erschütterten. Doch Catherine und Julius hatten heraus, wie sie diese Angreifer abwehren konnten. "Novalunux!" rief Catherine. Julius tat es ihr gleich. Dunkle Kugeln flogen aus ihren Zauberstäben, fast so wie die unheimlichen Schattensphären, die ihnen im Leib der schlafenden Schlange zugesetzt hatten. Doch sie waren scharf umrissen und flackerlos. Gleich zwei rasend schnell heranbrummende Myriaklopen oder Betrachter gerieten in die dunklen Sphären, die sofort zu schwarzen Sphären um die Angreifer wurden. Die instinktiv zaubernden Monster bekamen nun ihre eigenen Angriffszauber ab und explodierten darin.

"Turm voraus, Catherine. Dagegen ist jeder Wolkenkratzer ein Laternenpfahl", sagte Julius und deutete auf das größte Bauwerk, daß in dieser Stadt aus weißen Kegelbauten und goldenen Straßen aufragte. Wie ein aufgereckter Regenwurm ohne Borsten bestand der Turm aus hunderten von Ringsegmenten. Er schien das künstliche Himmelsgewölbe zu tragen. Vielleicht tat er das sogar. Julius konnte das nicht kategorisch ausschließen. Doch die Altmeister in diesem Turm hatten ihm davon noch nichts erzählt. Würde er jemals alle Eigenschaften dieses Bauwerkes erfahren? Steckte in diesem Bau vielleicht das Schicksal der ganzen Menschheit, ob gut oder böse? Das wollte er nicht grundweg ausschließen.

"Die felsigen Hüter", mentiloquierte Temmie Catherine und Julius. Tatsächlich marschierten unter ihnen die gigantischen Reiterhorden aus lebendigem Stein auf, die als letztes Bollwerk oder letzte Prüfung für jeden Besucher galten.

Der Turm lag vor ihnen. Er wuchs scheinbar mehr und mehr in die Breite. Temmie senkte den Kopf und setzte zur Landung an. Catherine ließ die Schutzblase erlöschen, als sie sah, daß alle Wächter bis auf die aus Gestein zurückblieben. Der Turm war offenbar heiliges Gebiet.

Als Temmie ihre vier paarhufigen Füße auf den Boden brachte schnaufte sie behaglich. "Wie lange ist es her, daß ich zu letzt diesen hochgeehrten Ort besucht habe?" hörten Catherine und Julius sie gedankensprechen. Dann bat sie Julius darum, abzusteigen und den Eingang zu öffnen.

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Sie lag auf einer breiten Couch im Gästeschlafzimmer Ceridwen Barleys und hielt die Augen geschlossen. Körperlich war sie gerade hier bei ihrer Bundesschwester. Doch ihre Sinne waren gerade in London, wo sie wortwörtlich hautnah mitverfolgte, wie Amanda und Moira Stuard mit der Lage zurechtkamen, daß Jonathan Stuard, Amandas Mann und Moiras Vater, schon so lange verschollen war. Eigentlich war geplant, die Überwachung der Stuards nach zwei Tagen wieder einzustellen. Doch Edwina Silverlake hatte bei ihrer Überwachungsaktion etwas einerseits überraschendes, andererseits interessantes herausgefunden: Moira hatte Bücher über magische Runen und auch über Rituale, in denen diese Runen verwendet wurden. Zudem interessierte sie sich für keltische Druiden und vorchristliche Hexenkulte, etwas, über das sie, Edwina, damals in Zaubereigeschichte ein Referat gehalten hatte. Das war auch das einzige Mal gewesen, wo ihre Klasse vollständig aufmerksam der Stunde gefolgt war. Professor Binns, der Geisterlehrer, hatte das jedoch nicht sonderlich zur Kenntnis genommen und Edwina wegen nicht vollständig belegbarer Behauptungen nur ein Befriedigend für die Stunde ausgestellt, obwohl er selbst die angemerkten Wissenslücken nicht hatte füllen können. Konnte es sein, daß die Muggelwissenschaftler, die sich mit dem, was sie Okkultismus nannten, einiges an Wissen erschlossen hatten, was die wahrhaftige Zaubererwelt nicht erfasst hatte? Das herauszubekommen sah sie als einzigen Grund, die hautnahe Überwachung Moiras fortzusetzen, solange ihr nicht befohlen wurde, die errichtete Verbindung zu beenden. Und falls Professor Stuard für tot erklärt wurde, und ein Testament von ihm auftauchte, könnte dieses noch den Hinweis auf seinen letzten Auftrag enthalten. Zwar hatte Tim Abrahams so heimlich er konnte nach einem solchen Dokument suchen lassen und keines gefunden, was etwas anderes als Sach- und Vermögenswerte behandelte. Doch Edwina wurde den Gedanken nicht los, daß die Stuards irgendwie doch noch etwas über den Verbleib ihres männlichen Familienangehörigen erfuhren.

"Musik, bringt die Leute voll zusammen" hörte Edwina durch Moiras Ohren den Kehrreim eines gerade populären Liedes aus dem Wiedergabeapparat in Moiras Zimmer. Sie bekam es fast körperlich mit, wie Moira aufstand und einen anderen Empfangskanal für Rundfunksendungen auswählte. Edwina bekam mit, daß Moira weder die Sängerin noch die Art von Musik mochte. Warum hatte sie dann diesen Empfangskanal eingestellt, der "Radio 1" hieß? Jedenfalls klang nun ein irgendwo in weiter Ferne spielendes Symphonieorchester und spielte etwas von Händel. Das sagte Moira mehr zu. Edwina Silverlake, die als klammheimliche, innere Beobachterin mitverfolgte, was Moira tat und sogar dachte und fühlte, entspannte sich bei dieser Musik, in den nächsten Tagen würde Moira zu ihrem Studienort in Oxford zurückfahren. Spätestens dann sollte sie noch einmal bei ihr vorbeigehen, um die errichtete Verbindung zu beenden. Denn so lange und so tiefgehend, wie sie sie gerade aufrechthielt, mußte sie Moira berühren, also eine körperliche Verbindung mit ihr herstellen, um die geistige Verbindung für beide gefahrlos zu trennen.

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Catherine und Julius knieten. Temmie blieb neben ihnen stehen und senkte ihren Kopf. Als Julius nun mit dem runden Stein und seinem Kopf den Turm berührte, bekamen auch Catherine und Temmie Kontakt mit dem Material. Wie in einen mächtigen Staubsaugerschlauch aus Licht hineingerissen verschwanden die drei. Julius hatte schon Angst, daß Temmie Catherine und Ihn bei der Ankunft plattwalzen mochte. Doch dann fanden sie sich auf jenem Podest, von dem aus 144 Stufen in die Tiefe führten. Temmie trieb wie ein frei schwimmender Korken nach oben. Julius erkannte, daß die geflügelte Kuh vorausgedacht und sich bereits mit ihrem zusätzlichen Gewichtsumkehrzauber aufgeladen hatte. So vermied sie den befürchteten Zusammenstoß. Sie flog nun mit kraftvollen Flügelschlägen nach unten, während Catherine und Julius wieder auf die Füße kamen und schnurstracks dem Fuß des Podestes entgegenstiegen. Temmie blieb in etwa zwanzig Metern Höhe, bis ihre beiden menschlichen Begleiter die letzte Stufe hinter sich gelassen hatten. Beim letzten Mal waren genau dann die verborgenen Türen im Podest aufgegangen, und die goldenen Metallmenschen waren herausgekommen, erinnerte sich Julius glasklar. Tatsächlich passierte es auch jetzt, daß die untersten Stufen zu einer hohen Wand wurden, die an einer Stelle einen rechteckig verlaufenden Einschnitt bekam. Dann traten sie heraus, Männern in blauen Rüstungen nachempfundene Gestalten, die wie lebende Goldstatuen aussahen, wie auch die in Sonnengelb, Blutrot und Mitternachtsblau steckenden goldenen Frauengestalten. Temmie landete. Catherine und Julius verbargen ihre Zauberstäbe. Denn von diesem Begrüßungskomitee hatte Julius ja berichtet. Ein hünenhaft gestalteter Krieger in blauer Rüstung, der auf seinem Brustpanzer ein Speichenrad mit gelber, roter und blauer Speiche trug, trat an Catherine heran und legte ihr die goldene Hand an den Kopf, um dann langsam hinabzustreicheln. Julius konnte Catherines leichten Widerwillen in ihren saphirblauen Augen sehen. Doch sie beherrschte sich. Als der goldene Wächter Catherine von oben bis unten überstrichen hatte, wandte er sich an die von zwanzig Kriegern umstellte Temmie. Er sprang aus dem Stand zu ihrem Kopf hinauf und berührte sie dort. Julius hörte es metallisch klimpern, als sämtliche goldenen Krieger wie von einem Stromstoß getroffen zusammenfuhren. Der goldene Krieger an Temmies Kopf wand sich einige Sekunden, wohl weil er nicht wußte, wie er das andere Wesen abtasten sollte. Dann fiel er aus knapp sieben Metern zu Boden. Klirrend kamen seine gestiefelten Füße auf. Der Kommandant der goldenen Garde benötigte mehrere Sekunden. Julius wußte nicht, ob das für einen magischen Androiden wie diesen Wächter nicht schon eine Ewigkeit war. Dann sagte der goldene Krieger: "Heißt die Hochkönigin Darxandria in unserer Mitte willkommen!" Das war für die in Mitternachtsblau gekleideten Diener das Zeichen, im Eilschritt in ihr Versteck zurückzukehren. Die in blutrot gewandeten verbeugten sich überraschend fließend und elegant. Die Krieger und Dienerinnen, die das Sonnengelb in Wappen und Kleidung führten, fielen sogar auf ihre Knie und berührten den Boden mit der Stirn.

"Woher haben die Metallmenschendie Erkenntnis?" fragte Catherine Julius, während die in Sonnengelb gewandeten einen altaxarroischen Begrüßungschor darboten.

"Zum einen können die wohl die Gesinnung oder innere Ausrichtung messen, wie auch immer das gehen soll. Zum anderen hat Darxandria wohl trotz ihrer Körperform noch Anteile ihrer früheren Geistesausstrahlung. Amatira, dieses Goldmädchen aus der Festung mit dem goldenen Drachen, konnte Darxandria auch erkennen."

"Schon beachtlich", erwiderte Catherine. Dann sah sie, wie die Krieger mit blutrotem Wappen und ihre weiblich geformten Gegenstücke ruhig und im Gleichschritt zu der Tür hinmarschierten. Auch die meisten von den sonnengelb gekleideten kehrten zurück. Nur zwei goldene Mädchen und zwei mehr als zwei Meter hohe Metallkrieger blieben zurück.

"Der Träger des Siegels hat lange Zeit auf sich warten lassen", sagte einer der verbliebenen mit einer Baritonstimme. "Wir hatten die Weisung, ihm in die Welt außerhalb der Stadt zu folgen. Doch er wies uns zurück und befahl uns, nur einen Vierteltag zu warrten. Doch er kam nicht zurück, um uns mit sich zu nehmen. Warum wart Ihr so lange fort?"

"So lange war das doch gar nicht", erwiderte Julius. Er hatte keine Lust, sich vor einem Roboter zu rechtfertigen.

"Drei Sonnenkreise", sagte eine der goldenen Dienerinnen, die Julius als Daisanmiridia, die zweite Bewahrerin des Lebens, kennengelernt hatte. Dann deutete sie auf Temmie. "Sie hat einen Weg gefunden, aus deiner inneren Obhut einen neuen Körper zu gewinnen. Dieser Körper ist nun ihrer und trug bereits Nachwuchs. Doch für die Wege zu den alten Meistern ist sie nun zu groß und zu schwer. Warum kam sie mit euch?"

"Weil ich helfen muß, um ein Geschöpf des Mitternächtigen in tiefen Schlaf zu senken oder, wenn es nicht anders sein kann, endgültig zu töten", sprach eine andere der goldenen Frauen plötzlich mit Temmies Cellostimme. "Ich bleibe natürlich hier und warte auf die Rückkehr meiner beiden Gefährten."

"Hat sie Zutritt?" fragte einer der goldenen Krieger mit erhobenem Kopf und deutete auf Catherine. Seine Augen glühten kurz auf. Dann senkte er den Arm. "Sie darf eintreten, da sie zu den Vertrauten des Siegelträgers gehört", sagte er dann.

So ging es zu jener Wand, die durch das Streicheln eines der Krieger förmlich wegschmolz. Dahinter ging es durch einen fünfzehn Meter langen Tunnel in eine imposante Halle wie im inneren eines Glaszylinders. Julius dachte, daß es erst gestern war, daß er hier gestanden und gestaunt hatte. Catherine versuchte, die Höhe des Raumes abzuschätzen. Doch wie im Raum mit dem Podest hörte sie wohl nach den ersten hundert Metern zu zählen auf. Dann sah sie den vier Meter durchmessenden Transportkorb, der wie aus Glas zu bestehen schien. Als einer der verbliebenen Krieger den Korb geöffnet hatte, stieg sie Julius ohne Hemmungen hinterher. Der Korb wurde wieder verschlossen und ruckte an, erst nach oben und dann in höllischem Tempo durch Schächte, Tunnel, Hallen und Säle.

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"Temmie verstärkt die Verbindung. Julius ist jetzt mit Catherine in diesem Transportkorb. Ui, der geht ab wie ein Zwölfer", berichtete Millie Camille, was sie gerade mitbekam. "Die Verbindung reißt jetzt doch ab. Dieser Raum mit den alten Meistern muß zigfach stärker sein als die Gedankenblockadezauber um Beauxbatons. Ab jetzt können wir nur warten, bis die drei wieder rauskommen."

"Gut, in dieser Halle mit den alten Meistern ist er wohl nicht in Gefahr, zumal Catherine ja mit ihm hindarf", sagte Camille. Erzähl mir bitte solange, was das für ein Wesen oder Ding ist, gegen das dein Mann antreten soll!" Millie seufzte und fing dann zu berichten an. Vieles von der schlafenden Schlange hatte sie ja durch bildhafte Gedankenübertragung mitbekommen können. Camille hörte sich alles ruhig an. Dann sagte sie:

"Im Grunde habe ich durch den Heilsstern ja eine ähnliche Verpflichtung übernommen wie dein Mann. Ich wüßte aber nicht, ob ich mich an so ein Ungeheuer herantrauen würde, auch wenn ich weiß, wie ich den Stern wachrufen kann."

"Ich habe ihm geraten, bloß wiederzukommen, und zwar als Mensch aus Fleisch und Blut", knurrte Millie verdrossen.

"Du bist wie deine Großmutter, möchtest gerne noch ein paar Kinder haben, wie?" amüsierte sich Camille.

"Mindestens noch eins, aber vielleicht auch ein paar mehr als du, Tante Camille."

"Stimmt, eigentlich sollte es abschrecken, ein einziges Kind tragen und gebären zu müssen. Aber irgendwie ist das auch was erhabenes, so ein Kind dann auch aufwachsen zu sehen. Deshalb kann und will ich dir da auch nicht dreinreden."

"Dafür habe ich genug Tanten und Großtanten, die das versuchen können", grummelte Millie. Dann fragte sie, ob sie Camille etwas anbieten könne. Diese ging darauf ein, mit Millie einen Kuchen zusammenzukochuspokussen. Außerdem wollte sie gerne etwas von Temmies frischer Milch mitnehmen. "Vielleicht kann Chloé die unverdünnte Mischung vertragen, damit sie in zehn Jahren deine nachwachsende Verwandtschaft nicht zu fürchten braucht. Aber sag unserem Kuhbauern nicht, daß du eine ergiebigere Milchquelle an der Hand hast!"

"Die meiste Milch kriegt im Moment eh noch Orion, und wer weiß, ob Temmie nicht noch andere Kälber damit auf den Beinen hält", erwiderte Millie. Camille grinste verstehend.

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Für Sigurson schien es eine Ewigkeit zu dauern, bis die beiden Asgardschwäne wieder flugbereit waren. Jedenfalls war er erleichtert, als sein Schwanenführer vermeldete, daß es nun weitergehen konnte. Die beiden Riesenvögel erhoben sich und schleppten die geflügelte Kutsche an. Dann beschleunigten sie mit kräftigen Flügelschlägen und steuerten das offene Meer an. Der Norwegische Zaubereiminister hoffte, seine vorausgeschickten Leute noch anzutreffen. Daß sie sich bis jetzt nicht gemeldet hatten war sehr beunruhigend.

Das Nordpolarmeer lag im Licht der bleichen Sonne wie ein graublauer Spiegel unter der geflügelten Kutsche, die Sigurson sowohl als Prunk- wie auch, wenn es nicht anders ging, als Streitwagen benutzen konnte. Der ranghöchste Zauberer Norwegens dachte an seine Unterredungen mit dem britischen Zaubereiminister. Hoffentlich sickerte nicht doch noch was in die Muggelwelt, daß es im hohen Norden ein mächtiges Artefakt gab! Er dachte auch an die letzte Unterhaltung mit seiner Frau. Diese hatte die uralten Geschichten von der Midgardschlange und von der Götterdämmerung aufgewärmt. Er wußte, daß die Magier und Hexen seiner Heimat in den Jahren der vielen Götter auch als Priester Odins, Thors oder Frias gewirkt hatten, um eine hohe Rangsttellung zu erreichen. Insofern waren die alten Sagen und Mythen auch durch die damals lebenden Zauberer und Hexen entstanden. Sigurson hätte aber nie damit gerechnet, die wahrhaftige Midgardschlange vor seiner eigenen Haustür zu finden. Der alten Weltanschauung nach hatte dieses Ungeheuer die Welt der Menschen umschlungen gehalten, war sozusagen der Rand der Welt gewesen.

"Geht das nicht ein wenig schneller?" beschwerte sich Sigurson über das eher gemächliche Tempo.

"Wir reisen mit einhundert Seemeilen in der Stunde, Herr Minister. Das ist schon fast die oberste Geschwindigkeit", vermeldete der Schwanenlenker. Sigurson starrte auf das von hier oben glattgebügelt wirkende Meer. So konnte er die Geschwindigkeit nicht abschätzen.

"Immer noch keine Antwort", meldete Gunnarson, Sigursons Untersekretär.

"Die sollten nur dort landen und die Umgebung prüfen und gegebenenfalls Abwehrzauber einrichten, bevor wir dort ankommen", grummelte der Minister. Er fürchtete, daß seine auf Besen vorausgeflogenen Leute sich ohne seine Anweisung mit der gefährlichen Kraftquelle eingelassen hatten.

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Catherine und Julius hingen in den Armen der goldenen Dienerinnen. Anders hätten sie die wilde Fahrt des frei fliegenden Korbes wohl nicht ohne Prellungen überstanden. Durch Schächte und Tunnel, um Kurven und schrägen jagte der durchsichtige Transportkorb dahin. Catherine bekam große Augen, als sie an einer von Flammen erfüllten Etage vorbeiflogen oder als sie durch die Halle der über hundert goldenen Drachen hindurchrasten. Julius wußte mittlerweile, daß diese leblos daliegenden Ungetüme durchaus noch einsatzbereit waren und welche Beängstigend zerstörerische Bewaffnung sie besaßen. Weiter ging die wilde Fahrt, vorbei an den Etagen mit Urwaldbäumen, Polareisregionen oder risenhaften Aquarien. "Ich möchte nicht dran denken, welche Wesen und Artefakte hier noch alles aufbewahrt werden", seufzte Catherine.

"Die Schätze von Wissen und Schöpfung", sagte die goldene Dienerin, die Catherine in ihren Armen hielt, um sie nicht im Korb herumpurzeln zu lassen.

"Wobei fraglich ist, ob wirklich alles erschaffbare wirklich erschaffen werden darf", grummelte Catherine. Julius schwieg dazu. Es war eine uralte Sache, daß Erfindungen zu mehr als einem Zweck verwendet werden konnten. Doch er konnte sich auch vorstellen, daß hier wohl auch die Erzeugnisse altaxarroischer Waffenforschung und kriegsbedingter Zaubertierzüchtung lagerten und lebten. Er fragte sich bei den hier gehaltenen Zaubergeschöpfen, ob diese alle im magischen Überdauerungsschlaf lagen wie Naaneavargia oder in ihren Gehegen, Käfigen, Aquarien und Terrarien fleißig weiterlebten und Nachkommen hatten.

Als der Korb in jenen wilden Spiralflug überging, der erst ganz eng, dann immer weiter und dann wieder enger verlief, wußte Julius, daß sie gerade die kugelförmige Halle mit den konservierten Geistern der alten Magier umrundeten. Schließlich setzte der Korb laut klirrend auf. Catherine atmete kurz durch. Dann sagte sie:

"Schon ein merkwürdiges Gefühl, die zweite Person nach dir zu sein, die dieses Gebäude nach mehreren Jahrtausenden durchflogen hat. Dann wollen wir mal!"

Catherine und Julius verließen den Transportkorb. Wie bei Julius' erstem Besuch hier blieben die mitgereisten Metallmenschen zurück.

Wie er es schon einmal gemacht hatte hielt sich Julius an beiden Geländern der wie aus Glas gebauten Treppe fest. Diese führte steil nach oben und verschwand auf halber Höhe in einem silbernen Dunst. Catherine folgte Julius. Denn sie sah ein, daß er sich hier besser auskannte als sie.

Julius drang in den silbernen Nebel ein. Wie bereits einmal erlebt meinte er, eine warme Brise auf der Haut zu fühlen. Dann stieg er noch eine Stufe hinauf, um unvermittelt in jener mehrere hundert Meter großen, kugelförmigen Halle zu stehen, wo das gläserne Konzil die Zeiten überdauerte. Er blickte sich schnell um und sah, wie Catherine ebenfalls aus dem silbernen Nebel heraustrat.

Catherines saphirblaue Augen schienen größer und größer zu werden. Sicher, sie mußte den Anblick erst einmal verdauen, wußte Julius. Er hatte ja selbst erst einmal minutenlang gestaunt, als er zum allerersten Mal in diese gewaltige Halle eingetreten war. Silbernes Licht erfüllte den kugelförmigen Raum. Es kam aus unzähligen Kristallzylindern, die in die riesige Halle hineinragten und von der kuppelartigen Decke der Halle wie kleine Sterne herabglommen. Julius erinnerte sich unvermittelt daran, wo er wen von den hier überdauernden Altmeistern gefunden hatte. Es war, als habe er diese Halle noch nicht wieder verlassen. Er erinnerte sich, wo die Feuermagierin Kailishaia zu finden war, wo Darxandrias Cousine Ianshira ihren Überdauerungszylinder hatte und daß ganz oben unter der oberen Polwölbung der Halle der Altmeister Kantoran existierte, der als Chronist und Beobachter der Ereignisse wirkte. Zu ihm wollte er hin, um sich zeigen zu lassen, was es mit den Riesenschlangen auf sich hatte. Er wußte zwar, daß Kantoran ihm nichts erklären würde, weil ihm dies nicht erlaubt war. Doch womöglich konnte er bereits durch die nacherlebten Ereignisse wichtige Kenntnisse gewinnen.

"Kann mir vorstellen, wie es dich ergriffen hat, als du in dieser Halle angekommen bist", wisperte Catherine und deutete auf die mannshohen Kristallzylinder. "Mir vorzustellen, daß in diesen Behältern die vollständigen Seelen uralter und mächtiger Magierinnen und Magier weiterbestehen, komme ich mir auch sehr klein und ungebildet vor."

"Um in dieser Halle herumzukommen muß jemand den Freiflugzauber können, Catherine. Ich habe ihn vom Torhüter Garoshan gelernt. Er ist gleich da vorne", flüsterte Julius, als besuche er gerade eine Kirche oder Bibliothek. Catherine nickte.

"Dann versuch du schon einmal, mehr über unseren Gegner herauszufinden, Julius. Ich werde mich in der gebotenen Demut von Meister Garoshan unterweisen lassen. Falls er findet, daß ich in dieser Halle nichts zu erbitten habe und mir diesen Flugzauber nicht beibringen möchte, muß ich das eben hinnehmen und hier unten auf dich warten. Nimm dir die Zeit, die du brauchst! Es nützt niemandem, mit unzureichendem Wissen vorzugehen. Bedenke das, wenn du meinst, wir hätten keine Zeit mehr!" Sie tätschelte Julius die Wange, wozu sie ihren Arm fast senkrecht nach oben recken mußte. Dann wandte sie sich dem von silberweißer Leuchtsubstanz ausgefülltem Zylinder zu, auf den Julius gezeigt hatte. Julius nickte ihr zu. Er sagte jedoch, daß er Garoshan begrüßen müsse, da nur dieser bestimmen konnte, wer in dieser Halle frei herumfliegen durfte. Catherine nickte erkennend.

Sie gingen zusammen zu jenem Kristallzylinder, in dem silberweißes Licht glühte. Als sie beide sich dem magischen Gefäß näherten, zog sich das silberne Licht zusammen und enthüllte einen Mann in goldenen Gewändern. Dieser winkte Catherine und Julius zu.

"Du hast eine Vertraute gefunden, die du zu uns bringen wolltest, Julius Erdengrund. Doch es ist nicht jene, mit der du dein Fleisch und Blut vereint hast", sprach der im Zylinder steckende Altmeister. Julius nickte. "Ihr seid hergekommen, weil die in jenem geflügelten Wesen wiederverkörperte Königin der Lichtverbundenen dir von den großen beinlosen Geschöpfen Skyllians erzählt hat und ein solches Wesen aus langem Schlaf erwachen wird, wenn ihr keinen Weg findet, es weiterschlafen zu lassen." Die beiden Besucher aus der Gegenwart nickten. Garoshan sagte dann noch: "Die ehemalige große Königin, die nun das Leben einer durch die Kraft sehr großen Milchkuh führt, hat euch geraten, einen Kundigen der Erde zu suchen, um sich von ihm oder ihr die wichtigen Dinge beibringen zu lassen, um den alten Wächter Skyllians entweder weiterschlafen zu lassen oder endgültig erlöschen zu lassen."

"So ist es, Meister Garoshan", sagte Julius. Catherine wollte noch nichts sagen. "So suche nach den Antworten, die dir helfen sollen, Julius, Träger des Siegels Darxandrias! Du, die du die Reine heißt, trage dein Anliegen vor, das du in deinem inneren Selbst birgst und nimm die Antwort hin, die ich darauf geben werde!" Catherine trat vor und deutete auf den Kristallzylinder.

"Ich möchte Julius helfen, die von der Riesenschlange gefangengehaltenen zu befreien und das zur Gefahr für alle Menschen werdende Tier entweder weiterschlafen oder endgültig erstarren lassen."

"Das ist nicht dein wahres Anliegen", erwiderte Garoshan mit einem ungehaltenen Unterton. Julius sah Catherine an, die verlegen auf den im Kristallzylinder stehenden Altmeister blickte. Julius erkannte irgendwie, daß Catherine nicht wollte, daß er mitbekam, was sie sonst noch hier in dieser Halle zu erfahren hoffte. So nickte er ihr zu und konzentrierte sich. Es fiel ihm hier drinnen noch leichter, den Freiflugzauber in Kraft zu setzen als außerhalb dieser Halle. Es war für ihn so, als liefe er weiter auf festem Boden, ohne jeden Schritt bewußt ausführen zu müssen. Er hob ab und nahm Kurs auf die obere Halbkugel. Er hörte Catherine von weiter unten noch etwas leise sagen. Doch was sie Garoshan mitteilte verstand er nicht. Denn der Widerhall verwischte alle Silben.

Für Julius waren wohl nur dreißig Sekunden vergangen, als er bei dem kerzengerade nach unten weisenden Kristallzylinder ankam. Er näherte sich diesem und berührte ihn sachte. Es war wie damals. Das Material fühlte sich warm an, als hätte es mehrere Minuten im prallen Sonnenlicht gelegen. Sofort setzte eine Veränderung ein. Das bis dahin jeden Kubikmillimeter des Zylinders ausfüllende Silberlicht zog sich zusammen und gab die Gestalt eines alten Mannes in silbernen Gewändern frei. Der alte Meister mit dem weißen Bart blickte Julius freundlich an. Dann sagte er:

"Es war unvermeidlich, daß du zuerst zu mir kommen würdest, um zu erfahren, mit wem oder was du es gerade zu tun hast. Doch wie du weißt darf ich dir nur die Geschehnisse zeigen, aber nichts dazu verkünden. Denn ich bin hier nur der Beobachter und Hüter der Ereignisse. So folge mir nun in die bereits geschehenen Ereignisse, die die großen fünf in diese Welt brachten. Danach wirst du dann entscheiden, ob du den letzten der großen fünf wahrhaftig vernichten oder nur in einen neuen Schlaf der Überdauerung zurückzwingen kannst!" Als wenn diese Worte einen alten Zauber wachgerufen hätten fühlte Julius sich von Kantorans Hand ergriffen und schwerelos durch einen Raum aus bunten Farben getragen. Als sie beide nun ohne durch die Wandung des Glaszylinders getrennt zu sein nebeneinander in einer weiten Steppenlandschaft standen fühlte Julius den heißen, trockenen Wind, der aus südlicher Richtung durch das kniehohe, gelb-grüne Gras strich. Julius wollte gerade fragen, in welcher Zeit und an welchem Ort sie sich jetzt befanden, als der Boden zu beben begann. Risse bildeten sich in dem ausgetrockneten Boden. Staub wirbelte auf. Julius blickte sich um und konnte gerade noch einen Mann in mitternachtsblauen Gewändern erkennen, der von schwarzen Schatten umtanzt wurde. Er besaß weizenblondes Haar und grüne Augen. In einer Hand hielt er eine gläserne Pyramide, aus der weitere dunkle Schattenformen traten. In der anderen Hand hielt er jenen hölzernen Stab, um den sich mehrere Schlangen wanden. Der Kopf der obersten Schlange bildete das Vorderende jenes Gegenstandes. Julius erkannte den Mann und das magische Artefakt sofort wieder. Das war Skyllian, der auch Sharanagot genannt worden war. Mit dem Schlangenstab hatte er die von ihm erschaffenen Krieger beherrscht. Jetzt aber führte er eine andere Beschwörung aus. Die schemenhaft aussehenden Schattengebilde krochen über die immer stärker bebende Erde dahin, bis sie zwischen den wild zitternden Grashalmen ein Ziel fanden. Julius erkannte eine knapp zwei Meter lange Schlange, die sich mit ihrer Vorderhälfte kerzengerade aufrichtete, als die auf sie zukriechenden Schatten sie umringten. Ein weiterer Erdstoß erfolgte. Die Schlange wurde von den nun schlagartig um sie zusammenkommenden Schatten vollkommen verhüllt. Mehr noch: Im Boden klaffte ein Riß auf, in den die von Schatten umzingelte Schlange hineingeriet und versank. Dann hörte Julius Skyllians Stimme ein uraltes Lied singen, das garantiert ein mächtiger Zauberspruch war. Von der Melodie her und von der schnarrenden, zischenden und stoßweise klingenden Silbenform her wollte Skyllian aber sicher keinen Segen sprechen. Das Erdbeben wurde immer heftiger. Julius meinte schon, gleich selbst in einer aufgehenden Erdspalte zu verschwinden. Doch Kantorans Hand hielt ihn sicher. Erdkrumen und Steinbrocken flogen empor. Der Staub wurde immer dichter. Skyllian stand jedoch wie auf einem Fels in der Brandung, ohne von den ihn umgebenden Erdstößen beeindruckt zu werden. Julius fragte, was der Schlangenmeister da tat. "Das ist doch unverkennbar", erwiderte Kantoran nur. Eine halbe Minute später mußte Julius ihm beipflichten.

Wie Wellen eines vom Sturm gepeitschten Meeres rollten Erdverwerfungen von Norden her heran, pflügten die Steppe um und hinterließen nur große, graubraune Staubwolken. Die Wellen wurden höher. Julius sah auch, wie in Südrichtung immer tiefere Gräben entstanden, die dann von den vorbeirollenden Wellen aus Erde und Gestein wieder zugeschüttet wurden. Dann rollte eine besonders hohe Welle aus gelöstem Gestein heran. Sie war jedoch nachtschwarz und kam vor Skyllian zum stehen. Krachend und Grollend verformte sie sich, wankte und zitterte. Weitere Wellen rollten an und schlugen zusammen. Es entstand ein riesiger Wall aus schwarzer Erde. Julius konnte nun sehen, wie sich der Wall wand, als sei es eine gewaltige, mindestens zweihundert Meter lange Schlange. Dann erfolgte ein so gewaltiger Erdstoß, daß alles um Kantoran, Julius und den Schlangenmagier in die Luft flog. Metertiefe und -breite Spalten taten sich auf. Steine flogen aus der Tiefe heraus wie bei einem Vulkanausbruch. Doch was Julius am meisten erschütterte war der sich windende Wall aus schwarzem Gestein. Er zersprang, besser, die äußeren Schichten wurden abgesprengt. Ein Ungetüm von mehr als hundert Metern Länge schälte sich aus den umherfliegenden Brocken heraus. Es besaß eine schwarz-grau-rubinrot gemusterte Haut. Dieses Wesen hatte er schon einmal gesehen, in einer Erinnerungsvision Temmies. Das war jene große Schlange, gegen die er nun antreten mußte. Das Ungetüm wälzte sich auf dem Boden, dabei den laut über die aufgewühlte Steppenlandschaft gesungenen Worten Skyllians lauschend. Die Erdspalten schlossen sich durch nachrutschendes Geröll wieder. Das untergepflügte Gras verschwand nun vollständig unter der Erde. Skyllian berührte nun den Schlangenstab mit der Kristallpyramide. Der Stab erglühte in grünem Licht, ähnlich wie das des Todesfluches. Es hüllte die Schlange aus der Erde ein und ließ diese erglühen. Das Ungeheuer reckte sich nach oben, pendelte einige Sekunden und rollte sich dann innerhalb einer Sekunde zusammen. Dabei wurde es durchsichtig wie Glas. Julius sah nun, wie aus dem Schlangenstab Skyllians weiße Dunstgestalten herausflogen, die aus sich heraus zu brennen schienen. Julius vermeinte, Geister zu sehen. Ja, er konnte sogar ihr Wehklagen hören, als sie genau auf die große Schlange zuflogen, die ihr gewaltiges Maul aufriß und die ihr zugetriebenen Geister verschlang. Julius sah mit gewissem Unbehagen, wie die einverleibten Geister im durchsichtigen, grün glimmenden Leib der Schlange dahintrieben, bis sie restlos mit ihm verschmolzen. Er zählte einundzwanzig Geisterwesen, die aus dem Schlangenstab in das neu entstandene Ungeheuer übergingen. Dann deutete der Schlangenmagier auf den Boden. Das grüne Leuchten erlosch. Noch einmal erbebte die Erde. Dann kehrte Ruhe ein. Die nun nicht mehr durchsichtige Monsterschlange lag zu einer mächtigen Spirale zusammengerollt da. Ihre gewaltigen bleichen Augen blickten den Beschwörer an, der nun, wo er das Ergebnis seiner Zauberei sah, sehr laut lachte. "Ja, wahrlich, die wahre Macht der großen Mutter ist stärker als die der anderen Kräfte!" rief Skyllian triumphierend. Dann trat er an die neu erschaffene Riesenschlange heran und berührte sie mit dem Schlangenstab. Ohne Übergang versanken beide in der Erde wie in Wasser und verschwanden. Dann wechselte die Szenerie.

Skyllian kniete vor einem Mann in mitternachtsblauen Gewändern. Dieser blickte ihn aus silbergrauen Augen herablassend an. "Weil du es geschafft hast, mit dem Wissen der blutroten Erdwühler ein großes, dir höriges Tier erschaffen zu haben, möchtest du mich, deinen Herrn und Meister, dazu bringen, dir noch mehr Vorrechte zu erteilen?" Hörte Julius die Stimme des anderen, der auf einem goldenen Thron saß. Skyllian berührte mit der Stirn den Boden und wartete. "Ich habe dir eine Frage gestellt, Schlangenrufer! Ich will deine Antwort hören!" zischte der Mann auf dem goldenen Thron.

"Die Meister der Erde haben sich mit den Lichtfolgern und denen von Feuer und Wind zusammengetan, um meinen großen Vollstrecker zu fangen und zu töten, oh Herr und Meister. Ich bitte nur darum, noch mehr von diesen großen Wächtern zu erschaffen, damit ich Euch eine gefällige Streitmacht bereitstellen kann. Mehr zu verlangen wage ich gewiß nicht", erwiderte der in tiefster Unterwürfigkeitkniende.

"Nur eine Handvoll, Skyllian. Ich will nicht, daß diese beinlosen Schlinger mir alle Völker dieser Welt vertilgen. Sie sollen nur eine Drohung sein, daß es denen übel ergeht, die sich gegen die alles endende Dunkelheit auflehnen", sagte der Mann auf dem goldenen Thron. "Also, krieche aus meiner Festung und such dir nochmal sieben mal zwölf Feinde, deren inneres Selbst du in deinen Stab bannen und damit vier neue Beinlose aus dem Schoß der großen Mutter herausrufen kannst!"

"Jawohl, mein Herr und Meister", antwortete Skylian. Er wollte aufstehen. Doch sein wahrer Herr machte eine drohende Handbewegung. "Ich sagte, du sollst aus meiner Festung hinauskriechen. Wage es nicht, meine klaren Befehle zu verweigern!" Skyllian warf sich auf den Boden. Dann robbte er aus dem spärlich eingerichteten Saal hinaus.

Julius betrachtete den auf dem Thron sitzenden Mann genauer. Er war schlank, hochgewachsen und besaß ein schmales, bartloses Gesicht mit schlanker Nase. Seine goldblonden haare erinnerten Julius an die Abbildung des jungen Gellert Grindelwald auf dem Einband von "Leben und Lügen des Albus Dumbledore". Eigentlich war der Mann da auf dem goldenen Sitzmöbel ein attraktiver Bursche, einer, der anderen Männern die Schau stehlen konnte, erkannte Julius. Doch das feiste Grinsen und die aus den Augen sprühende Verachtung zeigten ebenso überdeutlich, daß der Throninhaber kein netter oder umgänglicher Mensch war. Mit allen Fasern strahlte er Überlegenheit, ja Überheblichkeit aus. Julius prägte sich das Bild des Mannes in mitternachtsblauer Kleidung mit silbernen Ringmustern an Säumen und Kragen gut ein. Denn er war sich sicher, den Erzfeind Darxandrias zu sehen: Iaxathan, dem finsteren König, Schattenfürsten oder wie auch immer er sich hatte nennen lassen. Kantoran schien mitbekommen zu haben, daß Julius den Anblick des gefürchtetsten Dunkelmagiers Altaxarrois auskosten mußte. Denn erst als Julius seinen Blick der Einrichtung des Audienzraumes zuwandte, verschwamm das Bild. Sie wechselten in eine andere Szene aus der langen Geschichte des alten Reiches hinüber.

Julius mußte nun mit ansehen, wie Skyllian arglose junge Menschen erst mit dem Vorläufer des Imperiusfluches unterwarf und diese dann vom gezähnten Kopf am Vorderende seines Stabes beißen ließ. In einer Zeitrafferansicht bekam er mit, wie diese bedauernswerten Menschen unter großen Qualen starben. Dann sah er, wie aus den toten Leibern grün flimmernde Schemen heraustraten und wie von einem starken Staubsauger in den Schlangenstab hineingesaugt wurden. Danach konnte oder mußte er wieder mitverfolgen, wie Skyllian die so geraubten Seelen in eine weitere Beschwörung einbrachte. Er bekam mit, wie aus den unterschiedlichen Schlangen der Welt weitere vier mehr als hundertfünfzig Meter lange Riesenschlangen entstanden. Diese besaßen nach Vollendung ihrer Verwandlung die Fähigkeit, wie Vögel in der Luft durch härtestes Gestein unter der Erde hindurchzugleiten.

Einmal sah er Skyllian, wie er vor drei menschenähnlichen Gestalten Reißaus nahm, die mindestens zwanzig Meter in die Höhe wuchsen. Jeder ihrer Schritte erzeugte ein dumpfes, kurzes erdbeben. Das waren die Sharworakroin, die Überriesen, die den Titanen alter Erzählungen als Vorbild gedient hatten. Skyllian flüchtete unter die Erde, während die Giganten mit meterlangen Schwertern, die jedes für sich so schwer wie ein Auto sein mochten, den Boden aufhackten, um den Schlangenrufer zu erwischen.

In der nächsten Szene, die laut Kantoran fünf Jahre nach der Audienz des Schlangenrufers stattgefunden hatte, bekam Julius eine schaurig-faszinierende Sache zu sehen, die Paarung zweier der Riesenschlangen. Sie umschlangen einander, versuchten, sich gegenseitig die Luft abzuwürgen oder an einer steilen Felswand zu zerdrücken. Julius dachte daran, wie sich Männchen im Tierreich um ein paarungswilliges Weibchen streiten konnten. Doch er sah keine dritte Schlange, um die der erbitterte Kampf geführt wurde. Die beiden Schlangen glichen sich bis zur letzten Schuppe. Sie waren grau-schwarz-rubinrot. Als der wilde Kampf dann doch vorbei war begann sich die überlegene Schlange zu verändern. Sie wuchs in die Länge. Ihre Haut straffte sich und riß. In großen Fetzen fiel die trockene Schlangenhaut ab. Darunter kam eine nun zweihundertfünfzig Meter lange Schlange mit grau-braunen Längsstreifen zum Vorschein. Die bleichen Augen färbten sich golden. Als sich das gewachsene Ungeheuer von der alten Haut befreit hatte richtete es seinen Vorderkörper auf und wiegte diesen. Der unterlegene Gegner, der sich nicht gehäutet hatte, erwachte aus der Erschöpfung und folgte mit seinem Kopf den Bewegungen des anderen Ungetüms. Wie von einem hypnotischen Pendel beeinflußt kroch die nun kleinere Schlange auf die angewachsene zu und umschlang ihre hintere Körperhälfte, bis er mit ihr zu einer Paarung zusammenfand. Da erkannte Julius, was hier abgelaufen war. Er hatte von Drachen gelesen, bei denen geschlechtsgleiche Nachbarn in einem Kampf entschieden, wer von ihnen Männchen und wer Weibchen sein sollte, um sich erfolgreich fortzupflanzen. Genau das war hier auch passiert. Als die beiden Schlangen ihren Paarungsakt beendet hatten tauchten sie beide unter die Erdoberfläche wie in klares Wasser.

Das nächste Bild zeigte Julius, wie das grau-braun gestreifte Schlangenungetüm unter lautem Fauchen und Brummen sieben kleinbusgroße Jungtiere aus dem Hinterleib austrieb. Die neugeborenen Schlangen besaßen eine bleiche Haut ohne Musterung und nachtschwarze Augen mit silbernen, schlitzförmigen Pupillen. Kaum ans Licht der Welt gelangt begannen sie mit Schnarrenden Lauten um Nahrung zu betteln. ihre Mutter wand sich und kroch zu einer Stelle, wo sie ganze Elefanten unter einem Erdhügel versteckt hatte. Sie wühlte sieben der majestätischen Tiere aus der Erde hervor und warf jedem ihr entschlüpftem Jungtier eines davon vor. Julius mußte sich anstrengen, sich nicht hörbar zu ekeln. Denn er sah, wie die sieben kleinen Schlangen sich erst um die Futtertiere herumschlangen und sich dann Biß für Biß in diese hineinfraßen, wie Würmer, die sich in tote Tiere oder Pflanzen hineinfraßen. Er mußte sich diese schauerliche Fütterung jedoch nicht länger ansehen. Denn unvermittelt zerflossen Raum und Zeit wieder und verwandelten sich in eine Szene, wo Skyllian im Audienzraum seines Herrn und Meisters auf dem Boden kniete.

"Ich hieß ihn, nur eine Handvoll dieser Riesenschlangen zu erbrüten. Doch diese vermehren sich von selbst. Was sagt er dazu?!" schimpfte der dunkle magier auf goldenem Thron. Skyllian erbebte sichtlich.

"Ich habe sie als unfruchtbare Tiere erschaffen, Herr. Ich konnte nicht ahnen, daß sie zu Männchen und Weibchen werden können, Herr", beteuerte Skyllian.

"Du hättest sie nicht auf einer der Landmassen zusammenlassen sollen. Die Inneren Selbst der Unbegüterten, die du zur Anrufung der Unverwüstlichkeitsveränderung der Beinlosen eingesetzt hast, waren Väter und Mütter. Ich hätte dir schon bei der zweiten Erschaffung Einhalt gebieten müssen. Doch nun ist es fast zu spät. Drei der fünf sind zu Gebärerinnen geworden. Sie verstreuen ihre Brut über das Land in Spätmorgenrichtung, du Narr. Setze jeden der fünf auf einer der großen Landmassen aus, damit es keine weitere Brut ausstreut! Ich will nicht zum Herrn von gefräßigen Beinlosen werden!" schnarrte Iaxathan. Aus einer Kristallpyramide in seiner rechten Hand sprangen silberne Blitze auf Skyllian über. Er wurde vom Boden hochgerissen und hing in der Luft. Gleichzeitig schrie er lautstark. Erst nach zehn Sekunden erloschen die ihn quälenden Blitze. "Gab's den damals auch schon in einer Form", grummelte Julius. Außer den silbernen Blitzen ähnelte Iaxathans Strafzauber so sehr an den Cruciatus-Fluch, daß Julius es sofort geglaubt hätte, wenn ihm wer erzählte, daß dieser Fluch von den Überlebenden des Untergangs Altaxarrois weitervermittelt werden konnte.

"Verlasse meine Festung und führe meinen Befehl aus, Skyllian. Dann darfst du mir gerne die ersten von uns beiden erschaffenen Krieger zeigen, mit denen wir die Herrschaft der an Licht und Stofflichkeit festhaltenden beenden werden", sagte Iaxathan.

"Sehr wohl, mein Herr", wimmerte Skyllian unterwürfig und krabbelte bibbernd aus dem Audienzsaal. Iaxathan fischte in eine Tasche seines wallenden Gewandes und zog etwas hervor, das wie ein absolut schwarz eingefärbtes Hühnerei aussah. Er tätschelte den Gegenstand mit beiden Händen, ließ ihn spielerisch auf den nach oben gekehrten Handinnenflächen kullern. "Wollen doch mal sehen, ob die Schlangenbrütigen wirklich über die Nachtkinder hinausgewachsen sind", hörte Julius Iaxathan schnarren. Dann hielt er das vollkommen schwarze Ei in der rechten Hand und konzentrierte sich. Keine zehn Sekunden später eilten zehn hagere Männer mit wachsweißen Gesichtern in den Raum. Sie trugen nichts außer blutroten Lendenschurzen. Sie verbeugten sich vor dem Meister.

"Es ist bald an der Zeit, daß ihr mit einer zweiten Streitmacht auszieht, den Willen meiner wahren Auftraggeberin zu erfüllen und die sich am Licht und den stofflichen Dingen festklammernden in ihre Obhut zurückzutreiben, aus der ein widerwärtiger Zufall sie vor tausenden von Muttersonnen entrissen hat. Wir sind alle Eigentum der ewigen Finsternis, in der alles Sein zu vergehen hat, weil nur dort die einzig wahre Ordnung herrscht", sprach Iaxathan mit voller Überzeugung.

"Wie die Skyllianri entstanden mußt du nicht wissen, da ihre Geschichte bereits vollendet ist", hörte Julius Kantoran und fühlte, wie dieser ihn von diesem Ort und aus dieser Zeit davonführte. Julius konnte jedoch mitverfolgen, wie Skyllian die fünf Riesenschlangen suchte. Dabei brauchte er jedoch offenbar Jahre. Denn die doch noch vermehrungsfähigen Monster erahnten, daß sie nicht mehr frei leben durften und zogen sich unter die Erde zurück. Weil zu der Zeit auch der Kampf mit den Vogelmenschen und Wolkenhütern immer stärker tobte, konnte Skyllian nicht immer zur stelle sein, um die fünf Giganten zusammenzutreiben. Julius bekam wie bei einem Film mit mehreren hintereinander ablaufenden Zwischenaufnahmen mit, wie sich immer wieder zwei der Riesenschlangen fanden und darum kämpften, wer welches Geschlecht besitzen durfte. Er sah auch, wie die von Skyllian erschaffenen Riesenschlangen lebende Menschen verschlangen, so wie Temmie es ihm schon erklärt und in Gedankenbildern gezeigt hatte. Skyllian schaffte es mit großer Mühe, die von ihm erschaffenen Schlangen zu finden und eine nach der anderen auf einem der Kontinente auszusetzen und dort festzuhalten. Als er jedoch merkte, daß die drei für Europa, Asien und Afrika bestimmten Schlangenwesen sich über die Landverbindungen der Kontinente suchten und um ihre Paarungsrollen kämpften, brachte er ein gerade männliches Exemplar ins eisige Nordland, eines in den Dschungel jenes Teilkontinentes, der später einmal Mittelamerika heißen würde, eines der Biester wurde in Afrika ausgesetzt, wo es jedoch noch mehr als zwölf Junge gebar. Eine der Kreaturen verfrachtete er in die Alpen. Das vierte Ungeheuer setzte er im majestätischen Himalayagebirge aus. Doch die dort vorherrschende dünne Luft und Kälte machten dem Schlangenungeheuer offenbar nichts aus. Das letzte der Schlangenungetüme, ein Weibchen, das wohl gerade kurz vor der Geburt neuer Abkömmlinge stand, bugsierte er mit seinen Erdzaubern auf die Antarktis. Wo die großen Ozeane auf die Erdoberfläche drückten, konnten sich die Riesenschlangen nicht so locker durch die Erde bewegen. Allerdings hatte er durch seine Transportaktionen die Aufmerksamkeit der Erdmagier erregt. Auch die Sharworakroin oder Taijataonin bekamen mit, daß jemand die Erde mit starken Zaubern durchwühlte.

In einer Szene konnte Julius mit allen Sinnen mitverfolgen, wie sich in blutrote Gewänder gehüllte Männer und Frauen mit steingrauen Kopfbedeckungen mit solchen, die orange-goldene Kopfbedeckungen trugen in einem Saal irgendwo auf der Erde trafen. Laut Kantoran geschah dies zehn Mondwechsel nach der Schlacht von Yanxotharan, die Julius bereits nacherlebt hatte. Er erkannte sogar zwei der Teilnehmer, die von Gesichtszügen und Augen her eindeutig Bruder und Schwester waren. Sie trugen die orange-goldenen Kopfbedeckungen. Dann sah er unter den Trägern der steingrauen Kopfbedeckungen einen Mann, der ihn an irgendwen erinnerte. Er wollte schon losgehen, ihn sich näher anzusehen, als ein wohl sehr alter Magier mit grauem Hut oder Turban das Wort ergriff und seinen aufmerksamen Zuhörern die Lage schilderte:

"Brüder und Schwestern, die ihr der Schöpferischen und tilgenden Kräfte unseres großen Vaters Himmelsfeuer und der mit ihm vermählten großen Mutter meinem Ruf gefolgt seid, Skyllian ist so gut wie geschlagen. Zwar schaffen es seine verbotenen Züchtungen, durch ihr Gift immer wieder neue Artgenossen zu erschaffen. Doch Ailanorars geflügelte Helfer tilgen sie vom Angesicht unserer großen Mutter, wo sie sie erspüren können. Doch dort draußen lauern noch fünf gewaltige Beinlose, die durch das Vertilgen von Menschen mit und ohne die Kraft an Macht und Unverwüstlichkeit gewonnen haben. Vor einer Sonne waren sie noch in einem Land vereint und konnten dort ihre Brut hervorbringen. Diese droht, uns alle zu vernichten, auch wenn sie nur halb so groß geraten ist wie ihre Erzeuger. Skyllians wahrer Meister hat dies wohl auch erkannt und seinem kriecherischen Gefolgsmann befohlen, die fünf Urgeschöpfe weit voneinander fort zu verbergen. Doch dadurch hat er uns, die wir den Kräften und Geheimnissen der großen Mutter Erde vertraut sind, verraten, wohin er diese Wesen gebracht hat. Ich erbitte von euch allen, die ihr dem Feuer und der Erde anvertraut seid, unsere Kämpfe gegen die Sharworakroin einstweilen zu unterbrechen und uns nur diesen fünf beinlosen Ungetümen Skyllians zuzuwenden. Denn wenn diese weiterhin durch Einverleibung äußerer und innerer Beschaffenheiten denkender und fühlender Wesen an Stärke gewinnen, so werden sie gegen alle uns bekannten Kräfte gefeit sein und irgendwann auch so stark, daß sie sich dem Befehl ihres Erschaffers verweigern und dem Trieb nach Vermehrung folgend wieder zusammenfinden können. Noch hält sie ein Lied der Ortsbindung Skyllians an ihren Plätzen. Doch mit jedem inneren Selbst, daß eines dieser Beinlosen verschlingt und mit jedem inneren Selbst, das die zu Gebärerinnen gewordenen Artgenossen in ihren Abkömmlingen auf unsere Welt zurückwerfen steigt ihre eigene Widerstandskraft gegen jeden Bindenden oder lähmenden Ruf der Kraft. Also gilt es, nun und unverzüglich zu handeln, jetzt wo wir vom Rat der Erdvertrauten die Wellen der Bewegungen erspürt haben, mit denen Skyllian seine größten Ungestalten an ihre neuen Wohnplätze befördert hat."

"Die Taijataonin oder Sharworakroin haben auch schon zwei der ihren an diese Unersättlichen verloren", sagte eine Frau mit einer orange-goldenen Haube auf dem Kopf. Das war Kailishaia, der Julius in der Halle der Altmeister auch schon begegnet war. Ihr Bruder Yanxothar, der letzte und größte Feuermagier des alten Reiches grinste den einen Mann mit steingrauer Kopfbedeckung an, der Julius so bekannt vorkam. Dieser machte nur eine Geste der Verachtung, sagte jedoch kein Wort. Der betagte Sprecher dieser Runde erbat sich wieder die volle Aufmerksamkeit und sagte: "Wir müssen Skyllians Brut vernichten."

"Wissen wir denn, wo die alle sind?" wollte Yanxothar wissen. Alle mit grauen Kopfbedeckungen sahen ihn verdutzt an. Die mit den orange-goldenen Kopfbedeckungen grinsten erheitert.

"Von vieren wissen wir, wo sie sind, da die sie durch den Leib der großen Mutter schwemmenden Wellen von unseren Erspürern einer klaren Richtung und Zielstelle zugerechnet werden konnten. Das fünfte Ungeheuer ist weit in Mitternachtsrichtung getragen worden. Doch die dort immer dichter zusammenlaufenden Linien der richtungsweisenden Kraft, die Eisen an sich ziehen kann, haben die Wellen gebrochen und damit unverfolgbar werden lassen. So wissen wir nicht, an welchem Punkt des eisigen Landes in Mitternachtsrichtung der fünfte getragen wurde. Ja bitte, Alaimadraghedan?" Ein mittelalt wirkender Mann mit grauem Kegelhut erhob sich, nachdem er durch eine kreisförmige Handbewegung vom Redner zu sich das Wort erbeten hatte.

"Ihr alle kennt das üble Spiel, das die Zeit und die hohen Mächte mit meiner Familie getrieben haben. Mein erster Sohn geriet auf den Weg der Mitternächtigen, bevor er die Weihe zum Erdvertrauten empfangen konnte. Er verhöhnte uns, daß Skyllians große Schöpfungen jeden altgedienten Erdvertrauten, ja auch die Altmeister in Khalakatan, übertreffen würden. Sie seien die Großen, die Wächter der wartenden Finsternis, die darauf hinwirken sollen, daß wir alle erst in ihren Leibern und dann im endlosen Dunkel verschwinden sollen. Nur wer sich wie er der einzig klugen Richtung hinwende könne darauf hoffen, den Übertritt in die seiner Meinung nach unvermeintliche Welt ohne Licht zu erfahren. Er sprach davon, daß jedes innere Selbst, das in diesen Ungetümen aufgelöst oder später als neue Brut wiedergeboren würde, die Armee der letzten Nacht vergrößern wird. Ich fragte ihn dann, ob er sich da nicht täusche und es einen Weg gebe, sie wieder zu befreien. Er hat dann sehr leichtfertig getönt, daß wir nur dann die einverleibten inneren Beschaffenheiten der Verschlungenen befreien könnten, wenn wir uns opfern würden, um uns selbst in diese Ungeheuer hineinschlingen zu lassen, um da selbst durch das Lied der großen Gnade der großen Mutter so viele der eingesammelten Beschaffenheiten auslösen könnten. Doch da jeder, der das versucht ja selbst gerade einverleibt wird, wäre das unmöglich."

"So bleibt nur die Vernichtung der Elterngeschöpfe, bevor wir die von ihnen ausgeworfene Brut bekämpfen können?" wollte der Sprecher der Zusammenkunft wissen.

"Nur wenn wir es schaffen, diese Wesen lange genug von der Erde fortzuheben, so wie bei den Kriegern Skyllians", vermutete der mit Alaimadraghedan bezeichnete Erdmagier.

"Die Verbunden heit mit der großen Mutter hilft ihnen, alles ihrer bindenden Kraft entgegenwirkende zu erlöschen. Nur wer in sich selbst die Worte der Loslösung wirken läßt oder geflügelt ist kann sich dieser Macht entziehen", sagte der Angesprochene.

"So werden wir wohl die Luftvertrauten darum bitten müssen, uns zu helfen oder uns mit den Taijataonin verbünden müssen", seufzte der Sprecher der Zusammenkunft. Dann sah er genau jenen Mann in blutroten Gewändern an, der Julius so bekannt vorkam. Doch dieser schüttelte den Kopf. War das damals auch schon eine Verneinungsgeste.

"Oh Großmeister Geshagotar, ich bedauere es selbst, daß ich Euch und damit uns helfen kann. Denn seitdem Ailanorar seine geflügelte Streitmacht gegen die Geschöpfe des finsteren Königs und seiner Getreuen führt hält er sich in seiner eigenen fliegenden Festung auf, die niemand finden kann. Auch muß ich hier und jetzt betrübt bekunden, daß meine Tochter von ihm, dem finsteren König, entführt wurde und es zu befürchten steht, daß sie ihm verfällt und ihm zu Willen ist."

"Davon erfahre ich jetzt erst, Agolar. Warum erst jetzt?"

"Weil meine derzeitige Tages- und Leibesgefährtin möchte, daß ich mit meinen Schülern und den Getreuen Ailanorars nach ihr suche. Wer sonst nach ihr sucht könnte ihren Tod herbeirufen. Ich wollte nur bekunden, daß ich im Moment niemanden erreichen kann, der uns mit geflügelten Wesen zur Seite stehen kann."

"Das werden wir ergründen, wenn wir die fünf gewaltigen Beinlosen und ihre Brut von dieser Welt getilgt haben. Nun gut, so müssen wir das Wissen um die Kräfte der unbelebten Welt benutzen, um zu erreichen, was wir erreichen wollen", knurrte der Sprecher der Zusammenkunft, der wohl Geshagothar hieß. Julius wollte gerade zu jenem Mann hin, der mit Agolar angesprochen worden war, um einen starken Verdacht zu überprüfen, als die Szene bereits wieder verschwamm. Auf einmal hockten Julius und Kantoran im Inneren eines gewaltigen Korbes aus Schilfruten. Über sich sah er eine turmhohe, blaugefärbte Konstruktion über einem gewaltigen Kessel, an dem einer der Männer mit orange-goldener Kopfbedeckung stand. Er tippte den Behälter mit seiner Kristallpyramide an, worauf laut tosend eine weißblaue Flammenfontäne in die über ihnen aufgerichtete Konstruktion hineinfuhr.

"Ob uns die Luftvertrauten verzeihen, daß wir uns ihres Wirkungsbereiches bedienen?" fragte ein Mann mit grauer Kopfbedeckung.

"Du hast es gehört, Madrashagoran, daß wir mit Ailanorars Hilfe nicht rechnen konnten", rief der Feuermagier über das Tosen der von ihm entfachten Feuersäule hinweg. Julius konnte nun komplett überblicken, daß sie in einer gewaltigen Gondel unter einem turmhohen Ballon saßen. Die Ballonhülle mochte aus Drachenhaut sein, die durchaus ein paar tausend Grad Celsius vertrug, wenn es darauf ankam. Weit unter sich erkannten sie eine grüne Oberfläche, flach wie eine Tischplatte. Dann hörte Julius einen Ruf: "Dort ist er!" Er blickte schnell nach unten und sah, wie ein gewaltiger Schlangenkopf aus der grünen Oberfläche hervorbrach. Er erkannte die goldenen Augen eines weiblichen Schlangenmonsters. Dann sah er noch zwei andere Ballons, nein, eher Zeppeline. Denn die Fahrer trieben mit Muskelkraft große, gefiderte Flügel an, die das Luftfahrzeug vom Wind unabhängig vorantrieben. Nur für den direkten Auftrieb brauchten sie noch heißes Feuer. Julius sah, wie die gewaltige Schlange ihre gespaltene Zunge herausstreckte und damit die Luft schmeckte, um die Duftstoffe von Beute oder Feinden zu erfassen.

"Seid auf der Hut vor ihren Zähnen. An ihnen klebt das Gift der überschnellen Lebensglut!" warnte der den magischen Brenner bedienende Feuervertraute seine vier ihm sichtbaren Mannschaftskameraden. Der jüngere Erdmagier wollte wissen, was damit gemeint war, als vom geflügelten Luftschiff her ein Hornsignal ertönte. Das war das Sammel- und Angriffskommando. Denn nun formierten sich der Heißluftballon, das Luftschiff und zwei weitere geflügelte Luftschiffe so, daß sie einen Kreis über dem Schlangenschädel bildeten. Das Ungeheuer erkannte nun den Angriff und warf sich nach vorne. Julius hörte es laut knirschen, krachen und knallen und sah nun, daß das Ungetüm mehrere Urwaldbäume niederdrückte. Da flogen aber schon Fangschlingen aus den vier Luftschiffen, die fast ohne Zauberkraftbenutzung in der Luft blieben. Julius konnte sehen, wie präzise die Lenker der Ballons und Luftschiffe ihre Fangschlingen ausgerichtet hatten. Denn die aus bläulichem Metall bestehenden Lassos umschlangen den Schlangenhals und zogen sich immer enger. Nun konnte Julius Latierre noch fünf weitere Luftfahrzeuge erkennen, die aus der Richtung kamen, in der er den restlichen Schlangenkörper vermuten durfte. Dort mitfahrende Feuermagier brannten mal eben alle umstehenden Bäume nieder, um den nun wild herumschlagenden Leib freizulegen. Er sah, wie das Schlangenmaul wild um sich schnappte. Es konnte mit leichtigkeit fünf Mann zugleich einschließen. Der junge Erdmagier versuchte, mit aus seiner Kristallpyramide fliegenden grauen Kugelsphären dagegen anzukämpfen. Doch noch war die Riesenschlange mit einem Teil am Boden. Erst als es den Zauberern in den anderen Luftfahrzeugen gelang, sich selbst bewegende Taue dick wie Menschenkörper unter der halb nach oben gezogenen Schlange durchzuschießen und damit eine Verbindung zwischen den Luftfahrzeugen herzustellen, konnten sie die Schlange ganz anheben. Die grauen Sphären zerschellten am Maul und an der Zunge der Schlangenmonster. Der junge Erdmagier sprang zurück. Doch da schnappte das Maul nach seinem Oberkörper und riß ihn aus dem Ballon heraus. In dem Moment jedoch dröhnten alle Brenner los, um genug heiße Luft in die Ballonhüllen zu blasen. Der gerade von der Monsterschlange erbeutete Erdzauberer verschwand schreiend im Maul der Bestie. Der Feuermagier am Brenner reagierte sofort. Er richtete die gerade lodernde Flammenfontäne auf das gerade wieder zum zuschnappen aufklaffende Maul und jagte die weißblaue Flammengarbe mitten hinein. Das Schlangenungeheuer brüllte ohrenbetäubend los. Denn nun, wo es den Kontakt mit dem Erdboden verloren hatte, war es angreifbarer geworden. Julius sah sofort, wie gewaltige Feuerbälle auf das in der Luft gehaltene Ungetüm einprasselten. Er sah auch grün leuchtende Speere, die in den Leib der Kreatur hineingetrieben wurden, um dort ein verheerendes Werk zu verrichten. Denn das Schlangenungeheuer verfärbte sich, wurde erst pechschwarz und dann kristallartig durchsichtig. Dann zerplatzten die in es hineingetriebenen Speere wie Raketensprengköpfe. Laut klirrend sprangen große Stücke aus dem Körper des Schlangenungeheuers heraus und fielen nach unten. Die Schlange wurde regelrecht zertrümmert. Als sie keinen zusammenhängenden Körper mehr besaß, glitt sie aus den Halteseilen heraus und stürzte ab. Ganz tief unten hörten sie ein lautes Klirren und Prasseln und sahen unterschiedlich große Splitter, die in den noch stehenden Bäumen einschlugen. Die Schlangenbekämpfer jubelten lauthals. Einer der großen fünf war erledigt. Damit endete auch die Betrachtung dieser Szene.

In der nächsten Szene konnte Julius nacherleben, wie ein turmhoher Mensch mit einem rosiggolden glänzenden Hammer vor einer schwarz-grau-rubinroten Riesenschlange stand. Er kämpfte mit dem Ungetüm. Wo sein Hammer die Schlangenhaut traf sprühten blaue und grüne Blitze. Dann erwischte das für den Giganten nicht zu große Maul ihn am linken Arm. Julius sah und hörte, wie dabei zwei Zähne abbrachen. Offenbar war die Haut des Titanen besser gepanzert als eine mittelalterliche Ritterrüstung. Julius sah jedoch, daß die beiden Zähne tief im Arm des Überriesen steckten. Dieser brüllte vor Wut und holte mit beiden Händen aus: "Schlaf ein und wach nie wieder auf!!" dröhnte die Stimme des Titanen über die vereiste Landschaft hinweg. Die Schlange wollte gerade wieder zuschnappen, als der Titan mit solcher Wucht den Hammer genau zwischen die Augen niedersausen ließ, daß es nur so krachte. Aus dem Hammer zuckten blaue und grüne Blitze, die den gesamten Leib der Schlange überzogen, sich verästelten und dann erloschen. Zwei Sekunden lang blieb die Leuchterscheinung stabil. Dann verlosch sie. Das beinlose Ungeheuer krachte zu Boden. Der Titan zog sich nun die beiden in seinem Fleisch steckenden Schlangenzähne heraus. Leicht qualmend floß rotschwarzes Blut aus den Wunden. Es dampfte immer mehr, als würde es im inneren aufgeheizt.

Die beiden Zeitbetrachter konnten nun noch sehen und hören, wie zwei Kameraden des Hammerkämpfers dazukamen und der Hammerkämpfer selbst immer mehr von innen erglühte. Er hörte, daß der Titan mit dem Hammer, den er Donnerschläger nannte, nicht mehr lange leben würde. Er sollte dann im Tod mit seiner Waffe vereinigt den auf die Schlange geschleuderten Schlafzauber aufrechterhalten. So geschah es auch. Der Überriese glühte immer heller, bis er in einer gewaltigen Wolke aus weißblauen Flammen verging. Dabei verdampfte eine Menge Gletschereis. Die Risenschlange und der Hammer versanken im getauten Gletschereis. Kantoran ließ mal eben die Sonne in wilden Kreisen um sie herumlaufen, bis diese so tief stand, daß sie unter dem Horizont verschwand. Julius erahnte eher als es zu sehen, daß auch der Mond wilde Kreisbewegungen über ihm ausführte und wagte erst gar nicht, nach oben zu sehen. Es war wie ein grauer Ring, der sich auf dem nun wieder zufrierenden Gletscher abzeichnete, aus dem dann wieder ein gleißender, weißgoldener Ring wurde. Julius blickte nach oben und sah die Sonne, die so schnell ihre Bahnen am Himmel zog, daß sie nur als verschwommener, gleißender Ring über ihm zu erkennen war. Dann wurde es wieder Nacht. Kantoran beschleunigte den Lauf der Zeit noch weiter. So war der Sternenhimmel nur ein funkelnder, flirrender Lichtvorhang, während der Mond zu einem flimmerfrei leuchtenden Ring aus silberweißem Licht wurde. Keine zehn Sekunden später wurde er auch schon wieder von der Sonne abgelöst. Der Zeitlauf beschleunigte sich weiter. Julius überschlug bei dieser rasanten Reise durch die Zeit, wie viele Monate in einer Sekunde vergingen, als sich Sonnenlichtring und Mondlichtring alle drei Sekunden, dann alle zwei und dann alle halbe Sekunden abwechselten. Dann verwischten sie zu einem halbdämmerigen Leuchtring. Die Jahrzehnte flogen nun im Sekundentakt dahin, womöglich auch schon die Jahrhunderte. Julius fragte sich, warum Kantoran nicht einfach einen Zeitsprung vollführte, wie er es sonst tat.

"Sieh den Fluß aus gefrorenem Wasser zu!" wies Kantoran Julius an. Dieser bestätigte und beobachtete den Gletscher, der schnell und munter wie ein Bach weiterfloß. Nun war ihm klar, was Kantoran ihm damit vor Augen führen wollte. Der Gletscher hatte die Schlange und ihren letzten Gegner überdeckt. Sie wurden nicht gefunden, bis ein Professor Arne Björnson im Jahre 2000 christlicher Zeitrechnung diesen Gletscher erforschen würde. Julius konnte sich nun zusammenreimen, was passiert war. Björnson oder ein anderer hatte es geschafft, den Titanenhammer aus dem Gletscher zu entfernen, wohl aus der Höhle, die Julius schon besucht hatte. Dabei war der von dem Überriesen auf die Schlange ausgeübte Schlafbann schwächer geworden. Zauber und Bezauberter befanden sich da aber wohl gerade in einem anderen Ablauf der Zeit, wo das, was eigentlich nur eine Sekunde dauerte, eine Stunde oder einen Tag andauern mochte. Doch die schlafende Schlange war dabei, in den für alle anderen Lebewesen gültigen Zeitablauf zurückzukehren. Je mehr Menschenseelen sie in sich einverleiben konnte, desto schneller fiel der sie lähmende Bann von ihr ab. Wenn das die Botschaft war, die Kantoran ihm vermitteln durfte, dann hoffte er, sie verstanden zu haben.

Aus dem Wirbel verfliegender Jahre heraus landeten die beiden Zeitrückschauer vor einer Höhle, die Julius zu gut kannte. Er erkannte sofort eine Gruppe von Männern mit Taschenlampen. Da er innerhalb dieses Zeitrückschauzustandes jede gesprochene Sprache verstehen konnte erfuhr er, daß es sich um die Forschungsgruppe um Arne Björnson handelte, die die Höhle gerade betretbar gemacht hatte. Er verfolgte mit, wie sie in der Höhle den Riesigen Hammer fanden, jenen Hammer, den der sterbende Titan geführt hatte und mit dem dieser sich im Tod verbunden hatte, um die von ihm besiegte Schlange weiter im Tiefschlaf zu halten.

"Hier schließt sich der Kreis, weswegen du uns Altmeister aufgesucht hast, Julius Erdengrund", sprach Kantoran. Damit endete die rein sinnlich erlebte Zeitreise. Julius fühlte, wie seine Arme um den Kristallzylinder lagen, in dem der Geist Kantorans in seinem Silbergewand überdauerte.

"Drei Fragen an mich sind dir gewährt. Wähle also weise!" sagte der Zeitbetrachter. Julius überlegte, wie er mit nur drei Antworten den richtigen Weg erfahren konnte. Er rief sich alle vorgeführten Erlebnisse ins Bewußtsein zurück. Dann wußte er die erste Frage:

"Kann ich die in der noch schlafenden Schlange gefangenen Menschen befreien, ohne selbst dabei zum Opfer dieses Wesens zu werden?"

"Ja, dies ist dir noch möglich, solange der letzte der großen fünf noch nicht in den ihm gewohnten Lauf der Zeit zurückfinden kann."

Julius überlegte weiter. Dann fiel ihm ein, daß einer der Erdmagier was von einem Lied der großen Gnade der großen Mutter erzählt hatte, mit dem gefangene Seelen aus einer der Riesenschlangen befreit werden könnten. So fragte er:

"Wer von den der Erde vertrauten Altmeistern kennt das Lied der großen Gnade der großen Mutter und kann es mir auch beibringen?"

"In dieser Halle gibt es nur zwei, die das Lied und alle Abwandlungen kennen, einer war bei der dir gezeigten Unterredung anwesend." Julius überlegte, ob damit der Sprecher selbst gemeint war. Wäre möglich. Doch wenn er nun nach ihm fragte, konnte es genau der falsche sein, womit seine drei Fragen verbraucht waren. Dann fiel ihm ein, daß Kailishaia, die Feuermagierin, ja auch in dieser Halle der Zusammenkunft gewesen war. Sie war zu einer Altmeisterin geworden, weil sie keine regierende Hochkönigin geworden war, aber viel über die Magie des Feuers wußte, um dieses Wissen weiterzugeben. So fragte er:

"Kann mir Kailishaia den Namen und den Weg zu diesem Altmeister sagen?"

"Ja, das kann sie. Doch ob sie es tun will und tun wird mußt du von ihr selbst vernehmen", erwiderte Kantoran. Dann zerfloß seine Gestalt zu jenem silbernen Leuchtstoff, der den Kristallzylinder nun wieder vollständig ausfüllte. Das war eindeutig, fand Julius. Hier oben gab es für ihn nichts mehr zu holen. So dachte er die Freiflugformel und sank hinunter, um zu den Feuermagiern unter den Altmeistern zu gelangen. Dabei sah er Catherine, die gerade frei durch die Luft flog und diese neue Zauberkunst wohl sichtlich genoß.

"Hat der Zeithüter dir alles gesagt, was wir wissen müssen?" fragte Catherine.

"Ich muß noch jemanden fragen, wie man die Riesenschlange entweder ohne eine Flotte Ballons erledigen kann oder weiterschlafen läßt, Catherine. Hat dir Garoshan verraten, zu wem du hin mußt?"

"Ich werde nun selbst zu Altmeister Kantoran hinauffliegen und mir von ihm das zeigen lassen, was ich unbedingt herausfinden muß. Was das ist möchte ich dir im Moment nicht verraten, weil das eher was ist, was nur meine Familie was angeht, Julius."

"Gut, das muß ich respektieren", sagte Julius, der sich fragte, was Catherine so zu geheimnissen hatte. Andererseits war die Gelegenheit ja auch zu günstig, mal eben in die Vergangenheit hineinzusehen um bestimmte Sachen herauszufinden, bei denen es in der Zeit, wo sie passiert waren, keine Augenzeugen gegeben hatte. So winkte Julius seiner Begleiterin und peilte die Stelle an, wo Kailishaia zu finden war. Er stieg einige Dutzend Meter weiter nach oben. Da gewahrte er weiter über sich einen goldenen Schimmer, der aus dem hier vorherrschenden Silberglanz herausstach wie ein Sonnenstrahl aus fast vollständig bedecktem Himmel. Julius erinnerte sich, daß dort Ianshiras Zylinder angebracht war. Wollte Darxandrias Cousine ihm damit zeigen, daß er zuerst zu ihr zu fliegen hatte? Das bekam er nur heraus, wenn er hinflog. So beschleunigte er seinen Flug ein wenig und näherte sich dem Zylinder, der aus sich heraus golden strahlte. Dann erlosch das Goldlicht. Zuerst war es jener hier übliche Silberglanz, der den ganzen Zylinder ausfüllte. dann verdichtete sich die Leuchtsubstanz zu einer kleinen, kugelrunden Frau mit tiefschwarzem Haar und hellgrünen Augen im braungoldenen Gesicht. Sie trug immer noch jenes sonnengelbe Gewand mit den goldenen Halbmondsymbolen, das Julius bei seinem ersten Besuch an ihr gesehen hatte.

"Tritt zu mir, Julius Erdengrund! Ich habe mit dir zu reden", klang Ianshiras Stimme spährisch zu ihm. Er hörte eine gewisse Verärgerung aus den Worten der Altmeisterin heraus. Doch im Moment war er sich keiner Schuld bewußt. Er berührte den Kristallzylinder. Erst meinte er, daß dieser sich ganz warm anfühlte. Doch dann stand er direkt neben Darxandrias Cousine, die er nun um mehr als zwei Köpfe überragte. Er begrüßte sie artig und wartete, bis sie ihn wieder ansprach.

"Ich habe dich damals geheißen, mit Darxandrias Wissen in dir nach Vertrauten zu suchen, denen du die vier großen Zauber beibringen kannst. Ich habe dich nicht darin bestärkt, die dir anvertraute innere Beschaffenheit meiner Mutterschwestertochter in ein zum reinen Nahrungsgewinn erschaffenes Tier zu übertragen, so daß sie nun mit dessen innerem Selbst zu einer anderen geworden ist, auch wenn sie das natürlich nicht zugeben wird. Zudem habe ich dir die vier alten Zauber nicht erklärt, damit du jedem, der sich für wichtig genug hält, dich davon zu überzeugen, sie lernen zu müssen, diese vier alten Zauber beibringst. Mit jedem, dem du diese alten Lider und Wörter der Kraft beigebracht hast, entsteht auch die Gefahr, daß diese alten Lieder und Worte wissentlich oder noch schlimmer, gänzlich unbeabsichtigt zu größeren Verheerungen führen können. Und wenn du mich jetzt zu fragen wagst, welche Gefahren es dabei gibt, so rufe dir die Lage in deine Erinnerung zurück, wie die meisterin, deren Tochter gerade bei uns auf die Suche nach den Rätseln ihrer Familie geht, den von einem an seinem inneren Selbst schwer verletzten Jungen mit dem Übelwender berührt hat!" Unvermittelt fand sich Julius im Krankenflügel von Beauxbatons wieder, zusammen mit Madame Faucon, Madame Rossignol, Professeur Delamontagne, Patricia Latierre und Hanno Dorfmann. Er erlebte erneut mit, wie Madame Faucon Hanno mit dem Fluchumkehrer belegte und dadurch seine Mutter herbeigeholt wurde, in deren Leib Hanno zurückkehrte, weil sein Fluch ursprünglich den Tod seiner Blutsverwandten herbeiführen sollte. "Auch wenn dieser Junge dadurch eine neue Lebensmöglichkeit erlangt hat und hoffentlich frei von ihn zu zerstörerischen Taten treibenden Bedrängnissen aufwachsen kann, habt ihr durch mein Wissen in das Gefüge zweier Leben eingegriffen. Dafür haben wir Lichtvertrauten ihn nicht ersonnen und bewahrt", schnarrte Ianshiras Stimme. "Ja, und bei zwei Leben blieb es ja nicht. Denkst du, mir gefällt es, von den anderen Altmeisterinnen und -meistern verlacht oder bedauert zu werden, weil ich mitgeholfen habe, daß das natürliche Gefüge von Werden und Bestehen mehrmals erschüttert wurde?"

"Das mit den Friedenslagern ging nicht anders", verteidigte sich Julius.

"Ich spreche nicht von den Friedenslagern, sondern von der anderen Meisterin, welche jene unterwies, deren Tochter nun findet, die Geheimnisse ihrer Familie erforschen zu können." Übergangslos schwebte Julius über einer kleinen Insel vor einem großen Stein. Da sah er Professeur Tourrecandide, die sich mit einer sichtlich schwangeren Hexe mit walnußbraunem Haar unterhielt. Die Hexe war Daianira Hemlock, und sie benutzte denselben Zauberstab, den Julius zweimal bei der Wiederkehrerin gesehen hatte. Dann sah und hörte er, wie Professeur Tourrecandide den Fluchumkehrer aufrief und sah, wie die andere Hexe in einem silberweißen Licht verschwand und auch Professeur Tourrecandide von silbernem Licht umflossen wurde. Aus diesem heraus flog eine leuchtende Kugel genau in ihre Körpermitte. Dann stand Anthelia da, so wie Julius sie gekannt hatte. Nur trug sie für sie viel zu weite Kleidung. Professeur Tourrecandide jedoch war nun die werdende Mutter. Zudem war sie offenbar durch den Zauber um mehrere Jahrzehnte Jünger geworden. Denn ihr weißes Haar war tiefschwarz geworden, und die ehemalige Beauxbatons-Lehrerin besaß weniger Falten im Gesicht. Damit bestätigte sich ein Verdacht, den Julius schon seit jenem Traum von der Nacht nach seinem siebzehnten Geburtstag gehegt hatte.

"In großer Unachtsahmkeit, was der von mir gelehrte Übelwender in einem Raum bewirkt, in dem jeder gegen einen Feind wirkende Ausruf der Kraft auf den Angreifer zurückprallt und diesem die Wirkung zufügt, die er dem Feind zufügen wollte, mußte sie zunächst die zurückverjüngte Meisterin, die halb von Dunkelheit erfüllt war tragen, gab diese dann an deren Verwandte ab und verfiel dann, weil die Strafe der Wächterinnen dieser Insel nicht damit umgangen werden konnte, ihrerseits einer Rückverjüngung zur Ungeborenen. Sie muß nun ihr Leben neu leben, unter anderem Namen, bei einer Mutter, die noch nicht ganz von der inneren Dunkelheit gereinigt ist. Und was die Sache zwischen dir und Naaneavargia angeht, so wurdest du ja von Ailanorarr selbst darüber in Kenntnis gesetzt, daß durch deine Befreiung der Weg frei wurde, um sie mit jener zu verschmelzen, die der Übelwender aus der auferlegten Ohnmacht der Ungeborenen befreit hat. Dank deines leichtfertigen Aufrufs des Übelwenders konnte Naaneavargia der sie einzig haltenden Begrenzung entfliehen und in die Welt der Lebenden zurückkehren und dort als Spinne wie als Trägerin der Kraft ihre unersättllichen Begierden stillen. Dadurch konnte jene, die von Dunkelheit getrieben einem durch unsichtbares Feuer veränderten Sohn der Nacht tötete und dadurch seiner Verheerung ausgesetzt war, durch Naaneavargia zu neuer Kraft und neuem Wissen finden, weil jene, der du den Übelwender erläutert hast, sie aus der Ohnmacht des Ungeborenseins befreit hat. Somit hast du beide zusammengebracht. Sicher werden sie dich dafür nicht mit Gewalt bedrohen. Aber du trägst die Verantwortung für ihr Dasein, genauso wie du meiner Mutterschwestertochter diesen viel zu großen, stinkenden Körper einer Milchgeberin zugemutet hast. Kläre es mit beiden, wie du mit ihren beiden Leben zurechtkommen wirst! Und wenn ich die Tochter eures derzeitigen Ratssprechers betrachte, so sehe ich in ihr nicht nur Licht. Sie hat zu große Ziele, um sie immer mit dem inneren Licht zu verfolgen."

"Moment, mal zwei Sachen, damit ich hier nicht als Volltroll dastehe", setzte Julius verdrossen an. "Darxandria, deine Cousine, wollte freiwillig in diesen Körper einziehen, damit ich nicht darin hängenbleiben mußte. das wäre nämlich sonst passiert. Sie fühlt sich darin sehr wohl, wie sie mir immer wieder sagt. Zweitens habe ich Professeur Tourrecandide nicht gesagt, auf diese Waldinsel zu gehen und sich da ausgerechnet mit Daianira, die da wohl gerade auf irgendeinne Weise mit der Wiederkehrerin schwanger gewesen ist, zu duellieren. Ich habe ihr erklärt, daß der Zauber jedes bösartige Zauberwerk umkehren kann. Abgesehen davon, und jetzt doch noch was drittes, hätte Hanno Dorfmann sicher noch mehr Leute umgebracht, wenn er es geschafft hätte, beide Elternteile umzubringen. Was mit Naaneavargia passiert ist habe ich auch nicht vorherahnen können, weil ich nicht weiß, wie Anthelia diese Verschmelzung mit ihr hinbekommen hat. Für Temmie also Darxandria trage ich schon Verantwortung, weil wir beide das vereinbart haben. Sie paßt ja schließlich auch auf mich auf. Für das, was aus Naaneavargia und Anthelia geworden ist kann ich keine Verantwortung übernehmen, weil ich Anthelia nicht gesagt habe, diesen Verschmelzungszauber zu machen. Gut, daß beide durch mich freigekommen sind muß ich wohl zugeben. Das ist jetzt aber nicht mehr zu ändern."

"Ich habe auch nicht verlangt, daß du es ändern oder ungeschehen machen sollst, sondern daß du mit dieser Verschmelzung fertig zu werden hast. Denn auch wenn durch die Verbindung ein großer Teil der in beiden herrschenden Dunkelheit verschwunden ist, so reicht der Rest doch aus, um die Welt zu verheeren. Denn Naaneavargia kannte die Geheimnisse der Erde und einige andere wichtige Dinge, wie zum Beispiel die Straßen Altaxarrois. Sie könnte danach trachten, deinen Lotsenstein zu erlangen oder danach trachten, den noch bestehenden Stein zu finden. Doch dazu mehr zu sagen steht mir leider nicht zu, da die Orichalkregel mich zwingt, die Angelegenheiten der Mitternächtigen nicht weiterzugeben. Sie weiß, wer ihr zu dieser Macht verholfen hat. Sie wird sich dir auf irgendeine Art nähern oder warten, bis du sie aufsuchst, und dies könnte dir widerfahren, wenn du hier nicht finden solltest, was du suchst. Mehr will ich dazu nicht sagen." Mit diesen Worten wurde Julius wieder vor den Kristallzylinder abgesetzt. Ianshiras Erscheinung zerfloß zu silbernem Licht. Julius stieß sich von dem Zylinder ab. Noch wirkte der Freiflugzauber. Ein wenig ungehalten, weil sie ihn so angeblafft hatte flog Julius von Ianshiras Zylinder fort. Er durfte wegen ihrer unerwartet gefühlsbetonten Rüge nicht vergessen, was er hier eigentlich wollte.

Als wäre er gerade von ihr abgeflogen fand er den Weg zu Kailishaias Kristallzylinder auf Anhieb. Er wußte nicht, ob die Feuermagierin vor ihm erscheinen würde. Zunächst sah es auch so aus, als würde in dem betreffenden Zylinder nur die silberne Leuchtsubstanz stecken, die alle anderen magischen Gefäße erfüllte. Doch Julius wollte es jetzt wissen. Er war sich absolut sicher, hier an der richtigen Stelle zu sein. Er lehnte sich an den Glaszylinder, der im Moment eher kalt als warm war. Er unterdrückte die erste Regung, an den Zylinder zu klopfen. Die Altmeister hatten in ihrer Überdauerungsform keine Ohren. Außerdem fühlten sie die Anwesenheit lebender und denkender Wesen. Sie bildeten schließlich ein zusammenhängendes Gedankennetzwerk, in das er in dem Moment eingebunden war, wo er die Halle der Altmeister betreten hatte. Er wartete also. Er vermied es, die Sekunden zu zählen. Er entspannte sich. Wenn Kailishaia seine Geduld testen wollte, dann würde er zumindest die nächsten Minuten durchhalten, spätestens so lange, bis Catherine ihn hier wieder antraf, die gerade oben bei Kantoran war und offenbar Kontakt mit ihm bekommen hatte. Er schloß die Augen, um noch besser entspannen zu können. Er wartete weiter.

Als er meinte, kein Gefühl für die verstreichende Zeit mehr zu empfinden, fühlte er, wie der Kristallzylinder, an den er sich lehnte, immer wärmer wurde. Das geschah so schnell, daß Julius fürchtete, er würde sich gleich die Arme und den Bauch verbrennen, wenn er nicht losließ. Er wollte schon zurückweichen, als ihn zwei schlanke Arme fest umfingen und nach vorne zogen. Er schlug erschrocken die Augen auf, um in das breit grinsende Gesicht Kailishaias zu blicken. Im Vergleich zu der Vision mit der Zusammenkunft von Erd- und Feuermagiern wirkte sie lediglich um zehn Jahre älter. Ihr roter Haarschopf umwehte ihre und Julius Schultern. Ihre dunklen Augen, die ihn an schwach glimmende Kohlestücke erinnerten blickten ihn höchstamüsiert an. Er fühlte sie, als sei sie eine Frau aus Fleisch und Blut. Er fühlte ihre innige Umarmung, ihren weichen, warmen Körper. Er roch ein dezentes Duftwasser. Unter seinen Händen fühlte er einen glatten, seidigweichen Stoff, aus dem ihr orange-goldenes Kleid bestand. Er merkte, daß er sie genauso innig umarmt hielt wie sie ihn. Er wollte sie loslassen. Doch sie klammerte sich noch fester an ihn.

"den halben Tausendsteltag wirst du mich sicher noch so innig halten, wie du es wohl sonst nur bei der dir verbundenen und von dir mit der mutterschaft geehrten vollbringst", hauchte sie ihm zu. "Du wolltest doch zu mir. Du hast den Beobachter gefragt, ob ich weiß, wen du aufsuchen mußt. Ich wollte nur, daß du mir zeigst, wie wichtig dir das ist, zu mir zu kommen. Jetzt bist du bei mir."

"Entschuldigung, Meisterin Kailishaia", setzte Julius an. Doch die Feuermagierin räusperte sich leise und zischte ihm zu, sich nicht bei einer Frau dafür zu entschuldigen, daß er sich von ihr umarmen ließ. Das würde sie wohl mißverstehen. "Ich wollte nur sagen, daß ich euch nicht belästigen wollte, Meisterin Kailishaia", sagte Julius noch.

"Im Augenblick empfinde ich dich nicht als Last oder Störung meines Daseins, Julius Erdengrund. Ich bedauere nur, daß ich selbst nicht den Vorzug genießen darf, alle Wege der Sinnlichkeit bis zum Gipfel des gemeinsamen Glückes mit dir zu ersteigen", raunte sie sehr verrucht klingend. "Hat dich Darxandrias kleine runde Mutterschwestertochter böse ausgeschimpft?" fragte sie dann mit einer eher mädchenhaften Erheiterung in der Stimme. Julius versuchte, sich aus der Umarmung herauszuwinden. Doch Kailishaia ließ nicht von ihm ab. "Die Zeit ist noch nicht um, junger Träger des Siegels Darxandrias. Du kommst noch früh genug zu ihm hin, den du suchst."

"Ich weiß aber nicht, ob in der Zeit nicht dieser letzte der großen fünf erwacht", erwiderte Julius.

"Im Moment ist niemand auf jener Insel. Aber es sind wieder welche dorthin unterwegs. Doch es wird noch einige Zeit dauern, bis sie dort ankommen, wenn sie überhaupt bis auf die Insel hinkommen. Denn sie reisen mit fliegenden Tieren, die ein sehr starkes Gefühl für Bedrohungen haben", hauchte Kailishaia. Dann fragte sie erneut, ob Ianshira ihn heftig ausgeschimpft hatte. Julius wußte, daß die Altmeister alles mitbekamen, was einer von ihnen tat. So ersparte er sich die Antwort. "Lass dir von einer berufeneren erklären, warum sie das getan hat. Ich darf es dir leider nicht sagen", fuhr Kailishaia fort. Julius hörte jedoch heraus, daß die Feuermagierin und Altmeisterin sehr amüsiert war.

"Bevor ich dich wieder freigebe, damit du zu Agolar hinfinden kannst, um ihn freundlich zu bitten, dir die wichtigsten Lieder zur dauerhaften Entkräftung des letzten der großen fünf zu verraten, möchte ich dich um etwas bitten."

"Um was?" fragte Julius, der sich in dieser innigen Umarmung nicht so recht zwischen Wohlfühlen und Unbehagen entscheiden konnte.

"Nun, seitdem du bei uns warst und von Darxandria, die wie du bereits erwähnt hast, mit ihrem neuen Körper sehr glücklich ist, das Lied der Himmelsburg gelernt hast, war ich sehr wißbegierig und habe dein Leben und die Leben aller mit dir verbundenen nachgefühlt. Dabei habe ich erkannt, daß der Familienname Latierre also Erdengrund eigentlich nicht passen mag. Eher müßten sie Lesfeux oder Laflame also die Feuer oder Flammen heißen. Du weißt von Garoshan und Kantoran, daß wir Altmeister durch unsere Gedankenverbindung weiter in die Zeiten zurückblicken und in die Sinne bereits dahingegangener Wesen eintauchen können, um ihr Leben aus ihrer Empfindung heraus zu erkunden. Die bereits dahingegangenen und die noch lebenden fühlen dies natürlich nicht. Das weißt du ja auch. Nur noch so viel, deine dir angetraute ist würdig, mein Erbe zu erhalten. Du mußt nur mit ihr über die Straßen meines Volkes gehen und jene Festung aufsuchen, in der du mit Darxandria, sowie der Trägerin von Ashtarias Erbe gewesen bist. Dort sprich zu der Immerglanzmagd folgende Worte: Im Namen der Hüterin des Herdfeuers, trägerin der sonnenhellen Fackeln, hülle meine Gefährtin, die mein Fleisch und Blut empfing in das Kleid des zahmen Feuers!" Julius hörte ihre Stimme an seinem rechten Ohr. Doch eigentlich flüsterte sie direkt in seinen Geist hinein. Er hörte sogar die altaxarroischen Originalworte und war sich in diesem Augenblick sicher, sie nicht mehr vergessen zu können.

"Das Kleid des zahmen Feuers?" wollte Julius wissen. "Wozu dient es?"

"Das ist das Kleid, das du gerade an mir siehst, mit dem ich die Aufnahme in die Reihen der Altmeister von Khalakatan durchlaufen habe. Ich hieß eine Immerglanzmagd, die mich begleitete, es nach meinem Austritt aus dem fleischlichen Dasein in jene Festung zu verbringen, in der nur Feuer- und Lichtvertraute Einlass finden dürfen. Ich dachte zwar, daß mindestens meine Enkeltochter sich als würdig erweisen würde, es zu tragen. Doch sie gab sich gänzlich frei von äußerem Zwang einem Mitternächtigen hin und ließ ihn ihr ein Kind in den Leib legen. Diesen Nachfahren wollte ich das von mir selbst gewebte und mit Fäden der Kraft durchwirkte Kleid niemals anvertrauen. Ich habe herumgehen lassen, daß es auf mein Geheiß hin in der tiefe der Erde versenkt wird. Es hält jedes zerstörende Feuer im Umkreis von drei Schritten von dir fern. Dazu zählen auch flammenlose Feuer wie der sengende Wüstensand, glühende Kohle, hohe Tageshitze, ja sogar siedendes Wasser oder Öl. Zudem bereitet es der Trägerin immer soviel Wärme, wie sie in der von ihr durchwanderten Umgebung nötig hat, auch wenn sie im Eisland der Mitternacht oder des Mittags wandert. Aber die Trägerin muß eines bedenken, solange sie das Kleid trägt, kann sie ihre Kraft nur auf Dinge und Wesen lenken, die vom Feuer berührt sind oder mit dem Feuer in Verbindung stehen. Außerdem zehrt das Kleid vom inneren Feuer des Körpers und der Seele. So wird die Trägerin in nur in der Hälfte der gewohnten Zeit ermüden und braucht die doppelte Zeit, um sich wieder zu erholen. Schläft sie ein, während sie das Kleid trägt, darf es ihr auf gar keinen Fall fortgenommen werden, weil es mit ihr zusammen die Erholung findet. Wird es ihr dennoch weggenommen, entreißt es der Trägerin auch jene körperliche Restkraft, die nötig ist, um zu atmen und das eigene Blut zu bewegen. Aber keine Angst. Sie wird es früh genug merken, wenn ihre Kräfte nachlassen. Dann kann sie das Kleid immer noch ablegen, bevor sie sich schlafen legt. Das Kleid selbst wird dann seine Kraft durch das große Himmelsfeuer zurückerhalten, wenn dieses vom Himmel leuchtet."

"Hmm, so wie es sich anhört ist es ein genialer Schutz vor Drachenfeuer und Feuerlöwen, solange sich jeder an die Regeln hält. Dann könnte es doch auch ein Mann tragen, oder?" fragte Julius herausfordernd.

"Da das Kleid von mir gewebt wurde, als ich meine einzige Tochter in ihr Leben trug, ist es ein höchst weiblicher Gegenstand. Wer es anzieht ist auf jeden Fall eine Frau oder ein Mädchen, je danach, wie alt die Trägerin ist. Mein Bruder wollte es nicht auf sich sitzen lassen, daß ich sein ach so mächtiges Schwert mit einem einfachen Kleid entkräften konnte. Er nahm es mir einmal heimlich fort und zog es an. Wir haben uns nicht schlecht gewundert, als er meine und seine eigene Schwester wurde. Natürlich hat er sofort das Kleid wieder ausgezogen. Doch er wurde nicht mehr er, bis ich das Kleid wieder anzog. Da erkannte es mich als geborene Frau an und gab ihm seinen angeborenen Körper zurück. Es hat ihm nicht einmal weh getan. Doch das Gefühl, nicht alles von mir benutzen zu dürfen, was ich selbst gefertigt habe hielt ihn davon ab, noch einmal danach zu greifen. Ja, dies gelang wohl auch nur so, weil er mein Bruder war. Ich rate besser nicht dazu, es bei nicht aus demselben Schoß geborenen zu verwenden, sobald deine Gefährtin von meinem Kleid als seine neue Trägerin erkannt wurde", hauchte Kailishaia. Dann öffnete die Feuermagierin ihre Arme wieder und gab Julius frei. Er ließ auch von ihr ab. Jetzt nahm er auch die Umgebung wahr, in der er scheinbar gelandet war. Er stand in einem kleinen Raum, der mit orangeroten Teppichen ausgelegt war. Die Wände waren mit Wandteppichen geschmückt, die alle das magische Element Feuer in seiner unterschiedlichsten Erscheinungsform behandelten. Er sah einen Vulkan, aus dem gewaltige Flammenfontänen emporsprühten. Er sah eine Frau vor einem Herd stehen. Er erkannte einen roten Drachen, der gerade einen Feuerstrahl ausstieß. Er konnte einen Schmied erkennen, der gerade einen Metallrohling im Feuer erhitzte. Er sah einen Tisch, auf dem brennende Kerzen standen, einen buntgekleideten Jongleur, der brennende Fackeln durch die Luft kreisen ließ, einen in Flammen aufgehenden Phönix, aber auch einen in hellen Flammen stehenden Wald. Das letzte Bild, ein nachtschwarzes Stück Wandteppich trug einen sich in zwanzig Unterzweige aufspaltenden Blitz, dessen unteres Ende den Wipfel eines Baumes berührte. Dann erkannte er noch ein großes Bettgestell mit orangerotem Bezug, der ausnahmsweise kein Feuermotiv zeigte, sondern nur geometrische Figuren in sorgfältig abgemessener Gruppierung. Genau über dem Bett hingen zwei Bilder an der Wand, die acht Personen zeigten. "Das ist meine Familie, wie sie war, als wir alle noch fleischliches Dasein hatten. Aber von ihnen durfte nur ich in die Reihen der Altmeister eintreten", seufzte Kailishaia. Julius nickte ihr zu. "Ach ja, du möchtest ja zu Agolar. So dann", setzte Kailishaia an. Dann erläuterte sie ihm den Weg zu Agolar, dem Erdmagier. "Er wird sich dir zeigen. Aber ob er dir helfen wird ist seine ganz eigene Angelegenheit", sagte die Feuermagierin noch. Dann stupste sie Julius den rechten Zeigefinger in den Bauchnabel. Er meinte, einen heißen Schauer durch den ganzen Körper zu fühlen und einen kurzen hellen Blitz zu sehen. Als er sich wieder umsah schwebte er vor dem Kristallzylinder und sah noch die ihn anlächelnde Feuermagierin in jenem orangegoldenen Kleid, das wie zusammengenähte Flammenzungen aussah. Dieses Kleid sollte Millie erhalten? Julius wußte nicht, ob er ihr das wirklich vorschlagen sollte. Kailishaia lächelte ihn noch einmal an. Dann zerfloß ihre Gestalt in silbernem Licht. Julius konzentrierte sich, weil er in diesem Moment nach unten sank. Noch wirkte der Flugzauber. Doch die irdische Schwerkraft war in dieser Halle auch wirksam. Sie zog ihn sacht aber sichtbar nach unten. Er frischte die in ihm gelagerte Flugmagie wieder auf und glitt an den Zylindern entlang zu jenem, von dem die Feuermagierin gesagt hatte, daß es der richtige war. Tatsächlich veränderte sich die silberne Substanz im Zylinder schon bei der Annäherung von Julius. Er sah einen Mann unbestimmbaren Alters, der ein grasgrünes Gewand trug. Auf dem Kopf trug er jene graue Kopfbedeckung, die Julius in der Zeitrückschau gesehen hatte. Um seinen Hals trug er ein blutrotes Halstuch. Doch was Julius am heftigsten an diesem Mann auffiel waren die Augen. Jetzt erkannte er, warum dieser Mann ihm so bekannt vorkam. Es waren die smaragdgrünen Augen, ihre Form, ihr Farbton und das in Kombination mit dem nachtschwarzen Haar, das unter der grauen Mütze herauslugte. Auch vom Gesicht her erkannte er ihn. Jetzt ergab alles, was er erzählt hatte einen Sinn. Warum war Julius nicht gleich darauf gekommen, wen er in dieser Zeitrückschau gesehen hatte?

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DIE GOLDENEN, DIE WIR FRÜHER IMMERGLANZMÄGDE UND -KRIEGER GENANNT HABEN GEBEN MIR WAS ZU ESSEN UND ZU TRINKEN. EINE VON DEN MÄGDEN HOLT SOGAR DIE MILCH AUS MIR HERAUS. DIE WISSEN ALSO GUT, WIE JEMAND WIE ICH ZU BEHANDELN IST. ICH HABE ABER ANGST, WEIL SELBST MIT DER STARKEN VERBINDUNG ZU JULIUS KEINE VERBINDUNG MÖGLICH IST. DAS STARKE NETZ DER ALTMEISTER UND DIE UNERREICHBARKEITSKRÄFTE UM IHRE HALLE MACHEN AUCH MEINE GUTE VERBINDUNG UNMÖGLICH. ALS ICH DAS NICHT MEHR BRAUCHBARE ZEUG NICHT MEHR ZURÜCKHALTEN KANN UND ES AUS MIR RAUSFALLEN LASSE SIND SOFORT MEHRERE SONNENGELB GEKLEIDETEN MÄGDE DA UND RÄUMEN ALLES WEG. EINE STELLT SOGAR EINE GANZ GROßE WANNE ZWISCHEN MEINE HINTEREN BEINE UND LÄßT MICH DAS NICHT MEHR GEBRAUCHTE WASSER DA HINEINMACHEN. DIE SIND ALSO ALLE GUT AUF MICH VORBEREITET WORDEN. ICH SPRECHE IM INNEREN ZU MILLIE. CAMILLE, DIE TRÄGERIN VON ASHTARIAS HEILSSTERN, IST BEI IHR. ICH MACHE IHR UND MIR MUT, DAß DIE LANGE ZEIT AUCH WIRKLICH WAS WICHTIGES EINBRINGT. ICH KANN SOGAR DARAN DENKEN; DAß JULIUS GENUG ALTMEISTER DER ERDE FINDET. EIN WENIG MACHT MICH DAS LUSTIG, DAß IANSHIRA IHN NOCH EINMAL ZU SICH HINRUFEN KÖNNTE, WEIL SIE DAS GANZ SICHER MITGEKRIEGT HAT, DAß ICH JETZT EINEN GRÖßEREN KÖRPER HABE, MIT DEM ICH AUCH NOCH FLIEGEN KANN UND DAß ICH MIT MEINER MILCH NICHT NUR MEIN EIGENES KIND SATTHALTEN KANN, SONDERN AUCH DIE VON ANDEREN. TROTZ IHRER GROßEN SELBSTBEHERRSCHUNG BEI DER AUSBILDUNG ZUR LICHTFOLGENDEN KÖNNTE DIE IMMER NOCH EIFERSÜCHTIG SEIN, WEIL ICH ALL DIE SACHEN GEMACHT HABE, DIE DIE ANDEREN IHR NICHT GELASSEN HABEN. OB ES IHR JETZT BESSER GEHT, WEIL SIE ZUSEHEN KANN, WIE ANDERE EIN ERFÜLLTES LEBEN HABEN? TROTZ ALLER VERBINDUNG VON GEIST UND BLUT WIRD SIE SICHER SEHR WÜTEND GEWORDEN SEIN, WEIL ICH EINE GANZE WIEDERVERKÖRPERUNG HINBEKOMMEN HABE. "Mach den Eimer ganz zu, weil meine Milch wichtig ist und nicht verlorengehen darf", LASSE ICH EINE DER MÄGDE SAGEN.

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"Wir müssen wohl davon ausgehen, daß unser Vorauskommando verunglückt ist, Herr Minister", sagte Gunnarson trübselig. Trotz aller Versuche, über Mentiloquismus, über die Schallverpflanzungsartefakte oder auch über die Sprechfackelkette, die von den Inseln zum Festland führte, hatten sich die Mitglieder des Besenflugkommandos nicht gemeldet.

"Wenn dieses was auch immer meine Leute auf dem Gewissen hat jage ich ihm alle Vernichtungszauber unserer Welt auf den Hals", sagte Sigurson dazu nur. "Am besten fordere ich zwei innertralisierte Tonnen mit Erumpenthornflüssigkeit an. Könnte sein, daß wir die brauchen."

"Herr Minister, wir müssen dazu erst einmal wissen, was dort ist", versuchte Untersekretär Gunnarson, seinen Chef zu beruhigen. Doch innerlich war sich der Mitarbeiter des norwegischen Zaubereiministers auch nicht mehr sicher, ob er lebend von dieser Reise zurückkehren würde. Die Außendienstsachen waren eh nichts für ihn. Wenn dann auch noch eine unbekannte Gefahr auf ihn lauerte, sollte er vielleicht früh genug ... Nein, er war kein Feigling. Sicher würde er vorsichtig sein. Aber zugeben, Todesangst zu haben und dann den Rückzug antreten? Das würde ihm wohl den gutbezahlten Posten kosten. So sagte er nichts weiteres. Noch achtzehn Seemeilen Flug.

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Julius hatte es wohl nicht erkennen wollen, bis er hier und jetzt darauf gestoßen wurde. Agolar, der Erdmagier, Mitglied der Altmeister Khalakatans, war der Vater von Ailanorar und Naaneavargia. Der junge Zauberer aus Fleisch und Blut und die aus verdichteter Gedankenenergie bestehende Gestalt im Kristallzylinder sahen einander an. Agolar, der Erdmagier, lächelte erfreut und winkte Julius einladend zu. Dieser schwebte auf Armlänge an den Zylinder heran. Dann hörte er die sphärenhaft klingende, von der Tonlage her tiefe Stimme des Altmeisters, die ihn sehr stark an die Stimme Ailanorars und damit an den Tanzwettstreit mit ihm erinnerte.

"Es freut mich überaus, daß du endlich deinen Weg zu mir gefunden hast, Julius Erdengrund. Denn schon seit deinem ersten Besuch in unserer erhabenen Halle habe ich darauf gehofft, mit dir von Angesicht zu Angesicht sprechen zu dürfen. Doch damals war es nicht an mir, dir wichtige Dinge zu erläutern. Tritt zu mir!" Julius berührte die durchsichtige Wand des Zylinders und fühlte sie warm und sacht pulsierend. Da war ihm, als greife eine große, kräftige warme Hand nach seiner eigenen Hand und ziehe ihn näher heran. Unvermittelt meinte Julius, in einem gemütlichen Zimmer mit großen, rosettenartigen Fenstern zu stehen. Er fühlte einen dicken Teppich unter den Füßen und sah eine weißgelb leuchtende Kugel, die frei unter der knapp drei Meter hohen Holzdecke schwebte. Er erkannte sofort, daß er hier in einem Ruhe- oder Schlafzimmer stand. Denn neben großen, aus ausgehöhlten Baumstämmen gemachten Staubehältern sah er ein breites, niedriges Bett, ähnlich jener muschelförmigen Liegestatt, die er in den Höhlen des Uluru gesehen hatte. Agolar hatte Julius' Gedanken erfaßt und lachte kurz. Dann sagte er mit einer gewissen Wehmut in der Stimme: "Ja, dies ist der Raum der Ruhe und des Lebensrufes. In diesem Raum riefen meine Gefährtin Aimartia und ich Ailanorar und seine Schwester Naaneavargia ins Leben." Die weißgelbe Leuchtsphäre dunkelte ab und wurde tiefrot, wie das kurz vor dem Erlöschen stehende Licht nach dem Sonnenuntergang. Julius fürchtete schon, gleich nachbetrachten zu müssen, ... "Nein, diese erhabenen Zwölfteltage, die meine Gefährtin und ich miteinander teilten sind nur für mich und meine Nachgeborenen erlaubt", brach Agolars amüsierte Stimme in Julius' Gedankengang. "Ich wollte dir nur zeigen, wo die Quelle deines Fortlebens und die Wurzel deiner selbsterwählten Fügung liegen", fügte der Erdmagier und Altmeister noch hinzu. Julius wollte gerade was sagen, ihn nach dem Lied der großen Gnade der großen Mutter fragen. Doch Agolar kam ihm zuvor.

"Ich weiß, du bist nur deshalb zu mir gekommen, weil du hoffst, daß ich dir das Lied der großen Gnade beibringe. Doch dieser Zeitaufwand ist gar nicht nötig. Du brauchst nur in deine Heimat zurückkehren, das Blasinstrument meines Sohnes, in das dieser sich nach dem körperlichen Ende hineinflüchtete, aus seinem Versteck zu holen und außerhalb der dunklen Schutzwand um deine Heimatsiedlung den zweithöchsten Ton hineinzublasen, der damit gespielt werden kann. Dann wird es nicht lange dauern, bis meine lebns- und liebeshungrige Tochter bei dir eintrifft, die durch dich aus der ständigen Einkerkerung befreit und durch die dunkle Gier einer dem Tode nahen Trägerin der Kraft vom Großteil des Giftes gereinigt wurde, das der finstere König ihr zu trinken gab. Sie kennt die Lieder, die du brauchst, um den letzten der großen Fünf, den meine Brüder und Schwestern der Erdvertrautheit nicht finden konnten, entweder in tiefen Schlaf zurückzusenken oder gänzlich und unwiederbringlich im ewigen Schoß der großen Mutter zu vergraben, auf daß er dort seine Kraft an die große Mutter zurückgebe, um neues zu schaffen." Julius erstarrte. Sicher wußte er, daß der alte Erdmagier recht hatte. Doch er würde auf keinen Fall Naaneavargia herbeirufen, weil in ihr auch Anthelias Geist enthalten war.

"Es tut mir leid, Meister Agolar", setzte Julius an. "Doch das kann und werde ich nicht tun. Ich lege keinen Wert darauf, daß die, mit der eure Tochter wohl eher unfreiwillig verschmolzen ist, mir hilft, selbst wenn ihr auch eine ganze Menge daran liegen könnte, diese Riesenschlange zu erledigen. Nein!"

"Du hast Angst vor ihr, Julius?" fragte Agolar. Julius konnte das nur bestätigen, zumal er seine Gedanken und Gefühle hier in der Halle der Altmeister sowieso nicht verbergen konnte. "Nun, Angst kann das eigene Leben und das der einem zum Leben anvertrauten schützen. Doch sie hindert auch daran, neues zu erfahren und notwendiges zu tun, weil die Angst vor der Gegenleistung größer ist als die Gewißheit, das notwendige tun zu müssen. nein, ich halte dich nicht für einen, der zurückschreckt, wenn er neues erlernen kann oder wichtige Schritte tun muß, Julius Erdengrund. Deine Furcht entspringt dem, was du über jene erfahren hast, mit der meine Tochter verbunden ist."

"Ja, und dem, was aus Eurer Tochter geworden ist, nachdem sie wohl von diesen Tränen der Ewigkeit genascht hat", erwiderte Julius.

"Es ist leider wahr, daß die Unersättlichkeit meiner Tochter durch den frevelhaften Trank zu einer beängstigenden Veränderung führte. Ich kann es dir nicht verübeln, daß du dich fürchtest. Denn selbst Ailanorar und ich waren ratlos, wie unsere geliebte Schwester oder Tochter ohne Einschränkungen auf unserer Welt weiterleben kann. Selbst der finstere König Iaxathan, der ihr die Tränen der Ewigkeit gab, um sie endgültig auf seine Seite zu locken, konnte sich nicht gegen sie behaupten. Sie, Naaneavargia, war sein Verhängnis. Sie tilgte seinen Körper aus der Welt und zwang sein inneres Selbst in die von ihm selbst erwählte Einkerkerung. Doch Iaxathans Saat war leider schon zu stark erblüht, als daß sie damit den letzten großen Aufruhr verhindert hätte, dem unser erhabenes Reich zum Opfer fiel." Julius wollte gerade fragen, ob der Erdmagier ihm da nichts vom grünen Pferd erzählte, als er unmittelbar mit Agolar in einem dunklen Raum stand und Naaneavargia sah, wie sie gerade einen Krug bis auf den Grund leertrank. Vor ihr stand, in einer überlegenen Haltung wartend, jener Magier, der Skyllians Herr und Meister gewesen war. Er bekam mit, wie Naaneavargia sich unter hellen Blitzen in jene zwei Meter große, schwarze Spinne verwandelte, als die er sie zum ersten Mal im Eingang zu den Höhlen Ailanorars angetroffen hatte. Iaxathan versuchte wohl, mit dunkler Magie gegen sie zu kämpfen. Agolar hielt Julius die Ohren zu, damit er nicht die Worte hörte, die der dunkle Magier ausrief. Doch das Endergebnis war sowieso, daß die dunklen Energien die Spinne nicht aufhalten konnten. Sie stürzte sich auf Iaxathan. Julius hatte schon gelernt, wie Spinnen sich ernährten. Doch es jetzt in direkter Ansicht nachzuerleben versetzte ihm doch ein gewisses Grauen. Dies wurde noch dadurch bestärkt, daß er sich all zu gut vorstellen konnte, was ihm selbst geblüht hätte, wenn er sich nicht gegen Spinnenwesen hätte wehren können. Selbst der Gedanke, daß sie damit die Welt von einem gefährlichen zauberer befreit hatte, beruhigte ihn nicht wirklich. Denn er wußte auch, daß Naaneavargia nach seiner Hilfe lange Zeit in Australien Beute gemacht hatte. Wie viele unschuldige Menschen hatte er damit gänzlich unbeabsichtigt auf sein Gewissen geladen? Er hörte noch Ianshiras Tadel "Dank deiner leichtfertigen Handlung mit dem"Dank deines leichtfertigen Aufrufs des Übelwenders konnte Naaneavargia der sie einzig haltenden Begrenzung entfliehen und in die Welt der Lebenden zurückkehren und dort als Spinne wie als Trägerin der Kraft ihre unersättllichen Begierden stillen."

"Das sein meiner Tochter ist mein Werk, nicht deins, Julius Erdengrund. Ebenso ist es an mir, zu bekennen, daß Ailanorar ins Leben gerufen wurde. Denn ohne ihn hättest du ja gar nicht erst nach einem Mittel suchen können, um Skyllians gifttriefende Ausgeburten zu besiegen", sagte Agolar, als sie beide Iaxathans grauenvolles Ende mit angesehen hatten. Julius sah noch, wie jener schwarze eiförmige Gegenstand von einem der ersten Vampire aufgegriffen wurde, dessen in Fledermäuse verwandelten Artgenossen die aus einer dunklen Festung flüchtende Spinne aufzuhalten versuchten, von dieser aber gnadenlos aus dem Weg geräumt wurden. Dann stand er wieder vor dem Uluru und sah, wie ein grauer Riessenvogel aus dem Himmel herabstieß. Im Schnabel zappelte die schwarze Spinne. Vor dem heiligen Berg der Aborigines wartete ein Mann mit goldener Hautfarbe und ähnlich smaragdgrünen Augen und nachtschwarzem Haar. Er wirkte wie ein jahrzehnte Jüngeres Spiegelbild Agolars, nur daß er einen himmelblauen Hut mit nach oben weisenden Flügeln trug. Das war Ailanorar, der Beherrscher der Windmagie. Julius bekam nun zu hören, was Ailanorar für seine verwandelte Schwester beschlossen hatte und sah noch, wie diese in die Eingangshöhle im Uluru hineingeschafft wurde. Er erkannte, wie heftig es Naaneavargia getroffen haben mußte, eine ewige Gefangene zu bleiben, auch wenn ihr Bruder ihr die Wartezeit ein wenig erträglicher gemacht hatte.

"Der Muttervater Aimartias war wie mein Sohn Ailanorar ein Hüter der Winde. Er sprach damals einen mächtigen Rachezauber auf sein Blut. Sollte einer seiner Nachkommen in direkter Linie eines gewaltsamen Todes sterben, so würde das innere Selbst zum Träger eines übermächtigen Körpers aus reiner Luft, der Fürst der Sturmgewalten, einer der größten Geister der Luft. Daher konnte Ailanorar seine Schwester nicht töten oder von seinen Feinden getötet werden, Julius Erdengrund", erwähnte Agolar. "Vergiß dies ja nicht, wenn du einmal darauf verfallen solltest, das, was du als Fehler ansiehst, berichtigen zu müssen, indem du jene, die sich in die Verschmelzung mit meiner Tochter gestürzt hat, töten willst oder dazu beitragen willst, daß sie vor der Zeit stirbt. - Ja, bevor du es sagst: Die Tränen der Ewigkeit wirken noch in jener, mit der meine Tochter nun vereint ist, sodaß sie nicht durch Krankheit, Gift oder Alter aus der Welt der Lebenden treten kann. Doch wenn sie durch Gewalt stirbt, so wird sie mächtiger als jeder, der ihr Feind ist es erwünscht. Sie würde zur wahrhaften Göttin der Stürme, ja selbst einen Körper aus wildem Sturmwind besitzen. Glaube mir, Julius, daß sie jeden unerbittlich verfolgen wird, der ihr den für ihre Gelüste so praktischen Körper zerstört hat. Das willst du sicher nicht wirklich."

"Ja, doch genau weil die Dame mir zu unberechenbar und übermächtig ist werde ich den Teufel tun, die freiwillig zu mir hinzurufen. Außerdem könnte die dann finden, daß ich ihr die Flöte Ailanorars geben soll, weil sie als seine überlebende Verwandte Erbansprüche haben könnte. Nein, Meister Agolar. Ich kann die Idee, sie zu rufen, echt nicht gutfinden. Daher bitte ich im Namen aller lebenden Menschen dieser Welt, mir Eure wertvolle Zeit zu widmen und mich in all den Worten und Handlungen zu unterweisen, die mir helfen, den letzten der großen Fünf vor seinem Erwachen zu besiegen und die, die er schon fast in sich verdaut hat, zu befreien. Bitte helft mir und denen, die leben!" Sagte Julius, der wußte, daß er dem Erdmagier keine Forderung stellen durfte.

"Vielleicht mußt du das nicht mehr, weil meine Tochter die Erschütterung im Gefüge der großen Mutter spüren könnte, daß ein großes, der Erde verbundenes Wesen, aus langem, tiefen Schlaf zu erwachen beginnt. Entweder könnte sie finden, es mit ihrem Wissen zu bändigen, bevor es zu stark wird, oder selbst jene Lieder singen, um es zu entmachten oder gänzlich zu zerstören. Aber ich kann sie im Moment nicht sehen, da sie alleine ist und durch den Schwur des Königsblutes für unsere Augen unerkannt bleibt, bis einer, der kein Blut der alten Könige in sich trägt, sie sehen oder hören kann. Selbst dann darf und will ich dir nicht sagen, wo sie ist und was sie tut", erwiderte Agolar. Dann lächelte er. "Gut, deine Zeit in dieser Halle soll nicht umsonst verronnen sein. So folge mir und nimm alles in dich auf, was ich dich lehren kann und will!"

Mit seinen Worten schuf Agolar eine neue Umgebung. Julius erkannte, daß er nun blutrote Gewänder trug, allerdings mit weißen Punkten. Dies, so lernte er, war die Kleidung der Schüler, die sich den Mächten der stofflichen Dinge zugewandt hatten. Bei Ianshira hatte er noch sonnengelbe Gewänder getragen. Um ihn herum wuchsen meterdicke Stalakmiten empor. Sie bildeten mit von einer zwanzig Meter hohen Decke herabhängenden Stalaktiten gewaltige Säulen, bei denen ein Stück aus der Mitte herausgenommen zu sein schien. Doch er sah auch fertige Säulen. Er wußte, daß Tropfsteine Jahrmillionen brauchten, um derartige Gebilde zu formen. Immer wieder fiel ein einzelner Wassertropfen aus der dunklen Höhe herab und zersprang lange nachhallend auf dem Boden.

"Dies ist die alte Halle der großen Mutter, wo alle Schüler, die ihre großen Kräfte kennenlernen und erbitten wollten anfingen", stellte Agolar die weitläufige unterirdische Halle vor. Übergangslos glühten die vollständigen Säulen in einem warmen, orangeroten Licht auf, als seien Milliarden Leuchtdioden darauf angebracht. "Du hast die großen Schlangen Skyllians gesehen und wie er mit dunkler Saat aus der Nacht außerhalb der Weltenkugel unsere große Mutter dazu zwang, diese Geschöpfe zu gebären. Um zu leben müssen sie ständigen Bodenkontakt haben, ähnlich jenen Kriegern, die du mit dem Klangerzeugungsmittel meines Sohnes vom Leibe unserer großen Mutter getilgt hast. Zwar können sie auch unter der Haut unserer alten Mutter dahineilen. Doch dort, wo ihr inneres Feuer ihre Eingeweide erglühen läßt, können sie nicht hin. Dort, wo die großen Wasser der Welt den Grund bedecken, können sie nur langsam dahinkriechen. Sie nähren sich von den inneren Beschaffenheiten fühlender Wesen, daß was ihr heute den Geist und die Seele nennt. Die Körper der Wesen werden zu Fleisch und Blut von ihrem Fleisch. Du hast auch miterleben können, daß diese Schlangen die in sich einverleibten inneren Beschaffenheiten in ihre eigenen Nachkommen hineinzwingen können, die dann unwiederbringlich verloren sind. Skyllian, Sohn eines Mitternächtigen und einer meiner erdvertrauten Schaffensschwestern, wollte sich nicht damit begnügen, auf Menschen alleine zu wirken. Er hat die Sprache der beinlosen Kriechtiere in seine Wiege gelegt bekommen. So hat er das Wissen seines finsteren Meisters und die durch seine Mutter erworbenen Kenntnisse verwendet, um scheinbar unzerstörbare Wesen zu erschaffen. Du hast auch bei Kantoran nacherleben dürfen, wie die vier auffindbaren Wächter Skyllians ergriffen und erlegt werden konnten. Daß der fünfte ausgerechnet einem Taijataonian auffiel sehen wir, die wir als Hüter der Weltenkräfte ansehen, als unverzeihliche Schande. Denn nur weil die Turmhohen andere Sinne besitzen und einen kampfeslustigen Gegner anders wahrzunehmen vermochten, war es Obark Donnerschläger möglich, den letzten der großen Fünf mit seinem Hammer zu treffen, in dem durch seine Schmiedekunst und sein eigenes Blut die Macht der großen Mutter eingewirkt war. Solange die Wächter Skyllians im wachen Zustand mit einem Teil ihres Körpers Berührung mit dem Leib der großen Mutter haben, können sie weder von Kräften des Feuers noch der Winde noch des Wassers bezwungen werden. Lieder und Worte des Lichtes vermögen sie im Wachzustand nur von dem abzuhalten, der diese Worte verwendet, wie du ja schon selbst erfahren hast. Daher kannst du die in der schlafenden Schlange gefangenen nicht mit Worten des Lichtes befreien, wie du und jene, die gerade auf der Suche nach ihrer Vorzeit ist, unmittelbar erleben mußtet. Denn sonst hätte DarxandriasMutterschwestertochter sicher deine wertvolle Lebenszeit nicht mit allerlei Vorwürfen verdorben. Damit dein Hiersein keine weitere Lebenszeitvergeudung ist werde ich dir nun die drei Lieder beibringen, mit denen du die Gnade der großen Mutter, den Schlaf der Zeitlosigkeit und der Versperrung ihrer Hohlräume bewirken kannst. Doch wisse, daß du diese Lieder nur solange verwenden kannst, wie du bereit bist, eigenes Blut dafür zu opfern und solange der letzte große Wächter Skyllians schläft. Denn erwacht er vollends, werden die in ihm noch steinern Gestalt besitzenden gänzlich in seinen Körper aufgenommen, und ihre inneren Beschaffenheiten fließen als neue Lebenskraft in das unerwünschte Wesen ein. So folge nun meinen Worten und Handlungen!"

Nach dieser fast schon bühnenreifen Vorrede begann für Julius eine weitere harte Lerneinheit. Denn die drei Lieder waren kompliziert und benötigten neben materiellen Komponenten wie eigenes Blut und Edelsteinen auch mentale Komponenten, wie die Vorstellung einer Mutter, die bei einem schweren Erdbeben oder Sandsturm ihr weinendes Kind beruhigt und dabei auch den Aufruhr der Natur besänftigt. Julius lernte das fünf Strophen zu je fünfzehn altaxarroischen Wörtern umfassende Zauberlied, wobei er für jede einzelne Strophe eine rituelle Handlung ausüben mußte. So galt es bei Strophe eins, sich mit einem Schneidwerkzeug aus purem Edelstein eine Wunde beizubringen. Bei Strophe zwei mußte er das heraustropfende Blut entgegen des Sonnenlaufes, also gegen den Uhrzeigersinn, über den zu bezaubernden Boden verteilen, womit auch das Innere des Schlangenleibes gemeint sein konnte. Bei Strophe drei mußte er das immer noch fließende Blut über das Wesen ergießen, dessen Befreiung aus den Fesseln der großen Mutter er erbat. Bei Strophe vier mußte er einen losen Edelstein auf den Kopf des zu befreienden Lebewesens ablegen, ohne es mit eigenem Fleisch zu berühren. Bei Strophe fünf schließlich mußte er das wohl dann schon halb geronnene Blut auf seinen Kraftausrichter, also seinen Zauberstab, streichen und damit vier im Uhrzeigersinn verlaufende Kreisbewegungen über das zu befreiende Wesen ausführen. War die große Mutter Erde dann davon überzeugt, daß die Bitte um ihre Gnade gerechtfertigt und ehrlich genug vorgetragen war, gab sie den Gefangenen frei, so Agolar. Julius mußte das Lied zehn Mal wiederholen, um Agolars Lob zu erhalten. Der Altmeister und Vater von Ailanorar und Naaneavargia war unerbittlich. Er duldete keinen Versprecher, keinen unreinen Ton und keine Konzentrationsschwäche. Erst als Julius ihm gezeigt hatte, daß er das Lied der Gnade der großen Mutter Erde konnte, gab er ihm ein Messer mit einer Klinge aus reinem Diamant. Julius mußte nun mit einer in die linke Hand geritzten Wunde sein eigenes Blut lassen, um den Zauber vollständig auszuführen. Er wiederholte diese Übung drei mal. Dann durfte er seine Wunde säubern und wieder verschließen. "Kein aus mit Feuer aus Erz gezwungenes Metall darf die Klinge enthalten, mit der du deine Blutgefäße öffnest, um der großen Mutter von deinem Lebenssaft abzugeben. Nur vom härtesten Gestein soll die Opferklinge sein", stellte Agolar klar. Julius prägte sich diesen Lehrsatz und alles andere, was zu dem Lied der großen Gnade der großen Mutter erwähnt wurde ein.

Das zweite Lied war das, was Ailanorar mit den anderen Erdmeistern zusammen in den Uluru eingewirkt hatte, um Naaneavargia dauerhaft darin schlafen zu lassen. Julius hätte es gerne gehabt, daß dieser Zauber ohne eine Aufwachbedingung andauern würde. Doch weil Schlaf nur dort vorherrschen konnte, wo auch Wachheit möglich war, mußte er sich eine Aufwachbedingung überlegen. Jedenfalls erkannte er, daß es Tage gedauert haben mußte, alle Höhlen im Uluru mit der Überdauerungsschlafmagie zu tränken, mit der Naaneavargia zurückgehalten werden konnte. Hierfür brauchte er kein eigenes Blut, sondern tote Hautzellen, also Haare und Fingernägel, mit denen er die Wände verkleidete, in die sein Zauber einwirken konnte. Die Gefahr bei diesem Zauber bestand, daß bei einer zu hoch oder zu tief gesungenen Teilstrophe entweder der Zauberkundige selbst in einen dornröschenartigen Tiefschlaf versank und wie die berühmte Prinzessin aus dem Märchen auch alle Lebewesen in ihrer Umgebung in den Schlaf riß oder das zu bannende Wesen sich im Bereich des Zaubers tausendmal schneller bewegen konnte, bis es den Bereich wieder verließ. Das fehlte Julius noch, die schlafende Schlange auf Überschallgeschwindigkeit zu beschleunigen. Deshalb lernte er interessiert und ernsthaft die sechs Strophen des Liedes, die jede für sich eine Ausprägung der Zeit beschrieben und zudem auch den Rhythmus von Wesen und Gestirnen einbezogen. So beschrieb Strophe vier den Jahreszeitenwechsel, wobei die Stelle, wo der Winter erwähnt wurde, besonders langsam und tief gesungen wurde, um dem zu bezaubernden Wesen die Last der Wintermüdigkeit aufzuladen, die das ganze Jahr vorhalten sollte. Strophe fünf beschwor eine Verlangsamung der eigenen Zeit für das zu bezaubernde Wesen, bestenfalls um den Wert eintausend. Hier bestand die erwähnte Gefahr, daß bei einer falschen Betonung die Verlangsamung zu einer Beschleunigung der Körper- und Geistesbewegungen umschlagen konnte. Daher achtete Julius besonders sorgfältig darauf, bei dieser Strophe alle Töne richtig zu treffen und alle Silben genau auszusprechen. "Es ist dein großes Glück, daß du früh genug an die vielen Ausprägungen der Klangkunst herangeführt wurdest, Julius Erdengrund", stellte Agolar nach der fünften Wiederholung des Liedes fest. Dessen sechste Strophe schloß den Kreis zur ersten, wo festgelegt wurde, wer in dem zu bezaubernden Raum einschlafen sollte und wann jemand wieder aufwachen sollte. Julius wählte als Komponente zum Aufwachen, daß die Sonne mittags als roter Riese am Himmel stand. Agolar mußte lachen, als er erkannte, daß die Schlange damit Jahrmilliarden verschlafen mußte, wenn niemand so dreist war, den Schlafzauber wieder umzukehren, wie Julius es in den Höhlen des Uluru mit Naaneavargia getan hatte.

Nach zwölf Wiederholungen ohne eigene Körperfragmente brachte Julius eigenes Haar und abgeschnittene Fingernägel an den Wänden und dem Boden einer kleinen Seitenhöhle an. Hierbei mußte er genau auf die Himmelsrichtungen achten. Das brachte Agolar darauf, Julius zu dem Lied der Hohlraumverschließung auch noch die Worte des inneren Ortssinnes beizubringen. "Es gibt genug Tiere mit und ohne die übernatürliche Kraft, die diesen Sinn bereits vom Augenblick ihrer Entstehung besitzen, wie Darxandrias neuer Körper oder die zur Laubfallzeit nach Mittag fliegenden Vögel oder die singenden Säuger der Weltmeere. Auch den Menschen ist es möglich, zu erspüren, wo sie auf dem Leib der Großen Mutter sind, auch wenn sie keine Berührung mit ihm haben", sprach Agolar. Dann unterrichtete er Julius in dem Lied der Einschließung, bei dem von außen alle Hohlräume gänzlich mit naturgetreuem Gestein gefüllt wurden, bis sie etwas nicht der Gesteinsart entsprechendes vollständig umschlossen hatten. "Es wird auch das Lied des gnadenlosen Gefängnisses genannt, weil damit lebende Menschen in das Gestein der Erde eingebacken werden können, ohne dabei Schaden zu nehmen. Es gab von meinen Schaffensgeschwistern welche, die ihre Feinde damit straften, daß sie ihnen Hunger und Durst erlahmen ließen und sie dann mit diesem Lied einkerkerten und mehr als einen Mond nur mit den Qualen der Gefangenschaft und Einsamkeit beladen aus dem Leben darben ließen. Allerdings wurde es eine Zehnersonne vor meiner Weihe zum Erdvertrauten untersagt, diese Anwendung des Liedes auf Altaxarroin zu verwenden. Wer es dennoch tat wurde in ein zur Ausübung der Kraft unfähiges Wesen verändert, vorzugsweise einem, an dem sich andere Nahrung verschaffen konnten, ohne es zu töten. So kenne ich noch den Wald der Widerhandelnden, dessen Bäume und Sträucher nur aus verurteilten Erdvertrauten bestand. Dieser ist jedoch mit unserem erhabenen Reich in den Tiefen der Weltmeere versunken, weil die Macht des Tausendsonnenfeuers Haut und Fleisch unserer großen Mutter verbrannte und zerwühlte." Julius fragte, ob die Strafe dann heute noch vollstreckbar sei.

"Wer das Lied und seine gnadenlose Verwendungsart kennt kann wohl darüber urteilen, wenn jemand es verwendet. Außerdem kannst du mit dem Lied der großen Gnade der großen Mutter auch eingeschlossene befreien. Doch hierzu mußt du ein Viertel des in dir fließenden Blutes geben, um genug an die große Mutter abzugeben, da du das zu befreiende Wesen selbst ja nicht mit Blut und Edelsteinen berühren kannst." Julius verstand. Wer also einen geliebten Menschen befreien wollte, mußte sein eigenes Leben riskieren. Denn bei zwei Litern Blutverlust konnte bereits der Tod eintreten.

Wie Agolar ihm angekündigt hatte lernte Julius zum Schluß noch die Worte des inneren Ortssinnes, das bei Gelingen jedes Navigationsgerät überflüssig machte. Dieser Zauber hatte jedoch auch eine Kehrseite. Wurde der jeweils für eine Stunde wirksame Zauber mehr als zwölfmal am Tag gewirkt, ohne sich dazwischen auszuschlafen, konnte er neben bohrenden Kopfschmerzen auch zu einer Allergie gegen alles eisenhaltige führen. Außerdem konnten dann auch nicht natürliche Magnetfelder körperliche Schmerzen auslösen. "Weil die heutigen Menschen ohne die große Kraft ihr Leben durch Beherrschung jener Kraft vereinfacht haben, die durch Drähte geführt Wärme, Licht und Bewegung in anderen Dingen erzeugen kann, könntest du sehr große Qualen empfinden, wenn du in der Nähe von dieser Kraft durchflossener Wege entlanggehst, da diese Kraft, die eigentlich dem Feuer abgespalten ist, auch die Kraft der Eisenbindung hervorbringt", erläuterte Agolar. Julius nahm diese und jede andere Erwähnung des Erdmeisters in seine Erinnerung auf.

Als er dann nach einer ihm nicht bekannten Zeit von Agolar für ausgebildet genug angesehen wurde sagte der Vater Ailanorars und Naaneavargias noch: "Julius, es nützt dir nichts, dich aus Angst oder Abscheu zu verstecken, nur um meiner Tochter nicht mehr begegnen zu müssen. Eines Tages magst du ihr irgendwo auf der Welt wiederbegegnen. Sie wird darauf hoffen, dir ihre Dankbarkeit zu zeigen. Denn ohne dich wäre sie nicht freigekommen und könnte nun beinahe frei von der Last der Tränen der Ewigkeit leben. Vermeide es, in Blinden Haß auf sie zu verfallen! auch wenn sie einen dunkleren Pfad als du beschreitest, so wird sie dich und die deinen schonen, wenn du nicht zu ihrem Feind wirst. Hüte das Klangkunstmittel meines Sohnes und damit auch ihn und sein Wissen! Du hast ihn redlich errungen, auch wenn deine Gefährtin und Mutter deiner ersten Tochter dir am Ende half, ihm zu widerstehen. Warne alle die, die mit dir in der Gemeinschaft der vier alten Zauber kundig sind vor dem Verhängnis, daß über alle hereinbricht, die meine Tochter mit Gewalt ihres Leibes berauben wollen! auch wenn du es nicht magst, Julius Erdengrund: Vertraue dich der Lage an, mit ihr zu leben, so oder so!"

"Ianshiras Tadel stimmt schon, daß ich mitgeholfen habe, sie auf die Menschheit loszulassen", seufzte Julius. Agolar deutete auf seinen Unterleib. "Dort liegt die Quelle für Naaneavargias Entstehung, Julius. Niemand kann sagen, was für Menschen aus dieser Quelle entspringen, wie sie werden und was sie tun. Ich schäme mich meiner Kinder nicht, auch wenn Naaneavargia nun mit einer der Dunkelheit verbundenen zusammenwuchs. Sie war keine schlechte Tochter. Iaxathan hat sie vergiftet. Er trägt die Schuld daran, daß sie nicht über die Schwelle in die Welt der Ahnen gehen durfte, nicht du, Julius. Womöglich hätte sie auch die Prüfung der Gemeinschaft bestehen und eine der Altmeisterinnen werden können. doch dazu hätte sie das Verlangen ihres Körpers etwas mehr beherrschen lernen müssen. Gehe jetzt hinaus in deine Welt und helfe deinen Mitlebenden, den letzten der großen fünf zu bezwingen!" Als wenn diese Worte eine Zauberformel waren fand sich Julius unmittelbar nachdem er sie vernommen hatte vor Agolars Kristallzylinder. Der nun wieder klar von ihm getrennte Altmeister nickte ihm noch einmal wohlwollend zu. Julius grüßte zurück und sank langsam in Richtung Hallenboden. Er sah nicht, wie Agolar hinter seinem Rücken überlegen lächelte. Erst als Julius den Boden berührte zerfloß die Gestalt des Altmeisters wieder zu silberner Leuchtsubstanz.

Julius stand nun wieder vor Garoshan. Doch der Zylinder, in dem der Geist des Torhüters aufbewahrt wurde, leuchtete wie alle anderen im silberweißen Licht. Julius blickte nach oben. Tatsächlich konnte er im Gewirr der silbernen Lichter Catherine sehen, die mit Armen und Beinen einen Kristallzylinder umklammerte. Doch es war nicht der von Kantoran. Hatte sie von Garoshan und Kantoran den Auftrag erhalten, einen weiteren Altmeister oder eine weitere Altmeisterin aufzusuchen?

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"Nordostland voraus", meldete der Schwanenlenker. Lasse Sigurson atmete laut ein und wieder aus. Jetzt galt es. Sie hatten gleich die Insel erreicht, wo jenes unfaßbare, übermächtige, wenn auch im Moment wohl noch nicht vollständig erwachte Etwas lauerte, das bereits mehrere seiner Leute auf dem Gewissen hatte.

Während des fluges war genug Zeit gewesen, die Vorgehensweise zu planen. Wenn sie über der Insel waren, wollten sie so nahe an die Höhle heranfliegen, wie das große Malediktometer, das in einem unsichtbaren Teleskop auf dem Dach verbaut war, gerade noch den gelben Gefahrenwert als Höchststand anzeigte. Falls das Vorauskommando noch lebte und nur wegen magischer Störquellen keine Meldung hatte machen können, wollten sie mit dem Saxicresco-zauber und Gefrierzaubern die Gletscherhöhle unerreichbar machen, damit keiner mehr dort hineingeriet. Es mußte doch möglich sein, daß dieses unheimliche Etwas, daß durch die Entfernung des Riesenhammers aus einem sehr tiefen Schlaf erwacht war oder noch erwachen würde, keine Beute mehr bekam. Womöglich fehlte ihm noch genug Frischfleisch oder Lebensenergie, um seine volle Aktionsfähigkeit zurückzugewinnen. Dann konnten sie Nordostland in Ruhe zur permanenten Quarantänezone ausrufen lassen und an der Küste entlang Apparitionswälle errichten, um den ermittelten Locattractus-Zauber sicher überlagern zu können.

Jetzt fehlte nur noch eine Zehntel Seemeile, also knapp zweihundert Meter bis zur schroffen Küste. Felsen und durch Gletscherkraft in die Insel gefräste Fjorde boten den Anfliegenden ein abweisendes Bild. Wie schön waren dagegen die langen Fjorde des norwegischen Festlandes.

Ein lautes, unheilverkündendes Tröten entfuhr dem linken der beiden Asgardschwäne. Er war im Augenblick der dem Gletscher nächste Gespannvogel. Sein langer Hals dehnte sich und schlug nach rechts um. Das andere Tier gab leicht schnarrende und fauchende Laute von sich. Wieder stieß der linke Asgardschwan ein unheilvolles Tröten aus, als sei er der Fanfarenbläser einer feindlichen Heerschar. Der Kutscher spannte seine Muskeln an. Seine sehnigen Hände in den dicken Drachenhauthandschuhen umklammerten die beiden Lenkhebel, mit denen die Zugketten der beiden Schwäne bedient werden konnten, um den Tieren die nötigen Hilfen zu geben, damit sie in die richtige Richtung flogen. Außerdem rief der Schwanenlenker nun lautstark "Ruhuhuhiiig! Gaaanz Ruhuhuhuhiiig!!"

"Lasse, das fühlt sich nicht gut an", bemerkte Gunnarson. Der norwegische Zaubereiminister stutzte. Wenn sein Untersekretär ihn beim Vornamen nannte verhieß daß meistens eine sehr ungute Stimmung bei seinem Mitarbeiter. Daß beide außerhalb der Amtsräume gute Freunde waren und immer wieder zu Met und Lachs vom Grill zusammenkamen wußte jeder, behielt jedoch jede Meinung darüber für sich.

Der linke Asgardschwan kam aus dem Flügelschlagrhythmus. Sein weißer Hals schlug immer wieder hin und her. Er trompetete wie das Horn von Asgard, daß nur die Krieger zu hören bekamen, die unmittelbar vor dem Tod auf dem Schlachtfeld standen. Sigurson fühlte nun auch diese ungute Stimmung. Irgendwie sickerte der dunkle Gedanke in sein Bewußtsein ein, daß es ein Fehler gewesen sein könnte, magische Zugtiere mitzunehmen, noch dazu die großen Asgardschwäne, die die Kraft von fünf ausgewachsenen Elefanten aufbieten konnten, die jeden Eisbären durch ihren Anblick in die Flucht schlagen und mit ihren Flügeln unbehandelte Holz- und Steinwände zertrümmern und mit den Schnäbeln kopfgroße Felsen zu Sand zermalmen konnten. Jetzt erkannte Sigurson, wie schwach ein Mensch auch mit Zauberstab diesen majestätischen Vögeln gegenüberstand. Denn die beiden Schwäne begannen nun zusammen ein ohrenbetäubendes Trötkonzert zu geben. Ihre meterbreiten Schwingen peitschten arhythmisch durch die Luft. Das Gespann begann zu schlingern. Nur gut, daß die Kutsche zu einhundert Prozent innerttralisiert war. Denn der geflügelte Wagen brach nach links und rechts aus, wurde in einer Sekunde um fünf Meter nach oben geschleudert, um dann ebenso rasant in die Tiefe zu stürzen. Die beiden Schwäne begannen nun, gegen ihre Ketten und die Deichseln zu kämpfen. Der Lenker, der mit Drachenhautgurten auf seinem Bock gesichert war, kämpfte mit den Hebeln gegen die Eigenwilligkeit der beiden Schwäne an. Die von Zwergen gebaute Mechanik erlaubte ihm, das zwanzigfache seiner Muskelkraft auf die Halteketten der Schwäne zu übertragen. Doch die beiden Asgardschwäne sträubten sich immer wilder gegen die Ketten und Kommandos des Kutschers. Die geflügelte Kutsche wurde regelrecht herumgewirbelt. Nur durch die ebenfalls von Zwergen gebaute Flügelschlagmechanik und deren Lenkung wurde die Kutsche noch einigermaßen auf Kurs gehalten. Nun laut kreischend und Schnarrend vor Wut hieben die beiden Schwäne auf die Ringe an den Deichseln ein, die ihre Körper an die Kutsche fesselten. Zwar war auch die Deichsel durch Zwergenmagie stabiler als der härteste von Muggeln erzeugbare Stahl. Doch die beiden Schwäne störte es nicht. Krachend schlugen ihre roten Schnäbel gegen das Metall. Jetzt konnte Sigurson sehen, daß die Tiere genau so an die Deichsel schlugen, daß die um die Schnäbel gelegten Halteringe aufschlugen. Es klang wie das Hämmern eines riesenhaften Schmiedes auf seinen Amboss.

"Ich kann die nicht mehr führen, Herr Minister!" rief der Schwanenlenker am Rande der Panik. Wieder versuchten die beiden Schwäne, nach rechts und oben zugleich auszubrechen. Die Kutsche kämpfte mit der eigenen Flugmechanik dagegen an. Sigurson hoffte, daß die Bespannung und Befiederung der künstlichen Flügel diesen Kräften wirklich standhielt. Doch die Kutsche sollte selbst bei einem wilden Wintersturm noch gut zu lenken sein.

"Die haben Angst, Lasse. Was immer auf der Insel ist macht die rasend vor Panik!" rief Gunnarson. Sigurson wollte seinem Untergebenen schon lautstark den Mund verbieten. Doch was brachte das. Er hatte leider recht. Sigurson und Gunnarson kannten sich beide in magischer Tierkunde aus und wußten, daß es sehr wenig gab, was einem Asgardschwan Angst machte. Außer einem in der Nähe lauernden oder direkt angreifenden schwedischen Kurzschnäuzler oder einem norwegischen Stachelbuckel war es nur der Geruch von vulkanischem Ausdünstungen und die Nähe von emporschlagender Glut aus Vulkanen. Ansonsten gab es nichts, was diese Tiere in die Flucht schlagen konnte.

Wieder wurde die Kutsche nach oben geschleudert. Die auf Lagebeibehaltung abgestimmte Flugmechanik, die ein muggelstämmiger Ministeriumsbeamter mal als Autopilot bezeichnet hatte, konnte die Urgewalt, mit der das magische Luftfahrzeug aus seiner Bahn geworfen wurde, nur zu einem geringen Teil bewältigen.

"Die hauen sich die Halteringe ab!" schrillte der Kutscher, bevor er wieder mit Hebelzügen und lauten Kommandos versuchte, die nun offen scheuenden Flugtiere unter Kontrolle zu bringen. Gerade überflogen sie einen von Wetter und Wellen arg zerfurchten Felsen an der Küste, als einer der Schwäne es schaffte, seinen Schnabelhaltering an der unzerstörbaren Deichsel zu zerbrechen. Laut röhrend warf er seinen Kopf herum. Mit weit aufgerissenem Schnabel starrte der Asgardschwan den Zauberer auf dem Kutschbock an. Dieser hieb mit seiner linken Faust blitzschnell auf eine Stelle unter dem Polster. Einmal, zweimal. Der klaffende Schnabel stieß vor, bereit, den Lenker vom Bock zu picken. Da flammte ein silbernes Licht auf, daß zu einem Gewitter aus Blitzen wurde und sich zu einer stabilen Wand vor dem Bock verdichtete. Laut krachend prallten die beiden Schnabelhälften auf die neue Barriere. Das war der Schutz vor festen Geschossen oder eben irgendwie tobsüchtig gewordenen Schwänen. Gerade zerklirrte der Schnabelhaltering des zweiten Schwans. Dieser Vogel ging ebenfalls sofort zum Angriff über. Er jedoch stieß mit geschlossenem Schnabel in Richtung Kutschbock. Laut dröhnend prallte der Kopf des weißen Riesenschwans von der silbernen Barriere zurück. Ein schmerzvolles Tröten entfuhr dem langen Hals. Die beiden Riesenvögel hackten nun auf die Holzverbindungen der Deichsel zur Kutsche. Die war zwar mit Durolignumelixier imprägniert. Doch auch die zwölffache Härtung des Holzes widerstand den kraftvoll zustoßenden Schnäbeln nicht länger als vier Stöße. Dann splitterte das Verbindungsstück. Die Deichsel begann nun selbst zu schlingern.

"Verdammt, die wollen sich losmachen, Lasse", zischte Gunnarson seinem Freund und Vorgesetzten zu.

"Vollpanzerung!" rief Sigurson. Doch da brach bereits ein Gutes Stück unter dem durch eine magische Barriere geschützten Bock heraus. Einer der Schwäne bekam das Hebelwerk zu fassen, mit dem die Ketten gelenkt wurden. Dieses war zwar unzerstörbar, aber nicht unentreißbar. Es knirschte laut und verhängnisvoll, als die beiden Schwäne das Hebelwerk mit der gesamten Muskelkraft ihrer Hälse und in die Gegenrichtung schlagenden Flügel aus der Verankerung brachen. Damit waren die Führungsketten nun wertlos. Dem Kutscher flogen die Hebel mit lautem Krachen um die Ohren und schlugen dröhnend wie niedersausende Hämmer auf das Dach der Kutsche ein. Als er gerade die Vollpanzerung der Kutsche mit alle Teile umschließenden Silberlicht aufrufen wollte, warfen sich die Schwäne wieder in Richtung Küste herum. Es war offensichtlich, daß sie nicht auf die Insel wollten.

"Abspannen und freilassen!" Rief Sigurson laut. Er erkannte, daß die Schwäne jede Chance verdarben, sicher auf der Insel und in der Nähe der Höhle zu landen. Der Schwanenlenker rief zurück, daß durch den Ausfall des Hebelwerkes auch die Freigabeeinstellung zerstört worden war. "Deichsel absprengen, los!" brüllte Sigurson. Die Kutsche kippte derweil nach links über. Doch der linke Kunstflügel warf sie in die Normallage zurück. Der Lenker zog den Zauberstab aus dem Schulterfutteral und führte ihn vom Bock zur Deichsel. "Separatum in urgentia!!" hallte sein Ruf durch den polaren Sommertag. Krachend lösten sich sämtliche Bolzenverbindungen und Verankerungen, die die unzerstörbare Deichsel mit den daran hängenden Schwänen an der Kutsche gehalten hatten. "Rückwärtsflug!" stieß Sigurson aus. Gunnarson war bereits am kleinen Hebelpult der Kutsche. Die beiden Flügel spannten sich weit und bremsten den Flug. Dadurch zogen die beiden Schwäne die Deichsel vollends frei und jagten keine Sekunde später immer noch zusammengespannt in Richtung Meer davon.

"Gut, Kurs auf den Gletscher. Nicht zu nahe davor landen!" befahl Sigurson seinem Mitarbeiter. Dieser zog an einem kleinen, blauen Hebel. Die Kutsche, eben noch von der wilden Panik der Asgardschwäne gebeutelt, bekam wieder eine stabile Fluglage. Zur Not konnte sie auch ohne Gespann, wenn auch nur ein Viertel so schnell, weiterfliegen. Sie besaß jedoch noch genug schwung, um im Hui über die felsige Küste hinwegzufliegen.

"Gletscher voraus. Bleibt es bei der Landepunktfestlegung?" wollte Gunnarson wissen. Der Zaubereiminister nickte wild. "Wenn das Malediktometer über Gelb hinausweist runter und landen!"

Sigurson selbst überwachte das uhrenartige Messgerät, das auf alle bekannten Streustrahlungen dunkler Magie abgestimmt war und somit eine ungefähre Einschätzung von der Stärke eines vorherrschenden Fluches oder der Aura eines bösartigen Zauberwesens ermöglichte. Gunnarson steuerte derweil die Kutsche so ein, daß sie wieder von alleine weiterfliegen konnte. Der Gletscher spiegelte weißblau das Licht der Nordpolarsonne. Die Kutsche eilte mit nun wieder gleichmäßigen Flügelschlägen voran. Dann übersprang die Anzeigevorrichtung des Malediktometers die orange Markierung. Das kam so plötzlich, daß Sigurson eine halbe Sekunde brauchte, um darauf zu reagieren. "Runter! Wir sind schon im orangen bereich!" warnte er. Gunnarson wollte gerade die mit Hebeln bedienbare Steuerung übernehmen, als die Lenkhebel wie von Geisterhand vor, zurück und zu den seiten schwangen. Die Flügel auf dem Dach begannen, schneller und weiter auslenkend zu schlagen. Die Kutsche beschleunigte. Sie konnte für fünf Minuten die dreifache Schwanenflugreisegeschwindigkeit erreichen, wenn es galt, vor einer tödlichen Gefahr zu fliehen. Doch hierzu mußte der Lenker auf dem Bock oder der im Kutschinneren das wie für alle Besen gültige Zauberwort "Escappericulum!" ausrufen.

"Ich glaub's bald! Der Wagen ist in den Fluchtmodus gegangen!" schrillte Gunnarson, als er mitbekam, wie die Kutsche mit übergroßer Geschwindigkeit auf den Gletscher zujagte.

"Verdammte Zwergenmechaniker!" polterte Sigurson. Doch dann fiel ihm ein, daß hier und jetzt Selbstbeherrschung überlebenswichtig war. "Flügel weg!" befahl er. Gunnarson nickte und zielte mit dem Zauberstab auf einen roten Kreis, in dem ein schwarzer Flügel abgezeichnet war. "Alas dismissas!" rief er. Mit lautem Knall lösten sich die Flügel samt ihrer Aufhängung vom Dach. Sie schwirrten nun noch schneller und hielten Kurs auf den Gletscher.

"Die fliegen genau zu der Seite hin, wo die Höhle ist!" stellte Gunnarson fest. Sigurson sah es, wie die Flügel mit fast schon schemenhaft schwirrendem Schlag auf die Gletscherseite zurasten, wo die Höhle war. Gleichzeitig schrie der Lenker auf dem Bock auf: "Verdammt, die sind alle tot!"

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Catherine war ein wenig enttäuscht. Kantoran wollte sich ihr erst nicht zeigen. Auch als sie seinen Kristallzylinder schon fünf Minuten lang umklammert hielt veränderte sich das silberne Licht darin nicht. Dann erschien der Beobachter der Ereignisse doch noch in seinem silbernen Gewand und dem weißen Bart.

"Garoshan hat mir und damit uns allen verraten, wonach du suchst, Reinheit Ziegelheim! Doch bist du stark genug, das dir gewährte Wissen auch tief in deinem Gedächtnis zu verbergen und es niemandem zu enthüllen?" Catherine erwiderte, daß sie es sei. Doch Kantoran schüttelte den Kopf. "Belüge mich nicht noch einmal, Reinheit Ziegelheim! Denn deine Gedanken sind für mich so offen wie der Blick auf einen dahinziehenden Fluß. Ich habe das durch Feuer geknüpfte Gespräch mit deiner Mutter nachgehört. Sie und du wollt ergründen, ob ihre Vatermutter Claudine wahrhaftig einem gefräßigen Bodengleiter zur Beute fiel oder nicht. Du bist geheißen, ihr zu berichten, was du von uns Altmeistern darüber erfährst." Catherine errötete vor Scham und Wut zugleich. Sie zitterte einen Augenblick. "So kann und will ich dir nicht zeigen, was du sehen willst", sagte Kantoran kategorisch. "Doch wenn du über unsere Geschichte etwas wissen möchtest oder auch die fünf großen Wächter sehen möchtest, die dein junger Begleiter bei mir gesehen hat, so bist du eingeladen, dies zu sehen." Catherine mußte noch mit der Enttäuschung und dem Vorwurf des Altmeisters zurechtkommen. Die einmalige und einzigartige Chance, das Schicksal ihrer seit Jahrzehnten verschollenen Urgroßmutter Claudine aufzuklären war ihr verwehrt. Sollte sich Catherine dann mit einer Geschichtsrückschau der besonderen Art abfinden? Sie beschloß, ihr angebotenes Wissen nicht auszuschlagen. Denn als Mitglied der Liga gegen dunkle Künste mußte sie jede ihr verfügbare Informationsquelle nutzen, um gegen die Angriffe oder Hinterlassenschaften dunkler Hexen und Zauberer gerüstet zu sein. So nahm sie Kantorans Einladung an.

Nachdem der Hüter der Ereignisse ihr alles vorgestellt hatte, was wichtig und neutral genug war, daß jeder es mit ansehen durfte, fragte Catherine, von welchem der Altmeister sie fortgeschrittene Abwehrzauber erlernen konnte. Kantoran verwies sie an Ianshira. Doch dann meinte er:

"Du heißt zwar Reinheit, aber du bist nicht mehr so nur voll reinem Licht, weil die Erlebnisse um deinen Vater und die Suche nach Möglichkeiten, ihn zu rächen dich vom reinen Lichtweg abgebracht haben. Deine Richtung ist eher die der Luft, wie Garoshan mir sagte. so suche Ailansiria auf, die Lehrmeisterin Ailanorars, auf das sie deinen Weg mit neuem Wissen stärke. Denn du hast bereits genug von Ianshiras Wissen mitbekommen, und sie ist im Moment nicht gewillt, mehr von sich preiszugeben."

"Wo finde ich diese Ailansiria?" wollte Catherine wissen.

"Das darf ich dir nicht sagen. Die Suche ist der Schlüssel zur Erkenntnis", erwiderte der Hüter der Ereignisse. Damit fand sich Catherine wieder vor dem Kristallzylinder wieder, in dem der Zeitbeobachter hauste. Dessen Gestalt zerfloß gerade wieder zu jener silbernen Leuchtsubstanz, die nicht Gas nicht Flüssigkeit war. Als wären hier die Erinnerungen hunderter von Hundertjährigen eingefüllt worden, nahm der flüchtige Stoff jeden Kubikmillimeter des durchsichtigen Zylinders ein. Catherine nickte dem Zylinder zu und wendete ihre frisch erlernten Kenntnisse über den Flug ohne magische Hilfsmittel an, um nach Ailansiria, der Windgeborenen, zu suchen.

Es verging eine dreiviertelstunde. Zumindest lief ihre Uhr in der Halle der Altmeister weiter, wenngleich sie innerhalb der von diesen möglichen Illusionen anderen Zeitabläufen unterworfen sein konnte, wie sie bei Kantoran hatte feststellen können. Sie sah, wie Julius mit Armen und Beinen einen der Zylinder umklammerte. Sie sah, wie sich seine Augen rasch bewegten, als träume er gerade. In gewisser weise war es ja auch so etwas. Die Substanz in dem Zylinder war ein wenig dunkler und ging fast in ein Dämmerblau über. So sah es also für einen Außenstehenden aus, wenn ein anderer Besucher dieser Halle länger mit einem der Mitglieder des gläsernen Konzils zu tun hatte. Sie flog erst alle oberen Zylinderreihen ab, bevor sie sich nach unten sinken ließ. Sie traf auf in Mitternachtsblau gekleidete Männer und Frauen, die sie abschätzig bis angewidert anblickten. Das waren also die konservierten Geister dunkler Magier, die im Namen des Ausgleiches in dieser Halle überdauern durften, dachte Catherine. Sie hatten natürlich allen Grund, sie zu verachten oder zu hassen, wo sie ihren lebenden Nachahmern doch häufig die finsteren Pläne vereitelt hatte und dies auch weiterhin tun wollte. Dagegen lächelten die in Sonnengelb gewandeten oder in hellen Farben gekleideten Catherine an. Als Catherine jene kleine, kugelrunde Gestalt mit den schwarzen Haaren sah, wußte sie, daß sie es mit Ianshira zu tun hatte. Diese zerfloß aber sofort, als Catherine sich ihrem Zylinder näherte. "Sie ist verbittert, weil ihre Unterweisungen auch dunkle Wellen schlugen", lächelte ein schwarzbärtiger in einem sonnengelben, mit goldenen Fischen verzierter Altmeister sie an. "Ich werde dir gerne noch was zeigen, was du für deinen Weg brauchst. Aber dazu müßtest du deine Erinnerungen an deinen Vater bei mir zurücklassen, damit du wieder auf dem ganz reinen Weg des Lichtes wandeln und nicht aus Furcht und Vergeltungswillen handelst."

"Niemals!" zischte Catherine ungewohnt impulsiv und sauste wie eine aufgescheuchte Hummel davon. Der Altmeister, der ihr das Angebot gemacht hatte wurde übergangslos zu jener silbernen Leuchtsubstanz.

Endlich hatte Catherine eine in ein blutrotes Kurzkleid gehüllte Frau gefunden. In ihrem silberweißen Haar trug sie eine große blaue Brosche, aus der vier munter flatternde Flügel herausragten. "Ich habe dich erwartet, Reinheit Ziegelheim. Ich bin Ailansiria, die Windgeborene, Lehrmeisterin von Ailanorar, dem Windlenker. Kantoran und Garoshan haben dein Wesen durchblickt und erkannt, daß du von mir noch genug neues Wissen erwerben möchtest. Doch sei dir darüber im klaren, daß Luft Leben und Tod bedeuten kann, daß sie im Sturme unbezwingbar und doch flüchtig und unhaltbar sein kann. So tritt zu deiner Unterweisung an, Reinheit Ziegelheim!"

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"Die sind alle tot!" hatte der Schwanenlenker voller Entsetzen gerufen. Sigurson und sein Sekretär sahen auch sofort, wer gemeint war. Denn weit verstreut auf dem Boden lagen zersplitterte Besen und unverkennbare zerschmetterte Leichname in zerfetzten Dienstumhängen des Zaubereiministeriums. Da erkannte Gunnarson auch, was den anderen widerfahren war. Die Flugmagie, die jedem Besen eingewirkt war und auch in Rädern und Boden der Kutsche steckte, hatte ausgesetzt. Auch die entflügelte Kutsche des Zaubereiministers fiel gerade wie ein schwerer Stein zum Erdboden hin. Dabei näherte sie sich mit durch die Schwerkraft steigender Geschwindigkeit dem Gletscher.

"Irgendwas hat alle Flugzauberkraft aufgehoben", stöhnte Gunnarson. Sigurson seufzte zur Antwort:

"Davon müssen wir ausgehen. Polsterungszauber!" Gunnarson tippte ein weißes Symbol wie ein Federkissen an. Wenn auch dieser Zauber nicht von der unheimlichen Kraft aufgezehrt wurde, so lag jetzt um die Kutsche ein unsichtbarer, nicht mit Händen greifbarer Kokon, der jeden harten Aufprall abfedern würde. Doch ob dies stimmte konnten sie erst wissen, wenn die Kutsche ... Es gab einen lauten Knall, als der Wagen knapp unterhalb der Oberkante des Gletschers gegen die Wand aus Eis und Stein prallte. Sigurson konnte gerade noch die blauen Funken sehen, die die ganze Kutsche umtosten. Zumindest hatte der Innerttralisatus-Zauber vorgehalten. Der Wagen polterte nun die Steilwand aus Eis und Geröll hinunter, immer schneller. Dabei geriet er in Drehungen, überschlug sich schließlich. Himmel und Eis, Sonne und Gletscher verwischten zu einem Wirbel aus Licht und Widerschein, während die Kutsche immer rasanter zu Tal rutschte. Dann fiel sie frei. Nur die Erdschwerkraft galt für das mit vielen magischen Besonderheiten ausgestattete Gefährt. Dann, eine grausame Ewigkeit später, schlug die Kutsche auf dem felsigen Boden am Fuße des Gletschers auf. Dabei zersprühte der Polsterungszauber in wilden blauen Blitzen, weil er diesen Aufprall nicht mehr schlucken konnte. Die Kutsche schlidderte nun schabend über den Boden, bis sie auf der linken Seite liegen blieb. Entsetzt stellten die Insassen und der durch den Polsterungszauber geschützte Zauberer auf dem Bock fest, daß sie zweitausend Meter vom Höhleneingang entfernt waren.

"Nur der erweiterte Aufprallschutz hat uns gerettet", stellte Sigurson fest, als er merkte, wie die irdische Schwerkraft ihn auf die gerade ganz unten liegende Seitenwand zuzog.

"Also kommt hier niemand hin, der auf magische Zugtiere oder magische Fluggeräte setzt", stellte Gunnarson fest, der sich krampfhaft am Türgriff der rechten Seite festhielt, um nicht auf seinen Herrn und Freund hinabgezogen zu werden.

"Versuchen wir zumindest, die Höhle zu verschließen, auch wenn wir eindeutig zu wenige sind, um mit starken Elementarzaubern zu wirken!"

"ein Fluch liegt auf dieser Insel. Wir hätten den Hammer nicht von den Muggeln wegtragen lassen dürfen."

"Halten Sie weder mich noch sich mit Gejammer über längst nicht mehr zu ändernde Tatsachen auf!" schnarrte Sigurson. "Wir haben das verkleinerte Schiff im Gepäck. Wenn wir die Höhle verschlossen haben, kommen wir damit von der Insel herunter."

"Das Segelschiff war unter dem Bock", sprach Gunnarson etwas aus, was dem Minister sofort eine Gänsehaut verursachte. "Sofort prüfen, ob es noch seetüchtig ist!" befahl er dann doch mit der nötigen Strenge.

Als sie den kleinen, unter dem Bock versteckten Kasten nicht fanden, wo er hätte sein müssen, war den Zauberern klar, daß sie sich wohl ein Floß bauen mußten, um die Insel zu verlassen. Doch zunächst wollten sie die Höhle zusammenfallen lassen.

Es wurde ein beschwerlicher Fußmarsch von zwei Stunden, weil sie ja nicht zur Höhle hinapparieren durften. Zwar trugen sie alle polartaugliches Schuhwerk, doch ihnen fröstelte es, weil sie von der Brutalität der hier aufgewachten Kraft erschüttert worden waren. Vor allem fragte sich der Minister, warum die von Zwergen gebauten Kunstflügel ohne Zuruf auf Fluchtgeschwindigkeit gegangen waren. Vor allem störte ihn die Erkenntnis, daß die immer wilder schwirrenden Flügel nach dem Abwerfen zielgenau auf die Höhle zugerast waren. Hatte die dort herrschende Kraft die von Zwergen gemachten Flügel übernommen? Die Beobachtungen zwangen den Minister, diese Möglichkeit anzuerkennen. Vielleicht war dort etwas, auf das eingewirkte Zwergenzauber sprichwörtlich flogen wie die Motten auf das Licht. Hätten sie den Flugaufsatz nicht abgeworfen, hätte dieser sie alle schnurstracks in die Höhle und damit das Verderben hineingezogen.

"Das Malediktometer ist jetzt im tiefroten Bereich. Der Zeiger zittert nur noch um einen Punkt nach links und rechts, und das alle zwei Minuten.

"Immerhin geht das Ding noch", knurrte Sigurson. Dann blickte er in die Höhle hinein, über der bereits wieder ein wenig Eis nachrutschte. Im Winter, wenn der Gletscher genug Neuschnee zu tragen bekam, würde sie wieder zufrieren. Doch wenn sie ab jetzt jeden Sommer auftaute, würde was dort auch immer hauste neue Opfer fordern. Er dachte an die Geschichten von den Kindern der Midgardschlange, die in Dörfern Norwegens und Schwwedens bis ins zwölfte Jahrhundert hinein Menschenopfer bekamen, um die Dörfer in Ruhe zu lassen. Die Schamanen der Nomadenvölker erzählten immer wieder, daß vor undenklich langer Zeit Geister und Dämonen über dieses Land geherrscht hatten, die gewaltige Ungeheuer erschaffen hatten. Natürlich, auch im damals eisfreien Norden hatten vor mehreren Hundert Jahrmillionen diese drachenähnlichen Riesenechsen gelebt, deren versteinerte Knochen sowohl Muggel wie Zaubererweltgeborene faszinierten. Doch woher sollten irgendwelche Geistertrommler aus dem Norden wissen, was vor hundertmillionen Jahren hier lebte?

"Versuchen wir den Saxicrescozauber?" fragte Gunnarson.

"Dazu möchte ich erst einen ausreichend großen Felsbrocken vor den Höhleneingang schieben. Da Bewegungszauber auf tote Objekte hier nicht mehr gelingen müssen wir uns eine Tragevorrichtung bauen, um mindestens einen Zentner ehrlichen Stein in die Höhle zu bringen. Aber alle Eigenschutzzauber aufrufen. Die dunkle Kraft dort könnte uns sonst locker in die Falle hineinlocken."

"Wie Sie es wünschen, Herr Minister", bestätigte Gunnarson unterwürfig.

So bauten sie aus festen Lederrimen und den abnehmbaren Achsen der Kutsche eine Tragevorrichtung. Damit hebelten sie einen massiven Felsblock nach oben und trugen ihn stark gebeugt und tief in den Knien gehend zum Höhleneingang.

"So, Meine Herren. Jetzt werden wir zumindest den Zulauf dieser mörderischen Falle verstopfen", sagte der Zaubereiminister, nachdem sie noch vier weitere gleichartig beschaffene Felsblöcke in den Höhleneingang gebracht hatten. Jetzt standen sie vor dem Eingang. Das Malediktometer wies gerade auf den höchsten Wert: Absolut tödliche Kraft. Doch die Zauberer warteten nicht länger. Sie riefen den Saxicresco-Zauber auf, der natürliches Gestein dazu brachte, sich zu vermehren und dabei immer mehr des verfügbaren Raums auszufüllen. Doch alles was passierte war, daß mit lautem Plopp silberne Blitze durch die Steine zuckten und im Boden verschwanden. Wachsen wollten die Steine nicht. Wieder und wieder versuchten es die Ministeriumszauberer. Doch die Steine blieben so wie sie waren.

"Dann müssen wir eben eine magielose Barriere bauen", sagte Sigurson, als ein kräftiger Erdstoß durch den Boden ging. Die in der Höhle hingelegten Steine wackelten und kippten um, kamen ins rollen und kullerten in verschiedene Richtungen davon.

"Das war nie im Leben natürlich", schnarrte der Schwanenlenker, dem die Schreckensblässe ins Gesicht gemalt war.

"Hat hier auch niemand behauptet", erwiderte der Zaubereiminister. Dann versuchte er persönlich, mehrere Flüche und Fluchzerstreuer in die Höhle hineinzujagen. Doch alle Zauber wurden noch vor dem Höhleneingangförmlich in Grund und Boden gezogen. Der Schwanenlenker schimpfte laut. Dann riß er seinen Zauberstab hoch und jagte einen Feuerball auf die Höhle zu. Dieser fauchte in die Höhle hinein und zerplatzte mit lautem Knall in orangeroten Flammem, die jedoch alle sofort im Erdboden versanken.

"Wer Elementarzauber oder Flüche wirkt kommt nicht weit", knurrte Sigurson. "Dann eben mal ein Heilzauber." Er wirkte einen Knochenbruchheilzauber. Dieser wurde nicht sofort in den Boden gezogen, sondern irrlichterte mehrmals in der Höhle herum, bis er mit kurzem Prrz in bunten Funken auseinanderflog. Die Funken verschwanden in Boden, Decke und HöhlenWänden.

"Ich fürchte, hier wirkt eine Magie, mit der unsere Schulzauberei sich nicht messen kann", knurrte Sigurson. "Wir brauchen Muggel-Sprengstoff, Dynamat, oder wie das Zeug heißt, was dieser Schwede Nobel erfunden hat."

"Dynamit, Herr Minister", berichtigte Gunnarson seinen Chef. Doch dieser kam nicht dazu, eine Rüge wegen anmaßender Berichtigung zu erteilen. Denn wie seine Leute hörte auch er dieses befremdliche Schrappen hoch über ihnen allen. Als sie alle wie auf ein unhörbares Kommando nach oben sahen konnten sie das Fluggerät sehen, das fast wie ein langgestrecktes Insekt, eine Libelle oder ähnliches, aussah. Das merkwürdige daran war das wirbelnde etwas, das über dem fliegenden Ding war. Gunnarson erkannte jedoch, was es war und rief aus: "Ein Schraubenflieger der Muggel, vielleicht Militär. Alle in Deckung, bevor die uns noch sehen oder hier abstürzen!"

"Deckung, wo?" brüllte Sigurson verärgert. Natürlich konnten sie nicht in die Höhle flüchten. Da wären sie ja der unheimlichen Macht ausgeliefert. Dann sahen alle, wie der Hubschrauber über dem Punkt kreiste, wo ihre einstmals geflügelte Reisekutsche abgestürzt war.

"Ich gebe das an die Aufräumer bei den Soldaten, daß diese Aktion sofort beendet werden soll", knurrte der Minister. Dann fiel ihm ein, daß er die Fernmeldeapparatur in der Kutsche gelassen hatte. Der Schwanenlenker nickte dem Minister zu. Dann drehte er sich auf der Stelle und verschwand mit erhobenem Zauberstab, bevor ihn noch ein Warnschrei erreichte.

"Dieser Vollidiot!" brüllte Gunnarson. Damit meinte er seinen Kollegen, der nun wohl dem Locattractus-Zauber zum Opfer gefallen war. Wieder durchlief ein schwaches aber spürbares Beben den Boden. Dann passierte noch etwas, die Flugmaschine, die eben noch über der abgestürzten Kutsche geflogen war, begann zu sinken und fiel immer schneller dem Boden entgegen.

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Der ABC-Versiegelte Marinehubschrauber war im Auftrag des norwegischen Geheimdienstes unterwegs, um aus sicherer Höhe von eintausend Metern Aufnahmen von Nordostland zu machen. Es galt, festzustellen, wo der Herd der Verseuchung lag, die die gesamte Insel zum Quarantänegebiet machte. Die Maschine hatte gerade die zugewiesene Reiseflughöhe verlassen und sank auf die vorgeplante Einsatzhöhe, als aus den Kopfhörern des Piloten nur noch krächzen und Schwirren klang.

"Störungen auf dem üblichen Band", stellte der Kommandant der Maschine fest. Sein Copilot hielt derweil den Radarschirm im Auge. "Der Gletscher zeichnet nicht auf dem Schirm, und die ihn umstehenden Berggipfel reflektieren auch nicht."

"Dann bleiben wir über tausend Meter", beschloß der Pilot und versuchte, die Abweichung vom Einsatzplan an die Operationszentrale seines Trägerschiffes durchzugeben. Doch selbst bei voll aufgedrehter Sendeleistung bekam er keine Verbindung. Noch arbeitete die Bordelektronik einwandfrei. Doch die Störung von Funksignalen und Radarwellen war ein Warnzeichen. Eigentlich ging es doch um eine Insel, auf der ein unbekanntes, hochansteckendes Virus, angeblich das Produkt russischer Geheimversuche, freigesetzt worden sei. Daher war es bis auf Widerruf verboten, Nordostland zu betreten. "Was ist das da auf zwei Uhr?" hörte der Kommandant die Stimme seines Copiloten in den Kopfhörern der Interkomverbindung. Der Pilot blickte in die angegebene Richtung und konnte nur staunen. Rechts voraus flogen zwei durch Halteringe an einer langen Stange zusammengespannte Schwäne mit hoher Geschwindigkeit. Wer hatte diesen Vögeln bloß diese Ringe um die Körper gelegt und sie dann noch an diese Stange geschmiedet? Der Pilot des Hubschraubers versuchte noch einmal, seine Einsatzleitung anzufunken. Doch die Verbindung wollte auch jetzt nicht gelingen. Er nahm Kurs auf die beiden Schwäne, die gerade so nahe zusammengespannt waren, daß sie ihre Flügel frei ausschwingen konnten. Eigentlich hatte er damit gerechnet, nur zweihundert Meter an die Vögel heranfliegen zu müssen. Doch als er mehr als zwei Kilometer zurückgelegt hatte und die stattlichen Schwäne zu elefantengroßen Riesenvögeln angewachsen waren, wußte er gar nicht mehr, was er sagen sollte. Sein Copilot vermeldete, daß er die Tiere auch sah, aber diese nicht auf dem Radar abgebildet wurden. Allerdings seien sie mit den Infrarotsensoren klar zu erfassen, strahlten also Wärme ab, wenn auch sehr schwach.

"Solche Tiere kann es gar nicht geben. Und wenn die zusammengespannt sind, dann hat das ein Mensch mit denen gemacht."

"Sollen wir die verfolgen?" wollte der Copilot wissen.

"Die sind fast so schnell wie wir unterwegs. Die kommen von der Insel", stellte der Pilot fest und näherte sich den zusammengespannten Schwänen. Diese beschleunigten ihr Tempo und kratzten damit an der Maximalgeschwindigkeit des Helikopters.

Die Störgeräusche im Funk verklangen. Offenbar hatte der Hubschrauber die Zone der Beeinträchtigung verlassen. Sofort gab der Pilot die Sichtung der beiden Riesenschwäne mit geschätzten Abmessungen durch. Sein Copilot überspielte über einen separaten Kanal Videobilder und Infrarotaufnahmen der Tiere. "Sofort zur Insel fliegen und Ursprungsort der beiden Mutationen prüfen!" befahl General Bergström, der mal wieder mit seinen Kollegen von der Marine zusammenarbeitete.

"Über Insel Funkstörfelder. Radioverbindung unklar, Radarkontakte negativ", meldete der Pilot.

"Über tausend Meter bleiben und nur Filmen. Nicht unter tausend Meter gehen!" befahl Bergström. Der Hubschrauberpilot bestätigte und wendete seine Maschine. Die beiden zusammengespannten Riesenschwäne fielen nun achtern zurück.

Als der Hubschrauber über der Insel flog waren alle Funkstörungen wieder da. Wie befohlen hielt sich die Maschine auf genau tausend Meter Höhe. Das war wichtig für die kalibrierung der Kamerabilder. Der Gletscher lag nun vor ihnen. Da entdeckten sie die himmelblaue Konstruktion, die am Fuß des Gletschers lag. Sofort fiel den beiden Piloten auf, daß das Ding Räder besaß. Es wirkte wie ein umgekipptes Auto. Nein, es war ein Pferdewagen. Allerdings fehlte dem Wagen die Deichsel. Da wurde es den beiden klar, warum die beiden Superschwäne zusammengespannt gewesen waren. Sie hatten diesen himmelblauen Wagen, der so groß wie ein Linienbus war, durch die Luft gezogen. Doch hier irgendwo war dann die Deichsel vom restlichen Wagen abgebrochen, und das merkwürdige Gefährt war abgestürzt. Die Maschine kreiste Minuten über dem Fahrzeug, das von außen unbeschädigt aussah. Die nach oben weisende Tür stand sperrangelweit offen. Die beiden Marineflieger wollten gerade zusehen, aus dem Bereich der Funkstörfelder zu entkommen, als die Luft kurz flimmerte. Dann, ohne jede Vorwarnung, fielen alle elektrischen und elektronischen Systeme der Maschine aus. Die Turbine lief aus, und die Maschine sank in die Tiefe. Da nun kein Motorenlärm mehr die Kabine erfüllte, konnten die beiden Flieger ihre Helme mit Sprechbesteck absetzen.

"Totalausfall aller Systeme. Auch Reservesysteme nicht einsetzbar", vermeldete der Copilot. Auch die Aufzeichnungsgeräte waren funktionsunfähig. Der Neustart des Antriebs schlug fehl. Der Pilot kämpfte mit der nun rein mechanisch bedienbaren Steuerung gegen den Absturz. Er konnte die für absolute Notfälle verfügbare Schaltung vornehmen, die die Rotorblätter so stellten, daß er im Autorotationsverfahren landen und so einem Absturz entgehen konnte. Er kämpfte verbissen gegen die Luft, die versuchte, die Maschine herumzuschleudern. So wurde der Sinkflug zu einem waren Kraftakt. Endlich konnten sie ein Stück Freifläche ausmachen, daß scheinbar groß genug für den Helikopter war. Doch als sie kurz vor dem Aufsetzen waren erkannte der Pilot einen überhängenden Felsen. Er konnte ihm nicht mehr ausweichen. Laut kreischend schliffen die Rotorblätter an dem Stein entlang, brachen schließlich mit metallischen Knallauten vom Rotorkopf ab und ließen die Maschine die letzten acht Meter im freien Fall abstürzen. Laut schlug der flugunfähige Hubschrauber mit den Kufen auf die felsige Oberfläche Auf. Die Kufen wurden dabei verbogen. Laut knirschend fräste die Maschine durch den restlichen Schwung einige Meter Geröll aus dem Boden heraus. Staub wölkte hinter ihnen auf. Doch keine Funken sprühten. Der Heckrotor schlug krachend auf den Boden und zog kreischend eine Furche von zwei Metern Länge in den Boden. Dann war die restliche Fahrt der Maschine vollständig aufgehoben. Nur ein Rotorblatt ragte noch über das Dach der Maschine. Die beiden Piloten wurden bei der heftigen Landung in ihre Gurte geschleudert. Sie benötigten einige Sekunden, um sich zu orientieren. Die Maschine war ein Wrack. Doch seltsamerweise war kein Feuer ausgebrochen. Dabei bildete sich außerhalb der Maschine eine immer größere Treibstofflaache.

"Raus hier. Notfallpack mitnehmen!" befahl der Kommandant. Er ignorierte die Schmerzen in seinem Bauch und Brustkorb, die durch die straffen Gurte hervorgerufen worden waren.

Der Ausstieg war nicht so leicht wie erhofft, weil die elektrischen Servovorrichtungen für die zentnerschwere Panzertür ausgefallen waren. doch die Maschine besaß eine Mechanik, die auch beim Ausfall aller elektrischen Systeme die Tür öffnen konnte. Denn wenn es zu einer nahebei stattfindenden Atomexplosion kam, bestand ja die Gefahr, daß der dabei ausgestrahlte elektromagnetische Puls alle elektronischen Geräte schädigte. So konnte die Tür durch eine einsetzbare Kurbel geöffnet werden. Das dauerte jedoch mehr als eine Minute. Dann waren die beiden Besatzungsmitglieder der Maschine frei.

"Das muß ein EMP gewesen sein, der uns lahmgelegt hat", stellte der Copilot fest, als sie ausgestiegen waren. "Hätte eigentlich gehofft, sowas nie im Leben mitzukriegen."

"Dann hätte hier in der nähe aber eine gewaltige elektrische Entladung oder eine Atomexplosion stattfinden müssen", erkannte der Kommandant. Dann griff er nach seinem Sturmfeuerzeug, um sich nun, wo sie nicht mehr an Bord der Maschine waren, eine Zigarette anzuzünden. Doch weder Funken noch Flamme wollten aus dem Feuerzeug schlagen. Der Copilot versuchte, ein Streichholz aus dem Notfallgepäck anzureißen. Doch so heftig er auch rieb. Er schaffte es nur, das Schwefelköpfchen restlos abzuschleifen, anstatt eine Flamme zu schlagen. Jetzt wurde es den beiden doch langsam mulmig. Erst die Schwäne, dann die auf der Seite liegende Riesenkutsche, dann der totale Ausfall aller Bordsysteme und jetzt auch noch eine merkwürdige Macht, die jedes offene Feuer unterband. Der Copilot sprach es aus: "Die Insel ist verflucht." Sein Kommandant wollte dem nicht widersprechen. Denn ihnen beiden war klar, daß keiner sie würde retten können. Jeder Versuch würde noch mehr Opfer fordern.

"Wir müssen von der Insel runter. Wir nehmen die Rettungsinsel mit und versuchen, mit den Paddeln von hier wegzukommen", legte der Pilot die Marschroute fest. So wurde das zusammengefaltete Rettungsfloß aus der Maschine geholt, und die beiden Männer machten sich im Schutze ihrer dicken Kleidung auf den Weg zur Küste.

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Als Julius sah, wie Catherine von ihrer Sitzung mit einem der Altmeister zurück zu Garoshan flog schwebte er ihr entgegen. Ihm fiel sofort auf, daß Catherine ganz bleich im Gesicht war. "Was schlimmes erfahren?" fragte Julius Catherine.

"Ich habe nur etwas erfahren, was bei mir gewisse Befürchtungen bestätigt hat, Julius. Das wird aber vorerst nur eine Angelegenheit der Liga sein, Julius. Bitte respektiere das einfach!" seufzte Catherine.

"Nur, wenn es nicht unmittelbar mit mir zu tun hat", erwiderte Julius. Catherine verfiel in nachdenkliches Schweigen. Dann sagte sie: "Ich hoffe, das es dich nicht betrifft. Solange das so ist wie jetzt möchte ich darüber nichts verraten." Julius erkannte, daß Catherine ihm nichts sagen würde, was sie von dem Altmeister oder der Altmeisterin erfahren hatte, dessen oder deren Zylinder sie umklammert gehalten hatte. So sagte er ihr auch nur, daß er das hatte lernen können, was für den Kampf gegen die schlafende Schlange unbedingt notwendig war.

"Darfst und willst du mir das beibringen?" wollte Catherine wissen. Julius überlegte, ob er dafür von Catherine eine Auskunft über ihr gerade beendetes Rendezvous abverlangen sollte. Andererseits hatte ihm Agolar nicht verboten, die Zauber weiterzugeben. Er sagte nur, daß es ein wenig kompliziert sei, das mal eben in zwei Minuten weiterzugeben und er es erst dann in Ruhe unterrichten könne, wenn die große Schlange besiegt sei.

"Es ist echt eine Vorfahrin der ganzen Riesenschlangen der Zaubererwelt, Catherine. Aber von denen gibt es nur noch sie."

"Mußt oder darfst du das Monstrum töten?" wollte Catherine wissen.

"Dann müßten wir ohne Magie angetriebene Fluggeräte benutzen, wie ihr in Millemerveilles das damals mit den Heißluftballons hinbekommen habt, Catherine. Es ist wie bei den Schlangenkriegern. Erst wenn sie vom Erdboden weggezogen und lange genug in freier Luft gehalten werden, können sie verletzt und getötet werden. Nur mächtige Erdzauber, wie die, die mir Agolar beigebracht hat können das Biest niederhalten. Agolar ist übrigens der Vater von Naaneavargia und dem Typen, der die Silberflöte gebaut hat."

"Ich weiß. Altmeisterin Ailansiria hat es mir erzählt", erwiderte Catherine. Julius fragte, was ihr diese Altmeisterin noch erzählt hatte. "Sie hat mir einige wichtige Luftelementarzauber beigebracht. Das aber nur zu dem Preis, daß ich die anderen Informationen, die mir Kantoran als neutraler Hüter nicht geben durfte, nicht an Leute weitergebe, die unter fünfundzwanzig Lebensjahre alt sind und nicht der Gruppe zur Bekämpfung dunkler Magie angehören."

"Muß ich wohl hinnehmen", grummelte Julius. Er mußte es wirklich einsehen, daß andere Leute ihm gegenüber Geheimnisse haben mußten, weil er ja auch anderen gegenüber Geheimnisse hatte. Allein schon diese Halle und ihre konservierten Bewohner waren zu brisant, als jedem davon zu erzählen.

"Dann sind wir hier jetzt wohl durch", sagte Julius und blickte auf seine Weltzeituhr. Er schluckte. Über fünf Stunden hatten sie hier zusammen zugebracht. Dann wurde es aber wirklich Zeit. Denn keiner wußte, ob die schlafende Schlange wirklich noch schlief, oder ob der letzte der großen fünf bereits erwacht war und nun selbständig auf Beute ausging. In dem Fall kamen sie beide eindeutig zu spät.

"Okay, zurück zu Temmie und dann über die alten Straßen nach norden", gab Julius die weitere Marschroute vor. Catherine stimmte ihm durch ein Nicken zu.

"Och joh", sagte Julius, als er sah, wie Temmie von gleich drei goldenen Mägden in sonnengelber Kleidung umsorgt wurde. Sie bekam zu fressen, jede Menge Wasser zu saufen, und zwei der drei Mägde fuhren die zentnerschweren Fladen mit großen Wagen ab. "Mein Mist kann für die Pflanzen hier im Turm benutzt werden, Catherine und Julius", sprach eine der goldenen mit Temmies sonst nur geistig hörbarer Stimme. "Der Boden selbst ist unbeschmutzbar. Aber ich bin jetzt soweit satt und erleichtert, daß wir aufbrechen können. Godjanmiria, durch die ich gerade sprechen kann, wird uns als Übersetzerin begleiten. Dadurch entfällt für die dir zugewiesenen Beschützer auch der Grund, auf ihre Begleitung zu bestehen, Julius."

"Öhm, und wenn wir es, was ich ganz extremstark hoffe, schaffen, diesen letzten der großen fünf wieder ganz tief weiterschlafen zu lassen. Soll ich die dann zurückbringen oder irgendwo bei uns in Millemerveilles oder bei Catherine im Haus oder auf Tante Babs' Hof abliefern?" wollte Julius wissen. Darauf antwortete Temmie durch den Mund der goldenen Dienerin:

"Sie besitzt eine Vorrichtung, nach außen vollbrachter Arbeit in ihren Bereitschaftsraum zurückzukehren. Solange wir unterwegs sind werde ich durch sie sprechen, um den Umweg über das Geistsprechen zu vermeiden und mich und euch so zu entlasten."

"Wollen hoffen, daß das alles so klappt", sagte Julius. Doch Temmie und das goldene Mädchen hatten offenbar schon entschieden. Denn Godjanmiria, also die vierte, die das Leben gibt oder bewahrt, sprang aus einer federnden Bewegung heraus auf Temmies Rücken und umklammerte von hinten die Halterung der beiden Sitze. Catherine konnte nur staunen. Julius kannte ja schon die überragenden Körperkräfte der goldenen Diener und Dienerinnen. Für ihn zählte jetzt, daß sie alle so schnell wie möglich zur Höhle am Gletscher auf Nordostland zurückkehrten, um dem großen Schlangenungeheuer eine neue Dosis Schlafsand zu verabreichen, wie Julius sich ausdrückte. Allerdings gab es da noch ein kleines aber nicht unwesentliches Hindernis.

"Agolar hat mir bei seiner Unterrichtsstunde eingetrichtert, daß wir für die Befreiung der ganzen Gefangenen je fünf Karat in Diamanten brauchen, um mit denen und mit meinem Blut die Gnade der Erde zu erbitten. Zudem brauche ich eine Klinge aus reinem Diamant. Metall verdirbt den Zauber."

"Öhm, das waren mindestens dreißig Leute da, Julius. Weißt du, wie teuer hundertfünfzig Karat in Diamanten sind?" entgegnete Catherine verstört.

"Am besten nehmen wir das doppelte mit", erwiderte Julius. "Aber es müssen kleine Steine sein, keine fetten Klunker."

"Hallo, hast du meine Frage von eben verstanden, Julius Latierre?" wollte Catherine wissen.

"Der Preis für die Glitzersteinchen kann dir und mir egal sein, Catherine. Denn ich habe schon einen Brief an Minister Grandchapeau und Madame Belle Grandchapeau fertig, daß wir vom SerSil die Bucker brauchen, um das norwegische Schlangenproblem zu lösen. Dann soll der die Dinger bezahlen und es irgendwie aus dem Geheimetat für außergewöhnliche Maßnahmen oder experimentelle Magie abrufen."

"Oha, Julius, da wirst du aber noch was zu lernen kriegen", grummelte Catherine. "Finanzielle Aufwendungen aus dem Ministerium abzurufen erfordert mehrere Anträge, in denen ganz offen erklärt wird, wofür die Mittel bereitgestellt werden müssen und ob an eine Rückzahlung gedacht ist oder im Zweifelsfall der Antragsteller die Mittel zurückerstattet. Das kann Tage dauern, bis Colbert einen wie auch immer begründeten Antrag beantwortet, zumal solche Anträge sicher erst bei den unteren Posten auf die Tische kommen."

"Hat der Minister uns jetzt als Sondertruppe nur ihm gegenüber rechtfertigungspflichtig und weisungsgebunden erklärt oder nicht?" fragte Julius, der sich gerade fragte, welches geistige Formtief ihn da heimgesucht hatte, sich für eine Beamtenlaufbahn im Ministerium zu entscheiden.

"Ich wollte es nur erwähnen, daß du nicht mal eben mit zigtausend Galleonen um dich werfen kannst, nur weil es dir wichtig erscheint, etwas hinzukriegen."

"Beschwer dich da bitte doch lieber bei all den Politikern aus beiden Welten, die mal eben Millionen für irgendwelche Vorzeigeprojekte oder unnötige Ausrüstungssachen verbraten", knurrte Julius gereizt. Temmie muhte laut, daß ihren beiden Begleitern die Bäuche zitterten.

"Wenn ein der Erde kundiger Meister sagt, daß Edelsteine in der richtigen Menge dabei sein müssen, dann müssen die dabei sein. Sonst könnt ihr dieses Lied der Gnade ganz vergessen", klang Temmies Cellostimme aus Godjanmirias Mund. Das war eindeutig. Catherine schnaufte nur noch einmal, während Julius bereits die von Godjanmiria heruntergelassene Treppe hinaufstürmte, als sei er Captain Blackbeard auf dem Weg zu einem Goldschatz. Catherine folgte ihrem Begleiter, von dem sie gerade nicht wußte, ob er ihr Gehilfe oder Vorgesetzter, Führer oder Schutzbefohlener war. Für sie stand nur fest, daß die geflügelte Kuh Artemis die heimliche Kommandantin dieses Unternehmens war.

"Und ich kann sie wirklich mit dem Aufruf für einen Weg für drei Leben mitnehmen?" fragte Julius Temmie, während sie bereits auf dem Weg auf das Podest mit den 144 Stufen hinaufflog. Temmie sprach wieder durch das goldene Mädchen, daß dies stimmte.

"Gut, dann kümmern wir uns erst um die Diamanten und dann um das Monstrum. Ich hoffe nur, daß es bis dahin nicht erwacht ist", sagte Julius.

Vom Podest aus verließen sie den Turm des Wissens. Draußen startete Temmie sofort durch und flog mit ihrer einzigartigen Kombination aus Erleichterungs- und Windschlüpfrigkeitszauber zum gigantischen Torbogen zurück. Kein wie auch immer geformter Wächter stellte sich ihnen in den Weg. Julius rief die Formel für die Verbindung zwischen Khalakatan und dem Ausgang in den Pyrenäen auf. Der goldene Lichtzylinder umfing die Kuh, ihre zwei lebenden Reiter und das goldene Mädchen aus dem Turm und trug sie alle durch den rot-silbern-blauen Tunnel zurück zum französischen Knotenpunkt der alten Straßen von Altaxarroi.

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Sigurson hatte vorsorglich eine kleine Dosis Wachhaltetrank eingenommen. Denn er wollte nicht riskieren, von den Muggeln aus der unsanft gelandeten Flugmaschine überrascht zu werden. So wachte er knapp fünfzig Meter von der Höhle entfernt, während seine Begleiter in einem Reisezelt schliefen. Als jedoch erst Gunnarson und dann der verbliebene Leibwächter aus dem Zelt wankten verschlug es Sigurson fast den Atem. Die beiden gingen daher wie Schlafwandler. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Arme hingen schlaff herab und wiegten sich bei jedem schlurfenden Schritt, den die beiden machten. Sigurson lief auf Gunnarson zu und sprach ihn laut genug an, daß jeder schlafende davon erwachen mußte. "Erick, was machst du. werd wach! Schnell!" Doch Erick wurde nicht wach. Vielmehr hob er seine bis dahin schlaff herabbaumelnden Arme, um nach dem Zaubereiminister zu greifen. Dieser witterte die Gefahr und sprang sofort aus der Reichweite. Die Hände Gunnarsons griffen ins leere. Der norwegische Zaubereiminister erkannte gerade noch rechtzeitig, daß sein ebenfalls wie in tiefer Trance daherschleichender Leibwächter nach ihm greifen wollte. Er rammte dem Mann die Faust in die Seite. Der Leibwächter fiel um. Eigentlich müßte der jetzt doch erwachen. Doch der Wachzauberer Ibsen rappelte sich wieder auf. Der Vorgang lief so langsam ab, daß dem Minister schon ganz mulmig wurde. Der ranghöchste Zauberer Norwegens griff zu seinem Zauberstab und versuchte, die beiden durch den Schockzauber zu lähmen. Doch die roten Betäubungsblitze prallten wie von unsichtbaren Schilden ab. Auch Fesselzauber griffen nicht. Seile zerrissen, wenn die beiden scheinbaren Schlafwandler von ihnen umschnürt wurden. Ketten rosteten innerhalb von Sekunden vollkommen durch und fielen wieder ab. Da wußte Sigurson, daß die beiden im Bann und unter dem Schutz jener dunklen Macht standen, die in der Höhle lauerte. Er konnte nur noch ohnmächtig zusehen, wie die beiden mit ihm gereisten Zauberer unaufhaltsam auf den Höhleneingang zugingen. Waren sie erst einmal dort drinnen hatte die unheimliche Macht zwei neue Opfer. Da übermannte ihn ein aus tiefster Verzweiflung und Wut geborener Gedanke: Wenn dieses Unheil lebende Menschen heimsuchte, sollte es die beiden nicht bekommen. Er zielte auf Ibsen. In Gedanken bat er ihn und seine Frau Selma um Verzeihung. Doch Selma würde es verstehen, daß er ihren Mann nicht zum Opfer einer unüberwindlichen dunklen Macht werden lassen wollte. "Avada Kedavra!" rief er, nachdem er einmal geschluckt hatte. Aus Sigursons Zauberstab sirrte der gleißendgrüne Tod auf Ibsen zu. Ibsens Körper erstrahlte einen winzigen Moment im grünen Licht. Dann krachte es wie ein Kanonenschuß. Ibsens Körper explodierte förmlich in einer Entladung gleißendgrünen Lichtes. Dann war er einfach nicht mehr da. Sigurson stutzte einen Moment. Dann fiel ihm auf, daß Gunnarson gerade auf die Knie fiel und mit steigender Geschwindigkeit auf den Höhleneingang zukroch. Er war nur noch zehn Meter davon entfernt. Sigurson zögerte. Sollte er wirklich seinen Schulfreund Erick Gunnarson mit dem Todesfluch belegen? Wieso war Ibsen nicht einfach umgefallen wie alle, die dieser schnelle, unaufhaltsame Tod ereilte? Egal, es galt, der düsteren Macht ein weiteres Opfer zu verwehren, und sei es eben dadurch, Feuer mit Feuer und schwarze Magie mit schwarzer Magie zu bekämpfen. Er zielte auf Gunnarson und rief die eigentlich streng verbotenen Worte: "Avada Kedavra!" Doch Gunnarson reagierte schneller als einem Schlafwandler zuzutrauen war. Er warf sich zur Seite. Der brausende grüne Todesblitz sirrte knapp einen halben Meter an ihm vorbei und prallte am Höhleneingang auf ein unsichtbares Hindernis. Was jetzt geschah hatte der norwegische Zaubereiminister bisher noch nie gesehen. Der Blitz des Todesfluches wurde zu einer erst kleinen, dann immer größeren kreisrunden Fläche aus grünem Licht, bis der ganze Höhleneingang ausgefüllt war. Dann wölbte sich der Leuchtkreis zu einer Kugel aus licht und flog laut heulend auf Sigurson zu. Dieser fühlte, wie eine unheimliche Macht seine Zauberstabhand anhob. Der Zauberstab kühlte sich rasend schnell ab. Sigurson wußte nicht warum, aber er meinte, die grüne Kugel wolle genau auf seine Zauberstabspitze aufschlagen. Er schaffte es noch, den Stab loszulassen und sich einfach zur Seite fallen zu lassen. Da sah er, wie der von Eis überzogene Zauberstab und die grüne Kugel zusammentrafen. Es krachte laut, als beide in einer weißen Lichtentladung vergingen. Nicht einmal Asche blieb von dem Zauberstab zurück.

"Das gibt es nicht. Das ist unmöglich passiert", stieß Sigurson aus. Alles, was er bisher über die unverzeihlichen Flüche gelernt hatte war mit einem Schlag lächerlich geworden. Dann stellte er fest, daß er Gunnarson nicht mehr aufhalten konnte. Denn der hatte wohl gemerkt, daß sein Chef gerade eine spektakuläre Form der Zauberstabzerstörung hinbekommen hatte und torkelte schnell aber unermüdlich auf die Höhle zu und in diese hinein. Jetzt hatte die dunkle Macht ihr neues Opfer sicher. Sigurson erkannte auch, daß er nun komplett machtlos war. Sein Zauberstab war zerstört. Ibsens Zauberstab war mit diesem zusammen explodiert. Gunnarson hatte seinen Zauberstab mit in die Höhle genommen. Doch dann überwog ein Hoffnungsschimmer seine trüben Gedanken. Was wäre, wenn die beiden ihm entrissenen Begleiter ihre Zauberstäbe noch im Zelt liegen hatten? Er lief sofort auf das Reisezelt zu.

Als er die Schlafzimmer durchsuchte frohlockte er. Gunnarson hatte seinen Zedernholzstab mit der Faser aus dem Herzen eines Stachelbuckels zurückgelassen. Er nahm ihn in die Hand. Sollte Gunnarson unrettbar verloren bleiben, so mußte Sigurson eben mit diesem Stab weiterzaubern. Er dachte noch daran, daß Ibsen sicher auch noch seinen Zauberstab im Zimmer liegen hatte. Er ging in das andere Schlafzimmer hinüber. Da war ihm, als pralle er gegen eine Wand aus Eis. Klirrende Kälte, schlimmer als im Polaren Winter, strömte aus dem Zimmer auf Sigurson ein. Dann sah er das Bett und erstarrte. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen.

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"Dreihundert Karat in kleinen Steinen und eine Diamantklinge?" ereiferte sich der Zaubereiminister zunächst, als Catherine und Julius ihm ihren Bericht vorgelegt hatten. Doch dann nickte er. "Magie ist manchmal eine sehr kostspielige Angelegenheit, Madame et Monsieur. Gut, dann werde ich mal besser in eigener Person nach Gringotts gehen und meine übergeordnete Vollmacht als Minister bemühen, das Diamantendepot des Ministeriums heranzuziehen, mit dem wir sonst frei konvertierbare Muggelweltwährung erstehen können. Wird nur schwierig sein, meinen sehr korrekten wie zuverlässigen Mitarbeiter Midas Colbert davon zu überzeugen, warum in dem Depot Steine mit einem gesamtgewicht von dreihundert Karat fehlen", seufzte er. "Aber das dürfen Sie beide dann mir überlassen, wie ich es regele. Was eine Klinge aus reinem Diamant angeht. Ist es auch mit einem Splitter getan?" Julius nickte und bekräftigte, daß dieser aber vollständig aus Diamant zu sein hatte. "Gut, dann können wir den Splitter nehmen, der von dem Diamanten stammt, der vor achthundert Jahren im Schloß von Chrysophile Montargent zu Hause war, bis seine angejahrte Hauselfe ihn beim Polieren hat fallen lassen. Weil der gute Chrysophile ein auf Protz und Prunksucht abonierter Magier war hatte er den Boden seiner Schatzkammer aus reinem Diamant fertigen lassen. Deshalb splitterte ein großes Stück von seinem Lieblingsstein ab. Beides hat er dann gegen Gold eingetauscht, weil er keine beschädigten Juwelen in seinem Schloß geduldet hat. Seitdem liegt der Diamant wie alle anderen erkauften oder zum offiziellen Geschenk erhaltenen Edelsteine bei uns im Schatzverlies", erläuterte der Minister. Julius lauschte aufmerksam.

"Wie viel Zeit benötigen Sie, um die Steine zu sammeln?" fragte Catherine den Minister. Dieser schätzte zwei Stunden, wenn er alleine gehen mußte. Anders sei es, wenn die beiden ihn begleiteten. Catherine und Julius nahmen das Angebot an.

Eine halbe Stunde später brauste eine Lohre mit Grandchapeau, der seinen sonst so gern mitgenommenen Zylinder in weiser Voraussicht in seinen Privaträumen zurückgelassen hatte, sowie Catherine und Julius durch die immer tiefer führenden Stollen von Gringotts Paris. Temmie und die goldene Dienerin warteten am Zugangspunkt der alten Straßen.

"Gleich da, Herr Minister", schnarrte Bargnac, der Kobold, der sie auf diesen wilden Ritt über die Schienen von Gringotts genommen hatte. Er holte aus einem großen Beutel große an kurzen riemen hängende Eisenstücke hervor und begann, diese gegeneinanderschlagen zu lassen. Julius kapierte erst nicht, wozu das eigentlich gut sein sollte, bis er den Flammenschein sah und das wehklagende Aufbrüllen hörte. Als sie um die letzte Ecke bogen sah Julius ihn. Es war ein großes, aber sichtlich abgemagert wirkendes und an manchen Schuppen verblichenes Exemplar eines bretonischen Blauen. Der Drache erzitterte, sah auf den Kobold, der immer wilder mit den Klirrern lärmte, bis der an jedem Bein mit dicken Ketten angebundene Drache schnaubend und seufzend zurückwich und die Wand freigab. Doch da war nicht nur wand, erkannte Julius einige Zeit später, als Bargnac mit der freien Hand mehrere Stellen mit unterschiedlich vielen Fingern berührte, bis mit lautem Rasseln mehrere Riegel aufsprangen und eine mehrere Zentimeter dicke Steintür nach außen schwang. Sofort flammten im Inneren des Verlieses orangegelbe Lichter auf. Julius konnte es im Schein dieser Lichter Schimmern sehen: Pures Gold und Silber.

"Nur der Minister oder sein Schatzmeister dürfen die dort bewahrten Wertsachen anfassen", schnarrte Bargnac. "Wer kein vom Ministerium anerkannter Minister oder Schatzmeister ist verbrennt sich sonst die Finger", warnte Bargnac. Julius verstand die Sicherheitsmaßnahme. Ihm tat eher der Drache leid, der gerade wie ein getretener Hund in der Ecke vor der Tür kauerte. Der imposante, sonst wortwörtlich brandgefährliche Vertreter der größten räuberischen Zaubertiere der Welt schnaufte und grummelte, während Bargnac ihm noch einmal die Klirrer vorhielt und damit lärmte, bis alle Besucher im Verlies standen.

Julius hatte schon mit viel Gold und Silber gerechnet. So irritierte ihn das Gebirge aus Edelmetall nicht sonderlich. Als er aber auch die kunstvollen Waffen und Gefäße sah mußte er doch schlucken. Da hingen Bögen aus Elfenbein, Dolche aus Silber mit Rubinen an den Ebenholzgriffen. Er sah sogar einen goldenen Schild mit einem aus Rubinen gefertigten Löwenkopf als Wappen. Ein silbernes Schwert hing neben einem Köcher mit goldenen Pfeilen. Trinkpokale aus Silber, Gold und Jadestein standen auf einem Regal. Am wichtigsten aber war im Moment die Ansammlung von glitzernden Steinen aller Farben des Regenbogens. Julius fiel sofort der kopfgroße, ursprünglich zwölfeckige Stein auf, der das Licht hundertfach brach. Er sah, daß eine Facette des Riesensteins abgesplittert war. Der dazu gehörende Splitter war zwar nur wenige Zentimeter groß, reichte aber aus, um die Perfektion des Diamanten zu verderben. Julius hielt schön seine Hände bei sich. Die Aussicht, sich die Finger zu verbrennen hielt ihn ab, auch nur einen der Gegenstände zu berühren. Minister Grandchapeau umging einen mannshohen Quader aus Gold, auf dem stand:

der Französischen Zaubererwelt
zum dank für die großmütige Hilfe
bei der Wahrung unserer Rechte
im unermütlichen Kampf für unsere Heimatrechte

Jeremias Redhawk

Cloudy Canyon, 1783

"Ui, ein Voorfahre der Thorntails-Gründer?" fragte Julius den Minister, als dieser gerade die ersten Diamanten auf eine mitgebrachte Goldschmiedewaage schüttete.

"Der Gründer persönlich, Julius", sagte Armand Grandchapeau und lächelte stolz. "Ich kann mich noch dran erinnern, daß einer seiner Nachgeborenen meinte, diesen Barren von uns zurückfordern zu dürfen, als sein Zweig der Familie kurz vor dem Ruin stand. Das ist aber auch schon achtzig Jahre her. Da gab es uns alle hier noch nicht. Mein Vorgänger hat klargestellt, daß der Barren nicht von einer Familie Redhawk an einen Privatmann vererbt wurde, sondern ein offizielles Geschenk der Bewohner von Cloudy Canyon an den damaligen Zaubererrat Frankreichs war und somit kein erstrebenswertes Privateigentum sei. Wenn wir den gegen frei tauschbare Werteinheiten einsetzen müßten könnten wir sicher eine halbe Million Galleonen dafür einhandeln. Das allein vom Materialwert her. Aber wenn er so belassen bleibt wie er ist könnten wir glatt das vierfache für ihn einfordern." Der Minister legte weitere kleine Diamanten auf die Waage. Ihr Zeiger pendelte mehrfach zwischen 60 und 70 Karat, bis er bei 62,3 Karat zur Ruhe kam. Julius betrachtete die Diamanten in der Waagschale, die schon sehr gehäuft zusammenlagen. Das war gerade ein Fünftel dessen, was Catherine und er mitnehmen wollten. Der Minister ließ noch zehn weitere kleine Steine in die Waagschale fallen und brachte das Gesamtgewicht damit auf 93,8 Karat. Dann füllte er den Inhalt der Waagschale in einen großen Lederbeutel um, bevor er aus dem gewaltigen Haufen von Edelsteinen weitere Diamanten zusammensuchte. Die beiden Besucher konnten ihm nicht wie erhofft helfen, wegen der Sicherheitsvorkehrung gegen Diebstahl. So dauerte es tatsächlich etwa anderthalb Stunden, bis der Minister ein Gesamtgewicht von 378,1 Karat zusammengetragen hatte. Dann nahm er noch den dreieckigen Splitter, der zu dem gesprungenen Diamantduodekaeder gehörte. Er nahm den Beutel und trug ihn aus dem Verlies. Draußen flirrte es um den Beutel. Julius fiel es auf. Catherine schien das nicht gesehen zu haben. Bargnac lärmte wieder mit den Klirrern, weil der bretonische Blaue bereits wieder vor der Tür lag und wohl auf Futter oder verwegene Räuber hoffte, die von seiner Seite her kamen. Das armselig wirkende aber wohl dennoch immer noch höchstgefährliche Ungeheuer zog sich in seine Ecke zurück und bebte, während die Besucher und ihr koboldischer Führer das Verlies wieder verließen. Krachend schlug die mehrere Zoll dicke Steintür zu. Rasselnd griffen die in der Tür verbauten Riegel wieder ineinander.

Als der Gringottsangestellte und seine drei Kunden wieder auf dem Weg nach oben waren hörte Julius den angeketteten Drachen brüllen und schnauben und sah sogar noch die Ausläufer einer Flammengarbe, die das Ungetüm in den Gang blies. Er dachte daran, daß Harry Potter und seine beiden Freunde auf dem Rücken eines solchen Wachdrachens aus Gringotts geflohen waren, als ihr Raubzug aufgeflogen war. Im Grunde aber waren diese Wachdrachen bedauernswerte Geschöpfe, dazu verurteilt, Jahrhunderte unter der Erde angekettet zu bleiben, nur vom Wohlwollen und ihrem eigenen Nutzwert her genug Futter zu bekommen, damit sie das Eigentum superreicher Zaubererfamilien oder Zaubererweltorganisationen beschützten. War das wirklich die einzige Möglichkeit, Wertsachen gegen Diebstahl zu schützen? Julius dachte an den Fugittempus-Tresor Aurélie Odins. Diese Art von Tresor war absolut unangreifbar. Allerdings tauchte sie eben nur zu vorher festgelegten Zeitpunkten auf und verschwand zu einem festlegbaren Zeitpunkt wieder. Ihm fiel ein, daß es ungleich schwieriger wurde, einen großen Raum mit Magie anzufüllen. Wie schwer mochte es sein, einen Zeitzauber auf ein Gringottsverlies zu legen, so daß die darin geborgenen Wertsachen nur zu vorher festgelegten Zeiten greifbar wurden? Zu schwierig wahrscheinlich, erkannte Julius. Kobolde hatten sowieso ihre ganz eigene Form von Magie. Falls dazu auch Zeitzauber gehörten, dann hätten sie die letzten Koboldaufstände sicher ganz anders überstanden. Für die Kobolde waren andere Schutzzauber verfügbar, ja und bei den Verliesen der Superreichen eben nur gefangene und wohl absichtlich im Dauerhunger gehaltene Drachen. Doch selbst die frei lebenden Drachen waren im Vergleich zum großen Wächter Skyllians harmlos, der mit dunklen Ritualen der Erde erschaffen worden war, um für Skyllian und seinen Herren Iaxathan die Welt der Menschen zu tyrannisieren.

__________

Auf dem Bett lag jemand oder etwas. Der Minister hatte schon Gespenster, Drachen und auch häßliche Trolle gesehen. Auch hatte er von etwas wie dem, was da gerade undurchdringlich schwarz auf dem Bett lag gehört. Doch er hatte ein solches Geschöpf bisher noch nie zu sehen bekommen. Es wirkte, als läge der schwarze Schatten eines Menschen auf dem Bett. Doch dieser Schatten bewegte sich. Dann erst die Augen! Sie waren wie zwei dunkelblau flirrende Lichter, die Kälte und Gnadenlosigkeit verströmten. Eiskristalle bedeckten die Wände des Schlafzimmers. Ebenso wurde das Bett Ibsens von Reif überzogen. Dann erhob sich der tiefschwarze Schatten. Leise knirschend zersprangen die winzigen Eiskristalle, die allein durch seine Berührung entstanden waren. Sigurson überschlug schnell alles, was er über diese Form der Geisterwesen gelernt hatte. Nachtschatten entzogen Lebewesen Wärme und Lebenskraft, am Ende auch deren Seele. Wo sie etwas berührten kühlte es schlagartig ab bis zum Gefrierpunkt. Sie fürchteten das Sonnenlicht und offenes Feuer. Sonnenlicht. Draußen schien immer noch die Sonne. Sigurson zielte dorthin, wo die Lichtschutzklappen waren, die die Spitzbogenfenster absolut lichtdicht verschlossen.

"Die bleiben zu!" zischte eine wie aus weiter Ferne klingende Stimme. Doch Sigurson war sich sicher, daß es Ibsens Stimme war. Das Schreckgespenst, das auf dem Bett gelegen hatte, glitt absolut lautlos in die Zauberstabausrichtung des Ministers. "Du machst hier kein Licht rein, Lasse Sigurson, du feiger Mörder. Mich umbringen, damit du Ruhe hast? Ging wohl daneben. Dein widerlicher Todesfluch hat meinen Körper umgewandelt, weil da schon die Kraft vom schlafenden Meister dringesteckt hat. Dadurch hast du mich aber erst richtig befreit, Lasse Sigurson."

"Heliotelum!" rief der Minister. Ein gelber Lichtspeer zischte durch die Luft. Doch Ibsen zog sich blitzartig zu einer gerade einmal taubeneigroßen Kugel aus Schwärze zusammen. Der Sonnenspeer schlug in die Zeltwand ein. Ein Lichtfleck entstand. Die winzige Kugel aus schwärze flitzte unter das Bett, um nicht vom hereinsickernden Sonnenlicht getroffen zu werden. Sigurson wähnte sich nun überlegen. Er zielte auf das Bett, um es mit einem Schwebezauber anzuheben. "Wingardium Leviosa!" rief er, wobei er die vorgeschriebenen Bewegungen ausführte. Gunnarsons Stab ließ sich geschmeidig führen. Doch das Bett bewegte sich nicht. Ein leiser, wie ein Schmatzer klingender Laut war alles, was Sigurson mit seinem Zauber ausrichtete. Von unterhalb des Bettes klang ihm schrilles Hohngelächter entgegen.

"Das war wohl nichts, Lasse. Alle Flug- und Schwebezauber gehen in der Nähe des großen Wächters nicht mehr. Feuer auch nicht, wenn du meinst, mir meinen Sonnenschutz anzünden zu können."

"Ach ja, ich kriege dich nicht?" knurrte der Minister nun sehr kampfeslustig. Er zielte mit dem Zauberstab an die Decke und rief: "Diffindo maxima!" Laut ratschend klaffte die Dece auf, und der fahle Schein der Nordpolarsonne fiel in das Zimmer. Von unterhalb des Bettes erklang nun ein Stöhnen und Jammern. Doch der Minister war noch nicht fertig. Er zielte noch einmal auf das Bett und rief den Vitricorpusfluch aus. Auf Lebewesen wirkte er so, daß sie zu kristallischen Abbildern ihrer Selbst wurden. Auf Gegenstände gelegt bewirkte er, daß diese durchscheinend wurden, bevor sie in mehreren tausend Splittern zerfielen. So geschah es auch hier. Der unter dem Bett liegende Nachtschatten schrie erst auf, weil nun noch mehr Sonnenlicht zu ihm durchdrang. Als das Bett dann klirrend zerfiel und der Minister zusehen mußte, nicht von einem der herumfliegenden Splitter durchbohrt zu werden, verebbte der Schmerzensschrei des neuen Nachtschattens so plötzlich, daß der Minister nur noch laut lachen konnte. Er hatte den unfreiwillig erschaffenen Nachtschatten vernichtet. Der war eben noch zu klein, zu unbedeutend gewesen. Er lachte erst einmal herzhaft. Dann dachte er darüber nach, was passiert war. Sein Todesfluch hatte Ibsens Körper in dunkles Ektoplasma verwandelt, anstatt nur das Leben verlöschen zu lassen. Ibsen war nun zum Nachtschatten geworden und damit nicht mehr fähig, seine guten Eigenschaften vorherrschen zu lassen. Wenn er jetzt durch die Kraft der Sonnenstrahlen aufgelöst worden war, dann hatte seine Seele hoffentlich Frieden. Aber was hatte der Nachtschatten noch gesagt? Im Bereich des großen Wächters wirkten keine Flug- und Schwebezauber. Wer war der große Wächter? Wo kam er her? Was konnte dieser unheimliche Feind noch alles durch seine bloße Anwesenheit bewirken? Sigurson war sich sicher, daß er diese Fragen nicht beantworten konnte, bevor er nicht von dieser Insel herunterkonnte. Er mußte sich ein Boot oder Floß beschaffen. Er sah neben Ibsens Bett eine Ausgabe des Nordlichtkuriers, der in ganz Skandinavien vertriebenen und im Zaubererdorf Trollsgard gedruckten Zaubererzeitung. Er Mußte etwas ausprobieren, um sicher zu sein, daß es klappte. So zielte er mit Gunnarsons Zauberstab auf Ibsens abgelegte Hose und versuchte eine Verwandlung. Zwar schaffte er es, die Hose in eine leere Holzschale zu verwandeln. Doch die Verwandlung hielt nur eine halbe Minute vor. Dann kehrte sie sich mit lautem Fauchen wieder um. Offenbar wirkte die dunkle Kraft auch auf Materialveränderungszauber. Sigurson schnitt mit seinem Taschenmesser den Hosenknopf ab und legte ihn dort hin, wo vorhin noch das Bett gestanden hatte. "Engorgio!" rief er auf den Knopf zielend. Dieser blähte sich zur Größe einer Badewanne auf. Der Minister wartete eine Minute, zwei Minuten, dann prüfte er die Beschaffenheit des Knopfes. Er war fest und stabil, aber auch entsprechend schwer. Also wirkte zumindest die Verwandlungszauberei, die vorhandene Materie nicht umwandelte, sondern nur vervielfachte, um einen Gegenstand oder ein Lebewesen zu vergrößern. Also würde es gehen, dachte Sigurson. Er klaubte die Zeitung vom Nachttisch und verließ das ramponierte Schlafzimmer. Wieder durchfuhr ein leichtes Erdbeben den Bereich vor der Höhle.

Er mußte zum Meer. Doch das lag einige Stunden Fußmarsch entfernt. Apparieren konnte er nicht. Fliegen ging auch nicht. Der Trank würde noch drei Stunden vorhalten. Die Zeit mußte er nutzen, um weit genug von der Höhle entfernt zu sein. Er marschierte los.

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Der Gebannte hatte ein weiteres Leben erbeutet, ohne sich bewegen zu können. Es war in den Sog seiner Anwesenheit geraten, als es den kurzen Weg gehen wollte. Langsam gewann der gebannte Wächter Skyllians wieder einen Sinn für seine Umgebung. Er fühlte das ihn umschließende kalte Eis und empfand seinen Atem. Doch er war noch nicht so weit. Er mußte mindestens noch zehn fühlende Wesen in sich einverleiben. Weil er sich selbst nicht bewegen konnte mußte er warten, daß die frischen Leben in ihn eindrangen. Mit dieser Gewißheit kam auch die Erinnerung an jenen fliegenden Träger der Kraft, etwas starkes, großes und dann etwas, das er mit seinem Spürsinn nicht fassen konnte, etwas, daß sich ihm nicht klar gezeigt hatte, bis es seine Eingeweide gepiesackt hatte und beinahe drei in ihm verwachsene Leben gelöst hatte. Dann war da dieser Schmerz, dieses Brennen in ihm, als einer der unfaßbaren Eindringlinge irgendwie was ausstrahlte, was ihm nicht bekam und dann im nächsten Augenblick aus ihm heraus war. Der Gebannte wußte nicht, was ihm passiert war. Er hatte es zwar gespürt, wie die ihm fast entrissenen Leben wieder in ihn zurückflossen. Doch er konnte sie immer noch nicht vollständig in sich aufgehen lassen.

Er hatte in einer für ihn winzigkleinen Zeitspanne verspürt, wie ein weiteres Leben in ihn eindrang und von seinem Körper aufgenommen wurde und ein Leben fast zu ihm gekommen wäre, doch durch eine Kraft, die Leben auslöschen konnte verändert wurde. Allerdings fühlte der Gebannte das innere Selbst des veränderten Wesens, ja empfand es als ihm zugetan. Er konnte es aber nicht in sich aufnehmen, weil sein Körper aus Unleben bestand. Dann hatte das große Himmelsfeuer das Unleben seines Körpers getroffen. Der Gebannte hatte eine kurze, heftige Schmerzwelle verspürt. Dann war es wie ein davonfliegender Gedanke gewesen. Der Gebannte wußte nicht, ob der Veränderte, der eigentlich für ihn bestimmt war, gänzlich erloschen war oder irgendwie noch bestand. Er fühlte nur, daß der Träger der Kraft, der noch vor seinem Schlafplatz war, in sehr großer Eile davonlief. Denn für den Gebannten war der Zeitablauf noch nicht so wie für die wachen Träger von Leben und übersinnlicher Kraft.

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"Temmie sagt, wir sollten mindestens einen Vierteltag, also sechs Stunden durchschlafen", grummelte Julius, als er mit Catherine von Gringotts Paris zurückgekehrt war. Catherine hatte die Übernahme der Diamanten quittiert. Minister Grandchapeau wollte die Wertentnahme mit "Amtshilfe für das norwegische Zaubereiministerium" und "Beseitigung eines magischen Geschöpfes der Gefahrenstufe XXXXX" rechtfertigen. Allerdings, so wußte der Minister, konnte er nicht darauf ausgehen, ein offizielles Hilfsangebot zum norwegischen Kollegen Sigurson zu schicken, da dieser garantiert leugnen würde, ein solches Wesen in seinem Zuständigkeitsbereich zu haben. Zudem hätten Grandchapeau und Julius Latierre dann auch erklären müssen, woher sie vom Vorhandensein und der Beschaffenheit des Schlangenungeheuers wußten. Daran lag den beiden überhaupt nichts.

"Besser ist es wohl, wenn wir alle eine Auszeit nehmen. Temmie kann keinen Wachhaltetrank einnehmen, und du, Julius, mußt ja dein Blut einsetzen. Jede alchemistische Veränderung deines Blutes könnte das Ritual unwirksam machen", erkannte Catherine. Julius wiegte den Kopf und mußte ihr zustimmen. Es gab in der Tat genug Warnungen vor dem Einsatz von Körperflüssigkeiten, in denen ein noch wirkender Zaubertrank gelöst war. Sonst hätte er wohl eher den Felix-Felicis-Trank benutzt, den er von Ceridwen Barley geschenkt bekommen hatte. Temmie hatte sich bereits hinter dem Apfelhaus auf die Wiese gelegt und die adlergleichen Flügel über ihrem Rücken zusammengelegt. Der Zweiersitzaufsatz war jedoch noch um ihren Leib geschnallt.

Julius wußte, daß er eigentlich keine Zeit zum schlafen hatte. Doch er sah ein, daß er nach den vielen Stunden Reisen und Lernen kein ernsthafter Gegner für die schlafende Schlange sein würde, wenn er es denn überhaupt sein konnte. Catherine und Camille bezogen Betten in einem der freien Zimmer. Sie wollten die Stille des Apfelhauses nutzen, um ebenfalls genug Schlaf zu bekommen. Joe war eh mit den beiden Mädchen bei Madeleine L'eauvites Familie, und Florymont hatte von seiner Frau gesagt bekommen, daß sie erst dann wieder zurückkäme, wenn sie wüßte, ob das, was sie für Julius tun konnte geholfen hatte oder nicht. Camilles Kinder waren bei ihrer Tante Uranie gut aufgehoben. Julius prüfte noch einmal, ob der Lotsenstein sicher im von ihm und Millie gesicherten Schrank lag. Dabei maß er mit den Augen auch den noch vorhandenen Raum ab. Falls Millie wirklich zustimmte und Kailishaias Flammenkleid an sich nehmen wollte, würde es noch locker über einen der Bügel passen, die im Schrank aufgehängt werden konnten. Noch hatte er seine Frau nicht gefragt. "Julius, ich habe meinen Wecker auf zwei Uhr Nachts gestellt!" rief Millie durch das Haus. Julius sah auf seine Weltzeituhr. Bis zwei Uhr fehlten noch sechseinhalb Stunden. Er rief zurück, daß er damit einverstanden war. Dann schloß er den Schrank wieder ab und eilte ins Schlafzimmer. Er wollte sich nur in Unterkleidung ins Bett legen. Doch Millie bestand darauf, daß er seinen Sommerschlafanzug anzog. "Nicht, daß wir die Bettwäsche nicht locker waschen können, Julius. Aber du warst um die halbe Welt und hast Temmies persönliches Parfüm in deine Klamotten gekriegt. Das muß ich nicht neben mir im Bett haben." Julius kapierte es, nahm eine kurze Dusche und legte sich ordentlich zur Nacht bekleidet auf seiner Seite des großen Himmelbettes hin.

Er träumte davon, wie er durch die Halle der Altmeister flog und sah zusammen mit Kantoran sein bisheriges Leben in Schnellansicht von seiner Geburt bis zum Besuch bei Ianshira, die ihn wegen der nicht ganz so geglückten Einsätze des Fluchumkehrers getadelt hatte. Noch hatte er Millie nicht erzählt, daß er es nun quasi amtlich hatte, was mit Austère Tourrecandide passiert war und warum Anthelia überhaupt noch frei herumlaufen konnte.

Pünktlich um zwei Uhr läutete Millies kleiner Wecker, den sie damals in Viento del Sol schon mitgehabt hatte, als sie und Julius mehrere Nächte heimlich zusammengelegen hatten, obwohl ihre Gastgeberin Lorena Forester das nicht erlaubt hatte. Julius sah auf seine Frau, wie diese sich reckte und streckte, bis sie dann richtig wach war. Dann quängelte auch die kleine Aurore, die vor ihrer üblichen Zeit aus dem Schlaf gerissen wurde.

"Mach dich fertig und rausch mit Catherine und Temmie ab. Ich kriege das mit unserer Kleinen hin, Monju", rief Millie über das in einen langen Schrei übergehende Quängeln der gemeinsamen Tochter. Julius bestätigte es und ging ins Bad. Nach nur zehn Minuten war er reisefertig. Zur Sicherheit hatte er noch eine Flasche Blutauffrischungstrank aus der umfangreichen Hausapotheke eingesteckt. Darüber hinaus hatte er die Phiole mit dem Goldblütenhonig, die er bei seiner letzten Annäherung an die schlafende Schlange nicht frei in seiner Kleidung getragen hatte, in die verschließbare Innentasche der Daunenjacke gesteckt, die er nun für die Reise zum Polarkreis angezogen hatte. Die Sonnenkugel und das Vielzeug hatte er auch griffbereit eingesteckt.

"Gut, dann auf zum hoffentlich letzten Akt!" trieb Catherine Julius, sich und Temmie an. Camille umarmte Julius kurz noch einmal und gab ihm die landesüblichen Wangenküsse. "Komm bloß wieder, Burschi. Ich habe keine Lust, deiner Mutter erklären zu müssen, daß du mal wieder die Welt vor irgendwas uraltem retten mußtest. Außerdem will ich von dir selbst hören, was meine Mutter dir vermacht hat, wovon sie weder mir noch Emil was sagen wollte." Julius nickte. Dann stieg er die faltbare Treppe zu seinem der beiden Sitze auf Temmies Rücken hinauf. Die geflügelte Riesenkuh hatte noch einige Ballen Heu und sogar mehrere Dutzend Salatköpfe Wegzehrung bekommen. Nun ging es wieder los.

Zunächst flogen die drei aus Millemerveilles hinaus. Denn auch wenn Temmie es heraus hatte, relativ leise zu apparieren war der dabei entstehende Knall immer noch laut genug, um im nachtstillen Millemerveilles weit genug gehört zu werden. Erst dreißig Kilometer außerhalb der magischen Absperrung um das Zaubererdorf landete Temmie. Dann brachte sie sich und ihre zwei Begleiter mit vier weiten Raumsprüngen nach Spitzbergen. Dort machten sie einige Minuten Pause. Dann apparierte Temmie knapp zwanzig Kilometer von Nordostland entfernt. Den Rest der Strecke flogen sie im 500-Stundenkilometer-Tempo.

Wie gut es war, daß Temmie auf dem letzten Abschnitt der Strecke ihren Unsichtbarkeitszauber in Kraft gesetzt hatte erkannten die drei so unterschiedlichen Gefährten, als sie mehrere Patrouillenkreuzer der norwegischen Kriegsmarine überflogen, die mit wild schäumendem Kielwasser Kurs auf Nordostland hielten, als gelte es, die Insel im Sturm zu nehmen.

"Seine Ausstrahlung ist stärker geworden, Julius", sprach die goldene Dienerin Godjanmiria mit Temmies Stimme. "Er muß in der Zeit noch mehrere Kraftträger eingefangen haben. Kann sein, daß er schon so gut wie wach ist."

"Wenn er ganz wach ist können wir das mit dem Lied der Gnade voll vergessen", knurrte Julius.

"Wenn er ganz wach wäre würde er schon längst auf der Insel herumkriechen und nach neuer Beute suchen."Julius wollte gerade auf die Mitteilung Temmies antworten, als er fünf Männer auf fliegenden Besen sah, die im Eiltempo auf den nächsten Marinekreuzer zuhielten. Temmie legte noch ein paar Flügelschläge zu und nahm etwas mehr höhe. Kreuzer und Flugbesen fielen schnell zurück.

"Irgendwas ist da passiert, daß die Marine so in Aufruhr ist", stellte Catherine fest. Julius konnte dem nur zustimmen. Dann sahen sie die Insel voraus. Temmie ließ sich einige hundert Meter durchsacken und überquerte die unregelmäßige Küste.

"Ihr könnt jetzt beide das Lied des freien Fluges", stellte Temmie klar. "Deshalb kannst du Julius beschützen, während er das Lied der großen Gnade singt."

"Ich habe den Wachhaltetrank mit. Ich weiß ja, daß der Flugzauber Kraft zehrt", gab Catherine weiter. Dann segelte Temmie bis knapp fünfzig Längen vor die Höhle hinunter. Julius fühlte sofort, daß da etwas war, das nach ihm tastete. Offenbar waren die Sinne des großen Wächters nun wirklich schärfer geworden.

Um Temmie genug Kraft zu geben ließen Catherine und Julius sie ordentlich fressen und saufen. Catherine trank den Wachhaltetrank, um durch den Freiflugzauber nicht zu sehr ausgezehrt zu werden. Die Menge, die sie trank würde einen Menschen ohne körperliche oder magische Anstrengung zwei volle Tage wachhalten. Jetzt wußten sie aber alle, daß bei starker Anstrengung die Zahl der Wachstunden zusammenschmelzen würde.

"Okay, Julius, bringen wir es hinter uns, bevor dieses Monstrum ganz aufwacht", sprach Catherine ihrem menschlichen Begleiter Mut zu. Dieser nickte. Catherine übergab ihm die Diamanten und vor allem den nachträglich scharf geschliffenen Splitter aus dem Duodekaeder des Zauberers Montargent. Dann wirkte er den Zauber des freien Fluges. Als er es schaffte, sich aus dem Griff der Erdschwerkraft zu lösen, hörte er Temmies Gedankenstimme jenes alte Lied singen, daß ihm inneren Frieden und Schutz vor fremden Einflüssen gab. Catherine konnte nach den wenigen Stunden Flugpraxis in der Halle der Altmeister zwar noch nicht so elegant steuern wie Julius, kam aber gut hinter ihm her, als sie beide im Schutz von Unangreifbarkeitsauren in die Höhle einflogen.

Für Julius war es immer noch unheimlich, zwischen den beiden langen Zahnreihen hindurchzufliegen. Die Warnung, bloß keine Stelle der schlafenden Schlange zu berühren, galt ja immer noch.

Der Anblick der versteinerten Menschen, die dem Ungeheuer bereits zum Opfer gefallen waren und nun darauf zu warten hatten, restlos von diesem einverleibt zu werden, schreckten Julius nicht mehr so sehr. Was er jedoch mit gewisser Bestürzung erkannte waren die Neuzugänge, die relativ nahe am Eingang standen. Darunter waren zwei Männer in Zaubererweltkleidung. "Löse den Bann erst von den Zauberern, Julius! Ich weiß, du würdest gerne erst Professor Stuard und seinen Begleiter befreien. Doch denke daran, was Temmie uns über die Ernährungsweise dieses Monstrums gesagt hat", zischte Catherine ihrem Begleiter zu. Dieser verstand. Menschen mit Magie im Blut zählten für das Ungeheuer wie mindestens zwei bis vier Menschen ohne Magie. Wenn er also erst die Zauberer aus dem Bann löste, war die Wahrscheinlichkeit hoch, das Schlangenungeheuer am schnellsten in seinen Schlafzustand zurückzuversetzen. Catherine glitt vor Julius hin und her, wobei sie sehr sorgfältig darauf achtete, nicht mit dem erstarrten Körper der Schlange in Berührung zu kommen. Julius nahm sich den am nächsten zum gewaltigen Maul stehenden Zauberer vor. Er konzentrierte sich darauf, seine Position zu halten. Da im Inneren der Schlange kein Wind wehte, konnte er seinen Körper in einen Schwebezustand versetzen. Behutsam holte er die nötigen Utensilien hervor. Erst nahm er den Diamantsplitter. Den durfte er auf keinen Fall fallen lassen. Er dachte an Astronauten, die in der Schwerelosigkeit mit Werkzeugen hantierten. Wenn da jemand ein Werkzeug aus den Händen gleiten ließ und es nicht mehr einfangen konnte, trieb dieses als winziger Satellit um die Erde, bis die durch Sonnenhitze ausgedehnten Ausläufer der Erdatmosphäre es weit genug abgebremst hatten, daß es wie eine Sternschnuppe in die Atmosphäre eindrang und verglühte. Er sah noch einmal Catherine, die bereits darauf gefaßt war, wieder jene Schattenkugeln zu erledigen, die ihnen bei ihrem ersten Ausflug fast den Garaus gemacht hätten. Im Moment schienen diese Sphären jedoch gerade Pause zu machen. Oder mußten sie dafür tiefer in den mehr als hundert Meter langen Leib vordringen? Doch jetzt gab es wichtigeres zu tun.

Julius rief sich Agolars Worte und Gesänge ins Bewußtsein zurück. Erst als er sicher war, alle Strophen des Liedes zu kennen, holte er den rasiermesserscharfen Splitter hervor und schnitt damit behutsam eine X-förmige Wunde in die linke Handinnenfläche, die gerade tief genug war, um mindestens zehn Minuten zu bluten. Er hätte sich auch die Pulsadern öffnen können. Doch das war ihm dann doch zu riskant, selbst wenn er die nötigen Zauber konnte, um solche Verletzungen rückstandslos verheilen zu lassen. Während er dies tat sang er mit lauter Stimme und klarer Betonung die ersten fünfzehn Worte des Liedes der Großen Gnade der großen Mutter Erde. Jetzt gab es keinen Weg mehr zurück.

Als er bei Strophe zwei rund um den versteinerten Zauberer sein frisches Blut gegen den Uhrzeigersinn vergossen hatte ließ er dieses bei der dritten Strophe über den Versteinerten abregnen. Dabei sah er bereits eine Reaktion. Denn der Versteinerte begann zu zittern. Bei Strophe vier ließ Julius sehr behutsam einen Diamanten genau auf die ebenfalls versteinerte Hutkrempe fallen. Der Edelstein leuchtete dabei kurz im blutroten Licht. Dann sang Julius die fünfte und letzte Strophe, wobei er bei den ersten drei Worten genug Blut auf die Spitze seines Zauberstabs tropfen ließ, um diesen dann in vier fließenden Kreisbewegungen in Uhrzeigerrichtung über dem zu befreienden zu führen. Dabei fühlte er, wie zwischen seinem Zauberstab und dem Boden eine gewisse Sogwirkung entstand. Er mußte aufpassen, daß er nicht in die Tiefe sank. Catherine indes hielt die Stellung, immer mit erleuchtetem Zauberstab in den Schlangenleib zielend. Die Luft vibrierte. Ein dumpfes Rumoren setzte ein. Der Boden begann zu wanken. Durch die Decke lief träge aber unverkennbar eine Welle der Verformung, als drücke jemand ein Tischtuch zusammen, schiebe die Falte vor sich her, bis diese am anderen Tischende über den Rest des Tuchs hinwegfiel und verschwand. Das alles geschah zwar langsam. Doch Julius erkannte, daß es nicht so leicht sein würde, jeden der mehr als zwanzig Gefangenen zu befreien. Als er die letzte zu singende Silbe in den stollenartigen und in langsamen Bewegungen befindlichen Schlangenleib gesungen hatte, erzitterte der Boden. Der Gefangene wankte. Der auf dem Hut liegende Diamant erstrahlte im blutroten Licht. Das auf dem Boden vergossene Blut leuchtete auf, verband sich durch rote Lichtstrahlen mit dem auf dem Gefangenen verteilten Blut und wurde zu einem immer heller werdenden Netzwerk, das erst in wilden Schlingerbewegungen über den Gefangenen glitt, um dann zu einer einzigen blutroten Aura aufzuglühen. Julius sah, wie der Diamant auf dem Hut wie Sirup zerfloß, den Körper des Gefangenen überzog, um dann von oben nach unten wie ein niederfallender Sack zusammenzusinken und den Gefangenen als Menschen aus Fleisch und Blut freigab. Mit einem letzten kurzen Aufflackern erfuhr der Gefangene eine Art Stromstoß. Er zuckte zusammen und sprang förmlich nach oben. In dem Augenblick verlosch das magische Licht. Der Boden erzitterte merklich. Julius sah sich schnell um. Catherine zielte mit dem Zauberstab in die Dunkelheit, die unvermittelt lebendig wurde. Julius wußte es nun, daß der letzte der großen fünf sich wehrte. Der befreite Zauberer indes erkannte, daß er gerade wieder freigekommen war. Er streckte sich und reckte sich.

"Durch das Maul raus!" rief Julius dem Befreiten auf Englisch zu, bevor er seine Handverletzung heilte. Catherine wirkte indes einen Zauber, den er noch nicht kannte, wobei er den Gedanken nicht los wurde, daß es eine Kopplung zweier Zauber war. Aus Catherines Zauberstab schlugen silberne Flammen, trafen auf den Boden und wuchsen von dort als Feuersäulen auf. Eine der gerade anfliegenden Kugelsphären berührte die silberne Feuersäule und prallte davon zurück. Weitere Feuersäulen wuchsen auf, bis der vor Catherine liegende Gang zur ganzen Breite mit silbernem Feuer erfüllt war. Laut und hol pongend prallten die nun heranfliegenden Schattensphären gegen die Feuersäulen oder blieben dazwischen stecken, um dann von innen her immer heller aufzuglühen, bevor sie mit einem lauten Zischlaut zu dunkelblauen Flammen wurden, die in den Boden schlugen und vergingen.

"Okay, hat funktioniert, Julius. Der nächste. Schnell!" rief Catherine, während der Leib der schlafenden Schlange langsam aber bedenklich weit auslenkend verformt wurde.

Julius sah dem befreiten Zauberer nach, der im Geschwindschritt durch das Maul und zwischen den Zähnen hindurch nach draußen eilte. Ein Zwölftel Zwölfteltag Gnadenfrist hatte jeder Befreite, um die Zone des Erdbanns zu verlassen. War er dann nicht aus der betroffenen Zone heraus, holte ihn die dunkle Erdmagie wieder ein und fesselte ihn wie zuvor. Die Zeit sollte reichen, dachte Julius und ging den nächsten Zauberer an.

Diesmal war es aber nicht so einfach. Denn der nun in langsame Schwingungen und Verwerfungen geratene Boden erschwerte es, das Opferblut in einem perfekten Kreis um den zu befreienden zu vergießen. Noch schwerer war es jedoch, den Diamanten so abzulegen, daß er nicht herunterfiel. Fast hätte Julius den eingesetzten Stein danebenfallen lassen. Doch es gelang gerade so noch im Verlauf der vierten Strophe, den Stein auf dem unbehuteten Kopf des Zauberers abzulegen, ohne diesen selbst zu berühren. Er unterdrückte den Drang, das Lied schneller zu singen, um es hinter sich zu bringen. Doch Agolar hatte ihm eingeschärft, daß dieser Zauber seine ganz eigene Geschwindigkeit besaß und keine Abweichung duldete. Immerhin schaffte Julius es noch, das blutrote Lichtgeflecht entstehen zu lassen, daß zu einer einheitlichen roten Aura verdichtet wurde, um dann, als der eingesetzte Diamant im Licht dieser Aura zur sirupartigen Substanz wurde, die Versteinerung wie eine abgeworfene Haut um den Befreiten niedergleiten ließ. Der Befreite sprang von einem Kraftstoß getroffen in die Höhe. Das Leuchten erstarb. Julius fühlte nun, wie die Luft erbebte. Sicher spürte der Wächter nun, daß jemand ihm die erbeuteten Leben abjagte. Er dachte an das Walpurgisnachtspiel mit dem weit geöffneten Drachenmaul, aus dem jemand verschiedene Gegenstände herausangeln mußte. Wer das Maul dabei berührte löste einen Feuerstoß aus und hatte das Spiel verloren.

Catherine baute die silbernen Flammen zu einem regelrechten Palisadenzaun auf und setzte sogar noch eine Reihe dahinter. Julius hörte es immer wieder fauchen, wenn die anfliegenden Kugeln in den Silberflammen vergingen. Er konzentrierte sich auf die Befreiung des nächsten Zauberers. Diese war jedoch schwieriger, weil der Boden bedenklich schwankte. Erst als Julius einen Rhythmus herausgefunden hatte, wann die Gefangenen aufrecht standen, um die ihnen aufgelegten Diamanten nicht zu verlieren, konnte er es wagen, den nächsten mit dem Lied der großen Gnade freizubitten. Als er das geschafft hatte, lief eine starke Aufwerfung durch den ganzen Schlangenleib. Es war, als drücke jemand ein Tischtuch zusammen und nach hinten weg, so daß eine hohe Falte entstand, die sich über den Tisch bewegte, bis sie am anderen Ende über die Kante glitt und verschwand. Die silbernen Flammensäulen wankten und bogen sich unter der Aufwerfung. Der stollenartige Leib der Schlange wurde zusammengedrückt. Julius mußte daran denken, daß das Ungeheuer wohl einen Würganfall erlebte, um die unbekömmliche Magie auszuspeien. Catherine schloß den Wall aus silbernen Feuersäulen ab. Doch damit schnitt sie Julius den Weg zu mindestens zwanzig Gefangenen ab. Er ging aber davon aus, daß Catherine das wußte und dann was machen würde, um ihm den Weg freizumachen, ohne sich und ihn von diesen Schattenkugeln heimsuchen zu lassen.

Es dauerte eine Minute, bis Julius einen neuen Bewegungsrhythmus erkannte und den vierten Zauberer mit dem Lied besang. Dabei rutschte der Diamant jedoch bedrohlich auf der versteinerten Hutkrempe entlang. Julius konnte sich gerade noch beherrschen, nicht den Singrhythmus und Tonfal zu verlieren, da strahlte jenes rote Netzwerk aus Blut und Erdmagie auf, das er bei den bisherigen Bezauberungen gesehen hatte. Es verdichtete sich zu jener blutroten Aura, in der der aufgelegte Diamant zerfloß und die Versteinerung regelrecht von dem Gefangenen abwusch. Wieder sprang der auf diese Art aus dem Bann gelöste Zauberer in die Luft, bevor Julius ihm zurief, nach draußen zu laufen. Nur den zwölften Teil eines Zwölfteltages hattendie Befreiten Zeit, aus der Gefahrenzone zu entkommen. Das entsprach genau zehn Standardminuten. Das war Zeit genug. Hoffentlich lasen sie das große Schild vor der Höhle, das Catherine hingestellt hatte. Darauf wurde auf Englisch vor jedem Apparierversuch auf der Insel gewarnt. Zudem hatte Catherine ein rotes Strichmännchen in einem schwarzen Trichter gemalt, das ein großes rotes, von einem schwarzen Pfeil durchzogenes A auf dem Kopf trug.

Die Silberfeuerpalisade ruckelte und sprühte Funken, als Julius die Befreiung von Gefangenem Nummer sechs anging. Er fühlte jedoch eine starke Anspannung, als würde sich der große Wächter Skyllians nicht so einfach ergeben. Das, was er als eine Art Würgereflex ansah, wurde immer stärker, wenngleich die Aufwerfungswelle bei jedem erfolgreich befreiten Zauberer immer langsamer durch den Stollen ging. Doch sie verengte den Raum immer weiter. Die Flammensäulen bogen sich förmlich unter dieser Verengung. Catherine hatte sich bis zu Julius zurückgezogen und hielt ihren Zauberstab bereit.

Julius fühlte, daß der siebte Zauberer, den er befreien wollte, offenbar nicht mehr so leicht zu bezaubern war. Er schwankte langsam aber weit auslenkend. Beinahe berührte die versteinerte Hutspitze den linken Fuß des jungen Zauberers. Das hätte ihn sofort mit dem großen Wächter in Kontakt gebracht und damit die ganze Mission scheitern lassen. Julius wußte nicht, wie er es anstellen sollte, dem Zauberer den Diamanten auf den Kopf zu legen, wo dieser gerade langsam aber unaufhaltsam um eine schiefstehende Drehachse kreiste. Er ließ den versteinerten Magier deshalb zuerst einmal so und suchte einen anderen. Doch wie in einem Zeitlupenfilm über Gras im Wind schwankten die anderen ebenso hin und her, vor und zurück. Jede Auslenkung dauerte eine Minute. Doch keiner blieb für die Zeit stabil stehen, um den Diamanten lange genug aufzulegen. Entweder war das jetzt auch ein Reflex der Schlange oder gar eine gezielte Aktion, um die Befreiung der anderen zu verhindern. Hinzu kam noch, daß die silberne Flammenpalisade unter der nächsten, noch engeren Aufwerfung so stark nach außen gebogen wurde, daß Catherine schon nach Julius' Hand griff, um ihn mit sich aus der Höhle zu ziehen. Da empfingen beide Temmies Gedankenstimme: "Julius, Catherine, sie kommt zu euch!"

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Der gebannte fühlte, wie ihm die Kraft geraubt wurde. Er merkte auch, wie er wieder aus der wirklichen Wahrnehmung hinwegdämmerte. Irgendwer entriß ihm schmerzhaft ein gefangenes Leben nach dem anderen. Zwar versuchten die ihm frei verfügbaren Seelen, die als Seelengreifer unterwegs waren, die von ihm nicht zu erkennenden Eindringlinge zu treffen. Doch irgendwas pieksendes ließ sie immer wieder zurückprallen und als kurze Hitzeschauer durch seinen Körper jagen. Wieder riß etwas ihm ein aufbewahrtes Leben weg. Sein Leib bebte und verkrampfte sich. Der Wächter sah im Moment nur die Bilder aus zurückliegenden Erlebnissen. Er wollte aber nicht wieder einschlafen. Ein sechster schmerzvoller Ruck. Wieder war ihm ein starkes Leben aus dem Leib gerissen worden. Die Gedanken des Wächters gerieten durcheinander. Wer konnte sowas? Wo war er eigentlich gerade? Hatte er nicht gerade den Kampf gegen ein Weibchen verloren, das die in ihm steckende Saat für neue Junge aus ihm herausholen wollte? Er sah den Riesen mit dem Hammer und fühlte den Schmerz, als der Hammer seinen Kopf traf. Dann fühlte er etwas mit hoher geschwindigkeit auf ihn zuschießen, etwas, daß keine Anstalten machte, auf dem Boden zu landen. Doch es war zu erkennen. Er fühlte eine mächtige, weibliche Daseinsform, eine Trägerin großer Kraft, die ihm ins Maul flog und dann etwas tat, was ihm sichtlich im hinteren Leib weh tat. Er fühlte seine Seelengreifer, wie sie alle auf einmal in seinen Körper zurückgeschleudert wurden. Doch dann begann die Folter erst richtig.

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Julius konnte erst nicht begreifen, wen Temmie mit "sie" meinte. Doch als seine geflügelte Gefährtin, die hundert Meter außerhalb der Schlangenhöhle wartete den Namen Naaneavargia in sein Bewußtsein hineinrief, erbleichte er und verlor fast die Flugbalance. Catherine merkte wohl, daß er sichtlich erschrocken war und hielt ihn sicher. "Komm, raus hier, bevor die Hybridin hier auftaucht, wo immer sie her hat, was hier los ist."

"Am Ende will sie dieses Monster aufwecken", knurrte Julius. Da sah er einen Schatten durch den Widerschein des Höhlenausganges huschen und erkannte eine fliegende Frau ohne Flügel und ohne Besen.

Julius hatte sie noch nicht in ihrer vereinigten Gestalt gesehen. Als er dann die Fremde mit der weißgoldenen Haut und dem kurzen dunkelblonden Haar sah, die in einem scharlachroten Taucheranzug gekleidet war, konnte er nicht anders als auf die schlanke, gelenkige Gestalt zu blicken, die wie ein Fisch im Wasser durch die Luft glitt, ohne dazu irgendwelche sichtbaren Hilfsmittel zu benutzen. Er sah auch, daß die andere einen Rucksack trug und einen Zauberstab in der rechten Hand hielt, der im Widerschein der sich immer stärker verbiegenden Feuersäulen silbergrau schimmerte. Catherine zog Julius an sich. Da in diesem noch genug Flugmagie wirkte, war er für sie nicht nur federleicht, sondern drückte sie dabei sogar nach oben. Da war die andere heran und winkte mit der freien Hand.

"Konnte mir denken, daß Sie und du noch eine zusätzliche Fachkraft für dieses Ungetüm benötigt", sagte sie ganz unbefangen, daß Catherine und Julius sie als gefährliche Gegnerin einstufen mochten.

"Wer hat denn das Mondfeuer gezündet. Das ist gut gegen Gespenster und niedere Nachtschatten, aber nicht gegen die Fangschatten eines der alten Wächter Skyllians", tadelte sie, als sie die silbernen Flammen ansah. Gerade barsten die ersten Säulen der feurigen Palisade mit lauten Schlägen, als würde eine gigantische Peitsche geschwungen. Catherine, die Julius mit ihren Armen umschlossen hielt beherrschte sich, nichts zu sagen. Sie wollte mit Julius an der unerwarteten wie unerwünschten Fliegerin vorbei. Doch diese verlegte ihnen geschickt den Weg nach draußen. Sie hätten fast einen der aufragenden Zähne berührt.

"Ich denke, wir haben hier noch einiges aufzuräumen, Madame und Monsieur", sagte die dunkelblonde. Julius konnte nicht anders, als die tiefe Stimme der unheimlichen Vereinigung zwischen Anthelia und Naaneavargia zu bewundern.

"Wollen Sie die Bestie gänzlich aufwecken oder warumsind Sie hier?" wagte Catherine eine Frage.

"Ich wäre schön einfältig, wenn ich dieses Ungeheuer da stärken und vollends erwecken würde. Außer Skyllian und sein sich selbst überschätzender Herr und Meister hätte das niemand gekonnt", sagte die andere. "Ich würde aber erst mal eine treffliche Abwehrmauer zwischen uns und die Schattenkugeln stellen, bevor sie alle zu uns durchbrechen", sagte die aus zwei mächtigen Hexen zu einer einzigen verschmolzene und zielte mit dem silbergrauen Zauberstab auf die bereits mehrere Lücken aufweisende Palisade, durch die gerade fünf Schattensphären durchflogen und genau auf die drei noch in freiem Flug befindlichen zukamen. Sie murmelte etwas, doch zu leise, als das Julius es verstand. Das Ergebnis war jedoch nicht zu übersehen. Denn unvermittelt breitete sich vor dem Zauberstab eine schwarze Wand aus, die das silberne Feuer der nun reihenweise berstenden Säulen überdeckte. Knall um Knall zerbrachen die Flammensäulen. Die ersten Schattenkugeln waren nur noch zehn Schritte an die drei fliegenden heran, als die schwarze Wand den gesamten Querschnitt des Ganges ausfüllte und sich stabilisierte. Mit lautem Pong, wie von einer Metallplatte abprallenden Fußbällen, wurden die fünf vorderen Schattensphären zurückgeworfen. Zumindest konnten Catherine und Julius es daran erkennen, daß hinter der nun etwas durchsichtiger scheinenden Wand die fünf Schatten mit hohem Tempo gegen ihre Nachfolger prallten und diese wie pechschwarze Billardkugeln aus der Bahn prellten. Ähnlich wie bei einem Billardstoß regten die aus der Bahn geschlagenen Kugeln weitere Kugeln an. Einige knallten gegen die noch haltenden Silberflammen und vergingen daran. Andere Kugeln klatschten gegen die Decke oder den Boden und wurden förmlich darin aufgesaugt. Weitere Kugeln knallten nun gegen die Wand, die wie angerußtes Glas aussah. Wieder prallten sie mit vielfachem Rückstoß zurück und warfen ihnen nachfolgende Kugeln aus der bahn.

"Ein schwarzer Spiegel", seufzte Catherine, die Julius nun genau zwischen den Schlangenzähnen hindurch in die Höhle hinausbugsierte, ohne zu landen. Anthelia/Naaneavargia winkte den beiden jedoch zu: "Legen Sie keinen Wert darauf, die begonnene Arbeit zu Ende zu bringen, Madame Brickston. Oder legen Sie Wert darauf, daß ich Ihre Arbeit erledige?!" rief die Hexe, in der Agolars Tochter aufgegangen war. Catherine erwiderte darauf:

"Zumindest lege ich keinen Wert darauf, mir nachsagen zu lassen, Ihnen das Feld überlassen zu haben, nur weil Sie zufällig aufgekreuzt sind, Mademoiselle ... wie heißen Sie jetzt eigentlich?!"

"Das können Sie selbst erraten, Madame Brickston. Aber wenn Sie mir das Feld nicht überlassen wollen, dann sollten Sie und der höchst interessante junge Monsieur, den sie wie ihr eigenes schutzbefohlenes Kind umklammern, wieder zu mir hinkommen und da weitermachen, wo Sie aufgehört haben."

"Catherine, leg es nicht darauf an, daß die dich runtermacht", zischte Julius. Er drehte sich aus Catherines Umarmung und vollführte mit angezogenen Armen und Beinen einen überschlag, um ohne große Wende in die Gegenrichtung fliegen zu können. Catherine folgte Julius widerwillig durch die Lücke zwischen den Schlangenzähnen. Inzwischen pongte und wummerte es hinter dem schwarzen Wall aus Zauberkraft. Die silbernen Flammensäulen waren restlos zerstoben, und mehr als fünfzig Schattenkugeln drängten Richtung Maul. Diesseits des magischen Walls waren noch zehn Männer in Zaubererkleidung versteinert. Julius sah, wie sie immer noch schwankten. Zu den an Decke und Boden geschleuderten Schattenkugeln kamen jetzt auch kurze Erdstöße. Weitere Aufwerfungen schoben sich durch den Stollen. Doch als sie auf den schwarzen Spiegel prallten, zuckten sie unter Freisetzung eines mächtigen Erdstoßes zurück und glätteten sich. Wie lange konnte dieser magische Wall dem Angriff widerstehen?

"Wer von Ihnen hat das Lied der großen Gnade gelernt und bisher sechsmal gesungen?" wollte die neue Anthelia wissen. Julius versuchte, das für sich zu behalten. Catherine sagte auch kein Wort.

"Leute, ihr könnt von mir halten was ihr wollt. Aber im Moment stecken wir drei im Bauch einer Bestie, die eure ganzen Familien fressen wird, wenn ihr eure engstirnigen Vorbehalte nicht einmal vergessen wollt!" schnarrte die Hexenlady. Dann zielte sie mit dem Zauberstab auf den Boden. "Sanguis sanguinem monstrato!" zischte sie. Da leuchtete es am Boden scharlachrot auf. Da hatte Julius einen Blutstropfen verloren, der nicht in den zu zeichnenden Kreis gelangt war. Von dem einzelnen Tropfen ging ein roter Lichtstrahl aus, der innerhalb eines Lidschlages Julius' Körper traf und diesen erwärmte. Unverzüglich umstrahlte ihn eine scharlachrote Aura, die von goldenen Lichtentladungen durchsetzt wurde und keine Sekunde nach ihrem Erscheinen mit leisem Piff erlosch.

"Sollte mich das jetzt sehr überraschen?" fragte die neue Antehlia schnippisch. Catherine murrte. Dann stupste sie Julius an, der ihr entschlossen zunickte und sich mit konzentrierten Gedanken vorwärts trieb, bis er neben Anthelia/Naaneavargia in der Luft schwebte. "Bring zu ende, wofür wir herkamen, Julius. Sie kann diesen Wächter nicht zu ihren Zwecken unterwerfen. Das weiß sie auch", durchpulste Julius eine sehr eindringliche wie zuversichtlich betonende Gedankenbotschaft Temmies.

"Was hat dich außer der unzureichenden Rückendeckung durch die Mondlichtflammen abgehalten, noch einen von den Spitzhüten da freizubitten?" fragte Anthelia nun in bestem britischen Englisch, Julius' Muttersprache.

"Die erwähnten Hüte, Mademoiselle Anthelia", sagte Julius ganz unbeeindruckt, wen er da neben sich hatte.

"Wenn es weiter nichts ist", lachte Anthelia/Naaneavargia und schwang ihren merkwürdig silbergrauen Zauberstab nach links. "Mortua de viva separanto!" rief sie und schwang den Zauberstab aus dem Handgelenk nach rechts, daß seine bläulich flirrende Spitze durch die Luft pfiff. Dabei zog der Stab eine Spur aus blauen Funken, die sich selbst vermehrten und um die Hüte der Zauberer verdichteten, bis diese mit knirschenden Geräuschen von den versteinerten Statuen abbrachen. Julius fürchtete einen winzigen Augenblick, darunter die halb aufgerissenen Schädel der Gefangenen sehen zu müssen. Doch tatsächlich brachen nur die oberen Teile der Hüte ab und die Krempen bröckelten als feiner Staub nieder. Darunter konnte er unversehrte, wenn auch eben versteinerte Köpfe mit klar erkennbaren Schöpfen oder Glatzen erkennen. Die abgesprengten Hutspitzen landeten auf dem Boden, wo sie zu Staub zerfielen. Dann sagte die Hexe im scharlachroten Taucheranzug: "Jetzt kannst du sicher die noch mitgebrachten Diamanten auf ihren Köpfen zwischen ihren Haren ablegen, natürlich ohne sie dabei anzufassen." Um ihm zu zeigen, daß das ging zog sie nun ein Messer mit einer glitzernden Klinge aus einer Scheide am rechten Bein und löste den linken Handschuh. Dann begann sie im Schwebeflug, das Lied der großen Gnade der großen Mutter Erde zu singen. Sie hielt sich dabei genau an den Rhythmus und die Tonlage der Silben, wie Julius es gelernt hatte. Julius fühlte sofort, daß sie mehr Macht in ihre Worte legen konnte als er. Er blieb erst einmal zurück und sah ihr zu, wie sie das Blut aus ihrer Handwunde um den nächsten enthuteten Zauberer verteilte. Dann ließ sie Blutstropfen mit geschmeidigen Bewegungen über den zu Befreienden laufen. Ihre im engen Schlangenleib hohl widerhallende Stimme wurde nur vom ständigen Pong-pong-pong der vom schwarzen Spiegel zurückprallenden Schattenkugeln überlagert. Dann schnippte sie mit der rechten Hand einen daumengroßen Diamanten so, daß er genau auf dem hin und her schwankenden Oberkopf des Zauberers landete. Die versteinerte Haartracht hielt den Stein jedoch gut auf seinem Platz, während die Hexe die fünfte und entscheidende Strophe sang. Wie zuvor schon bei Julius erglühte der Blutkreis und das über den Körper verteilte Blut zu einem roten Netz, das zu einem vollkommenen Strahlenkranz verdichtet wurde. Der aufgelegte Diamant zerlief und rann am Körper des Bezauberten nieder. Dadurch fiel die Versteinerung von ihm ab. Der aus dem Bann der schlafenden Schlange befreite Zauberer sprang in die Luft. Dann erkannte er wohl, wo und wer er war. Als er dann die über ihm fliegende Hexe sah wollte er nach seinem Zauberstab greifen. Doch die Hexenlady im roten Taucheranzug hielt ihm ihren Zauberstab entgegen. Dann sagte sie was in einer sprache, die Julius nicht verstand. Wahrscheinlich war es Norwegisch. Jedenfalls verzichtete der befreite Zauberer für's erste auf einen Angriff. Er lief los und eilte unter Catherine hindurch, die mehr als zehn Meter über ihm kreiste und nach hinten sicherte. Julius blickte ihm nur einen Moment nach. Dann hörte er Anthelias neue Stimme, die im Vergleich zur ersten noch eine Idee tiefer und eindringlicher klang, unverkennbar weiblich, aber keineswegs mädchenhaft.

"Bei wem von meinen in der Halle der Altmeister verewigten Schaffensgeschwistern du das Lied gelernt hast, sing es mir bitte auch vor!" raunte sie. Julius dachte einen Moment, daß diese Frau da neben ihm eine geniale Blues- oder Soulsängerin abgeben konnte. Doch dann erkannte er, daß er sich nicht zu sehr auf ihre neue Stimme einhören sollte. Sie hatten hier noch was zu tun. So fing er nun bei seinem nächststehenden Kandidaten an, das alte Lied der großen Gnade zu singen. Anthelia ging nach ganz rechts und setzte dort ebenfalls zu singen an. Julius fürchtete schon, daß die beiden versetzt gesungenen Zauberlieder sich gegenseitig aufheben würden. Doch er mußte jetzt weitersingen, wollte er nicht haben, daß sich die von ihm aufgerufene Magie ungerichtet entlud. Tatsächlich schaffte er es, den unter ihm stehenden Zauberer aus dem Bann freizusprechen. Dann sah er zu Anthelia und erstarrte in Ehrfurcht. Anders konnte er dieses Gefühl nicht beschreiben. Denn die Vereinigung aus der Spinnenhexe Naaneavargia und der Wiederverkörperung von Sardonias Nichte hatte gleich drei Zauberer mit einem Blutkreis umschlossen und mit eigenem Blut benetzt. Diese strahlten gerade im roten Schein der freiwerdenden Magie auf und kamen auch alle drei frei. Julius vergaß bei diesem Anglick, daß die andere Hexe seine Gedanken erfassen mochte. Deshalb erschrak er ein wenig, als sie zu ihm sagte: "Das hat dein Lehrmeister oder deine Lehrmeisterin wohl nicht erwähnt, daß das Lied bis zu drei menschengroße Wesen aus einer der Erde verbundenen Erstarrung lösen kann, wie?" Julius konnte dazu nur nicken. "Kostet aber genauso viel Blut, als würdest du zwei auf einmal freisprechen." Die befreiten Zauberer wollten wie ihre Kollegen wohl gegen die Spinnenhexe vorgehen. Doch diese sprach sofort mit ihnen und hielt ihren Zauberstab bereit. Der von Julius befreite Zauberer versuchte nun seinerseits, den Zauberstab zu ziehen. Doch Anthelia sagte auch ihm was. Er versuchte, sie zu schocken. Doch der Schockblitz wurde direkt nach dem Verlassen des Zauberstabs nach unten in den Boden abgelenkt. Julius wunderte sich jetzt doch, ebenso der befreite Zauberer. Anthelia/Naaneavargia zischte ihm noch was zu. Dann verließ der befreite die Höhle durch die Zahnreihen.

"Wie konnten Sie den Spiegelzauber machen und der konnte keinen Schocker auf Sie schleudern?" wunderte sich Julius, der gerade einen interessanten Widerspruch entdeckt zu haben glaubte.

"Weil der Spiegel aus der Dunkelheit des Erdinneren gespeist wird, während der Schocker den Elementarkräften Feuer und Luft entspringt. Haben Sie euch das in Beauxbatons nicht beigebracht?" Julius verzog das Gesicht über diese herablassende Frage. Andererseits fiel ihm im Moment auch keine passende Erwiderung ein. Deshalb ging er gleich daran, drei weitere Zauberer zu befreien. Da er genug Blutauffrischungstrank mitgenommen hatte, fügte er sich diesmal eine größere Armwunde zu und verteilte seinen kostbaren Lebenssaft gut genug um und über die drei am nächsten zusammenstehenden, daß er ebenfalls eine dreifache Befreiung einleiten konnte. Tatsächlich gelang es ihm auch, drei weitere Zauberer aus dem Bann des großen Wächters Skyllians zu lösen. Diese liefen sofort nach draußen. Catherine überwachte den Rückzug der Zauberer. Das Beben und Schwanken verlangsamte sich. Das war ein klares Zeichen, daß die Kraft des beinahe erwachten Ungeheuers nachließ. Wieder befreiten Anthelia und Julius in Gemeinschaftsarbeit je drei Zauberer. Dann waren auf ihrer Seite des Spiegels keine mehr zu sehen.

"Kann man da durchfliegen, oder ist man dann tot?" fragte Julius provokant.

"Wenn man von den dahinter noch immer herumschwärmenden Schattenkugeln getroffen wird todsicher", konterte Antehlia und deutete mit ihrem mittlerweile gut mit Blut verkrusteten Diamantmesser auf die immer noch gegen die schwarze Wand anfliegenden Sphären. Julius konnte nun sehen, daß neue Sphären von weiter hinten aus dem gewundenen Leib kamen. Also bestand wohl keine Gefahr, daß sie diese schwarzen Kugeln von hinten abbekommen konnten. Anthelia richtete ihren Zauberstab auf die schwarze Wand und sang einige leise Verse einer Sprache, die Julius nicht erkannte. Es war zumindest kein Altaxarroi. Die schwarze Wand wölbte sich in Richtung Tunnelende. Zwanzig Meter weit bog sich die Wölbung. Dann schnarrte der äußere Bereich der Wand nach, als habe wer ein aufgespanntes Gummituch losgelassen. Nun hatten sie wieder zwanzig versteinerte Zauberer vor sich. Anthelia besorgte die Abtrennung der Hüte von ihren Trägern. Dann setzten sie das Lied der großen Gnade fort. Catherine blieb hinter ihnen. Jede Befreiung von Zauberern wurde nun mit einem kurzen Erdstoß beantwortet, der sicher mehr als vier Einheiten auf der Richterskala erreichte. Catherine wies darauf hin, daß die Schattenspähren auch aus den Seitenwänden kommen könnten.

"Sie können nur dort freigesetzt werden, wo die Körper festgehalten werden, deren Seelen sie als Energiequelle nutzen", sagte Anthelia im Stil einer Lehrerin. "Ich bewundere Ihren Mut, sich diesem Gegner mit so wenig Wissen über ihn entgegengestellt zu haben." Catherine schnaubte kurz, sagte aber nichts. Julius empfand Anthelias Antwort auch als versteckte Überheblichkeit. Doch leider konnte er ihr auch nicht widersprechen. Kantoran hatte ihm die Biester nur gezeigt. Agolar hatte ihm nur die Zauber erklärt, um sie sicher unschädlich machen zu können. Wie und wodurch diese Biester genau entstanden waren und wie ihre Organe arbeiteten hatte ihm keiner gesagt. Zumindest nahm er Anthelias Zuversicht zum Anlaß, ihr bei der Befreiung der weiteren Zauberer zu helfen. Julius merkte dabei, daß die ständige Abgabe von Blut ihn doch etwas schwindelig machte. Wenn er jetzt die Balance verlor und gegen eine Wand oder eine der noch stehenden Statuen stieß war er verloren. Sicher wirkte die Lebewesen bannende Kraft noch in diesem Körper.

"Wenn Sie zwei Liter Blut verloren haben fallen Sie tot runter", stellte Julius fest, als Anthelia ohne weiteres drei weitere Zauberer aus ihrem Bann löste, wobei sie ein wenig mehr Blut niedertropfen ließ.

"Das sieht schlimmer aus als es ist, Julius", sagte Anthelia. Dann hatten sie die vor ihnen wartenden Zauberer aus dem Bann gelöst. Wieder ließ Anthelia ihren schwarzen Spiegel nach weiter hinten wandern. Doch der Beschuß mit Schattenkugeln war nun nicht mehr so heftig. Das mochte daran liegen, daß der inneren Abwehr des magischen Körpers die Energie ausging: Gefangene Seelen.

Als sie jenen Zauberer vor sich hatten, dessen einer Arm fast abgerissen war, sagte Anthelia: "Oh, dieser wird bei seiner Befreiung große Schmerzen empfinden. Magische Betäubung wird nicht bei ihm anschlagen. Doch ich habe in weiser Voraussicht etwas von Morgauses Schlaftrank mitgebracht. Der sollte auch in dieser Umgebung helfen. Julius, du singst ihm die Freiheit zurück. Sobald er sich und seinen Körper wieder frei empfinden kann werde ich ihm den Trank einflößen. Bitte fang an!" Sie hatte tatsächlich "bitte" gesagt, erkannten Catherine und Julius. Dann führte der junge Zauberer und Träber des Siegels Darxandrias den Vorschlag Anthelias aus. Kaum hatte die Magie des Liedes den schwerverletzten Zauberer aus der Erstarrung gelöst, schrie dieser auch schon los. Julius und Anthelia ergriffen ihn gleichzeitig und zogen ihn hoch. Keine Sekunde später drückte Anthelia dem Mann ein getränktes Tuch ins Gesicht. Julius hätte jetzt an Chloroform gedacht. Doch der Geruch, der von dem Tuch ausging paßte nicht zu diesem Betäubungsmittel. Tatsächlich ließen die Schmerzensschreie des am Arm blutenden nach. Anthelia und Julius banden den Arm mit einem Stück aus dem Umhang ab. Julius hoffte, daß der norwegische Zauberer nicht durch einen Verstümmelungszauber verletzt worden war. Dann bestand noch die Chance, den Arm zu heilen. Falls nicht, war eine Amputation zu befürchten.

Catherine half mit, den verletzten und betäubten Zauberer nach draußen vor die Höhle zu fliegen. Julius mußte mehrmals blinzeln, weil das Sonnenlicht in seine Augen stach. Anthelia hielt ihn jedoch an, keine Müdigkeit vorzuschützen. Sie kehrten in die erstarrte Leibeshöhle der Schlange zurück. Anthelia rückte den Spiegel weiter nach hinten. Doch im Moment erfolgte kein weiterer Beschuß mit Schattenkugeln. Dann befreiten sie eine Reihe Soldaten der norwegischen Streitkräfte, die überhaupt nicht begriffen, was mit ihnen passiert war. Anthelia schickte sie nach draußen. Einer der Soldaten riß seine Maschinenpistole hoch und wollte schießen. Doch die Waffe löste nicht aus. Im Inneren des Schlangenleibes und in dessen Umgebung war kein unmagisches Feuer möglich. So blieb den Soldaten nur die Flucht aus dem unheimlichen Gefängnis.

"Was kann das Biest noch aufbieten, wenn es alle Opfer verloren hat?" wollte Julius wissen.

"Das kann es noch aufbieten, Julius", grummelte Anthelia und deutete auf den hinteren Bereich des Tunnels. Julius erkannte mit schrecken, wie eng dieser war. Offenbar hatten sich die Muskeln des Ungeheuers in einer Art Krampf zusammengezogen und machten den Raum nun gerade nur noch zwei Meter im Durchmesser. Wenn sie dort gegen etwas stießen wurde der Kontakt hergestellt, und auch wenn die Schlange wieder sehr träge sein mochte konnte das ausreichen, sie beide in jenen Bann zu schlagen, aus dem sie die anderen gerade herausgelöst hatten. Julius sah, daß Professor Stuard und sein Kollege fast mit den Köpfen an die Decke stießen und mit den Füßen förmlich im Boden verschwunden waren. Doch vor ihnen standen noch zehn weitere Soldaten.

"Können wir sie da rausholen?" fragte Julius Anthelia. Ihm war nicht so wohl bei dem Gedanken, ausgerechnet sie fragen zu müssen.

"Einer von ihnen ist der Vater einer Grundschulkameradin, nicht wahr?" erwiderte Anthelia. Julius führte es auf seine vernachlässigte Geistesverhüllung zurück, daß sie das erkannt hatte. Was sollte es auch? Er war ja schließlich nicht immer in Hogwarts oder Beauxbatons zur Schule gegangen.

"Es kann sein, daß wir sie dort lassen müssen, bevor wir versuchen können, die Höhle und den Gletscher unbetretbar zu machen", sagte Anthelia/Naaneavargia mit einer von Julius nicht erwarteten Anteilnahme in der Stimme. Julius hatte jedoch mit der Antwort gerechnet. Er würde wohl damit leben müssen, daß Professor Stuard von seiner letzten Auslandsreise nicht zurückkehrte. Moira würde wohl von einer Seite her eine Nachricht bekommen, daß ihr Vater auf der Insel verunglückt sei, womöglich wegen einer zusammenbrechenden Höhle oder dem Sturz in eine Gletscherspalte. Irgendwas in dieser Richtung würden sie sich ausdenken. Dann würde auch Moira ohne Vater weiterleben müssen und niemals erfahren, warum genau. Doch es galt, der schlafenden Schlange noch so viele Opfer wie möglich zu entreißen. Das Drachenmaulspiel war erst zu Ende, wenn alle darin liegenden Gegenstände herausgefischt waren oder es einen Feuerstrahl ausspuckte. So ging er mit Trotz und wilder Entschlossenheit daran, die nächsten Gefangenen zu befreien.

__________

Die befreiten trafen sich vor der Höhle. Catherine hatte schweren Herzens zugelassen, daß Julius und die ihr absolut nicht geheuere Hexenlady weitere Menschen aus dem magischen Bann befreiten. Einige der Zauberer, die aus der Gefangenschaft befreit worden waren erkannten Catherine und ließen sich von ihr erzählen, was los war. Die Soldaten versuchten derweil, über die mit ihnen festgesetzten Funkgeräte nach Ihren Kameraden zu rufen. Doch außer lautem krachen und Pfeifen kam nichts über die Lautsprecher. Noch wirkte die alle elektrische Prozesse überlagernde Aura der Schlange. Wieweit sie noch reichte wußte keiner. Auf jeden Fall kamen die Zauberer unter den Befreiten darüber ein, die Muggel besser zu betäuben. So lagen keine zwei Minuten nach ihrer Befreiung alle Soldaten der norwegischen Streitkräfte am Boden. Zumindest vor der Höhle gingen die Schockzauber wieder. Das konnte aber auch daran liegen, daß die Magie des mächtigen Liedes sie noch vor der Zauberkraft der Schlange bewahrte, aber dann eben nicht mehr gegen andere Zauber schützte.

Temmie stand unsichtbar etwa zweihundert Meter entfernt. Dennoch wehte ihr Geruch herüber. Einer der Zauberer wollte wissen, ob seine Nase ihm einen Streich spiele. Catherine fragte ihn wieso. Er sagte: "Ich habe den Gestank von Kuhstall in der Nase. Bin früher immer bei meinen Verwandten auf dem Bauernhof gewesen. Bekam den Gestank lange nicht aus den Sachen und Haaren raus."

"Dann kann er wohl immer noch an ihren Haaren haften", konterte Catherine schnippisch. Temmie flog derweil unhörbar weitere hundert Meter zurück.

"Sie wird ihm nichts tun, Catherine. Sie wird auch dir und deiner Familie nichts tun. Sie ist selbst erschrocken, weil dieses Ungeheuer aufgetaucht ist", gedankensprach Temmie zu Catherine.

"Ich kann sie nicht einschätzen. In ihr steckt mindestens eine, deren Skrupellosigkeit und Grausamkeit nur von ihrer Tante übertroffen wurde. Die andere kenne ich nur als zur tierhaften Daseinsform verdammte. Was beide nun übrigbehalten haben weiß ich nicht", schickte Catherine zu Temmie zurück.

"Vielleicht weiß sie selbst es ebensowenig. Ich fühle zwar noch Dunkelheit in ihrem Sein. Doch sie ist sehr klug und wird sich nicht zu Dingen hinreißen lassen, die ihr keinen Vorteil bringen."

"Das fürchte ich auch", erwiderte Catherine für alle anderen außer Temmie unhörbar.

__________

Der letzte Soldat war schwierig zu befreien. Anthelia/Naaneavargia übernahm es, weil sie nicht so groß und breit gebaut war wie Julius. Sie zog ihre langen schlanken Beine an und wurde so eher zu einer kompakten Figur. Julius mußte einen Moment an ein Ungeborenes denken, wie die Hexenlady ihre Knie bis zu ihren üppigen Brüsten ziehen konnte. Wenn sie es jetzt auch noch hinbekam, sich eine Zehe in den Mund zu stecken war sie so gelenkig wie die kleine Aurore, die das immer wieder gerne vorführte, wenn sie keinen Schnuller hatte und gerade erst gewickelt wurde.

"Die beiden dort können wir beide nicht freisprechen, da wir nicht um sie herum das Blut vergießen können, um sie mit der Erde zu verbinden, Julius. Ich denke, wir müssen sie hierlassen", sagte Anthelia. Julius wollte schon zu einer Bestätigung ansetzen, als ihm was einfiel. "Moment, als Madame Brickston und ich zum ersten Mal in diesem Monster herumgestochert haben kamen uns diese Schattenkugeln schon quer. Da haben Madame Brickston und ich sie mit einem Abwehrzauber niedergehalten, mit dem Angreifer zurückgeschlagen werden. Das was da jetzt in Ihnen drinsteckt kennt den Zauber sogar schon von mir."

"Es heißt die, und ich bin auch sie, Julius", erwiderte Anthelia/Naaneavargia merkwürdigerweise amüsiert. "Im Moment bin ich wohl auch eher Naaneavargia, weil ich ihr Wissen anwenden muß, daß Anthelia nicht hatte. Aber wir sind die eine. Was Naaneavargia konnte und wußte weiß ich genauso wie das, was Anthelia konnte und wußte."

"Gut, jedenfalls kamen die beiden und ein paar andere frei, weil die Schattenkugeln durch den Abwehrzauber auf den Boden schlugen und zerschellten. Zumindest sah das so aus", sagte Julius. Anthelia/Naaneavargia verstand. Sie lächelte. Dann hob sie mit zwei kurzen Worten den schwarzen Spiegel, den sie hinter Professor Stuard und Harald Gunnarson aufgebaut hatte wieder auf. Doch es kamen keine Schattensphären angeflogen. War der Schlaf des großen Wächters nun wieder zu tief, um die Eindringlinge zu bekämpfen oder einzufangen?

"Seine geistigen Regungen sind wohl jetzt auf einer Zeitebene, in der eine Stunde für uns einer Sekunde für ihn entspricht. Trotzdem wird er sich wehren, wenn ich ihm zusetze. Julius, halte du dich bitte bereit, jenen Lichtfolgerzauber aufzurufen, mit dem du mich damals daran gehindert hast, dich zu vernaschen." Julius fühlte einen eiskalten Schauer den Rücken hinunterlaufen, als er Anthelia/Naaneavargia das sagen hörte. Sie hatte es wirklich nicht vergessen.

"Ich habe nur gegen eine übergroße Spinne gekämpft. Ich konnte ja nicht wissen, daß Sie vom Boss der bösen Zauberer zu einem besonderen Getränk eingeladen worden sind", sagte er dann lässig klingend. Anthelia lachte lauthals.

"Das Getränk war bei weitem nicht so einmalig wie das Abendmahl", lachte sie. "Aber sei es. Bevor wir noch von diesem überdehnten Regenwurm einverleibt werden wollen wir ihm die letzten beiden Opfer entreißen."

"Die beiden bleiben hier, und die anderen und ihr werdet dem Meister seine Kraft zurückgeben!" dröhnte eine tiefe Männerstimme vom Rachenraum der Riesenschlange her.

__________

Wo war er hier? Das letzte, woran er sich erinnern konnte war die Flucht mit einem zur Segelbootgröße vergrößertem Papierboot, das er aus der Ausgabe des Nordlichtkuriers gemacht und mit Wasserschutzzaubern imprägniert hatte. Dann war er mit dem Boot und einem mittelstarken Propulsus-Zauber von einem schmalen Fjord aus in Richtung offene See gefahren. Irgendwie hatte ihn das Schaukeln und schwanken des konstruierten Rettungsbootes eingelullt. Es konnte auch daran liegen, daß die Wirkung des Wachhaltetrankes aufgehört hatte und alle von ihm verliehene Ausdauer schlagartig verflogen war. Jetzt fand er sich in einem schmalen Bett. Doch der Raum schwankte immer noch. Er öffnete die Augen und erkannte, daß er in einer Kabine lag. zwei flammenlose Lampen warfen warmes, weißgelbes Licht auf die Einrichtung, die ihm zunächst wie eine Folterkammer vorkam von wegen der Gerätschaften und Gefäße. Ein Mann im weißer Kleidung hielt ihm gerade etwas rundes gegen den Brustkorb, das an einer Konstruktion befestigt war, die in zwei Enden auslief, die dem Mann in den Ohren steckten. als der andere merkte, daß er wach war zog er das Ding weg.

Lasse Sigurson wollte sich aufsetzen. Doch es gelang nicht. Erst jetzt stellte er fest, daß er an Brustkorb und Beinen an das Bett gebunden war. Er warf seinen Kopf nach vorne. Diese Muggel. Das konnte nur ein Raum auf einem Muggelschiff sein. Die hatten ihn überwältigt, ihn, einen Zauberer? Er starrte den Mann in Weiß an, der berufsmäßig lächelte. "Sprechen Sie Norwegisch?" fragte der Sigurson. Dieser knurrte und erwiderte, daß er die Sprache spreche und wollte wissen, wo er war. "Sie befinden sich gerade im Krankenrevier der königlichen Korvette "Stavanga". Unser SAR-Hubschrauber hat sie auf dem Meer ausgemacht und abgeborgen. Ich bin Dr. Lund, der Bordarzt."

"Sie haben mich gefesselt?" fragte Sigurson argwöhnisch.

"Nur gesichert, da wir vor vier Stunden durch einen Sturmausläufer gefahren sind, der nördlich von Nordostland vorbeizog. Aber Sie haben tief und fest geschlafen, als würde Ihnen dieses Wetter nichts ausmachen. Ihre Kleidung und anderen Habseligkeiten wurden sicher verwahrt. Aber dazu möchte unser Kapitän noch näheres wissen. Ich bin zumindest froh, daß Ihnen außer einer starken Erschöpfung nichts passiert ist."

"Besteht jetzt noch Veranlassung, mich an diesem schmalen harten Bett festgebunden zu halten?" fragte Sigurson, der sehr um eine ruhige Ausdrucksweise kämpfte.

"Nun, in der Gegend sind gerade im ausklingenden Sommer weitere Stürme zu erwarten. Und bevor ich nicht noch abschließende Untersuchungen vorgenommen habe wäre es besser ..."

"Bin ich Geretteter oder Gefangener. Ich bin norwegischer Staatsbürger. Wenn dies ein norwegisches Kriegsschiff ist, habe ich die Rechte, die ein norwegischer Staatsbürger besitzt. Also, Bin ich geretteter oder Gefangener?"

"Das entscheidet sich, wenn wir Ihre Aussagen haben, werter Herr", sprach eine andere, befehlsgewohnte Stimme. Sigurson erkannte nun einen Mann in Uniform. Er kannte ungefähr die Bekleidung von Angehörigen der bewaffneten Streitkräfte. "Kapitän Larsen. Und mit wem haben wir die Ehre?"

"Lasse Guntram Sigurson", erwiderte Sigurson ganz offen, nannte aber keinen Beruf.

"Wir haben Sie vor sechs Stunden aus dem Meer gezogen beziehungsweise von einem merkwürdigen Rettungsboot heruntergeholt. Es war schon merkwürdig, daß wir es nicht auf unserem Radar orten konnten, sondern nur durch Zufall gesichtet haben. Darüber hinaus waren in diesem Boot, das wie ein Papierschiffchen aus dem Werkunterricht für Grundschüler aussah, nur Sie, eine Tasche mit merkwürdigen Elixieren und ein Holzstab mit einer eingezogenen Tierfaser, womöglich einer Sehne, enthalten. Jetzt würde ich gerne die Erklärung über das alles haben."

"Haben Sie die Sachen noch?" fragte Sigurson zurück, der sich immer mehr ärgerte, daß er nicht vor Abklingen des Wachhaltetrankes mit seiner Konstruktion weggefahren war.

"Im Moment ja, solange wir nicht mit Ihnen gesprochen haben. Also, wer sind Sie und was haben Sie in diesem Boot gemacht?"

"Nicht ohne meinen Anwalt", erwiderte Sigurson. "Ich bin Zivilist. Wenn ich verhört werden soll dann nur von einem Polizeibeamten auf dem Festland. Wenn Sie mich verhören wie einen Verdächtigen, dann ist das unrechtmäßig. Außerdem falle ich unter die internationalen Seerechtsbestimmungen für Schiffbrüchige."

"Schiffbrüchig? Dann wüßte ich gerne für mein Logbuch, von welchem Schiff Sie denn heruntermußten und welchen Bestimmungshafen es hatte."

Sigurson sprach schnell den Namen einer Yacht aus, die das Svalbart-Archipel befahren hatte. Die Geschichte hatten sie sich während des so turbulent endenden Fluges ausgedacht, falls sie auf der Insel auf Muggelsoldaten treffen sollten. Tatsächlich kam die Geschichte bei dem Kapitän an. Er nickte und fragte dann nach den Utensilien, die Sigurson bei sich gehabt hatte. "Ich war der Bordunterhalter, Spezialität Trickzauberei und Illusionskunst für die Kinder der beiden Familien an Bord. Das Boot ist eine Sonderanfertigung gewesen. Es fährt nicht mit üblicher Motorkraft oder segeln, sondern kann so wie ein Krake Wasser einsaugen und wieder ausblasen. Dadurch erscheint es wie von Zauberkraft angetrieben. Ich war gerade allein damit unterwegs, als an Bord der Yacht ein Gastank explodierte. Das Schiff ging unter. Ich wollte noch wen bergen. Doch ich kam nicht mehr rechtzeitig hin." Der Kapitän hörte und notierte, was Sigurson sagte. Dann nickte er.

"Ich überlasse Sie Dr. Lund für die abschließenden Untersuchungen. Wenn ich wiederkomme weiß ich, was ich mit Ihnen anfangen kann." Der letzte Satz wirkte auf Sigurson wie eine Drohung. Doch es ließ ihn kalt. Die Geschichte mit der verunglückten yacht war von seinen Leuten in Oslo und Longyearbyen wortwörtlich wasserdicht abgesichert worden. Nur das mit dem Boot hatte Sigurson frei erfinden müssen. Er hoffte nur, daß seine Leute in Oslo und Longyearbyen auf dem Posten waren und seine Geschichte nachprüfbar hinbiegen konnten. Zumindest erreichte er, daß der Kapitän den Behandlungsraum wieder verließ, um die Sache nachzuprüfen. Der Arzt führte noch weitere Untersuchungen durch. Als er Sigurson anbot, noch eine Beruhigungsspritze zu verabreichen, weigerte sich dieser. Dann kam der Kapitän zurück und hieltLund ein dünnes Papierstück unter die Nase. Der Arzt las es und nickte.

"Wir haben Befehl, sie zum Festland zu bringen. Die Polizei möchte dort mit Ihnen sprechen, weil unklar ist, wie genau es auf der Yacht zu dieser Explosion kam", sagte Lund. "Allerdings stehen Sie nicht unter dem Verdacht, die Explosion ausgelöst zu haben." Sigurson nickte. So wurden ihm die Sicherheitsgurte abgemacht und er konnte sich etwas bewegen. Seine Sachen bekam er jedoch noch nicht zurück, weil das nun Angelegenheit der Polizei war.

Sichtlich erleichtert stellte Sigurson beim Anlaufen des Marinestützpunktes fest, daß sämtliche Polizisten seine eigenen Leute waren. Sie quittierten die Übernahme des angeblichen Schiffbrüchigen und fuhren mit ihrem Zaubereiminister und dessen Habseligkeiten davon. Sigurson dachte, die Angelegenheit zumindest was die Flucht von der Insel anging erledigt zu haben. Doch dann erhielt er eine wahre Schreckensmeldung:

"Ibsens Familie ist komplett ausgelöscht worden. Seine Frau, seine Eltern, seine Schwiegereltern, seine Schwester und seine beiden Söhne sind als tiefgefrorene Leichen gefunden worden. Sie waren so tief gefroren, daß ein heißer Wassertropfen innerhalb einer Sekunde zu Eis gefror. Das weißt auf einen dunklen Geist hin, Umbra mala mobilis, auch echter Nachtschatten genannt", sagte ein Experte für magische Katastrophenumkehr.

"Das kann nicht sein, ich habe den doch im Sonnenlicht ..." schnarrte Sigurson. Denn er ahnte, wer da derartig grausam zugeschlagen hatte.

"Es kommt noch schlimmer, Herr Minister. Wir haben eine in eine vereiste Tischplatte eingeritzte Botschaft in Ibsens Schreibstube gefunden", sagte der Experte für magische Unfälle. Er holte eine Notiz aus seinem Umhang und überreichte sie Sigurson. Dieser las:

Heute Nacht habe ich meine Lieben geholt. Morgen nacht hole ich deine Lieben, Lasse Sigurson, du Mörder. Sollte der große Wächter dich nicht bekommen, dann bekomme ich dich und gebe dich ihm gerne ab. Wenn du deine armselige Sippe schützen willst, dann komme morgen um Mitternacht an den Stein der Schwarzelfen, um dein Leben für das deiner Anverwandten herzugeben. Sonst wird die Stunde um Mitternacht das Ende deiner Sippschaft sein.

I.

"Ich brauche alle, die jemals einen vollgestaltlichen Patronus hinbekamen und sich mit Sonnenlichtmagie auskennen", schnarrte der Zaubereiminister. Er dachte an Nocturnia. Viele Spürsteine der Nordländer waren unvermittelt zerschmolzen, als irgendeine starke Welle über den Polarkreis hinweggefegt war. Einige hatten vermutet, daß jemand einen großen Schlag gegen Nocturnia führte. Seitdem wurde von diesem Land nichts mehr gehört. Und jetzt ein Nachtschatten, der die dunklen Stunden ausgenutzt hatte, seine ganze Familie auszurotten und womöglich deren Seelen in sich aufgenommen hatte, um stärker zu werden.

"Ich hoffe, wir können diesem wildgewordenen Spuk noch Einhalt gebieten, bevor er sich mit über zehn Seelen zum mittleren Nachtschatten mästet und damit einige eigene Magie aufbieten kann", sprach Sigursons Mitarbeiter eine vage Wunschvorstellung aus. Der Minister konnte dazu nur nicken.

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Julius hatte nicht damit gerechnet, etwas wie das da hier und jetzt sehen zu müssen. Neben der unvermittelt auf ihn einströmenden Eiseskälte, die ihn sehr heftig an Dementoren erinnerte, wirkte sich die zehn Meter große, undurchdringlich schwarze Erscheinung im Licht der entzündeten Zauberstäbe richtig dämonisch aus. Blau glühende Augen funkelten von oben herab. Wenn Julius nicht von Professeur Delamontagne auf diese Art Geisterwesen vorbereitet worden wäre, hätte er sicher jetzt schon panische Angst empfunden. Das über den Boden gleitende Etwas, dessen Füße bei jedem Schritt die Form veränderten, stakste auf die beiden frei fliegenden Eindringlinge zu. "Los, landen und euch dem großen Wächter, meinem neuen Meister hingeben!" dröhnte die Stimme des gewaltigen Schattenwesens. Die eisige Kälte nahm zu. Sie schien direkt aus der Tiefe des Weltraums zu stammen.

"So, weil du dich an wehrlosen Seelen zu einer Monstrosität ohne Herz und Hirn gemästet hast wie die Fliege am Kufladen meinst du, uns imponieren zu können", erwiderte Anthelia/Naaneavargia bewußt herausfordernd.

"Wer bist du? Deine Lebensstrahlung macht mir Hunger und Unbehagen zugleich", donnerte die Stimme des gewaltigen Schattenwesens.

"Goorammaya Naaneavargia, die Großmeisterin der Erde und ihrer Geschöpfe", rief die Hexenlady im scharlachroten Schutzanzug zurück und hob ihren Zauberstab. Julius griff derweil in eine Umhangtasche und fühlte die wie ein Igel aus Metall wirkende Kugel mit abgerundeten Stacheln. Er zog sie hervor. Das Schattenungeheuer schritt weiter auf die beiden zu. "Los, landen und euch dem großen Wächter hingeben!" befahl der Riesenschatten.

"Wir haben uns heftig angestrengt, um all die Leute zu wecken, die die große Ringelnatter im Bauch hatte und sollen jetzt so tun, als wenn wir das für nichts und wieder nichts getan hätten?" fragte Julius. "Wie immer du mit der Schlange in Beziehung stehst, du kannst uns nicht drohen. Sieh mal her! Laß die Sonne raus!" rief Julius. Der letzte Satz war der Aktivierungssatz für die der Metallkugel innewohnenden Kräfte, gespeichertes Sonnenlicht wiederzugeben. Er schleuderte die Kugel genau auf den gewaltigen Schatten zu. Die Kugel sollte an und für sich jetzt aufleuchten und an die Decke steigen, um einen Kreis von zweihundert Armlängen Durchmesser mit hellem Licht zu erfüllen. Doch die Kugel segelte unter dem nun weiter nach oben steigenden Schatten durch und klirrte metallisch auf dem Boden. Kein Funken Licht entrang sich ihr. Der Schatten lachte schadenfroh. "Wolltest du mir diese kleine Stachelkugel an den Kopf werfen, Knabe? Das klappt hier nicht. Denn wo der große Wächter liegt kann kein gespeichertes oder offenes Feuer wirken. Außerdem kann das Ding nicht schweben, weil nur die Macht der Erde wirkt."

"Wir schweben auch, falls du das nicht gemerkt hast, du Nachtgespenst", erwiderte Anthelia. Julius peilte inzwischen nach hinten. Da konnte er sehen, wie langsam aber unverkennbar zwei große Kugeln aus dem Boden stiegen. Wenn er nicht hingesehen hätte, wären die wohl ohne Vorwarnung losgeflogen. Der gewaltige Nachtschatten erkannte auch, daß Julius den hinterhältigen Angriff bemerkt hatte. Sofort veränderte er seine Form. Er zerfloß zu einer gewaltigen, wabernden Wolke, die fast bis unter die Decke aufstieg und auf die beiden zukam. Die Hexenlady und Julius sahen, daß die Wolke sich in die Länge und Breite zog und nun wie ein pechschwarzes Tuch über ihnen herunterglitt. Die Taktik des Schattenwesens war einfach und doch erfolgversprechend. Es wollte die beiden Wesen aus Fleisch und Blut entweder auf den Boden drücken, wo sie von der fast wieder schlafenden Schlange einverleibt werden sollten oder wollte die beiden in sich selbst einschließen und ihnen Wärme und Leben entreißen, um ihre Seelen in sich aufzunehmen. Julius fühlte sich wie ein Stückchen Eisen zwischen Hammer und Amboss. Anthelia verzog das Gesicht. Sie wußte, daß sie wohl nicht von hier disapparieren konnte. Sie spie Wörter aus, die draußen wohl hochgefährliche Zaubersprüche sein mochten, hier aber nichts brachten. Gleichzeitig rückten träge aber doch unaufhaltsam die beiden Schattenkugeln an. Wurden die beiden davon erwischt, hatte der letzte der großen fünf doch noch gesiegt. Denn dann hätte er mit einem Schlag die beiden einzigen jetztzeitigen Menschen erledigt, die ihm gefährlich werden konnten. Julius verzichtete auf das Vielzeug. Er mentiloquierte Temmie an, während er auf den Ausgang zuhielt. Doch dort sank gerade ein schwarzer Vorhang nieder und versperrte ihm den Fluchtweg. Anthelia baute erneut einen schwarzen Spiegel auf, um die beiden Schattenkugeln zurückzudrängen. Der gewaltige Nachtschatten geriet mit einem Ausläufer seiner dunklen Substanz gegen den Spiegel und stieß einen gequälten Aufschrei aus, weil etwas von ihm in einem wilden Wirbel die vordere Zone der Wolke zusammenballte. Die beiden Schattenkugeln prallten mit lautem Pong gegen die schwarzmagische Spiegelwand und krachten in den verengten Hinterleib des Wächters.

"Ihr kommt hier nicht mehr heraus. Der große Wächter soll erweckt werden, so oder so!!" donnerte die Stimme des Nachtschattens triumphierend.

"Feuerzauber und Flammen der Sonne gehen nicht, Julius. Aber reines Licht geht wie das der Zauberstäbe, auch wenn es dem Element Feuer verbunden ist. Aber das Licht der reinen Liebe geht", jagte Temmies Gedankenstimme durch Julius' Geist. Er fühlte, wie der Herzanhänger sich erwärmte und stärker pulsierte. Seine Frau schickte ihm Zuversicht und Kraft zu. Der Nachtschatten sank als gewaltige Decke des Todes tiefer und tiefer, wie ein zwanzigfach vergrößerter Lethifold, dachte Julius. Dann erkannte er, was Temmie von ihm erwartete. "Millie, lass Camille die Formel rufen und den Stern bei dir auf die Brust legen!" gedankenrief Julius nach seiner Frau. Er hörte es nachhallen. Also hatte er sie erreicht.

"Was willst du noch, kleiner schwacher Bengel? Was will die da noch, die meint, mich verhöhnen zu können. Gleich gehört ihr mir oder dem großen Wächter", dröhnte die triumphierende Stimme des Nachtschattens. Da rief Julius die mächtige Formel Ashtarias, mit der ihr Schmuckstück zur vollen Entfaltung angeregt wurde und die auch so schon eine Menge gutartiger Zauber um ein mehrfaches steigern konnte.

"Alaishadui Siri,
Alaishaduan a sogaharan Iri.
U Alaishaduim Godiri,
san Arwoxaran Laishandan Miri!"

Anthelia schrie, als diese Worte erklangen. Julius fühlte unvermittelt starke Hitze durch seinen Körper, aber vor allem große Zuversicht. Dann glühte es um ihn golden auf, wurde weiß und blähte sich auf. Julius fühlte, daß er gerade im Inneren einer mehr als vier Meter großen Sphäre schwebte. Er dachte konzentriert: "Durch den Schatten durch!" Sein Körper beschleunigte. Der über ihm lauernde Nachtschatten brüllte los, als habe jemand ihm einen glühenden Haken in das nicht mehr vorhandene Fleisch gerammt. Julius berührte den Nachtschatten und tauchte darin ein. Das geisterhafte Ungeheuer brüllte auf. Dann brach der Schrei ab. Das gleißende Licht wuchs zu einem goldenen Schein, der einige Sekunden lang den ganzen Schlangenleib ausfüllte. Wie an unsichtbaren Seilen aufgehängt trieb Anthelias Körper genau in der Längsachse des Schlangenkörpers. Sie dümpelte wie ein Boot auf ruhiger See. Dann erlosch das Licht. Julius sah sich um. Der gefährliche Nachtschatten war verschwunden. Hatte Julius ihn vernichtet oder nur vertrieben? Eigentlich war die Formel Ashtarias nur zum Schutz ihres Anwenders, sofern er bisher keinen Menschen getötet hatte. Doch vielleicht tilgte das magische Licht bösartige Schattenzauber. Als Julius nach einer weiteren Minute keinen Hinweis auf den Nachtschatten oder die im Leib des großen Wächters herumfliegenden Schattensphären entdeckte, erlosch das Licht wieder. Er mußte seinen Zauberstab entzünden, um wieder sehen zu können. Der Lichtstrahl fiel auf die Sonnenkugel, die Julius gegen den Schattendämon benutzen wollte. Er wollte sie erst aufheben. Doch gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, daß er damit Kontakt mit dem Schlangenungeheuer bekommen würde. So ließ er die Kugel besser wo sie war. Leises stöhnen lenkte seine Aufmerksamkeit auf Anthelia/Naaneavargia. Diese erwachte wohl gerade aus einer halben Ohnmacht. Warum sie überhaupt den Flugzauber so stark aufrechterhalten konnte wußte er nicht. Mochte es sein, daß Ashtarias Schutzbann ihren Körper vor der Berührung mit den Innenwänden des Schlangenleibes bewahrt hatte? Julius wußte es nicht.

__________

Catherine flog in die Höhle hinein. "Ich habe denen draußen allen Schlaftrunk als heißen Tee angedreht, Julius. Habt ihr jetzt alle befreit, oder was war das mit diesem hellen Lichtschein? Ich habe dich Ashtarias Formel rufen hören."

"So ein mittelgroßer Nachtschatten, Catherine. Der hat gemeint, entweder unsere Körper diesem Schlangenmonster zu geben oder unsere Seelen einzuheimsen. Aber Stuard und sein Kollege sind noch versteinert."

"Wie kriegen wir die frei?" wollte Catherine wissen. Julius verriet es ihr.

In der nun wieder fast erstarrten Schlange fanden sie Anthelia, die fast unter der Decke hing. Sie wirkte bleicher als sonst und keuchte.

"Dein Heilsruf ist schon sehr ordentlich, Julius", knurrte Anthelia. "Aber wenn ihr gedacht habt, mich damit gleich mit zu besiegen habt ihr euch getäuscht. Ich habe mich gegen die hellen Strahlen abgeschirmt."

"Es war die einzige Möglichkeit, den Schatten zu besiegen", entschuldigte sich Julius ehrlich. Sicher, wenn Anthelia bei der Gelegenheit erledigt worden wäre hätte er wohl keine Träne vergossen. Doch so konnte er auch nicht gerade sagen, daß er die Hexenlady gezielt hatte umbringen wollen.

"Der Zauber ist auch kein Vernichtungszauber", zischte Catherine. "Er schützt nur seinen Anwender." Julius nickte ihr und dann Anthelia zu.

"Die, die ihn mir beibrachte verabscheut den gewaltsamen Tod."

"Dann wird sie wohl nicht weit kommen, wenn sie meint, sich gegen Wesen wie den großen Wächter stellen zu müssen", schnarrte Anthelia. Dann deutete sie auf den schwarzen Spiegel, gegen den immer wieder zwei Schattenkugeln flogen und abprallten. Sie wurden kurz in den Wänden eingeschlossen. Doch dann stiegen sie langsam wieder aus dem Boden. Die Fang- und einverleibungsprozesse der schlafenden Schlange funktionierten noch. Anthelia löschte den schwarzen Spiegel, als die beiden Kugeln einmal mehr von der Wand verschluckt wurden. Catherine und Julius warteten ab, bis sie erneut auftauchten und dann auf sie zuflogen. Anthelia wich durch einen Rückwärtssalto aus und gab damit das Schußfeld frei. Catherine und Julius riefen beide "Catashari!" Die beiden Schattenkugeln erglühten im silberweißen Licht des Todeswehrzaubers, schrumpften zusammen und zersprangen wie Glaskugeln am Boden. Im selben Moment löste sich die Starre von Professor Stuard und seinem Kollegen. Julius und Catherine flogen sofort los. Auch Anthelia steuerte den hinteren Teil des Schlangenleibes an. Julius konnte den nicht all zu großen Professor Stuard mit eigener Kraft aus dem verengten Hinterleib hervorziehen, bevor die Magie des großen Wächters ihn wieder versteinern konnte. Gleichzeitig zogen Anthelia und Catherine den jungen, norwegischen Archäologen frei. Durch die Luft ging es nun zum Schlangenmaul. Der Boden erbebte. Offenbar entlud sich nun die letzte gespeicherte Kraft der Schlange in einer einminütigen Erschütterung. Catherine, Anthelia/Naaneavargia und Julius zogen die beiden letzten Gefangenen, die eigentlich die beiden ersten Opfer gewesen waren, durch die Luft hinaus aus der Höhle und legten sie im Sonnenlicht ab. Catherine verband beiden schnell die Augen. Dann flößte sie ihnen mit einer wohl häufig an ihren Töchtern geübten Geschicklichkeit jenen purpurfarbenen Trank ein, der mehrere Stunden unbeschwerten Schlaf brachte.

"War aber sehr riskant, wo dieses Biest die doch im Schlaf zu sich hinziehen konnte", stellte Julius an Catherine gewandt fest.

"Jemand mit einem sehr großen Herzen und großem Gehirn hat mir verraten, daß diese Gefahr nicht mehr bestand, nachdem mehr als drei Viertel der Gefangenen befreit worden waren. Das Monster schläft jetzt wieder tief und fest. Aber wie wollen wir sicherstellen, daß es auch weiterschläft?"

"Das erledigt der Gletscher für uns", erwiderte Julius, der wohlweißlich okklumentierte. Anthelia/Naaneavargia lachte nur.

"Wenn ihr mit der Idee liebäugelt, der Gletscher würde den großen Wächter wieder vollkommen zudecken und ihn damit unschädlich halten, so seid ihr reichlich einfältig. Die Kinder dieses Ungetüms können über ein Jahrhundert lang auf Beute lauern. Dieses Geschöpf da kann das auch. Ohne die magische Waffe, die ihn in den Schlaf trieb und hielt, wird er wieder erwachen, sobald die Höhle frei wird. Es kann auch sein, daß sein Erwachen bereits andere auf ihn aufmerksam gemacht hat."

"Wen?" wollte Julius wissen und fing sich von Catherine einen tadelnden Blick ein. Anthelia/Naaneavargia bedachte Julius' Begleiterin mit einem überlegenen Lächeln und sah dann Julius an:

"Nun, als du eines der mir wohlbekannten alten Lieder angestimmt hast, haben sich die Wellen dieser Magie durch die Erde und die Luft fortgepflanzt. Ich habe schon gespürt, daß auf der Erde eine alte Kraft aus der Erde immer stärker wird und bin deshalb schon auf der Suche danach gewesen. Als du das Lied der großen Gnade angestimmt hast konnte ich trotz der sich hier oben fast am geographischen Nordpol treffenden Magnetkraftlinien der Erde fühlen, wo ich suchen mußte. Ich durfte aber nicht einfach so apparieren. So bin ich auf meinem Besen hergeflogen, bis ich nahe genug heran war. Dann konnte ich landen und aus eigener Kraft zu euch fliegen. Andere können auch erfahren haben, daß der große Wächter noch lebt. Nordische Schamanen könnten auf die Idee kommen, die ihre Kreise störende Präsenz zu suchen und zu bekämpfen. Womöglich wissen durch die da hier auch andere Zauberer und Hexen von der Schlange und könnten auf die Idee kommen, sie zu erledigen oder zu unterwerfen. Sowas wie der Nachtschatten, der uns bedrohte, könnten herkommen. Ja, ich denke sogar, Wesen, die den Kräften von Unterwerfung und Beherrschung zugetan sind, könnten demnächst auf diese Insel kommen, um den großen Wächter als ihre Energiequelle oder ihren Anführer zu nutzen, sich ihm dabei als neue Opfer anbieten und ihn wieder aufwecken. Ein Gletscher ist für einen Geist oder Apparator kein Hindernis, wenn er weiß, wo er hin will."

""Und wie würden Sie dieses Ungeheuer erledigen, wenn Sie es nicht wie die Schlangenmenschen vom Boden wegreißen und lange genug in der Luft halten können?" fragte Julius, der noch an eine Möglichkeit dachte, von der Anthelia/Naaneavargia besser nicht wissen sollte, daß er sie anwenden konnte.

Die gerade mit sehr kurzem Haar herumlaufende Hexe griff in eine Bauchtasche ihres eng anliegenden Anzuges und holte eine Schachtel Streichhölzer heraus. Sie zog eines der Zündhölzer heraus und rieb es geräuschvoll. Sofort entflammte der rote Schwefelkopf. Die Hexenlady hielt das brennende Streichholz in Richtung Höhle. Es brannte regelmäßig weiter. Kurz bevor es ihr die Fingerkuppen versengen konnte ließ sie es zu Boden fallen. "Mit der Entreißung seiner Opfer ist die gegen offene Flammen wirkende Kraft versiegt. Vielleicht konzentriert sie sich noch auf das Ungeheuer selbst. Doch es ist den Versuch wert", sagte sie und hob aus dem Stand vom Boden ab. Julius wollte unbedingt wissen, was die Hexenlady vorhatte. Er startete auch. Catherine wollte ihn noch zurückhalten. Doch irgendwas schien ihr unhörbar davon abzuraten.

Julius folgte Anthelia/Naaneavargia bis kurz vor die beiden Zahnreihen der schlafenden Schlange. Da sah er, wie Anthelia auf ihrer Linken Hand die hitzelos brennenden Flammen entfachte und die so erleuchtete Hand durch die Lücke der Zahnreihen hindurchstreckte. Die Flammen wurden ein wenig kleiner, erloschen jedoch nicht. Anthelia flog nun in den Schlangenkörper hinein. Julius blieb jedoch draußen. Er sah, daß das flackernde Licht des unschädlichen Zauberfeuers, das selbst die Dunkelheitsaura von Dementoren durchdringen konnte, weiter auf Anthelias Hand loderte. Die Hexenlady flog von einer Wandung des versteinerten Leibes zur anderen und hielt die Flammen fast an das erstarrte Innere des großen Wächters. Dann kehrte sie mit einer anmutigen Wende zurück und verließ den Leib des schlafenden Ungeheuers. Sie hielt etwas goldenes in der linken Hand. Julius erkannte die wie eine vergoldete Kastanienschale aussehende Kugel. "Das hier wolltest du doch sicher wiederhaben, oder?" fragte Anthelia/Naaneavargia und warf ihm die stachelig wirkende Kugel zu. Er fing sie auf. Er wollte wissen, wie sie sie aufgehoben hatte. Zur Antwort ließ sie einen Stein aus der Höhle aufsteigen und in der Luft herumzirkeln und wieder landen, ohne ihn mit ihrem Zauberstab anzuzielen. Julius bedankte sich für die Sonnenlichtkugel. Auch wenn sie gegen den Schatten nicht geholfen hatte, war ihm doch wohler zu Mute, dieses wichtige Artefakt wiederzuhaben. Die Flammen auf Anthelias Hand entfalteten sich wieder zur vollständigen Größe. Sie tippte ihre Hand mit dem Zauberstab an und löschte damit das für ihr Fleisch unschädliche Feuer.

"Schmelzfeuer, oder was wollen Sie dem Biest überbraten?" fragte Julius.

"Soll dich das jetzt ehren oder tadeln, daß du von diesem Zauber weißt, Julius Latierre?" fragte Anthelia. Dann mußte sie grinsen. "Ach ja, du hast es ja mit ansehen müssen, wie dieser Cretin Pétain in diesem Zauberfeuer verglüht ist", raunte sie. "Nein, Schmelzfeuer werde ich diesem Geschöpf da nicht auferlegen. Aber etwas in der Richtung", sagte sie. Julius konnte die Entschlossenheit aus ihrer Stimme heraushören. Sie löschte das Zauberstablicht.

Julius entzündete sein eigenes Zauberstablicht. In dessen Schein konnte er sehen, wie Anthelia einen hühnereigroßen Gegenstand aus ihrem Anzug holte. Es war ein Zylinder aus goldenem Material. Irgendwie erinnerte der Julius an Bokanowskis Einkerkerzylinder, in denen er die Originalkörper seiner Gefangenen eingeschlossen hatte.

"Die Magielosen haben mit ihren Hirnen sehr gemeine Waffen ersonnen. Sprengkörper, die zwischen Menschenansammlungen geworfen werden können. Bomben, die durch das aus zertrümmerten Atomen freiwerdende Feuer ganze Städte zerstören können. Ich habe für diesen speziellen Gegner hier etwas ähnliches." Julius erschrak. Sie meinte doch nicht etwa das Tausendsonnenfeuer, die schlimmste Zerstörungskraft, die in Altaxarroi entfesselt worden war? Er mußte sich sehr bemühen, nicht erschrocken aufzuschreien. Anthelia tippte den goldenen Zylinder mit ihrem Zauberstab an und wisperte etwas. Dann warf sie den Zylinder in weitem Bogen in den Körper der Schlange hinein. Sie flog rasch zurück zu Julius und deutete auf den Eingang der Höhle. "Rückzug zum Eingang!" zischte sie und passierte Julius. Dieser ließ sich nicht bitten und flog seinerseits zum Höhleneingang. Weil Anthelia dort jedoch verharrte und nun ihrerseits ihr Zauberstablicht entzündete, wollte Julius auch wissen, was nun passierte. Dann hörte er es auf einmal laut brausen. Eisige Kälte wehte ihm entgegen, Kälte, die selbst der nahe Nordpol nicht erlebt hatte. Dann sah er es. Besser, er sah nur noch flackernde Dunkelheit. Die vor ihm herannahende Finsternis flackerte, züngelte, zuckte und prasselte. Er sah nachtschwarze Flammengarben, die aus der Tiefe der Höhle drangen. Dieses Feuer kannte er auch, und zwar besser, als ihm lieb war.

__________

Catherine wußte nicht, warum Temmie sie zurückgehalten hatte. Die Gedankenstimme der wiederverkörperten Hochkönigin von Altaxarroi hatte "Laß ihn sehen, wie sie vorgeht!" in ihren Geist gerufen. Warum wollte Temmie, daß sie Julius nicht zurückhielt?

"Wenn die aus zwei mächtigen Trägerinnen der Kraft vereinte ihm einen Weg zeigt, den er selbst nicht gehen kann und weder ich noch sonst wer ihm weisen konnte, dann ist es besser, wenn sie den großen Wächter tötet. Sein Dasein ist eine Beleidigung der lebendigen Natur. Julius kann es nicht beenden, auch wenn er dadurch nicht die Macht über die vier großen Anrufungen verliert", erwiderte Temmie in Gedanken. Catherine stand nur da und wußte nicht, wie sie handeln sollte. Einerseits hatte sie selbst keine Probleme damit, schwarzmagische Geschöpfe zu töten, wenn sie dadurch hunderte von Leben retten konnte. Sie hätte sicher auch Tom Riddle getötet, um den Tod ihres Vaters zu rächen. Andererseits wollte sie nicht tatenlos zusehen, wie diese unverwüstliche Dunkelhexe ihren Schützling Julius Latierre auf einen Pfad führte, auf dem er nur Schaden nehmen konnte.

Zwei Minuten blieb sie so stehen. Dann hörte sie ein Heulen, als bliese im Inneren der Höhle ein Sturm. Tatsächlich fauchte ihr eiskalte Luft aus dem Eingang entgegen. Sie sah die in Scharlachrot gekleidete Hexe und ihren Begleiter Julius Latierre, wie sie im eiskalten Hauch bibberten. Dann fühlte sie das Erdbeben.

"Bring alle schlafenden zu mir! Wir müssen fliegen, bis die Erde wieder ruhig ist!!" gedankenrief Temmie Catherine zu. Diese sah auf alle schlafenden. Dann entsann sie sich, wie ihre Mutter sie damals beim Sternenhausmassaker gerettet hatte. Sie hatte es ihr später beigebracht und oft genug wiederholen lassen, sollte sie mit Babette und ihren künftigen Geschwistern ähnliche Gefahren zu bestehen haben. "Aggregato Transmutaccio!" rief Catherine auf den schlafenden Professor Stuard deutend. Dieser wurde zu einem rosaroten Taschentuch, daß unmittelbar danach zu ihr hinflog. Sie öffnete ihre Handtasche und ließ das Taschentuch hineinfallen. Dann wiederholzauberte sie den Vorgang. Innerhalb einer halben Minute hatte sie zwanzig schlafende Männer in Taschentücher verwandelt und eingesammelt. Das Erdbeben wurde stärker. Catherine wirkte in sich den Zauber für freien Flug, um knapp zwei Meter über dem Boden zu bleiben. Dann wiederholzauberte sie, vom vorletzten Zauber ausgehend und ließ weitere Befreite in ihrer Handtasche verschwinden. Als sie noch fünf Männer zu sichern hatte, klaffte plötzlich ein langer, tiefer Spalt im Boden auf. Steine wirbelten zu ihr nach oben und umschwirrten sie. Staub wallte auf. Die fünf Männer, alles Soldaten der norwegischen Streitkräfte, stürzten in den Erdspalt hinab, der gut und gern zehn Meter tief war. Weitere Risse taten sich auf. Große Gesteinsbrocken wurden krachend aus dem Boden gesprengt und nach oben geschleudert. Catherine mußte rasch nach oben steigen, um dem umgekehrten Hagel zu entgehen, der von der Erde in den Himmel wütete. Sie flog nun hundert Meter über dem in wildem Aufruhr wütenden Grund dahin. Temmie kam nun sichtbar zu ihr hinübergeflogen und wartete, bis Catherine auf ihren Rücken stieg. "Was ist mit Julius?" wollte Catherine wissen.

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Tiefe Schwärze senkte sich über den Gebannten. Mit den letzten seiner Opfer fing ihn der tiefe Schlaf wieder ein, in den ihn die Waffe des Überriesens gestoßen hatte. Doch der Schlaf währte nicht lange. Es war wie ein gleißender Blitz, der seinen Körper durchzuckte und verbrannte. Er schrie in seiner letzten Agonie laut auf, zuckte mit seinem eingeklemmten Körper und brüllte den Namen seiner Herren: Skyllian! Großer meister Iaxathan!!" Dann erstickten alle seine Regungen in der mörderischen Glut, die der ihn durchzuckende Blitz entfacht hatte. Sein Geist verlor sich in jene Einzelseelen, mit deren Kraft er damals aus dem Schoß der großen Mutter hervorgeholt worden war. Ein letzter Aufschrei erklang. Dann wurden die einzelnen Seelen in alle Richtungen von Raum und Zeit davongeschleudert. Der große Wächter war nicht mehr.

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Das dunkle Feuer. Dieses Höllenweib hatte wahrhaftig das dunkle Feuer gezündet, mit dem Hallitti damals zwei von ihren Dienerinnen erledigt hatte. Mit einer Art magischem Molotowcocktail hatte sie die schlafende Schlange in Brand gesetzt. Das dunkle Feuer entzog der Umgebung alle Wärme und alles Licht. Es tötete Lebewesen, ließ jedes reine Metall in Sekunden zu Rost zerfallen und zog seine dunkle Energie nicht nur aus lebenden Wesen, sondern auch aus der Magie, die in seiner Reichweite wirkte oder eingelagert war. jetzt verbrannte das dunkle Feuer die schlafende Schlange. Denn nur so konnte es sein. Die in dem Ungeheuer steckende Erdmagie entlud sich im dunklen Feuer. Dazu kam noch ein immer stärkeres Erdbeben. Anthelia griff Julius bei der Hand und zog ihn aus dem Höhleneingang. Beide froren bitterlich. Da züngelte eine schwarze Flamme knapp vor ihnen aus dem Eingang, um sofort wieder zurückzuschnellen. Beinahe hätte das dunkle Feuer seine Beschwörerin gefressen. Das heftige Erdbeben war jedoch genauso gefährlich wie das schwarzmagische Inferno in der Höhle. Es brach den Boden auf, schleuderte Steine und Staub nach oben und wühlte den Grund so stark auf, daß er wie ein vom Sturm gepeitschtes Meer wogte. Anthelia und Julius flogen Hand in hand so schnell sie konnten nach oben. Zwei drei Steine trafen sie dabei an Beinen oder Rücken. Julius fühlte den Staub in den Augen und mußte Blinzeln. Dann waren sie endlich hochgenug, um zu sehen, wie riesige Eisbrocken aus dem Gletscher brachen. Sie wuchsen sich zu einer mächtigen Lawine aus Eis und Geröll aus, die mit unheilvollem Getöse zu Tal donnerte. Dabei erschuf sie eine mörderische Druckwelle, ähnlich einem überschnell durch einen Tunnel brausender U-Bahn-Zug. Die beiden frei fliegenden wurden sehr wild herumgewirbelt. Doch sie hielten sich in der Luft. Minutenlang grollte und donnerte es unter ihnen. Eis- und Gesteinsstaub hatten inzwischen einen dichten Nebelschleier über dem Platz vor der Höhle erschaffen. Der Gletscher, Jahrtausende lang ruhig fließend, wurde unter den ihm abgehenden Eismassen abgeschliffen. Die unter ihm bebende Erde rüttelte an seiner Laufbahn. Spalten taten sich auf und brachen eine Sekunde später wieder zusammen. Innerhalb weniger Sekunden legte der Fluß aus Eis eine Strecke zurück, für die er früher mehr als tausend Jahre gebraucht hatte. Der hinter der Druckwelle entstehende Unterdruck raubte den beiden fliegenden fast die Luft. Dann floß endlich wieder genug Luft nach, um den so nötigen Sauerstoff zu liefern. Die heraufbeschworenen Naturgewalten tobten unter Anthelia und Julius. Erst nach fünf Minuten klang der Aufruhr von Erde und Eis weit genug ab, daß sie es wagen konnten, wieder tiefer zu sinken.

"Denen in den Erdbebenüberwachungszentralen werden gerade wohl die Seismographen um die Ohren geflogen sein", stellte Julius fest, nachdem er den in die Atemwege geratenen Staub kräftig ausgehustet hatte und sich die Augen staubfrei wischen konnte.

"Wenn du damit die für Erschütterungen empfindlichen Gerätschaften meinst, so könnten viele Magielose wohl an ein unvorhersagbares Beben glauben. Sollen sie doch von einem Zusammenbruch einer tief im Boden liegenden Kaverne ausgehen."

"Catherine, Temmie, ich lebe noch!" gedankenrief Julius. Er fühlte den Herzanhänger.

"Wir leben auch noch", erwiderte Temmies Gedankenstimme. "Die meisten der Befreiten sind auch in Sicherheit. Sage dieser auf zwielichtpfaden wandelnden, wir danken ihr für die Hilfe. Aber wir möchten dennoch lieber eigene Wege gehen!" Julius sah Anthelia/Naaneavargia an. Diese lächelte.

"Unsere Pfade werden sich immer wieder kreuzen. Da kann deine große Wegführerin im Körper einer übergroßen Milchkuh nichts gegen tun, Julius Latierre. Es würde mich auch nichts hindern, dich hier und jetzt mit mir zu nehmen. Denn wir zwei sind zu gemeinsamem Leben bestimmt. Doch ich überlasse dich dieser wiederverkörperten Lichtfolgerin, die meint, ohne vernichtende Gewalt auskommen zu können, der Tochter deiner Mentorin aus Beauxbatons und deiner Angetrauten und eurem gemeinsamen Kind. Immerhin hast du mit ihr eine Tochter ins Leben gerufen. Das ehrt die ungebärdige Tochter der Latierre-Linie und dich. Ich habe dir geholfen, weil ich dir zeigen wollte, daß du nicht falsch gehandelt hast, als du das, was Naaneavargia war, befreit hast. Auch schulde ich dir eine andere Dankbarkeit. Aber aus welchem Grunde wirst du nur erfahren, wenn du begreifst, daß wir beide zusammengehören und nur vereint die Hinterlassenschaften Iaxathans bekämpfen können. Lebe also wohl! Ähm, bleib auch auf der Hut vor den noch wachen Schwestern Hallitis. Sie könnten an dir großes Interesse finden." Mit diesen Worten ließ Anthelia Julius' Hand los und flog davon. Mitten aus dem Flug heraus disapparierte sie.

Julius fühlte auf einmal, wie ihm die Kräfte schwanden. Er stürzte förmlich in die Tiefe. Gerade so konnte er sich noch vor einem harten Aufschlag auf dem Boden bewahren. Da landete Temmie in seiner Nähe. Ihr blütenweißes Fell war das letzte, was er noch sah.

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"Neun komma acht! Neun komma neun! Zehn komma zwei! Was passiert da?!" rief Petersen, als er sah, wie die Sensorenwerte für Nordostland eine ansteigende Magnitude meldeten. Dort ereignete sich gerade ein heftiges Erdbeben, das für diese Gegend abssolut untypisch war. Der Wert stieg nun auf über 10,4. Wenn das so weiterging würde die nordöstlichste Insel des Svalbart-Archipels in tausend Stücke zerrissen. Dann fielen die Werte wieder. Das Beben klang ab. Dazu brauchte es aber fast zwei Minuten. Dann erst standen alle Anzeigen wieder auf Null.

"Das glaubt uns keiner", stieß Petersen aus. "Gut, das alle Stationen weltweit mitgeschrieben haben."

"Da haben wir aber eine Menge zu analysieren", sagte Petersens norwegischer Kollege Mortensen. "Oder wir kriegen gleich wieder einen Anruf ..." wie auf Stichwort läutete das Telefon. Mortensen ging an den Apparat und sprach mit dem Anrufer. Dann legte er wieder auf und sagte: "Das läuft unter Streng geheim. Offenbar ist auf der Insel ein unterirdisches Atombombenlager explodiert. Das wollen unsere Militärs mit den Amis und den Russen klären, was da gelaufen ist. Die Aufzeichnungen sind unverzüglich aus den Rechnern zu löschen und dem Militär zu übergeben. Die schicken gleich einen Kurier zu uns", sagte Mortensen.

"Und die anderen Warten?" fragte Petersen.

"Hmm, nicht unsere Baustelle", grummelte Mortensen. Doch er wußte, was Petersen meinte. Wenn alle vernetzten Erdbebenwarten dieses lokal begrenzte Superbeben registriert hatten würde es schwierig werden, das zu vertuschen. Doch unmöglich war es leider nicht, wußten die beiden Geologen.

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Julius träumte, er sei wieder ein Baby. Doch es war nicht seine eigene Mutter, die ihn stillte, sondern Darxandria. Darxandria? Die war doch ganz und gar in Temmies Körper eingezogen. Julius erwachte und fühlte, wie ihm etwas warmes, flüssiges in den Mund floß. Er merkte, daß er gerade innig saugte und gierig trank, was ihm da in den Mund floß. In seine Nase stieg der strenge Geruch einer großen Kuh. Doch für ihn war das nichts anwiederndes, sondern anregendes, ihm Sicherheit gebendes. Erst als er fühlte, daß sein Bauch prall und voll war, hörte er auf zu saugen. Er merkte, daß er auf einer Plattform lag. Diese bildete das obere Ende eines Gerüstes. er sah nach oben, wo zwei der vier Zitzen Temmies ihm fast noch ins Gesicht hingen. Er blickte sich um und sah, daß sie wohl gerade in einem Wald waren. Er erkannte Catherine Brickston, die mit leicht verkniffenem Gesicht unter Temmies Bauch stand. "Sie wollte das so, Julius. Sie meinte, sie sei es dir schuldig, damit du uns nicht verlorengehst. Du hast dich überanstrengt. Fast wärest du beim Aufprall zerschmettert worden", sagte Catherine.

"Du hast deine ganze Tageskraft und mehr aufgebraucht, Julius. Ich mußte dich noch einmal von mir trinken lassen, weil du sonst vor Überanstrengung gestorben wärest", hörte Julius Temmies Gedankenstimme.

"Das sollte ich besser nicht dauernd machen. Sonst verliert Millie mich noch an eine von deinen Cousinen", schickte Julius zurück.

"Dann hättest du auch in Orions Körper zurück auf die Welt kommen können, wenn ich das wollte", erwiderte Temmie nur für ihn vernehmbar. "Nein, du wirst nicht mein zweiter Sohn, nur weil du von mir trinken durftest. Dann müßten ja alle, die von meiner Körpermutter trinken durften ihre Kinder werden. Aber jetzt bist du hoffentlich stark genug, um mit Catherine und mir zurückzukehren."

"Die anderen, Professor Stuard, die Soldaten, die Zauberer?" fragte Julius Catherine.

"Die habe ich nach dem Beben wieder vor dem Gletscher oder was davon übriggeblieben ist abgelegt. Ich habe bei den Soldaten, Zauberern und Professor Stuard nur soweit das Gedächtnis verändert, daß sie Anthelia/Naaneavargia als ihre Befreierin identifizieren werden. Im Grunde genommen, so ungern ich das zugeben muß, ist sie es in letzter Konsequenz auch gewesen. Sollen die Zauberer aus Norwegen sich die Köpfe zerbrechen, ob sie dieser Hexe nun dankbar sein sollen oder nicht."

"Und wir sind sozusagen nie da gewesen?" fragte Julius.

"Ja, so ist es wohl besser für dich und Millie und Aurore", erwiderte Catherine. Julius mußte dem zustimmen, so unwohl ihm auch dabei war.

"Godjanmiria ist wieder in Khalakatan?" wollte Julius wissen. Catherine erzählte ihm, daß die goldene Dienstmagd in dem Moment verschwunden war, als sie mit ihm und Temmie in diesem Waldstück appariert war.

Zurück in Millemerveilles wurde Julius gleich von zwei Hexen innig umarmt. Da war Camille, die sich freute, den Beinahe-Schwiegersohn wiederzusehen, und vor allem Millie, die sich freute, den Vater ihrer Tochter wiederzuhaben.

Im Schutze eines Klankerkers erzählten Catherine und Julius den beiden anderen Hexen ihre Erlebnisse, wobei Julius die Zuwendungen Temmies verschwieg.

"Und du hast dieses Hexenweib mit diesem Lied der großen Gnade angelockt?" wollte Millie wissen. Julius sagte, daß Anthelia/Nanneavargia ihm das so gesagt hatte. "Das wird dieser Agolar wohl gewußt haben. Kann mir gut vorstellen, daß der sich eins gegrinst hat, als du von ihm weggeflogen bist", grummelte Millie. Julius sah das auch so.

"Vielleicht will der mich mit seiner Tochter verkuppeln oder meint, ich hätte ihn jetzt als Vater von Naaneavargia zu vertreten."

"Was hat sie dir gesagt, daß du und sie wegen dieser Sache im australischen Felsenberg zusammengehört?" grummelte Millie. Sie hatte es offenbar über Julius und Temmie mitgehört. Er nickte. "Die soll sich wen anderen suchen, der mit der Zwei-werden-eins spielt. Wo du hingehörst weißt du ja." Julius mußte darüber nur grinsen. Da schrie seine Tochter Aurore aus dem gemeinsamen Schlafzimmer.

"sie ist naß, Julius. Du bist mit Wickeln dran", stellte Millie unanfechtbar klar. Julius lächelte und nickte. Er stand auf und versorgte seine Tochter, den Teil seines Lebens, für den er jeder Gefahr entfliehen wollte, nur um ihre vollen Windeln in die Hand zu nehmen.

Nachdem Catherine zu ihrer Familie zurückgekehrt war wollte Camille wissen, was ihre Mutter für Julius hinterlassen hatte. Er zeigte ihr den Pokal und das Buch und ließ sie in die Erinnerungen eintauchen, die Aurélie Odin ihm überlassen hatte. Als sie nach mehr als zwei Stunden den Kopf aus dem Denkarium hob sah sie Julius an und sagte:

"Ich verstehe jetzt, warum meine Mutter dir die Gegenstände gab, damit du mit Temmie besser klarkommst. Danke für die Auskunft über das Haus meiner Großmutter mütterlicherseits. Maman wollte da nie mit mir hingehen. Sie sagte immer, daß die unruhigen Geister ihrer Eltern und Vorfahren dort spuken würden und sich jeden frischen Körper nehmen würden, um die Aufgaben zu erledigen, die sie vor ihrem Tod nicht mehr hätten lösen können. Als kleines Mädchen von fünf Jahren habe ich sowas geglaubt, und als Beauxbatons-Schülerin, wo ich den einarmigen Henker gesehen habe, habe ich es nicht angezweifelt. Aber daß sie dir mehrere Geburten und die Hochzeitsnacht von Ariassa und diesem Kalifenabkömmling gezeigt hat erstaunt mich doch. Sie war zu ihren Lebzeiten doch eine sehr gestrenge Hexe, die nur dann über solche Sachen sprach, wenn zu befürchten stand, daß wir, also mein Bruder und ich, sie auch alleine herausfinden konnten. Aber dir ist klar, daß du und ich jetzt eine gemeinsame Aufgabe haben, Julius. Du mußt das alte Erbe Ashtarias in der Welt beobachten und ich muß es wahren und an meine Tochter Jeanne weitergeben, wenn ich ihr irgendwann mal, hoffentlich erst sehr viel später, den silbernen Stern überreiche. gut zu wissen, daß ich dabei die Schutzformel rufen muß, um seine Übereignung zu bekräftigen. Danke für diese für mich so wichtige Auskunft, Julius. Sicher hättest du sie mir vorenthalten können. Aber daß du einsiehst, daß ich ein Anrecht darauf habe, ohne daß ich das einfordern mußte ehrt dich. Und jetzt schlaf dich ja aus. Du hattest heute einen sehr langen Tag." Julius beteuerte, sich gleich ins Bett zu legen. Camille zwinkerte Millie zu und sagte: "Und laß den ja gleich einschlafen, Mildrid."

"ja, Tante Camille, mach ich", grummelte Millie.

ENDE

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